Beiträge

Rund 3.200 Menschen sterben in Deutschland pro Jahr im Straßenverkehr. Weitere 15.000 werden lebensgefährlich verletzt. Viele leiden ihr Leben lang schwer an den Folgen. Unsere Autorin Andrea Reidl hat die Aufgabe übernommen, Opfern ein Gesicht zu geben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


In der öffentlichen Wahrnehmung kommen die Schwerstverletzten kaum vor. Die wenigsten kehren jemals wieder in ihren Beruf zurück. Beate Flanz ist eine von ihnen. Sie fühlt sich von der Gesellschaft vergessen.
Beate Flanz hatte keine Chance. Sie hätte nichts tun können, um den hüfthohen Reifen des Sattelschleppers an der Kreuzung auszuweichen. Die erfahrene Radfahrerin hatte das gewusst, seit sie aus dem Koma erwacht war. Trotzdem war sie erleichtert, als drei Gutachten vor Gericht ihre Annahme bestätigten: Der Fahrer des Lastwagens war schuld an dem Unfall. Er hatte nicht aufgepasst und war an der grünen Ampel in Berlin Wilmersdorf zügig rechts abgebogen. Die Radfahrerin in ihrer leuchtend roten Jacke war da längst auf der Fahrbahn. Er rammte sie mit seiner Fahrerkabine, um sie dann mit 32 Tonnen Kies auf der Ladefläche mitsamt ihrem Fahrrad zu überrollen und zerquetschen. Er bemerkte davon nichts und fuhr weiter – bis Zeugen ihn stoppten.

Hohe Unfallzahlen und hinter jeder steckt ein Schicksal

Verkehrsunfälle sind europaweit ein größeres Problem, als uns bewusst ist. Laut dem wissenschaftlichen Beirat des Bundesverkehrsministeriums sind sie die häufigste Todesursache von EU-Bürgern im Alter zwischen 1 und 45 Jahren. In Deutschland verunglücken etwa 390.000 Menschen jedes Jahr im Straßenverkehr – das sind mehr als in Bochum leben. Rund 3.200 Menschen sterben bei diesen Unfällen, 67.000 werden schwer verletzt und weitere 15.000 in den vergangenen fünf Jahren lebensgefährlich – also schwerstverletzt.
Beate Flanz war 2017 eine von ihnen. Sie gehörte zu den wenigen Fällen, die in der Lokalpresse und in den Abendnachrichten erwähnt werden. Normalerweise sind Unfallopfer nur eine Meldung im Polizeireport und später eine Zahl in der Verkehrsunfallstatistik. Wenn überhaupt. Wer später als 30 Tage nach dem Unfall seinen Verletzungen erliegt, geht nicht in die Zahl der Verkehrstoten ein. Auch die Schwerstverletzten, bei denen von einer echten Genesung kaum die Rede sein kann, verschwinden aus dem Blickfeld der Gesellschaft. Für sie gibt es keine Extrastatistik. Niemand zählt sie. Versehrt bleiben sie trotzdem. Viele, wie Beate Flanz, sind schwerstbehindert bis an ihr Lebensende.
Anfangs hatte die 52-Jährige überlegt, vom Balkon zu springen. Wer sie heute in Berlin mit ihrer leuchtend roten Lockenmähne auf dem Liegerad sieht, ahnt von ihren Selbstmordgedanken nichts. Schein­bar mühelos tritt sie die Pedale ihres E-Liegerads und gleitet über den glatten Asphalt des Radwegs. Aber mühelos ist gar nichts mehr, seit sie im Oktober 2017 überfahren wurde. Die Unfallchirurgen haben zwar von ihrer rechten Körperhälfte gerettet, was sie konnten. Aber der Sattelschlepper hat der sportlichen Frau wenig gelassen. Ihr Bein musste über dem Knie amputiert werden, ihr Arm ist seltsam verformt, taub und unbrauchbar. Ebenso wie ihre rechte Gesichtshälfte. „Ich kann auf der Seite nichts hören und nichts sehen“, sagt sie. Der Gesichtsnerv ist zerstört und sie kann den Mund nicht mehr schließen. Auch nicht beim Essen. Beim Kauen und Trinken fällt die Hälfte wieder heraus oder rinnt an Kinn und Hals herunter. Aber nicht nur körperlich hat der Unfall die lebensfrohe Frau gebrochen. Er hat auch ihr Wesen verändert.
„Vor dem Unfall war für Beate das Glas immer halb voll. Sie war lebenslustig, unheimlich beliebt und kam mit jedem klar“, beschreibt Bettina Schmitt ihre Freundin. Sie war ein Motor, der stets andere antrieb. Für ihren Arbeitgeber leitete sie eine Betriebssportgruppe, sie fuhr mit Freunden und Pferden in Urlaub und kombinierte als ADFC-Tourenleiterin ihre Ausfahrten mit Qigong-Einheiten. „Bewegung und draußen sein waren mein Ein und Alles“, sagt die Wahlberlinerin – mit ihrem Pferd, per Rad oder Kanu und im Winter mit Skiern. Unstimmigkeiten im Freundeskreis spülte sie gerne mit ihrem Lachen fort. Sie war hilfsbereit, eine, die in der Urlaubszeit immer die Katzen der anderen fütterte.

Bewegung und draußen sein waren für die engagierte, lebensfrohe Wahlberlinerin Beate Flanz bis zu ihrem Unfall alles.

Bruch im Leben und alleingelassen von der Gesellschaft

Seit dem Unfall ist sie diejenige, die Hilfe braucht – bei 98 Prozent aller alltäglichen Dinge. Für die dynamische Frau ist die Abhängigkeit eine Tortur. Immer noch will sie, was irgendwie geht, selbst erledigen. Eilt ihr jemand ungefragt zu Hilfe, raunzt sie ihn an. Den Taxifahrer ebenso wie ihre Freunde, ihre Assistenten oder auch ihre Mutter. Das kommt bei ihren Vertrauten nicht gut an. Sie erkennen ihre alte Freundin in der neuen brüsken Beate nicht wieder. Während die Fürsorge ihrer Freunde Beate Flanz schnell zu viel wird, vermisst sie für die vielen neuen Alltagsfragen eine Anlaufstelle. Elf Monate lag sie im Krankenhaus. Als die Sozialarbeiterin ihr mitteilte, sie werde in ein paar Tagen entlassen, und fragte, ob sie jemanden habe, der sich zu Hause um sie kümmere, war die ehemalige Sachbearbeiterin einer Rentenversicherung fassungslos. Sie lebte allein. Sie kam mit einem Bein und einem Arm kaum die Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Wie sollte sie eine Einkaufstasche tragen oder gar den Müll rausbringen? Dafür fehlte eine Hand. Die linke hält den Gehstock. Wie sollte sie ihr neues Leben in den wenigen Tagen regeln? Und viel wichtiger: Was brauchte sie überhaupt alles?

Unfallopfer brauchen bessere Informationen und Hilfe

Diese Fragen und Probleme kennt Rechtsanwalt Eduard Herwartz seit Jahren. Er vertritt Unfallopfer und ihre Angehörigen. Wenn sie zu ihm kommen, haben sie oft bereits jahrelang Hilfe gesucht, haben auf Schadensersatz gewartet oder sind an Versicherungen verzweifelt, die Zahlungen für Therapien und Prothesen ablehnen und hinauszögern. Um den Betroffenen zu zeigen, was ihnen zusteht und an wen sie sich wenden können, hat er mit seinem Verein „Deutsche Interessengemeinschaft für Verkehrsunfallopfer e. V.“ (DIVO) einen Leitfaden geschrieben. Auf 55 Seiten beschreibt er sämtliche Ansprüche vom Betreuungsgeld, das Angehörige bereits für ihre Besuche im Krankenhaus beantragen können, über Finanzhilfen für notwendige Umbauarbeiten in der Wohnung bis hin zur Übernahme von Reise- und Betreuungskosten einer Begleitperson bei Urlaubsreisen. Die DIVO hat die Broschüre bundesweit an die wichtigsten Stellen verschickt. „Aber nur engagierte Krankenhäuser und Sozialarbeiter verteilen sie“, stellt Herwartz ernüchtert fest.
Beate Flanz kennt die Broschüre nicht. „Für die Opfer von Gewalttaten gibt es den ‚Weißen Ring‘“, sagt sie. 50.000 Mitglieder sind bundesweit im Einsatz und vermitteln den Hilfesuchenden Kontakte zu Therapeuten, Anlaufstellen, finanzielle Hilfe, Rechtsbeistand und vielem mehr. Oftmals begleiten sie die Opfer sogar zu Behörden oder unterstützen sie beim Ausfüllen von Dokumenten. Opfer von Verkehrsunfällen sind dagegen weitestgehend auf sich alleine gestellt. Dabei sind sie viele und ihr Bedarf ist entsprechend groß.

Mit Unterstützung kann die dynamische Frau wieder Rad fahren. Bei 98 Prozent aller alltäglichen Dinge ist sie aber auf fremde Hilfe angewiesen.

Prävention – Entscheidung von Politik und Gesellschaft

In Deutschland sinkt die Zahl der Verkehrsopfer seit ein paar Jahren nur noch leicht. In den vergangenen zehn Jahren wurden jährlich etwa 400.000 Verkehrsteilnehmer verletzt. Technische Fortschritte in den Fahrzeugen und eine optimierte Notfallversorgung haben zuvor jahrzehntelang die Unfallzahlen reduziert. Von 1970 bis 2008 sank die Zahl der Getöteten um rund 80 Prozent und die der Schwerverletzten zwischen 1996 und 2008 um 46 Prozent. Aber seit rund zehn Jahren stagnieren die Werte und sind bei ungeschützten Verkehrsteilnehmern in letzter Zeit sogar wieder gestiegen. Fast scheint es so, dass Deutschland eine gewisse Zahl in Kauf nimmt, um die individuelle Mobilität in ihrer gewohnten Weise zu erhalten.
In Deutschland wird Vision Zero, also keine Verkehrstoten und keine Schwerverletzten, vielfach als Ziel ausgegeben. Allerdings ist die Umsetzung in Ländern wie Schweden, der Schweiz oder den Niederlanden bereits seit Ende der 1990er Jahre deutlich konsequenter. Schwedens Strategie ist: Wenn es irgendwo kracht, dann muss der Verkehrsplaner dafür sorgen, dass dies nie wieder passieren kann. Um Konflikte von vornherein zu vermeiden, werden der Rad- und Autoverkehr dort strikt voneinander getrennt und Kreuzungen durch Kreisel ersetzt.

„Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann.“

Richard von Weizsäcker, Zitat aus dem „Leitfaden für Unfallopfer & Angehörige“ des DIVO e. V.

Geschwindigkeit: Schlüssel zur Unfallvermeidung

Inzwischen ziehen immer mehr Städte und Länder nach. Die finnische Hauptstadt Helsinki hat für 2019 zum ersten Mal seit Beginn vergleichbarer Aufzeichnungen gemeldet, dass keine Fußgänger oder Fahrradfahrer im Straßenverkehr ums Leben gekommen sind. Einer der Schlüsselfaktoren für den Erfolg war laut der Vize-Bürgermeisterin Anni Sinnemäki die Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit im Ballungsgebiet. In den meisten Wohngebieten und im Zentrum der 630.000-Einwohnerstadt gilt heute Tempo 30, auf den Hauptverkehrsadern Tempo 40. Eine Langzeitstudie aus London bestätigt dies. Die Einführung von 20-mph-Zonen (32 km/h) reduzierte von 1986 bis 2006 die Verkehrsopfer in der englischen Hauptstadt um rund 42 Prozent. Seitdem werden 200 Menschen weniger pro Jahr verletzt.
„Die Zeit ist reif für Tempo 30 in den Innenstädten, auch in Deutschland“, sagt Bernhard Schlag. Er ist Verkehrspsychologe, Seniorprofessor an der Universität Dresden und war bis 2017 Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bundesverkehrsministeriums. Allerdings reiche ein Tempolimit allein oftmals nicht aus. „Breite mehrspurige, gerade verlaufende Straßen mit glattem Asphalt suggerieren den Fahrern ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit“, erklärt er. Die moderne Fahrzeugtechnik verstärke dieses Gefühl noch. Während man in den 1970er Jahren in „Ente“ und „Käfer“ die Geschwindigkeit hören und spüren konnte, dämpften die heutigen Fahrzeuge diese Eindrücke. Wer die Geschwindigkeit tatsächlich senken wolle, sollte die Straße umgestalten und den Platz zugunsten von Radfahrern und Fußgängern neu verteilen. Schlag fordert ein generelles Umdenken in der Verkehrsplanung. „Menschen machen Fehler“, sagt er, „deshalb muss die Verkehrswelt so gestaltet werden, dass sie Fehler verzeiht.“ Bei Tempo 30 könnten Fehler noch korrigiert werden – von den Verursachern ebenso wie von potenziell Betroffenen. Außerdem müssten Tempolimits kontrolliert und konsequent bestraft werden. Die aktuellen Bußgelder gehen dem Experten nicht weit genug. „Geldstrafen tun nicht richtig weh“, sagt er. Er setzt sich dafür ein, dass bei Geschwindigkeitsüberschreitungen viel früher Fahrverbote und ein Verlust des Führerscheins drohen. „Fahrverbote sind für Autofahrer, die viel und gerne fahren, deutlich wirkungsvoller.“

Neue Regeln und neue Technologien könnten helfen

Seit der Änderung der Straßenverkehrsordnung im Frühjahr 2020 dürfen Lkw über 3,5 Tonnen beim Rechtsabbiegen innerorts nur noch Schrittgeschwindigkeit fahren, das heißt 7 bis 11 km/h. Ob diese Regelung Beate Flanz’ Unfall verhindert hätte? „Der Fahrer war zu schnell und mit seiner Aufmerksamkeit ganz woanders“, sagt sie. Die Gerichtsgutachten hätten das eindeutig bestätigt. Hinzu kommt, dass der Sattelschlepper ohne Abbiegeassistenzsystem unterwegs war. Das System hätte den Fahrer warnen und den Wagen stoppen können. Die EU will ab 2022 nur noch Lastwagen und Busse mit diesen Systemen zulassen. Zwei Jahre später soll die neue Technologie dann zur Pflicht werden – allerdings nur für Neufahrzeuge. Für Radfahrer sind das schlechte Neuigkeiten. Experten schätzen, dass zwischen 30 und 40 von ihnen pro Jahr von Lastwagenfahrern beim Rechtsabbiegen übersehen werden. Die meisten dieser Unfälle enden tödlich.

Makaber: Unfallkosten steigern das Bruttosozialprodukt

Die volkswirtschaftlichen Kosten für Verkehrsunfälle betragen laut der Bundesanstalt für Straßenwesen zwischen 34 bis 35 Milliarden Euro im Jahr, wobei der Anteil an Sachschäden höher liegt als die bezifferten Kosten für die getöteten und verletzten Menschen. Makaber ist dabei, dass die volkswirtschaftlichen Kosten für das Bruttosozialprodukt als Plus gezählt werden, da Unfallkrankenhäuser, Rehakliniken, Werkstätten und Therapeuten ihre Leistungen als Umsatz abrechnen.

Wie viel ist uns ein Menschenleben wert?

Studien aus der Unfallforschung zeigen, dass Abbiegeassistenten über die Hälfte der tödlichen Abbiegeunfälle verhindern könnten. Aber den Speditionen ist der Preis von 2000 bis 3000 Euro oftmals zu hoch. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Preis einer Zugmaschine beträgt rund 100.000 Euro. Beate Flanz ist bestürzt, wie wenig den Entscheidern ein Menschenleben wert ist. Außerdem wundert sie sich, dass Versicherungen keinen Druck machen. Schließlich habe allein ihre Behandlung im Krankenhaus rund 300.000 Euro gekostet.

Sind wir zu sehr an Unfälle und Gefahren gewöhnt?

Die Spedition und der Lastwagenfahrer, der Beate Flanz mit seinem Sattelschlepper überrollte, haben sich nie bei der 52-Jährigen gemeldet. Bis heute wartet sie auf eine Entschuldigung. Während die Folgen des Unfalls ihr Leben nun rund um die Uhr bestimmen, kam der Lastwagenfahrer aus ihrer Sicht glimpflich davon. Er wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt, die zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurden. „Das Verkehrsrecht ist ein sehr mildes Recht“, erklärt Wilfried Echterhoff, Professor der Psychologie und Vorstandsvorsitzender Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland (VOD). Es sei historisch gewachsen und gehe von der Grundannahme aus, dass alle Menschen sich gemeinsam in einem unsicheren Straßenraum bewegen. „Wahrscheinlich entstehen 98 Prozent der Unfälle durch kleine Unachtsamkeiten der Verkehrsteilnehmer. Die Folgen sind oft massiv und für die Verursacher überraschend“, sagt Echterhoff. Die Schuldigen verletzen die Opfer also nicht absichtlich. Für Echterhoff reicht diese Begründung für das geringe Strafmaß allerdings nicht mehr aus. Der VOD setzt sich unter anderem dafür ein, dass die Verhältnismäßigkeit hergestellt wird. „Die Aufmerksamkeit muss auf das Schädigungspotenzial gelegt werden“, fordert Echterhoff. Wenn beispielsweise ein Autofahrer in einem Tempo-30-Bereich mit bis zu 90 km/h fahre, koste ihn das 280 Euro und nur zwei Punkte in Flensburg. Nach dem Schädigungspotenzial habe der Fahrer dann aber bereits alle Voraussetzungen geschaffen, einen Menschen zu töten. Das sollte laut VOD das Strafmaß widerspiegeln.
Eine Reform sei jedoch schwierig. Das läge laut Echterhoff vor allem daran, dass die Gesellschaft sich an den Straßenverkehr gewöhnt und angepasst habe. Obwohl die Menschen dort täglich Situationen ausgesetzt würden, die im Berufsleben verboten seien. „In der betrieblichen Arbeitssicherheit ist es unmöglich, dass einen Meter hinter unserem Arbeitsplatz ein Auto mit 50 km/h vorbeirauscht“, betont Echterhoff. Im Straßenverkehr dagegen sei das gängige Praxis. Es sei für Radfahrer und Fußgänger selbstverständlich auf einer schmalen Verkehrsinsel zu warten, während einen halben Meter vor und hinter ihnen Lastwagen und Autos vorbeifahren. „Wir haben uns an die Gefährdung gewöhnt, weil der Verkehr sich über viele Jahrzehnte langsam entwickelt hat“, sagt er.

150.000

Schwerstverletzte verschwinden aus der Statistik –bleiben aber.
Allein in zehn Jahren summiert sich die Zahl auf 150.000.
So viel wie eine Großstadt.

Ein schwerer Unfall betrifft mehr als hundert Menschen

Allerdings kann diese Gewöhnung auch gestört werden. Beispielsweise durch einen Unfall. Jeder Unfalltod betrifft im Mittel über 100 Menschen, das hat der Deutsche Verkehrssicherheitsrat im Rahmen der Studie „Runter vom Gas“ festgestellt. Betroffen seien Angehörige, Freunde, Bekannte, Unfallzeugen, Einsatzkräfte und Ersthelfer, aber auch die Unfallverursacher selbst. Sie alle könnten seelische Narben davontragen. Für Bettina Schmitt hatte der Unfall ihrer Freundin Beate solche Folgen. Von einem Tag auf den anderen traute sie sich nicht mehr aufs Fahrrad. Dabei war die Berlinerin eine versierte Rennradfahrerin, Triathletin und quasi mit dem Rad verwachsen. 30 bis 40 Kilometer fuhr sie täglich damit durch die Stadt. Zwei bis drei Beinahe-Unfälle pro Tag gehörten dabei zu ihrem Alltag. „Ich habe das immer mit Gehirnjogging abgetan“, sagt sie. Sie sei immer vorausschauend gefahren – ebenso wie Beate Flanz. „Ich konnte mir nie vorstellen, dass mir oder ihr etwas passiert.“

Nur eine Illusion von Sicherheit?

Für Außenstehende ist ihre Reaktion vielleicht schwer nachvollziehbar. Schließlich hat sie den Unfall noch nicht einmal gesehen. Für Professor Echterhoff dagegen ist sie logisch. Er sagt: „Der Unfall hat eine Illusion zerstört. Wir meinen, den Verkehr im Griff zu haben, das Geschehen steuern zu können.“ Wenn diese Illusion zerstört werde, beginne die Angst. Eine berechtigte Grundangst lasse sich auch nicht wegtherapieren. „Sie ist real, sie beschreibt ein Lebensrisiko“, sagt er. Den Betroffenen bleibt dann nur noch eines: Ihr Verkehrs-verhalten zu ändern. Bettina Schmitt hat sich ein Auto gekauft. Aber selbst damit bekommt sie auf stark befahrenen Straßen Angst. Besonders wenn neben ihr Lastwagen auftauchen. „Ich weiß jetzt, dass sie mich zerquetschen können“, sagt sie.

Wie fühlt sich ein Leben als Schwerstverletze(r) an?

Im Gegensatz zu ihrer Freundin hat Beate Flanz keine Angst mehr im Verkehr. Mit ihrem Liegerad ist sie in Berlin und Umgebung unterwegs, wann immer es geht. Sie sagt, wenn sie am Kanal die Kurven entlangfahre, dann denke sie häufig darüber nach, einfach geradeaus zu fahren. „Ich bin am Rad festgebunden, der Akku ist schwer und das Rad auch, damit gehe ich unter wie ein Stein.“ Im Oktober ist der Unfall drei Jahre her. Verändert hat sich seitdem für sie kaum etwas. „Bei mir wird nichts mehr besser“, sagt sie, „das Auge wächst nicht mehr nach, das Bein und der Arm auch nicht.“ Im Gegenteil. „Ich habe jeden Morgen wenn ich aufwache das Gefühl, mich erneut durch die 32 Tonnen Kies kämpfen zu müssen. „Ich beginne jeden Tag bei -100“, sagt sie. „Es muss schon was passieren, damit ich mich besser fühle.“
Dabei helfen auch die vielen Logopädie-, Ergo- und Physiotherapiestunden jede Woche wenig. Sie können den großen körperlichen Verlust nicht ausgleichen, sondern nur den weiteren Verfall aufhalten.
Noch kann Beate Flanz die Kosten für ihre Assistenten und Extratherapien aus der Einmalzahlung ihrer Unfallversicherung und dem Schmerzensgeld bezahlen. „Aber dafür ist das Geld ja eigentlich nicht gedacht“, sagt sie und ihre Stimme kippt. Einmal hat sie seit ihrem Unfall Urlaub gemacht – eine Radreise mit einer Gruppe. Die Kosten für die Begleitperson zahlte sie ebenfalls aus eigener Tasche, weil die Versicherung sich weigerte. „Es ist nicht vorgesehen, dass Menschen diese Unfälle überleben und dann noch so aktiv sind wie Sie“, hatte ihr ihre Ärztin vor einiger Zeit gesagt. Die Medizinerin weiß, wovon sie spricht. Schwerstverletzte Unfallopfer sind selten aktiv. Sie bleiben zu Hause. Sie werden von ihren Angehörigen gepflegt oder in Heimen und fallen nicht auf. Kaum jemand der vielen Schwerstverletzen kehrt wieder in seinen Job zurück. Und die wenigen, die es doch versuchen, geben laut Echterhoff irgendwann erschöpft auf.

Informationen und Hilfe für Verkehrsopfer

  • Deutsche Interessengemeinschaft für Verkehrsopfer (divo.de) Mit Leitfaden für Unfallopfer & Angehörige: Unfall – Schwerverletzt – Hilfe.
  • Subvenio e. V. (subvenio-ev.de)
  • Institut für Psychologische Unfallnachsorge (unfallnachsorge.de)
  • Verkehrsopferhilfe e. V. (verkehrsopferhilfe.de)
  • Notfallseelsorge (notfallseelsorge.de)
  • Traumahilfe (traumahilfe-ev.de)

Bilder: stock.adobe.com – AA+W, Beate Flanz (privat)