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Hannover versucht mit einem bunten Strauß an Maßnahmen, den Radverkehr weiter zu stärken. Die Stadt kleckert und klotzt gleichzeitig, ein Selbstläufer ist die Radverkehrsförderung trotzdem nicht. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Hannover ist 2021 von der Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Kommunen Niedersachen/Bremen als fahrradfreundliche Kommune rezertifiziert worden. Auch beim letzten Fahrradklimatest des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs schnitt Hannover in seiner Größenklasse gut ab und belegte den zweiten Platz. Die Gesamtnote von 3,67 legt aber nahe, dass es zu einfach wäre, Hannover vorschnell als reines Positivbeispiel zu sehen. Wer die Verkehrswende-Bestrebungen der niedersächsischen Landeshauptstadt bewerten will, muss etwas genauer hinsehen. Detaillierte Einblicke gibt beispielsweise die Studie Fahrradmonitor. 2021 ließ die Region Hannover eine erweiterte Analyse durchführen, die sehr genau belegt, wie sich der Radverkehr in der Region Hannover vom übrigen Bundesgebiet unterscheidet.
In dieser Analyse fand das verantwortliche Sinus-Institut heraus, dass der Anteil der Verkehrsmittel, die die Menschen der Stadt Hannover mehrmals pro Woche oder täglich nutzen, deutlich zugunsten des Umweltverbundes ausfällt. Mit dem Fahrrad oder Pedelec fahren 62 Prozent der Menschen regelmäßig und damit 7 Prozent mehr als im Bundesdurchschnitt. Auch der ÖPNV liegt mit 38 Prozent 6 Prozentpunkte über dem Bundesdurchschnitt. Das Auto kommt auf 49 Prozent.
Für die Region ergibt sich ein umgekehrtes Bild, die Menschen fahren mehr Auto als im Bundesdurchschnitt und nutzen Fahrrad und ÖPNV seltener. Das Sicherheitsgefühl ist dennoch insgesamt überdurchschnittlich. 12 Prozent mehr Menschen als auf Bundesebene, nämlich drei Viertel der Befragten, fühlen sich meistens sicher oder sehr sicher beim Fahrradfahren im Straßenverkehr.

Die Raschplatzhochstraße war früher eine von vielen Hochstraßen im autogerecht umgebauten Hannover. Heute ist sie im Zentrum die Letzte ihrer Art.

Viel Veränderung im Jahrhundert

Um nachzuvollziehen, wie Hannover diesen Status quo erreichen konnte, braucht es einen Blick in das vergangene Jahrhundert. Denn bereits vor dem Zweiten Weltkrieg wurde in Hannover traditionell viel Fahrrad gefahren. „Das Fahrrad war in den 20er-/30er Jahren in Hannover das Verkehrsmittel“, meint Eberhard Röhrig-van der Meer, Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs Stadt Hannover (ADFC). Beliebt war und ist das Fahrrad sicher auch, weil die Stadt kaum Erhebungen hat, die es zu überwinden gilt, und relativ kompakt ist.
Das Beispiel Hannover zeigt, wie Entwicklungen vergangener Tage die Kultur einer Stadt prägen und bis in die heutige Zeit fortwirken können. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Hannover zu einer autogerechten Stadt umgeformt. Federführend hat ein Mann den Städtebau in den späten 40ern und 50ern geprägt. Sein Spitzname, erzählte Stadtbaurat Thomas Vielhaber bei der Fahrradkommunalkonferenz: „der Meister der Tangenten“. Die Rede ist von Rudolf Hillebrecht. Er war 1948 Stadtbaurat geworden und baute die Stadt um, indem er Grundbesitzer überzeugte, der Stadt kostenlos einen Teil ihrer Flächen abzutreten. Er ließ historische Gebäude abreißen und gestalte derart um, dass der Spiegel ihm und seiner Arbeit 1959 ein Porträt unter dem Titel „Das Wunder von Hannover“ widmete. Heute gilt seine Planung als Paradebeispiel für das Leitbild der autogerechten Stadt. Viele Zeichen seiner Arbeit sind inzwischen mit hohem Aufwand wieder entfernt worden. Von einigen mehrspurigen Hochstraßen, die den Autos eine freie Fahrt durch die Stadt ermöglichten, soll im Zentrum nur eine, die Raschplatz-Hochstraße, erhalten bleiben.
In den 60ern und 70ern kommen in der autogerechten Stadt zumindest auch Radwege hinzu, auch wenn deren Beschaffenheit nach heutigen Standards überholt ist. „Die allermeisten sind zu schmal und auch zu verschlängelt. Das war nicht der Anspruch damals an Radverkehr. Das war erst mal überhaupt das Angebot, Radverkehr wieder sichtbar zu machen und ihm auch einen eigenen Raum zu geben. Eine Zeit lang fand er ja nur irgendwie am Rande der Fahrbahn statt“, so Röhrig-van der Meer.
Hannover verfügt ohnehin über ein Netz an historisch gewachsenen Routen in Grünzonen, die bis ins Zentrum hineinragen. Zum Beispiel das Waldgebiet Eilenriede, der Stadtwald oder die Herrenhäuser Gärten sind zu Fuß oder mit dem Fahrrad gut nutzbar. Eine Bevölkerungsgruppe, die ab der Mitte des letzten Jahrhunderts viel Fahrrad fährt, sind die Gast-arbeiter*innen. Um mehr Geld in ihre Heimat schicken zu können, greifen sie zu dem kostengünstigen Verkehrsmittel. Weitere Radwege legte die Stadt in einem Zuge mit dem Stadtbahnnetz an. „Das ist dann leider auf diesem Niveau verharrt, bis es vor etwa zehn Jahren wieder etwas weiter nach vorne ging“, urteilt Röhrig-van der Meer.

„Die Verwaltung ist durchaus mutiger geworden in der Planung“

Eberhard Röhrig-van der Meer, Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs Stadt Hannover (ADFC)
Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay, hier bei der Radlogistik-Konferenz im September, gewann die Wahl 2019 auch, weil er eine autofreie Innenstadt fordert.

Verkehrswende ist Politikum

2010 hat der Hannoveraner Stadtrat das Leitbild Radverkehr 2025 beschlossen. Der Radverkehrsanteil am Modal Split soll bis Mitte dieses Jahrzehnts auf 25 Prozent steigen, ausgehend von den damaligen 13 Prozent. Außerdem sollen nur noch halb so viele Leute bei Unfällen schwer verletzt oder getötet werden. 2017 lag der Fahrradanteil schon bei 19 Prozent. „Wir wussten immer schon, dass die letzten Prozentpunkte die Schwierigsten sein werden“, sagt Heiko Efkes, der Radverkehrsbeauftragte der Stadt Hannover.
Seitdem scheint die Verkehrswende immer mehr Fahrt aufzunehmen. Und sie ist zum Politikum geworden. Der amtierende Oberbürgermeister Belit Onay, Bündnis 90/Die Grünen, gewann die Wahl 2019 auch mit der Forderung nach einer autofreien Innenstadt. „Die Wahlergebnisse zum Oberbürgermeister 2019 und die Kommunalwahl 2021 haben sehr deutlich aufgezeigt, dass das Verkehrsthema und die Entlastung der Straßenräume vom Kraftfahrzeugverkehr für viele Menschen ein ganz wichtiges Thema ist. Diese neue Lebensqualität zu definieren, das ist ein Auftrag an den Rat und den Oberbürgermeister“, so Röhrig-van der Meer. Dem Masterplan 2025 habe es zu Beginn zwar noch an konkreten Maßnahmen gefehlt, diese kommen in jüngster Zeit aber vermehrt hinzu.

Großprojekt Velorouten

Besonders wichtig sind die Velorouten, ein Netz aus Radschnellverbindungen. Die Stadt setzt sie um, der ADFC, der sie erdacht hat, ist als „Hüter der Standards“ noch immer involviert. Die Routen müssen mindestens drei Meter breit sein, wenn der Verkehr in zwei Richtungen fließt. Die Ampelschaltungen auf den 13 geplanten Strecken sollen die Pla-nerinnen auf den Radverkehr auslegen. Die ursprüngliche Idee existiert im ADFC bereits seit Anfang der 2000er, seit 2020 ist das Streckennetz vom Rat beschlossene Sache und im Oktober 2021 ist die erste Route eröffnet worden. Die Stadt investiert dafür zehn Millionen Euro, verteilt auf zehn Jahre. Wenn es nach dem Oberbürgermeister geht, wird das Netz noch vor diesem Zeitplan fertig sein. Das Geld der Stadt soll aus verschiedenen Fördertöpfen aufgestockt werden, manchmal passt die Radschnellweg-Förderung, oft ist es das Stadt-Land-Programm. „Von Abschnitt zu Abschnitt muss man immer schauen, welches Förderprogramm dafür gerade am besten passt“, sagt Heiko Efkes. Die Velorouten, ein Ring im Zen-trum und zwölf sternförmige Routen in verschiedene Stadtteile, sind im Uhrzeigersinn durchnummeriert und sollen am Ende ein Netz von 90 Kilometern bieten. Bislang sind sechs Kilometer neu gebaut worden, an einigen Stellen muss die Stadt lediglich neu markieren oder umorganisieren. Drei Velorouten sollen als Radschnellwege die Städte Lehrte, Langenhagen und Garbsen mit der Hannoveraner Innenstadt verbinden. Sie müssen sogar vier Meter breit und asphaltiert sein und möglichst wenige Straßen kreuzen. Die Maßnahme könnte ein entscheidender Schritt in der Radverkehrsförderung werden. 77 Prozent der städtischen Bewohnerinnen und 65 Prozent der Befragten aus der Region, so der Fahrradmonitor, können sich vorstellen, ihre Pendelstrecken öfter als bisher mit dem Fahrrad zurückzulegen, wenn es eine solche Verbindung gäbe.
Die Stadt hat für dieses Projekt zwei neue Stellen im Tiefbauamt geschaffen, die an der genauen Routenplanung arbeiten. Diese Planungen bespricht die Stadt in öffentlichen Veranstaltungen mit der Stadtgesellschaft, insbesondere der betroffenen Stadtbezirke. Am besten funktioniere die Partizipation online, findet Heiko Efkes. „Unser Wunsch als Verwaltung ist es, komplexe Bürger*innenbeteiligungen primär online durchzuführen, weil es viel effektiver ist und man viel mehr Menschen erreichen kann.“ Auch der ADFC unterstützt mit Präsentationen.

„Alles, was Menschen zum Umdenken bringt, eingefahrene Mobilitätsketten bricht und alles, was Multimodalität fördert, ist erst mal gut“

Heiko Efkes,
Radverkehrsbeauftragter der Stadt Hannover

Die Stadt wird mutiger

Für die Velorouten greift die Stadt auch in das Straßenprofil ein und entnimmt Parkflächen. Allein auf den Flächen, wo die Stadt aktuell an fünf Velorouten arbeitet, werden rund 1000 Kfz-Parkplätze verloren gehen. „Die Verwaltung ist durchaus mutiger geworden in der Planung“, sagt Röhrig-van der Meer. Die Ampelschaltungen müssten aber noch fahrradfreundlicher werden. Stellenweise, zum Beispiel auf dem Julius-Tripp-Ring, der um die Stadt herumführt, stellen Induktionsschleifen eine grüne Welle für den Radverkehr her. Solche baulichen Strukturen könnte es in Zukunft öfter geben. Teilweise dürfte aber ein Interessenskonflikt mit dem ÖPNV entstehen, dessen Ampelschaltung auch politische Priorität hat.
Dass das Fahrrad ebenfalls ein wichtiger Politikgegenstand ist, beweisen die gestiegenen Ausgaben für den Radverkehr. Lagen sie 2020 noch bei 5,4 Millionen Euro, waren es 2021 schon 8,5 Millionen und sind es in diesem Jahr sogar 9,2 Millionen Euro. Dieses Geld investiert die Stadt nicht nur in Großprojekte, wie die Velorouten, sondern auch in viele kleinere Maßnahmen. Kopfsteinpflasterstraßen bekommen asphaltierte Fahrspuren, an Ampeln installiert die Stadt Gitter, um die Füße abstellen zu können und damit nicht absteigen zu müssen. Auch wenn die Stadt noch nicht komplett fahrradfreundlich ist, der Radverkehr wird in immer mehr Detailfragen mitgedacht. Drängelgitter, so Efkes, müssten zum Beispiel auch mit Kinderanhängern oder Lastenrädern komfortabel befahrbar sein. Letztere spielen auch im Kontext der Velorouten eine große Rolle, vielleicht auch, weil sich 17 Prozent der Hannoveraner*innen, und damit
5 Prozent mehr als im Bundesdurschnitt, vorstellen können, ein Lastenrad zu erwerben. Auch bei Abstellanlagen denkt die Stadt Cargobikes mit und installiert die entsprechenden Bügel und Straßenschilder.
Von regulären Fahrradbügeln kann die Stadt erst mal scheinbar nicht genug bekommen. Bei einem Programm der Region bot die Landeshauptstadt an, jegliche übrig bleibenden Kontingente an Abstellanlagen zu installieren. 2021 waren das mehr als 750 Bügel. Hausgemeinschaften können außerdem beantragen, ein privates Fahrradhäuschen im öffentlichen Raum abzustellen.

Auch kleine Schritte führen ans Ziel. Die Stadt denkt den Radverkehr immer besser mit und investiert in Abstellanlagen oder Gitter, mit denen Radfahrer*innen sich an Ampeln abstützen können.

Gutes tun und darüber reden

All diese Angebote sollen das Radfahren in Hannover attraktiver machen. Aber für ihre ambitionierten Pläne müsse die Stadt die Menschen noch besser mitnehmen, meint Heiko Efkes. „Es gibt diesen guten alten Spruch ‚Tue Gutes und rede darüber‘. Wir sind in Hannover ganz gut. Wir haben aber irgendwann festgestellt, dass draußen überhaupt gar keiner merkt, was wir hier so machen. Der damalige Stadtbaurat hat gesagt, ihr müsst eigentlich mehr abfeiern, wenn ihr etwas geschaffen habt. Wenn ihr etwas fertig habt, müsst ihr den Leuten sagen, ‚Jetzt ist es fertig, guckt es euch mal an, probiert es mal aus!‘“
Als Plattform für diese Kommunikation entstand das städtische Paket „Lust auf Fahrrad“, um ebendiese Lust mit diversen Aktionen zu erzeugen. Das Team dichtete bereits mit einer A-cappella-Band ein Lied zum Radfahren in Hannover um, installierte Zählstationen für den Radverkehr und bot Fahrrad-Checks an. Lust auf Fahrrad schafft Präsenz für das Verkehrsmittel Fahrrad und begleitet verschiedene Events. Das kann in Form von bewachten Fahrradparkplätzen bei Heimspielen des Fußballvereins geschehen oder indem Lust auf Fahrrad als Motto verkaufsoffener Sonntage fungiert. So wollen die Verantwortlichen dem Fahrrad neue Räume eröffnen. Derartige Aktionen, auch die alle paar Monate stattfindende nächtliche Stadtausfahrt Velo-City-Night, helfen den Hannoveraner*innen, die Stadt mit anderen Augen zu sehen und sich weniger Autoverkehr in der Innenstadt vorzustellen.
Die städtische Verkehrswende kann trotz des autogerechten Stadtumbaus auf vergleichsweise guten Strukturen fußen. Sie scheint eingeleitet, aber ist noch lange nicht am Ende, sondern braucht Anschub. Lust auf Fahrrad soll ihn bringen, genau wie das Veloroutennetz und andere bauliche Anpassungen. Auf längere Sicht wünscht sich der ADFC, dass die Velorouten auch mit einem äußeren Ring und durch Tangenten verbunden werden. Heiko Efkes attestiert der Stadt eine offene Grundhaltung zur Mobilitätswende. „Alles, was Menschen zum Umdenken bringt, eingefahrene Mobilitätsketten bricht und alles, was Multimodalität fördert, ist erst mal gut“, sagt er.


Bilder: Stadt Hannover, Sebastian Gengenbach, Ulrich Pucknat