Mehr Raum in den Städten und Kommunen für Bewegung, Menschen und ein gutes Leben. Wie soll das gehen? Die Stadt London hat dazu das Konzept Healthy Streets zusammen mit der inzwischen weltweit tätigen Beraterin Lucy Saunders entwickelt und in die Planung implementiert. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Der Ansatz, aktuelle Entwicklungen sorgfältig zu analysieren, in die Zukunft zu denken und langfristig gesellschaftlich wünschenswerte Richtungen vorzugeben, hört sich nach einem sinnvollen Plan an. London hat genau das gemacht und dafür zusammen mit Lucy Saunders, einer Spezialistin für öffentliche Gesundheit und Verkehr, eine neue Leitlinie entwickelt, die sich an der Gesundheit der Bewohner und nicht mehr nur an der Leistungsfähigkeit des Verkehrs orientiert. Im Jahr 2014 wurde der sogenannte Healthy Streets Approach in den ersten Gesundheitsaktionsplan der Organisation Transport for London (TfL) aufgenommen, die sich in der Stadt um alle Belange des Verkehrswesens kümmert – inklusive denen der Radfahrer und Fußgänger.

Unterschätzt: Verkehr und Gesundheit

Um den Sinn des Ansatzes verständlich zu machen, geht Lucy Saunders in ihren Vorträgen zuerst auf fünf große Faktoren ein, die im Bereich Verkehr unser Umfeld und unsere Gesundheit beeinflussen: Physische Aktivität, Verletzungen, Luftqualität, Lärm und Trennungen/Abschneiden des direkten Zugangs. Alle fünf Faktoren würden uns im Hinblick auf unseren Lebensstil, unser Wohlbefinden, unsere Leistungsfähigkeit und körperliche und seelische Erkrankungen stark beeinflussen. Dazu kommen vielfältige Wirkzusammenhänge: Ein Beispiel ist die Verletzung durch Verkehrsunfälle, die nicht nur die physische Gesundheit betrifft, sondern auch das Umfeld traumatisiert und darüber hinaus allgemeine Ängste auslöst und damit unser Verhalten mitbestimmt. Ängste seien ein wesentliches Entscheidungskriterium für die bevorzugte Art der Fortbewegung. Ein anderer im Hinblick auf die Gesundheit zentraler und trotzdem stetig unterschätzter Faktor sei der grundlegende Mangel an Bewegung. Er tauche in der Statistik zwar nachgeordnet als Ursache für Erkrankungen und vorzeitige Todesfälle auf, sei aber ursächlich mitverantwortlich für viele schwere Erkrankungen wie Fettleibigkeit, Herzkrankheiten, Schlaganfälle, hoher Blutdruck, Diabetes oder auch Depressionen. Der Mangel an körperlicher Aktivität sei derzeit die größte Bedrohung für die Gesundheit der Londoner, heißt es dazu bei Transport for London.

Britische Langzeitstudie mit 300.000 Pendlern vorgestellt

Eine kürzlich veröffentlichte, groß angelegte Langzeitstudie, die mehr als 300.000 Pendlern in England und Wales im Zeitraum von 1991 bis 2016 untersuchte, hat ergeben, dass ein aktiver Lebensstil das Risiko, schwer zu erkranken oder frühzeitig zu sterben, deutlich senken kann. Grundlage für die Untersuchungen der Wissenschaftler der Cambridge University und des Imperial College London war die Begleitung verschiedene Pendler über einen Zeitraum von 25 Jahren: 66 Prozent fuhren mit dem Auto zur Arbeit, 19 Prozent nutzten öffentliche Verkehrsmittel, 12 Prozent gingen zu Fuß und nur 3 Prozent fuhren mit dem Fahrrad. Nach den Machern der Studie ergänzen die Ergebnisse vorhandene Erkenntnisse über die positiven gesundheitlichen Auswirkungen von körperlich aktiven Pendelverkehrsmitteln, insbesondere Radfahren und Zugfahren, und legen nahe, dass alle sozioökonomischen Gruppen davon profitieren könnten. Festgestellt wurde unter anderem, dass diejenigen, die mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhren, eine um 20 Prozent geringere Rate vorzeitiger Todesfälle aufwiesen. Zudem sahen die Forscher eine um 24 Prozent reduzierte Sterblichkeitsrate bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zu denen Herzinfarkt und Schlaganfall gehören, sowie eine um 16 Prozent reduzierte Sterblichkeitsrate bei Krebs und eine um 11 Prozent reduzierte Rate bei der Krebsdiagnose. Weniger positive Auswirkungen gab es bei den Fußgängern. Die Krebsdiagnosen lagen hier aber immer noch um 7 Prozent niedriger als bei den ÖPNV- oder Autopendlern.

Mehr Informationen thelancet.com

Von der Erkenntnis zum Konzept

Wie soll man diese komplexen Probleme lösen? „Nicht mit einfachen Antworten“, so Lucy Saunders. Der Healthy Streets-Ansatz sei ein komplexes System von politischen Entscheidungen und Strategien zur Schaffung einer gesünderen, integrativeren Stadt, in der die Menschen zu Fuß gehen, Rad fahren und öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Im Wesentlichen gehe es dabei nicht nur darum, Menschen Mobilität zu ermöglichen, sondern sie einzuladen und Anreize zu schaffen für einen anderen Lebensstil. Was hierzulande zwar oft diskutiert, bislang aber nur in einem geringen Maß als Leitlinie festgeschrieben oder umgesetzt wird, ist in London längst ein von Bürgermeister und Verwaltung beschlossenes Konzept, das die Zielrichtung bis zum Jahr 2030 vorgibt. So heißt es in der Strategie von Transport for London: „Unser Zweck als integrierte Verkehrsbehörde ist es, London mobil zu halten, zu wachsen und das Leben vor Ort zu verbessern.“ Die Qualität der Gesundheit sei untrennbar verbunden mit der Form der Mobilität und den Anreizen, Wahlmöglichkeiten und Angeboten für die Art und Weise der Fortbewegung.

Zehn Indikatoren für eine gesündere Stadt

Immer wieder betont Lucy Saunders, dass Healthy Streets keine idealisierte Vision für Modellstraßen sei. Beim Konzept ginge es vielmehr um einen langfristigen Plan, um die Wahrnehmung der Bevölkerung und der Besucher zu verbessern und allen dabei zu helfen, aktiver zu sein und von den gesundheitlichen Vorteilen zu profitieren. Da 80 Prozent des Verkehrs in London auf den Straßen stattfänden, sei es wichtig Straßen zu schaffen, die angenehm, sicher und attraktiv sind. Auf der anderen Seite dürften Faktoren wie Lärm, Luftverschmutzung, schlechte Zugänglichkeit, fehlende Sitzgelegenheiten oder mangelnder Wetterschutz keine Barrieren aufbauen für Menschen und hier insbesondere die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. Um die Qualität messbar zu verbessern, hat die Expertin in ihrem Konzept zehn evidenzbasierte Indikatoren dafür entwickelt, was Straßen zu attraktiven, gesunden und integrativen Orten macht. Die Arbeit in Bezug auf diese Indikatoren trage dazu bei, eine gesündere Stadt zu schaffen, in der alle Menschen einbezogen seien, gut leben könnten und in der Ungleichheiten abgebaut würden.

Milliarden-Investitionen und hoher Nutzen

Mobilitätswende in Zeiten von Corona? Wir haben Lucy Saunders, die Erfinderin des Healthy-Streets-Konzepts zu ihrer Einschätzung und Notwendigkeiten für die Zukunft befragt.

Frau Saunders, Sie sind mit Experten auf der ganzen Welt vernetzt und beobachten die Situation nicht nur in London sehr genau. Was verändert sich gerade?
Wir haben aktuell sehr viele unerfahrene und unsichere Radfahrer, die für lange Zeit nicht Rad gefahren sind, oder die jetzt damit anfangen wollen. Was jetzt in vielen Ländern dringend nötig wäre, ist, dass wirklich große Anstrengungen unternommen werden, um den Menschen genug sicheren Raum zu geben.

Vielerorts werden ja neue Räume für Radfahrer freigemacht, Stichwort Protected Bikelanes.
Was wir aktuell sehen, das sind viele kleine Lösungen in verschiedenen Städten mit ganz viel Publicity drum herum. Aber wenn wir genau hinschauen, dann sehen wir, dass es wirklich nur sehr kleine Teile der In­frastruktur sind, die jetzt für das Fahrrad freigemacht werden. Es wird bislang nicht realisiert, dass Radfahrer überall und auf jeder Straße sichere Räume brauchen. Ich sehe selbst jetzt nicht, dass das passiert. Zudem bin ich auch besorgt, dass die Menschen nach der Corona-Krise sagen, okay ihr habt doch jetzt eure Fahrrad-Infrastruktur, also seid jetzt einfach still und hört auf, immer weiter über Radfahren zu reden. Wir wollen doch jetzt zurück zum Business-as-usual.

Sehen Sie die aktuellen Entwicklungen trotzdem positiv oder gibt es hier Risiken?
Wir haben ein großes Risiko von viel mehr Autos auf den Straßen, weil den Menschen empfohlen wird, keine öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen, und sie meinen, dass sie keine andere Option haben. Auf den Fußwegen ist viel zu wenig Platz und der Umstieg aufs Rad sieht für sie nicht leicht aus. Sie wissen nicht, was für ein Fahrrad sie kaufen oder welche Kleidung sie tragen sollen. Dazu brauchen sie unterstützende Informationen und vielfach auch Trainings, damit sie lernen, dass Radfahren wirklich eine Option ist als echtes Verkehrsmittel.

Was ist ihre Empfehlung in Bezug auf eine bessere Gesundheit?
In allen Ländern kann man sehen, dass nur ein Bruchteil der empfohlenen physischen Aktivität erreicht wird. Da, wo Menschen ihre Bewegung durch Sport bekommen, sehen wir einen großen Einbruch im Alter von Anfang 30, also dann, wenn andere Dinge wichtiger und zeitraubend werden, wie die Familie und der Job. Auf der anderen Seite wissen wir, dass Menschen ihren Lebensstil anpassen, wenn sie in einer bewegungsfördernden Umgebung leben, wo das Radfahren und Zufußgehen zur täglichen Routine gehört und das dann auch für ihr Leben beibehalten. Wenn wir also mehr Bewegung über das ganze Leben bis ins Alter haben wollen, dann müssen wir auf Zufußgehen und Radfahren als tägliche Aktivität setzen.

Erläuterungen zu den zehn Indikatoren für Healthy Streets

Everyone feels welcome
Straßen müssen ein einladender Ort sein, an dem jeder gehen, Zeit verbringen und sich mit anderen Menschen austauschen kann. Der beste Test dafür ist, ob die gesamte Gemeinschaft, insbesondere Kinder, ältere Menschen und Behinderte, diesen Raum gerne nutzen.

People choose to walk and cycle
Die Menschen werden zu Fuß gehen und Rad fahren, wenn dies für sie die attraktivsten Optionen sind. Das bedeutet, dass Gehen und Radfahren sowie öffentliche Verkehrsmittel bequemer, angenehmer und attraktiver sein müssen als die Nutzung des privaten Autos.

People feel relaxed
Die Straßenumgebung kann uns beunruhigen – wenn sie schmutzig und laut ist, wenn sie sich unsicher anfühlt, wir nicht genug Platz haben, oder wenn wir nicht leicht dorthin gelangen können, wo wir hinwollen. All diese Faktoren sind wichtig, um unsere Straßen einladend und attraktiv zu machen.

Easy to cross
Unsere Straßen müssen für alle leicht zu überqueren sein. Das ist wichtig, weil die Menschen es vorziehen, direkt und schnell dorthin zu gelangen, wo sie hinwollen. Wenn wir ihnen das schwermachen, werden sie frustriert aufgeben. Das hat Auswirkungen auf unsere Gesundheit, auf unsere Städte und Kommunen und lokale Unternehmen.

Clean air
Die Luftqualität wirkt sich auf die Gesundheit eines jeden Menschen aus, besonders aber auf einige der verletzlichsten und am stärksten benachteiligten Menschen – Kinder und Menschen mit gesundheitlichen Problemen.

Not too noisy
Straßenverkehrslärm beeinträchtigt unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden in vielerlei Hinsicht. Die Verringerung des Lärms schafft ein Umfeld, in dem die Menschen bereit sind, sich Zeit zu nehmen und miteinander zu interagieren.

Places to stop and rest
Regelmäßige Möglichkeiten zum Anhalten und Ausruhen und Sitzgelegenheiten sind unerlässlich, um Umgebungen zu schaffen, die für alle Menschen integrativ sind, und um Straßen zu einladenden Aufenthaltsorten zu machen.

People feel safe
Der motorisierte Straßenverkehr kann dazu führen, dass sich Menschen zu Fuß oder mit dem Fahrrad unsicher fühlen. Die Menschen müssen sich aber auch vor unsozialem Verhalten, unerwünschter Aufmerksamkeit, Gewalt und Einschüchterung sicher fühlen.

Things to see and do
Straßenumgebungen müssen für Menschen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind, visuell ansprechend sein, sie müssen den Menschen Gründe bieten, sie zu nutzen – lokale Geschäfte und Dienstleistungen, Möglichkeiten zur Interaktion mit Kunst, Natur und anderen Menschen.

Shade and shelter
Schatten und Schutz kann es in vielen Formen geben – Bäume, Markisen, Kolonnaden – und sie sind notwendig, um sicherzustellen, dass jeder bei jedem Wetter die Straße benutzen kann. Bei heißem Wetter benötigen Menschen genauso Schutz wie bei Regen und Wind.

Lucy Saunders

ist Spezialistin für öffentliche Gesundheit, Urbanistin und Verkehrsplanerin. Sie schuf den Healthy Streets Approach, einen evidenzbasierten Rahmen für die Entscheidungsfindung auf allen Ebenen, um das Thema Gesundheit im Stadtverkehr, im öffentlichen Bereich und in der Planung zu verankern. Aufbauend auf ihrem Erfolg in London teilt sie nun ihr Fachwissen mit Städten und Regionen weltweit. Der Name Healthy Streets ist rechtlich geschützt.

Mehr Informationen unter healthystreets.com


Bilder: www.brompton.de – pd-f, Lucy Saunders

Die Geschichte einer Zerstörung

Hermann Knoflacher

Das Auto sei uns Menschen näher als unsere eigenen Kinder, behauptet der bekannte Wiener Verkehrsplaner und emeritierte Professor Hermann Knoflacher. In seinem provokanten Buch sucht der geistige Vater der autofreien Wiener Innenstadt Ursachen für dieses Phänomen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


„Am Anfang stand das Auto für freie Fahrt, für Mobilität und für Freiheit“, heißt es im Klappentext. „Doch was ist aus diesen Träumen geworden?“ Hermann Knoflacher analysiert in dem 2013 erschienenen Buch unser Umfeld und unser Verhalten. Dabei kommt er zu Erkenntnissen, die heute, nach rund vier Millionen zusätzlichen Autos in Deutschland, aktueller denn je erscheinen.
„Ein normaler Mensch würde unseren derzeitigen Lebensraum als total verrückt bezeichnen“, so der Verkehrswissenschaftler in einem Interview mit der Zeit. Im Laufe der Jahrzehnte sei es zu einer „völligen Werteumkehr“ gekommen, die die uns nicht einmal mehr auffiele. „Das Auto ist wie ein Virus, das sich im Gehirn festsetzt und Verhaltenskodex, Wertesystem und Wahrnehmung total umkehrt.“ Unsere Lebenswelt sei auf das Auto ausgelegt, womit alle anderen Mobilitätsbedürfnisse unterdrückt würden. „In einer solchen Umgebung ist es natürlich logisch, dass jeder Mensch mehr oder weniger zum Autofahren gedrängt wird.“
Auf der Suche nach psychologischen Erklärungsmustern findet der 1940 geborene Raum- und Stadtplaner, der weiter mit Artikeln, Vorträgen und Buchprojekten aktiv ist, klare Worte für gängige Verhaltensmuster: „Alle Lebewesen versuchen die Sicherheit und Gesundheit ihrer Nachkommen selbst unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen und zu schützen. Auto fahrende Eltern zerstören die Lebensräume ihrer Nachkommen im unmittelbaren und weiteren Umfeld aus Rücksichtslosigkeit, Bequemlichkeit und Blindheit gegenüber den Bedürfnissen ihrer Kinder.“

Sichtbare Platzverschwendung. Hermann Knoflacher mit seinem berühmten „Gehzeug“.

Weitere Fachbücher von Hermann Knoflacher:

„Stehzeuge: Der Stau ist kein Verkehrsproblem“

„Verkehr ist kein Schicksal: Der öffentliche Verkehr in Wien“

„Zurück zur Mobilität! Anstöße zum Umdenken“

„Grundlagen der Verkehrssiedlungsplanung (Band 1 u. 2)“

„Fußgeher und Fahrradverkehr: Planungsprinzipien“


Virus Auto: Die Geschichte einer Zerstörung | von Hermann Knoflacher | Wirtschaftsverlag Ueberreuter | 2013 | 236 Seiten | ISBN-10: 3800074389 | nur noch digital erhältlich


Bilder: Wirtschaftsverlag Ueberreuter, Wikipedia / creativecommons

In diesen besonderen Zeiten kommt der vielfach unterschätzten Fahrradbranche eine wichtige Funktion zu. Mit einer Vielzahl von Innovationen und einer neuen Selbstverständlichkeit hat sich das Fahrrad in Deutschland zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor und einem Motor insbesondere für den Inlandstourismus entwickelt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


(Kurz-)Urlaube mit dem Rad werden immer beliebter – besonders unter der Woche.

Der Fahrradverband VSF schätzt, dass die deutsche Fahrradwirtschaft inklusive Dienstleistungen und Tourismus für 278.000 Arbeitsplätze und 16 Milliarden Euro Gesamtumsatz steht. Rund 76 Millionen Fahrräder und E-Bikes gab es nach den Zahlen des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV) Ende 2019 in Deutschland – davon 5,4 Millionen E-Bikes. Allein im letzten Jahr kamen dabei 1,36 Millionen E-Bikes hinzu. Zum Vergleich: Laut VDA betrug der Bestand an Elektroautos Ende 2019 trotz weitreichender Förderungsprogramme insgesamt nur rund 239.000. Erfreulich ist, dass es gerade die mittelständischen Hersteller aus Deutschland und Mitteleuropa sind, die sich zu weltweiten Innovationsmotoren entwickelt haben, und dass in Deutschland 68 Prozent des Absatzes auf den Fachhandel entfallen. Die vielseitige Branche bietet über 80 verschiedene Berufe. Für Interessierte wurde vor Kurzem eine informative Plattform eingerichtet unter www.fahrrad-berufe.de.

Fahrradtourismus wird immer beliebter

Neben den Trends zu gesünderem Leben, Aktivität und Gesundheit haben vor allem die ausgereiften Produkte und viele Verleih- und Ser­viceangebote vor Ort für die steigende Beliebtheit des Fahrradtourismus gesorgt. Detaillierte Zahlen zum Fahrradtourismus bietet der ADFC mit seiner jährlichen Radreiseanalyse. Für das Jahr 2019 stellt er unter anderem fest, dass insbesondere die Zahl der Rad-Kurzreisen unter der Woche stark zugenommen hat. 5,2 Millionen Menschen waren es hier 2019 und damit 27 Prozent mehr als im Vorjahr. Dazu kommen 5,4 Millionen Personen, die Radurlaube mit drei und mehr Übernachtungen machten, 6,8 Millionen Kurzreisende am Wochenende sowie imposante 330 Millionen Tagesausflüge auf dem Rad in der Freizeit und ca. 62 Millionen Tagesausflüge im Urlaub.

Radfahren als Konjunkturprogramm

Interessant sind die Zahlen einerseits, da nach den Erkenntnissen des ADFC immer mehr Radtouristen das Rad nach dem Fahrradurlaub auch im Alltag häufiger nutzten. Zum anderen würden Radurlauber 70 bis 100 Euro pro Tag ausgeben. „Ein Konjunkturprogramm für die ganze Republik“, so die ADFC-Tourismusexpertin Louise Böhler. Bezogen auf die Region hat die Ruhr Tourismus GmbH Zahlen erhoben. Danach haben Radtouristen im letzten Jahr im Ruhrgebiet 76 Millionen Euro ausgegeben. Wer einen Tagesausflug durch das Revier mache, gebe im Durchschnitt 14,80 Euro pro Kopf aus, vorwiegend für Speisen und Getränke. Bei einer Fahrradreise mit Übernachtung seien es fast 100 Euro pro Tag, wobei die meisten dieser Gäste statistisch 5,4 Tage im Revier blieben.


Grafik: adfc

Für den gewerblichen Dauereinsatz unter härtesten Bedingungen wurde das zweispurige E-Cargobike A-N.T. in enger Zusammenarbeit zwischen der ZEG Zweirad-Einkaufsgenossenschaft und der b&p engineering mobility GmbH entwickelt. Das Besondere: Viele der eingesetzten Komponenten des „Heavy Duty“-Bikes stammen aus dem Fahrzeugbau und sind damit für höhere Grundlasten und eine geringe Verschleißanfälligkeit ausgelegt. Der modulare Aufbau kann nach Herstellerangaben je nach Anforderung an die unterschiedlichsten Aufgaben adaptiert werden. Zum Beispiel für die Post- und Paketzustellung, für Handwerker, als Servicefahrzeug bei Abfallwirtschaftsbetrieben, als Muldenkipper etc. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


In dem stabilen und flexiblen Kraftpaket mit einem zulässigen Gesamtgewicht von 280 kg kommen ein drehmomentstarker Mittelmotor in Kombination mit einem dreistufigen Getriebe und einer hydraulischen Dreischeiben-Bremsanlage zum Einsatz. Um den Service zu erleichtern, wurde die Konstruktion so ausgelegt, dass Verschleißteile wie Bremsen und Reifen einfach ausgewechselt werden können.

Durch die Einbindung in das Netz der 960 unabhängigen Fahrrad-Fachhändler im Verbund der ZEG soll deutschlandweit ein schneller Service gewährleistet sein.


Bilder: b&p engineering mobility GmbH

Estland zählt unter den europäischen Ländern zu den Vorreitern bei der Digitalisierung. Da mag es nicht überraschen, dass die E. ZIEGLER Metallbearbeitung GmbH als Spezialist für innovative Fahrrad- und (E-)Mobilitätslösungen auf die intelligenten Zweirad-Abstellkonzepte des jungen estnischen Unternehmens BIKEEP setzt. Die jüngst von ZIEGLER in einem Aachener Parkhaus umgesetzte Pilotanlage demonstriert sowohl den hohen Nutzen dieser vielversprechenden Kooperation als auch die vielfältigen Vorteile des smarten Fahrradparksystems. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


„Sichere Fahrradabstellanlagen“ stehen für viele Bundesbürger ganz oben auf der Wunschliste, wenn es um Verbesserungen für den Radverkehr geht: Beim letzten Fahrradmonitor gaben 44 Prozent der Befragten an, dass die Kommunen in diesem Bereich deutlich mehr tun sollen. Eine zukunftsweisende Antwort auf diese Forderung hat ZIEGLER nun in
Aachen vorgestellt, wo für die städtische Parkhausbetreibergesellschaft APAG erstmals in Deutschland eine Fahrradparkanlage von BIKEEP installiert wurde. Der Clou: Das modulare Stellplatzsystem sichert das Fahrrad nicht nur mit einem Handgriff an Rahmen und Vorderrad gegen Diebstahl, sondern wird zudem mit einer digital steuerbaren Sperrmechanik ver- und entriegelt. Bei der Aachener Pilotanlage wurde diese Funktion in ein bestehendes Verbundparksystem eingebunden: Mit einem „Mobility Key“ können BIKEEP-Nutzer den Schließbügel elektronisch steuern.
Das System BIKEEP erweist sich im Aachener Vorzeigeprojekt als komfortable, platzsparende Lösung, um gerade hochwertige Räder mithilfe modernster elektronischer Technik einfach und geschützt unterzubringen. Wie dort umgesetzt, kann das Basissystem den Kundenwünschen entsprechend weiterentwickelt und individuell angepasst werden. Daneben bietet BIKEEP optionale Zusatzmodule wie Solarpaneele und Ladefunktion oder den Zugriff auf aufschlussreiche Nutzungsdaten. So können potenzielle Betreiber ihren Kunden oder auch Mitarbeitern nicht nur absolut sichere Fahrradabstellplätze anbieten, sondern sich gleichzeitig von Mitbewerbern abheben.


Bilder: Ziegler

Speziell für kleine Unternehmen wie Einzelhändler, Gastronomen, Handwerker, Pflegedienste etc. hat der E-Bike-Spezialist Riese & Müller ein neues Vermietkonzept entwickelt. Unternehmen können vorkonfigurierte E-Cargobikes für drei Monate zum Festpreis von, je nach Modell, 450 Euro oder 550 Euro mieten und diese danach wieder zurückgeben oder übernehmen. „Besonders in der aktuellen Zeit sehen wir einen hohen Bedarf an alternativen Liefermöglichkeiten, gerade für lokale Unternehmen“, so Heiko Müller, Gründer und Geschäftsführer von Riese & Müller. Das neue Konzept soll vor allem für kleine Unternehmen den schnellen und kostengünstigen Umstieg für den Warentransport ermöglichen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Für die Vermietung bietet Riese & Müller die beiden E-Cargobike-Modelle Packster 60 und das größere, vollgefederte Load 75 als vorkonfigurierte Rent-Edition, inklusive Komfort Kit, Box, Persenning, Gepäckträger, zusätzlichem Kettenschloss, RX Chip und stufenloser Enviolo-Nabe mit Riemenantrieb. Beide Cargobikes sind mit einem Bosch-Antrieb und einem 1.000-Wh-Doppelakku ausgerüstet und eignen sich damit auch für weite und hügelige Strecken. Die Vermietung erfolgt in enger Kooperation mit dem lokalen Fachhandel.


Bilder: Riese & Müller

Die Niederlande stellen für viele das Land dar, wie man es sich hier nach einer Verkehrswende wünscht. Beispiele zeigen: Mit Radwegen allein ist es nicht getan. Man muss dranbleiben und in größeren Zusammenhängen denken. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Wer an der Station Centraal in Amsterdam aus dem Zug steigt, steht mitten in einer Großstadt – und in einer Mobilitäts-Idylle: Über den weiten Vorplatz nur Radfahrer, Taxis und kleine E-Autos auf schmalen Wegen. Ansonsten ist der Platz von Fußgängern bevölkert, viele auf dem Weg zur wenige Meter entfernten Straßenbahn- und Busstation. Von hier aus fahren Bahnen in alle Winkel der weitverzweigten Stadt, die sich in den letzten Jahren sogar über künstlich angelegte Inseln im Norden ausgebreitet hat. Kurz vor dem Haupteingang des Bahnhofs beginnt die nahezu autofreie Einkaufsstadt.
In den letzten 15 bis 20 Jahren gab es auch durch Zuwanderung einen Schub an Arbeitsplätzen in der größten Stadt der Niederlande. Sie wächst kontinuierlich. Heute hat sie gut 850.000 Einwohner, vor 20 Jahren waren es noch 680.000. Die Räder der Fahrradpendler stehen wenige Meter von den Gleisen entfernt in teils schwimmenden Fahrradparkhäusern am Hinterausgang des Bahnhofs. Ihre Zahl wird laufend aufgestockt, trotzdem hinkt die Stadt dem weiter wachsenden Bedarf oft hinterher. Amsterdam ist aber auch die touristisch wichtigste Stadt in den Niederlanden. In den letzten Jahren lockte sie immer mehr Touristen und Hotelketten an.

Beispiel Amsterdam: die permanente Arbeit an der Lebensqualität

Die holländische Weltstadt wird, wie alle größeren Wirtschaftszentren, täglich von enormen Pendlerströmen heimgesucht. Natürlich leidet auch die Grachtenstadt unter der Verkehrslast, vor allem in Sachen Autoverkehr, auch wenn man es am bahnhöflichen Idyll zunächst gar nicht sieht. Staus wie in München oder Köln auf und neben den Hauptverkehrsadern, schlechte Luft, zu wenig Platz. Das gibt es auch hier. Doch die Stadt kämpft dagegen an. Autos aus dem Innenstadtbereich heraus zu halten, ist nicht einfach. Offizielle Internetseiten der Stadt raten davon ab, die Stadt per Auto zu besuchen. Ein dichtes Netz aus Park & Ride-Plätzen sorgt für etwas Entlastung. Die relativ hohen Gebühren eines elektronisch gesteuerten Bezahlsystems schrecken vom Besuch per Auto ab.
Und die Bewohner? In den Wohnvierteln wurden in den letzten 15 Jahren Parkausweise für Anwohner extrem verteuert. 535 Euro kosten sie in Amsterdam im Schnitt. Und die Parkplätze werden abgebaut: jährlich um etwa 1.500. Wer innerhalb der Stadt umzieht, muss im neuen Viertel auf seinen Parkausweis obligatorisch verzichten.
Intelligente Verkehrsplanung und -routing, ein ständig optimiertes Netz der öffentlichen Verkehrsmittel und, natürlich, das bekannte feingliedrige und eigenständige Radwege-Netz sind hier die größten Mobilitäts-Garanten. „Für unsere Städte gibt es nur eine Möglichkeit zu mehr Lebensqualität, und der führt über die Verringerung des Autoverkehrs“, sagt Bernhard Ensink, strategischer Berater beim Verkehrsplanungs- und Beratungsunternehmen Mobycon. Mittlerweile hat die Firma 45 Mitarbeiter an drei niederländischen Standorten, zudem einen Standort in Nordamerika. Ensink hat Erfahrung in Sachen Lenkung von Mobilitätsströmen und Förderung von Fahrradverkehr. Er war Gründer und Leiter der internationalen Fachkonferenz Velocity und leitete ab 2006 den Dachverband der europäischen Radfahrerverbände ECF.

Neue Herausforderungen und Pop-up-Radwege durch Corona

Die aktuelle Corona-Krise bringt neue Herausforderungen und bedeutet für Mobycon noch mehr Arbeit: Das Unternehmen war auch als Berater bei Corona-Pop-up-Radwegen in Berlin involviert. Für ihre Planung wurde kurzfristig sogar ein Handbuch in mehreren Sprachen herausgegeben – abrufbar auf der Internetseite mobycon.com. Eine Erfahrung aus Ensinks langjähriger Beratung und Analyse, die er für allgemeingültig hält: „Überall, wo mehr als 30 Stundenkilometer gefahren werden darf, macht Mischverkehr keinen Sinn!“ Eine klare Trennung der Wege für Autos und Fahrräder – ein Konzept, wie man es in den Niederlanden fast überall bestätigt bekommt. „In Holland ist es so, dass ambitionierte Städte mit eigenem Personal Projekte und Programme erarbeiten.“ Für die erste Analyse und Beratungen wird gern auf externe Unternehmen zurückgriffen. „Die Analyse ist das Wichtigste. Unterschiedliche Ausgangslagen brauchen unterschiedliche Maßnahmen“, sagt er und verweist auf Projekte in Delft und Rotterdam, wo regionale Fahrrad-Schnellstraßen gebaut wurden. In anderen Städten hätte man diese vielleicht ganz anders angelegt – entscheidend seien die Arten der Pendlerströme, vorhandene In­frastrukturen und vieles mehr. Und stehen bleiben gibt es nicht: Seit einigen Jahren werden bei Mobycon auch spezifische Besonderheiten für die schnellen S-Pedelecs in die Netzplanung einbezogen.

Fahrradsozialisation: in den Niederlanden eine gesellschaftliche Aufgabe

Natürlich muss man nicht nur baulich nachhelfen, um die Bewohner und Touristen auf die Räder zu bekommen, sondern zunächst gesellschaftlich. Wie mit einer Fahrrad-Bürgermeisterin für Amsterdam. Diese Ehrenamtsstelle gibt es in Amsterdam seit 2016 und mittlerweile auch andernorts. Katelijne Boer­mas Aufgabe ist es unter anderem, in der Bevölkerung Ideen für noch mehr Fahrradmobilität aufzuspüren und weiterzugeben – auch an die Behörden. Vernetzung ist für sie hier ein Zauberwort. Ein Fokus ihrer aktuellen Arbeit ist das Thema „Kinder aufs Fahrrad“. Helikopter-Eltern sind keine deutsche Erfindung, auch in Amsterdam gibt es den Trend, Kinder per SUV zur Schule und zu Freizeitaktivitäten zu chauffieren. Hier versucht man, dem entgegenzutreten. Aufklärung, Lernprogramme, Verbreitung von Lastenrädern. Schließlich sollen die Kinder nicht an das Auto gewöhnt werden, sondern an intelligente Nutzung nachhaltiger Mobilitäten – und das Fahrrad. Mit bis ins Detail abgestimmten Programmen lernen Kinder hier, gut und sicher Fahrrad zu fahren.

Vernetzt denken bringt Mobilitäts-Mehrwert. Die Hälfte der Bahnreisenden nutzt in den Niederlanden das Fahrrad als Zubringer.

Fahrradparadies? Das ist nur die halbe Geschichte

Das Bild der Niederlande als Fahrradnation ist richtig, aber es ist nur die Perspektive der letzten 30 bis 40 Jahre. Oft wird vergessen, dass auch Städte wie Amsterdam nicht als „Biketown“ geboren wurden. Es hilft, die Situation in Deutschland zu verstehen, wenn man sich die Geschichte der Fahrradnation vor Augen führt. Zunächst gleicht die Vergangenheit der Niederlande der bundesdeutschen Geschichte: Vor dem Zweiten Weltkrieg dominierte das Fahrrad das Stadtbild uneingeschränkt. Radwege? Auch sie gab es, aber Autos waren in der Unterzahl, in den meisten kleineren Städten waren Radwege kaum vorhanden, da unnötig. Durch eine dem deutschen Wirtschaftswunder ähnliche ökonomische Dynamik erreichten die Niederländer nach dem Krieg schnell einen hohen Wohlstand. Prosperität hieß auch hier: Konzentration auf das Auto. Ab Mitte der 1950er Jahre musste deshalb in vielen Städten mehr Platz fürs Auto geschaffen werden. Ganze Straßenzüge wurden abgerissen und neu aufgebaut. Mehrspurige Führungen, riesige Parkplätze in den Innenstädten. Es gab die ganze Palette an Umwidmungen der Flächen, die man auch aus Deutschland kennt. Die Zahl der Radfahrer sank dabei jedes Jahr um sechs Prozent.

„Wir müssen jetzt darüber nachdenken, was wir der jungen Generation vermitteln“

Katelijne Boerma, Amsterdamer Fahrrad-Bürgermeisterin

Mehr Auto-Mobilität – mehr Unfälle

Die durchschnittlich pro Tag zurückgelegte Strecke pro Person versiebenfachte sich auf fast 30 Kilometer. 1971 erreichte eine Folge der Entwicklung seinen traurigen Höhepunkt: 3300 Menschen starben bei Verkehrsunfällen, darunter ein hoher Prozentsatz an Kindern.
Hier trennen sich die Entwicklungen der beiden Länder: Ab den Siebzigern gingen die Holländer zu Tausenden auf die Straßen, um gegen die Verkehrstoten zu demonstrieren. Sie forderten sicherere Straßen und lebenswertere Innenstädte für Menschen, denen der Platz zum Leben weggenommen worden war. Wesentlich mit zu einem Umdenken beigetragen hat dabei die Ölkrise 1973. Sie verstärkte den Protest und stellte neben mehr Sicherheit und Menschenfreundlichkeit im Verkehr auch den Umweltgedanken und die Unabhängigkeit vom Erdöl in den Mittelpunkt. Einige kleinere Städte gingen voraus und schufen autofreie Innenstädte. Wo Mischverkehr bleiben sollte, da wurde ein neues Radwegenetz entwickelt – mit getrennten Wegen für Autos und Räder, Autostraßen wurden oft zurückgebaut. Wo komplette Fahrrad-Netze umgesetzt wurden, stieg der Anteil der Fahrradnutzung binnen kurzer Zeit wieder um bis zu 75 Prozent an. Mit fahrradpolitischen Richtlinien, die nicht verpflichtend waren, aber vom ganzen Land übernommen wurden, hatten sich die Niederlande auf den Weg zum Fahrradland gemacht, wie wir es heute kennen. Nebeneffekt: Laut Statista gab es im Jahr 2018 nur 678 Verkehrstote im ganzen Land.
Eine Voraussetzung für so einen Wandel ist unerlässlich: „Das Fahrrad muss als vollwertiges Verkehrsmittel anerkannt werden – von allen Beteiligten, vom Verkehrsplaner über die Behörden bis hin zum Nutzer“, betont auch Bernhard Ensink.

Fahrradanteil Utrecht: 40 Prozent und steigend

Eine der Städte, die in und nach den Siebzigern weitreichend umgebaut wurden, ist Utrecht. Die Stadt zählt 350.000 Einwohner, 125.000 Radfahrer sind laut Statistik täglich mit dem Rad in der City unterwegs. Das braucht entsprechend breite Radwege für die Rushhours, aber auch Parkmöglichkeiten. Um die 35.000 Plätze sollen es allein in der Innenstadt sein. Doch Utrecht ist auch eine Durchgangsstadt. Sie liegt zentral im Land, der Bahnhof Utrecht Centraal spielt eine herausragende Rolle für den Fernverkehr. Vor allem ins 45 Kilometer entfernte Amsterdam pendeln die Bewohner und die der umliegenden Ortschaften zur Arbeit. Für die Möglichkeit, das mit der Bahn in 25 Minuten zu tun, sorgt unter anderem auch das größte Fahrradparkhaus der Welt. Von der Einfahrt ins Parkhaus unter dem Bahnhof bis zum Zug brauchen Pendler etwa 10 Minuten – inklusive sicherem Abstellen des Zweirads. Seit Ende 2019 sind allein dort 12.500 Rad-Parkplätze vorhanden, dazu um die Ecke mehrere Hundert weitere für Spezial- und Lastenräder. Das Parkhaus ist mit einem Leitsystem ausgestattet, das die Reihen angibt, in denen sich freie Plätze befinden.
Dieses Beispiel zeigt: Vernetzt zu denken bringt Mobilitäts-Mehrwert. Wer Auto-Pendlerströme vermindern will, sorgt für gute Anschlüsse bei der alternativen Mobilität schon auf halbem Weg dorthin. In den Niederlanden erreicht rund die Hälfte der Pendler den Bahnhof mit dem Fahrrad. Schon innerhalb der Stadt sichert ein auf den Radverkehr zugeschnittenes Wegenetz eine komfortable Anfahrt zum Bahnhof. Am Ankunftsort wird die Fahrt mit dem öffentlichen Verkehr OV oder Leihrädern von OV Fiets. Diese auch am kleinsten holländischen Bahnhof vorhandenen Leihräder kosten 3,85 Euro je Tag. Deutlich günstiger wird es mit dem Jahresticket, das nur wenige Euro kostet. Von der Stadt finanzierte Fahrradlehrer geben Unterricht oder helfen Neuzugezogenen, sich auf dem Rad in der Großstadt zurechtzufinden. E-Tretroller, die hierzulande vor Kurzem noch als vermeintliche Mobilitätsrevolution gefeiert wurden, sind in den meisten niederländischen Städten übrigens so gut wie nicht vertreten; sie werden einfach nicht gebraucht.

Auf einem guten Weg: Die vorhandenen Radschnellwege in den Niederlanden in Grün, die orangefarbenen sind in der Planungs- oder Ausführungsphase. Zentren sind bereits teils sehr gut abgedeckt. Grau: Verbindungsrouten der Kluster.

Niederländer denken größer und vernetzter

„Hier in Holland sind alle Autofahrer auch Fahrradfahrer“, sagt Marion Kresken vom IPV Delft, einem Ingenieurbüro in der gleichnamigen Stadt, das sich mit der Planung und Durchführung von Radweganlagen, speziell Brücken beschäftigt. „Das fördert das Verständnis füreinander und für die Radnetz-Planungen ungemein. Überhaupt gibt es in den Niederlanden viel mehr Institutionen und Verbände, die netzwerkartig zusammenarbeiten und vom öffentlichen Träger auch gern einbezogen werden. Man analysiert zusammen und denkt zusammen nach, das kann sehr effektiv sein.“ Und auch die unterschiedliche Mentalität und Lebensweise wirke sich auf die Entwicklung und Dynamik hin zur neuen Mobilität aus. „Man denkt hier vernetzter, größer.“ Ein gutes Beispiel ist der geradezu ikonische Hovenring in Eindhoven, der die Radfahrer aus dem gefährlichen Kreuzungsverkehr nimmt und ihnen auf lichter Höhe einen eigenen Kreisverkehr gibt. Dabei war nicht der Wunsch nach einem besseren Fluss des Fahrradverkehrs der Anlass, „sondern der Wunsch nach ungehindertem Autoverkehr“, erklärt dazu Bernhard Ensink. Der kühne Entwurf von IPV Delft kam bei den Entscheidern in Niederlanden gut an. „Unsere Entwürfe für deutsche Projekte sind dagegen oft zu gewagt, was die Reichweite der Lösungen anbetrifft“, so Marion Kresken. In Deutschland traue man sich derzeit weniger zu und es sei komplizierter, etwas auf die Beine zu stellen.

IPV Delft hat den Hovenring in Eindhoven mitentwickelt und gebaut. Der erhöhte Kreisverkehr wurde wie eine Hängebrücke mit Abspannseilen an einem Pylon aufgehängt. Die Anfahrrampen für die Radfahrer sind relativ lang, um die Steigung gering zu halten. Täglich nutzen etwa 4000 bis 5000 Radfahrende das Bauwerk. Die Kosten des Projekts betrugen elf Millionen Euro.

Beispiel Houten – Modellstadt statt Utopie

Die Kleinstadt Houten, wenige Kilometer südlich von Utrecht, wird auch „Verkehrskonzept der Zu-kunft“ genannt. Das ursprüngliche 8000-Einwohner-Dorf im Umkreis von Utrecht wurde so umgebaut, dass man von seinem Viertel aus die angrenzenden Wohnviertel zu Fuß oder mit dem Fahrrad direkt erreichen kann; mit dem Auto aber muss man auf eine Umgehungsstraße, der Weg wird ungleich länger und unbequemer. Die direkten Wege sind umgekehrt dadurch ruhig und sicher. Das Rad hat Vorrang vor dem Autoverkehr. Das neue Zentrum von Houten ist fast komplett autofrei, Radverkehrs- und Autostraßen sind praktisch völlig entkoppelt. Die Trennung der Verkehrsspuren hat Erfolg: Seit 30 Jahren soll es in Houten keinen tödlichen Unfall gegeben haben. Die neuen Bereiche der Stadt wurden von Anfang an als Viertel der alternativen Mobilität und der kurzen Wege für Fußgänger und Radfahrer geplant. Die Einkaufsregion im neuen Zentrum rund um den Bahnhof ist – gegen anfängliche Bedenken der Einzelhändler – gut besucht. Die Zufahrt zu den umliegenden günstigen Parkhäusern ist unkompliziert, die Wege sind kurz.

Deutschland als Fahrradland?

Auch wenn Konzepte wie die von Amsterdam, Utrecht oder Houten nicht auf jede Stadt und schon gar nicht für jede Stadtgröße transformierbar sind: Sie zeigen, wie viel Lebensqualität möglich wird, wenn Autos nicht mehr den Verkehrsraum bestimmen. Mobycon-Berater Bernhard Ensink kennt die Entwicklung beider Länder auf dem Verkehrs-sektor und glaubt an Deutschland als potenzielle Fahrradnation: „In Deutschland will man jetzt schneller voran, man spürt es in allen Kontakten bis hin zum Verkehrsminister. Ich glaube fest, dass Deutschland ein Fahrradland werden kann!“


Bilder: Hector Hoogstad Architecten – Petra Appelhof, Georg Bleicher, Fietsersbond

Wenn von Radverkehr die Rede ist, dann wird sehr oft vor allem auf verkehrliche Aspekte und Unfallgefahren eingegangen. Dabei sind viele unserer Zivilisationskrankheiten auf Bewegungsmangel zurückzuführen. In Zeiten von Corona fällt auch darauf ein besonderer Blick. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Die Deutschen sitzen viel – viel zu viel. Damit sind wir nicht alleine. Mehr als ein Viertel der erwachsenen Weltbevölkerung bewegt sich laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) so wenig, dass sie dadurch krank werden. Die Folgen für ihre Gesundheit sind absehbar, die gesellschaftlichen Kosten ebenso. Dabei muss der Einzelne gar nicht viel schwitzen oder stundenlang Sport treiben, um gesund zu bleiben. Radfahren reicht – am besten zur Schule oder zur Arbeit.

Bewegung ist und bleibt essenziell

Der Sozialmediziner Professor Hans Drexler fährt jeden Tag sechs Kilometer in das Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin in Erlangen, das er leitet. Damit schafft er das Pensum an Sport, das die WHO Erwachsenen pro Woche empfiehlt: 150 Minuten moderate Fitness oder anders gesagt 2,5 Stunden Bewegung. Das ist nicht viel. Trotzdem gelingt es vielen Erwachsenen nicht, ausreichend Bewegung in ihren Alltag zu integrieren. „Wir sind alle etwas faul“, sagt er „deshalb fahre ich mit dem Fahrrad zu Arbeit.“ Denn die Bewegung sei wichtig, um körperlich und psychisch fit zu bleiben und Krankheiten vorzubeugen.

Fahrrad-Rushhour in Kopenhagen. Nach Angaben der Stadt pendelt hier täglich die Hälfte der Menschen mit dem Fahrrad zur Arbeit oder zur Ausbildung.

Radfahren ist gut für Herz, Muskeln und Lunge

Wer regelmäßig auf zwei Rädern unterwegs ist, spart sich den Gang ins Fitnessstudio und stärkt seinen ganzen Körper. Insbesondere sein Herz-Kreislauf-System. Denn wie jeder andere Muskel muss auch das Herz trainiert werden, um gut arbeiten zu können. Bei körperlicher Anstrengung schlägt es häufiger und pumpt mehr Blut in den Körper – gleichzeitig beruhigt sich seine Pumpleistung. Infolgedessen werden Herz und Kreislauf weniger belastet und arbeiten ökonomischer. Ähnlich ist es mit der Lunge. Sie wird beim Radfahren dauerhaft mit frischem Sauerstoff versorgt. Die erhöhte Atemfrequenz fordert das umliegende Muskelgewebe und stärkt es. Eine trainierte Lunge pumpt mehr Luft durch ihre Flügel als eine untrainierte, wodurch automatisch mehr frische Luft nachfließen kann.

Gelenkschonend und gut für die Psyche

Radfahren ist Sport im Sitzen. Das klingt seltsam, ist aber ein wichtiger Faktor für Menschen, die an Ar­throse leiden oder Gewicht reduzieren wollen. Denn Radfahren im niedrigen Gang mit hoher Trittfrequenz schont die Gelenke. Außerdem ist es gut für die Psyche und hilft beim Denken. Jeder kennt das: Beim gleichmäßigen Dahingleiten kommt einem eine gute Idee oder plötzlich die Lösung für ein verzwicktes Problem in den Sinn. „In Bewegung ist die Gehirnaktivität viel höher als in Ruhe“, erläutert der Sportwissenschaftler Achim Schmidt von der Sporthochschule Köln dieses Phänomen. Aber Radfahren aktiviert nicht nur die Gehirnaktivität, es macht auch glücklich. Bei der gleichmäßigen Bewegung beim Treten schüttet der Körper nach etwa 30 Minuten Endorphine aus und Stresshormone werden abgebaut. Wer regelmäßig Rad fährt, weiß: Ob man sich den Ärger von der Seele fährt oder einfach langsam dahingleitet – es geht einem gut, wenn man vom Rad steigt.

40–50 %

Nach einer Untersuchung des Umweltbundesamts liegen 40–50 Prozent der Autofahrten unter einer Länge von fünf Kilometern. Auf dieser Distanz ist das Fahrrad aber unschlagbar schnell.

Umbrüche als Einstieg in Verhaltensänderungen

Der Einstieg ins Radfahren ist hierzulande leicht – jedenfalls in der Theorie. Zwar hat fast jeder Deutsche ein Fahrrad im Keller stehen, aber trotzdem werden im Alltag nur 11 Prozent der Wege damit zurückgelegt. Das Auto bleibt mit 57 Prozent das Verkehrsmittel Nummer eins. In der Großstadt ist das kontraproduktiv. Nach einer Untersuchung des Umweltbundesamts liegen 40–50 Prozent der Autofahrten unter einer Länge von fünf Kilometern. Auf dieser Distanz ist das Fahrrad aber unschlagbar schnell. Es lohnt sich also für den Einzelnen, umzusteigen. Das Problem ist: Der Wechsel vom Auto aufs Rad ist eine Verhaltensänderung und damit tun sich die meisten Menschen schwer.
Eine gute Gelegenheit, um das Verhalten zu ändern, sind Lebensumbrüche. Dazu gehören beispielsweise ein Umzug, der Wechsel des Arbeitsplatzes, die Geburt von Kindern, der Eintritt in die Rente oder, ganz aktuell, die Corona-Pandemie. Oft sind auch Impulse von außen hilfreich. Die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) wollte im Rahmen des Projekts zum Gesundheitsmanagement der Mitarbeiter an Unikliniken ihre unsportlichen Angestellten dazu motivieren, sich regelmäßig zu bewegen. Um ihnen den Einstieg leicht zu machen, umfasste ihr Sportangebot die verschiedensten Bewegungsformen vom Schwimmen bis zum Krafttraining. Das kam gut an. 400 Männer und Frauen meldeten sich freiwillig. Ihre Aufgabe war, sich ein halbes Jahr lang werktags durchschnittlich 30 Minuten zu bewegen. Gut ein Drittel der Teilnehmer hat den Weg zur Arbeit modifiziert. Statt Auto, Bus oder Bahn zu nutzen, fuhren sie mit dem Fahrrad zur Arbeit.

Radfahren macht jung, Krankenstand sinkt

Die neuen Fahrradpendler im Projekt waren im Schnitt 207 Minuten pro Woche unterwegs. Das entspricht etwa 20 Minuten radeln pro Strecke. Der Effekt war immens. Die Teilnehmer wurden nicht nur leistungsfähiger, ihre Zellen hatten sich auch verjüngt. Die Wissenschaftler untersuchten bei den neuen Freizeitsportlern die Länge der Chromosomen-Enden (Telomere) der weißen Blutzellen und stellten fest: Obwohl das Training moderat war, waren diese in den sechs Monaten deutlich gewachsen. Das ist ungewöhnlich, denn in der Regel verkürzen sich die Telomere bei jeder Zellteilung als natürlicher Vorgang der Alterung der Zellen und des gesamten Organismus. Als am Ende der Studie die Teilnehmer untersucht wurden, stellte sich heraus, dass die „Verjüngung“ bis zu 15 Jahre betragen kann.
Was die Forscher noch mehr überraschte: Nach dem Projektende behielten etwa drei Viertel der Teilnehmer ihr neues Verhalten bei. Sie trieben weiterhin im gleichen Umfang Sport wie zur Zeit der Untersuchung. Diese Verhaltensänderung ist besonders für Arbeitgeber interessant: Im Rahmen des Projekts wurde festgestellt, dass der Krankenstand der Trainingsteilnehmer um mehr als 40 Prozent zurückging. Gerade für eine alternde Gesellschaft und älter werdende Belegschaften ist das eine wichtige Erkenntnis.

„In Bewegung ist die Gehirnaktivität viel höher als in Ruhe.“

Achim Schmidt, Sporthochschule Köln

E-Bike-Fahren viel gesünder als erwartet

Während Pendlern, die mit dem Rad zur Arbeit fahren, die Anerkennung ihrer Kollegen gewiss ist, ernten E-Bike-Fahrer häufig immer noch mitleidige Blicke. Völlig zu Unrecht, wie Uwe Tegtbur, Professor an der MHH, und sein Team in den vergangenen Jahren in einer Studie feststellten. Sie haben die Wirkung von E-Bike-Fahren und herkömmlichesnRadfahren auf das Herz-Kreislauf-System verglichen. Dafür haben sie 60.000 Fahrten von rund 2000 E-Bike-Fahrern untersucht. Die Teilnehmer ließen sich in zwei Fahrertypen unterteilen: Ältere Menschen, die aus gesundheitlichen oder körperlichen Einschränkungen mit Motor fahren, und Pendler, die das E-Bike für die Fahrt zur Arbeit nutzen, um entspannt und ohne zu schwitzen anzukommen.
Während die Pendler immer dieselbe Strecke fuhren und selten Umwege machten, fuhren die Senioren deutlich weitere Strecken als die Berufstätigen. Sie waren auch häufiger mit dem Bike unterwegs.
Der Effekt war identisch: Beide Gruppen brachten ihr Herz-Kreislauf-System auf Touren, sobald sie 30 Minuten moderat unterwegs waren. Die Herzfrequenz der E-Bike-Fahrer lag bei den Fahrten nur etwa zehn Schläge unter dem Puls der Bio-Biker. Tegtbur vermutet, dass alle Elektroradfahrer instinktiv einen Unterstützungsmodus wählen, der ihnen das Fahren zwar erleichtert, sie aber weiterhin fordert. So erzielten sie eine Herzfrequenz, die sich positiv auf ihr Herz-Kreislauf-System auswirkte.
Das wiederum wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus. „Der Puls wird beim E-Bike-Fahren um 10 bis 20 Prozent gesenkt“, sagt Tegtbur. Für den Mediziner ist das ein wichtiger Faktor. Denn neben einem hohen Blutdruck ist ein hoher Puls ein wesentlicher Risikofaktor für Herzinfarkte. Ein gut trainiertes Herz kann in Ruhe langsamer schlagen, weil es sehr kräftig pumpt und pro Schlag sehr viel Blut transportiert. Ein schwaches Herz dagegen hat pro Schlag nur relativ wenig Volumen und muss deshalb häufiger schlagen.
Radfahren ist laut Tegtbur ein Blutdrucksenker für jeden Tag. Dabei sei die regelmäßige Bewegung deutlich effektiver als die 30-km-Tour am Sonntagnachmittag. Sie wirke dauerhafter, da sie den Blutdruck noch viele Stunden nach der Ausfahrt senke.

Radfahren nutzt auch der Gesellschaft

Der Effekt der Bewegung für den Einzelnen und für die Gesellschaft ist hoch. Zum einen, weil die Kosten für Zivilisationskrankheiten allein durch das tägliche Pendeln mit dem Rad drastisch reduziert werden. „Zum anderen, weil die Feinstaubbelastung sinkt – und so ebenfalls dazu beiträgt, Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu vermeiden“, sagt der Sozialmediziner Drexler. Kein Medikament sei so wirksam wie körperliche Bewegung. Er schätzt, dass 25 bis 30 Prozent der Kosten für Zivilisationskrankheiten mit mehr Bewegung gesenkt werden könnten.
Die Gesellschaft hätte also viel davon, wenn möglichst viele Menschen mit dem Rad zur Arbeit fahren würden. Trotzdem mahnt Drexler: „Morgens ist man häufig mit dem Kopf schon bei der Arbeit. Das heißt: Man ist unkonzentriert.“ Im Straßenverkehr kann das schnell gefährlich werden. Abhilfe schafft nur eine fehlerverzeihende Infrastruktur, die Radfahren fördert. Etwa indem sie Fahrradfahrer sicher und auf dem kürzesten Weg durch die Stadt lotst, während Autofahrer Umwege in Kauf nehmen müssen. Die niedersächsische Stadt Nordhorn an der Landesgrenze zu den Niederlanden plant seit Jahrzehnten ihre Infrastruktur mit dieser Zielsetzung. Von den Dutzenden Brücken im Zentrum sind nur eine Handvoll für Autos frei gegeben. Alle anderen dürfen ausschließlich Rad- und Fußgänger nutzen. Das Fahrrad ist in Nordhorn das schnellste Verkehrsmittel und wird von Schülern wie Politikern gleichermaßen genutzt. Über 40 Prozent aller Wege werden dort täglich mit dem Rad zurückgelegt.

Gefühlt waren während der Lockdown-Phase in einem April wohl noch nie so viele Radfahrer unterwegs – darunter viele Anfänger und Neueinsteiger.

Kindern gehen Fähigkeiten verloren

Gewohnheiten der Eltern und eine mangelhafte Radinfrastruktur prägen auch das Mobilitätsverhalten von Kindern und Jugendlichen. Die aktuelle Entwicklung ist hier alarmierend. Regelmäßig melden Schulen und Verkehrserzieher: Kinder verlernen das Radfahren. Die Grundschüler scheitern in der Fahrradprüfung daran, gleichzeitig den Arm auszustrecken und geradeaus zu fahren. Dabei sitzen die Kinder heute früher auf dem Rad als je zuvor. Das Laufrad gehört inzwischen zur Standardausrüstung vieler Dreijähriger.
Aber auf dem Weg zur Fahrradprüfung geht den Kindern die Fähigkeit offenbar verloren. Die Gründe dafür sind vielschichtig und bewegen sich oft im Extremen. Sie reichen von Freizeitstress bei den Kleinen bis zur Verwahrlosung vor dem Smartphone, vom überbehütetenden Elternhaus bis zum Haushalt, in dem schlicht das Geld fürs Fahrrad fehlt. Die Folge ist: Immer mehr Kinder haben motorische Schwierigkeiten – und das nicht nur beim Radfahren.
Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule Köln versucht seit Jahren, diesem Trend entgegenzuwirken. Er hat einen Fahrrad-Parcours für Kindergärten und Schulen entwickelt und mit der Landesregierung Nordrhein-Westfalen und dem Verkehrsverbund Rhein-Sieg eine Lehrerfortbildung initiiert nebst Online-Portal „Radfahren in der Schule“. Der Sportwissenschaftler plädiert mittlerweile sogar dafür, Radfahren in den Regelunterricht zu integrieren. „Fahrradfahren ist Teil unserer Kultur, es gehört ebenso dazu wie das Schwimmen und muss ebenso als Schulfach unterrichtet werden“, sagt er. Tatsächlich lernen alle Kinder Radfahren – sofern sie die Zeit und die Gelegenheit haben, es auszuprobieren und regelmäßig zu üben. Früher haben sie es an langen Nachmittagen mit ihren Freunden vor der Haustür beim Spielen nebenbei erledigt. Heute brauchen sie dafür einen geschützten Raum. Die Kinder von heute müssen sich auf dem Rad wohl und sicher fühlen, damit sie sich später als erwachsene Radfahrer im Straßenverkehr zurechtfinden und es dem ÖPNV und Auto vorziehen. Eltern und Erzieher legen damit nicht nur den Grundstein für die Mobilität der heutigen Kindergeneration. Sie prägen bereits heute ihre spätere Gesundheit.

Radfahren – gerade in Corona-Zeiten ein guter Tipp

In Zeiten der Lungenkrankheit Corona schützt regelmäßiges Radfahren gleich doppelt. Einerseits stärkt es die Lungen und das Immunsystem und zudem ist es auf dem Fahrrad deutlich leichter, die Abstandsregeln einzuhalten als in Bussen oder Bahnen, und sich so vor einer Tröpfcheninfektion zu schützen. Mediziner haben auf diesen Zusammenhang bereits zu Beginn der Pandemie in Deutschland hingewiesen und Radfahren zur Prävention empfohlen. So betonte der Ulmer Pneumologe Dr. Michael Barczok vom Bundesverband der Pneumologen, Schlaf- und Beatmungsmediziner (BdV) gegenüber dem Spiegel unter anderem, dass beim rhythmischen Radeln das Atmungsorgan gut belüftet und besser durchblutet werde. Man atme intensiver, das heißt, man reinige seine Lunge gut. „Und das ist in punkcto Virusprotektion optimal“, so Barczok. Langfristig wirkt sich Radfahren auch positiv auf andere Risikofaktoren aus: Neben Herz-Kreislauf-Erkrankungen auch auf Übergewicht und Diabetes. Damit wird der Körper insgesamt widerstandsfähiger – nicht nur gegen Corona.

Städte in Bewegung – Ideen für eine bewegungsaktivierende Infrastruktur

Wie wollen wir in Zukunft leben, wohnen und mobil sein? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in Nordrhein-Westfalen e. V. (AGFS) unter dem Schwerpunkt Verkehr seit ihrer Gründung im Jahr 1993.

Mit der Broschüre „Städte in Bewegung“, die auf dem Konzept der Nahmobilität beruht, sollte im Jahr 2015 „auf Grundlage aktueller Fakten und Forschungsergebnisse eine längst fällige Diskussion über Mobilität, Infrastruktur und Bewegung angestoßen werden“. Sie beinhaltet eine Fülle grundlegender Informationen zu den Themen Bewegungsmangel, Mobilität-Bewegung-Sport und der „Stadt als gesunder Lebens- und Bewegungsraum“. Dazu zeigt sie Kriterien und Bausteine der Bewegungsförderung, Good-Practice-Beispiele und gibt Hinweise für Fördermöglichkeiten. Die in Kooperation mit dem Landessportbund NRW erstellte Broschüre richtet sich vornehmlich an Entscheider in Politik, Planung, Umwelt, Sport und an alle, die sich für eine „Stadt als Lebens- und Bewegungsraum“ engagieren.

Vision der AGFS: Stadt als Lebens- und Bewegungsraum

Für die AGFS ist die „Stadt als Lebens- und Bewegungsraum Vision und Handlungsansatz zugleich“: „Als Kernaufgabe der zukünftigen kommunalen Stadt- und Verkehrsplanung sehen wir deshalb weniger den Ausbau und die Optimierung des bestehenden Systems, sondern vielmehr eine Transformation der öffentlichen Stadt- und Verkehrsräume. Ziel ist die Realisierung von lebendigen, ‚humanen‘ Straßen und Plätzen, die sich wieder neu auf den ‚Maßstab Mensch‘ beziehen, gemeinschaftlich von allen Verkehrsteilnehmern genutzt werden, aber insbesondere adäquaten Raum für körperaktive Bewegung bieten. Eine ‚gesunde Stadt‘, in der Nahmobilität ‚Basismobilität‘ ist, also ein Großteil der persönlichen Alltags- und Freizeitwege zu Fuß und/oder mit dem Fahrrad abgewickelt wird. Unsere Zielmarke im Modal Split ist, dass ca. 60 Prozent der Wege zu Fuß und mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Wir glauben, dass insbesondere die Verkehrsinfrastruktur das Mobilitäts- und Bewegungsverhalten wesentlich prägt und formt. Deshalb engagieren wir uns für eine qualitativ hochwertige, bewegungsaktivierende Infrastruktur, die über ihre Verkehrsfunktion hinaus vielfache urbane Nutzungen zulässt und zugleich entscheidende Anreize für eine gesundheitsfördernde Nahmobilität setzt.“

Als Download erhältlich in der
Mediathek unter agfs-nrw.de


Bilder: Patrizia Tilly – stock.adobe.com, Copenhagenize, Pixabay, misign – stock.adobe.com, AGFS

Mit den aktuellen und kommenden bevorstehenden Lockerungen haben wir Professor Stefan Gössling als Experten um einen kurzen Ausblick gebeten. Mehr gibt es dann als Schwerpunktthema in der kommende VELOPLAN-Ausgabe. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Herr Professor Gössling, in der Vergangenheit haben Sie sich im Tourismus mit wünschenswerten Veränderungen beschäftigt. Können Sie versuchen, uns einen Ausblick zu geben auf die Änderungen in der nächsten Zeit?
Die Pandemie ist eine große Chance für eine Neuorientierung. Aus Klimaschutzgründen wünsche ich mir, dass Billigfluglinien nicht unterstützt werden, Destinationen ihre Volumenwachstumsmodelle und Reisende insbesondere Fernreisen infrage stellen. Reisen ist lange Zeit immer billiger geworden, auch durch direkte und indirekte Subventionen. Es ist jetzt Zeit, diese Modelle zu hinterfragen.

Was könnte das für den Tourismus bedeuten?
Kurzfristig werden mehr Menschen in Deutschland oder im nahen Ausland Urlaub machen, weil Entfernung mit Unsicherheit und Risiken assoziiert wird. Viele Tourismusbetriebe werden hart kämpfen müssen, um nicht insolvent zu werden, da die kurzfristigen Umbrüche zu enormen Umsatzausfällen geführt haben. Eine neue Normalität wird sich also hoffentlich bald einstellen.

Was ist aus Ihrer Sicht aktuell wichtig für den Tourismus?
Das wichtigste ist jetzt, dass Planungssicherheit geschaffen wird, sowohl für die Tourismusbetriebe als auch für die Reisenden. Die Frage, unter welchen Sicherheitsvorkehrungen man Gäste entgegennimmt, ist dann fast zweitranging. Denn das lässt sich regeln, zumindest überall da, wo die Besucherdichte nicht sehr hoch ist.

Was sind Ihre ganz persönlichen Tipps für diesen Sommer?
Schön ist, dass wir die kleinen Dinge wieder schätzen können. Dass man sich wieder ein Eis kaufen kann oder im Café sitzen kann. Bei den Urlaubsreisen würde ich Familien ans Herz legen, dass Kinder überall da glücklich sind, wo sie aktiv sein können und es andere Kinder gibt. Ferienhöfe, Camping, kleinere Urlaubsorte, das können gute Alternativen sein. Für Ältere würde ich einen Urlaub auf einer deutschen Insel empfehlen. Auch da gibt es viel Platz. Die Orte sind praktisch von Natur aus auf Abstand eingerichtet und ältere Menschen können natürlich auch gut außerhalb der Hauptsaison verreisen. Für Paare attraktiv sind vielleicht Ferienhäuser in Regionen, wo man zum Beispiel gut Radfahren kann, oder Hotels in naturschönen Landschaften. Es muss nicht unbedingt eine weite Reise sein, die viel Freude macht.


Bild: www.ortlieb.com | pd-f

Europaweit erkennen die Städte und Kommunen langsam die Tragweite der Pro­bleme, denen sie aktuell gegenüberstehen. Im Bereich des Verkehrs und der öffentlichen Räume gehen immer mehr konsequent voran und ziehen u. a. geplante Maßnahmen vor. Wir haben uns bei unseren Nachbarn umgesehen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Wie soll es mittel- und langfristig weitergehen? Kaum jemand rechnet wohl ernsthaft mit dem schnellen Ende der Pandemie und einer Aufhebung der Vorsichtsmaßnahmen. Wie können Menschen auf viel zu engen Rad- und Fußwegen Abstand halten? Wie schafft man Sicherheit auch für Radfahrer, denen Erfahrung und Routine fehlen? Und was passiert eigentlich mit der Gastronomie ohne zusätzliche Flächen? In Deutschland warnen Verbände und Experten vor dem Verkehrskollaps und einem Anstieg der Unfälle mit Radfahrern. Der Hotel- und Gaststättenverband fürchtet das Aus für jeden dritten Betrieb im Gastgewerbe. Wenn es um Straßenraum, Parkplätze, Änderungen der Geschwindigkeit oder Ausnahmeregelungen geht, ist man hierzulande allerdings sehr zurückhaltend. Ganz anders im Ausland.

London

Ziel London: Verzehnfachung des Radverkehrs und
Verfünffachung des Fußgängerverkehrs nach der Lockdownphase.

Mehr Platz für Menschen: Weltweit wird intensiv an Corona- und umwelttauglichem Verkehr gearbeitet.

London

„Wir müssen die Zahl der Menschen, die den öffentlichen Verkehr nutzen, so gering wie möglich halten. Und wir können nicht zulassen, dass diese Fahrten künftig mit dem Auto erledigt werden, weil unsere Straßen sofort blockiert wären und die toxische Luftverschmutzung anschwellen würde”, so Bürgermeister Sadiq Khan zu den Herausforderungen in seiner Stadt. Mit dem „London Streetspace“-Programm sollen Straßen rasch umgestaltet werden, um eine Verzehnfachung des Radverkehrs und eine Verfünffachung des Fußgängerverkehrs zu ermöglichen, wenn die Sperrmaßnahmen gelockert werden. Da die Kapazität des öffentlichen Nahverkehrs in London potenziell nur ein Fünftel des Niveaus von vor der Krise erreichen könnte, müssten Millionen von Fahrten pro Tag mit anderen Verkehrsmitteln durchgeführt werden.

Paris

Die Region Paris will unter anderem 300 Millionen Euro in das – ohnehin geplante – Radwegenetz der Île-de-France schneller investieren mit dem Ziel, die Fahrradnutzung zu verfünffachen. Helfen sollen nicht nur neue (temporäre) Radwege, sondern auch das Fahrradverleihsystem Véligo und Kaufanreize für Pedelecs. Als Sofortmaßnahme wurden Fahrradreparaturen mit 50 Euro pro Rad subventioniert, finanziert werden künftig auch zusätzliche Fahrradständer sowie Radkurse und Sicherheitstrainings. Die Bürgermeisterin Anne Hidalgo sieht sich in ihren Plänen für ein lebenswerteres Paris, die von den Einwohnern mit großer Mehrheit mitgetragen werden, bestätigt. Eine Rückkehr zu alten Verhältnissen sei nach ihren Worten völlig undenkbar.

Brüssel

Dem Vorbild der Stadt Wien, die als eine der ersten Metropolen während der Ausgangsbeschränkungen temporäre Begegnungszonen geschaffen hat, ist auch Brüssel gefolgt und macht deutlich mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer. So wurde das gesamte Zentrum zur Begegnungszone deklariert. Innerhalb des inneren Stadtrings haben Fußgänger und Radfahrer Vorrang. Busse, Straßenbahnen und Autos dürfen zwar weiter in die Zone einfahren, aber nur mit bis zu 20 km/h. Im Hinblick auf weitere Verbesserungen soll ab 2021 im gesamten Stadtgebiet Tempo 30 gelten.

Mailand

Insgesamt 35 Kilometer neuer Radwege sollen in Mailand demnächst entstehen – bis Ende des Sommers allein 22. Aktuell entsteht eine „Maxipiste“ für Fahrräder vom Zentrum in Richtung Norden. Auf einem ersten Teilstück hat man zwei von vier Autospuren umgewidmet. Radfahrer und Fußgänger haben damit viel mehr Platz, ebenso wie die Gastronomen. Zudem soll in weiten Teilen Tempo 30 gelten. Um schnelle Änderungen zu ermöglichen und die Bedingungen für Radfahrer zu verbessern, wurde das italienische Verkehrsgesetz geändert. Und es gibt Kaufprämien vom Staat für Fahrräder. 60 Prozent des Kaufbetrags –maximal 500 Euro – werden volljährigen Einwohnern von Kommunen mit mehr als 50.000 Einwohnern erstattet.


Bilder: Guillaume Louyot – stock.adobe.com, www.abus.de | pd-f