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Corona – eine Zäsur?

Ein Kommentar von Reiner Kolberg

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Die zentrale Frage, die wir uns aktuell wohl alle auf die eine oder andere Weise, bewusst oder unbewusst, stellen heißt: Wie geht es weiter? „Nichts wird so sein wie zuvor“, zu dieser Schlussfolgerung kam schon Mitte März der Zukunftsforscher Mattias Horx in einem viel beachteten Artikel, als sich das Ausmaß der Pandemie erst andeutete. Ist das so? Und, wenn ja, was sollten wir tun?

Neuer Blick auf alte Probleme

Unter Wissenschaftlern und Journalisten scheint es in einer Auffassung einen großen Konsens zu geben: Die Corona-Krise beschleunigt Prozesse und macht Schwierigkeiten und Bruchstellen sichtbar, die es vorher zwar gab, die wir aber aus unserem Bewusstsein ausgeblendet haben. Dazu gehört zentral das Thema Gesundheit, verbunden mit einer ethischen Diskussion, wie viel unsere physische und psychische Gesundheit und Menschenleben eigentlich wert sind – im Vergleich zu Einschränkungen, finanziellen Einbußen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten. In einem anderen Licht erscheint auch das Verhältnis zu unserer Umwelt, unserem Glauben an „immer schneller und mehr“ und das Vertrauen in die Beherrschbarkeit von Risiken.

Neu im Fokus: der Mensch

Die zurückliegenden Wochen haben in vielerlei Hinsicht gezeigt, was Menschen wirklich bewegt. Ohne Freizeitstress haben Millionen wieder Bewegung und Natur für sich entdeckt. Zu Fuß beim Spazieren, Wandern und Joggen, mit Rollern, Inlineskates und mit dem Fahrrad. Anthropologen sehen darin eine völlig logische Konsequenz, denn genau da fühlen wir uns als Menschen seit Jahrtausenden wohl, während umgekehrt das Zeitalter des „vor dem Bildschirm und hinter dem Lenkrad sitzen“ wohl viel zu kurz war, um uns zu prägen. Werden diese Erfahrungen unser Verhalten oder unsere Ansprüche ändern? Gut möglich. Die Älteren unter uns erinnern sich noch an die Ölkrise Anfang der 1970er-Jahren. Nicht? Aber an die autofreien Sonntage ganz sicher, oder? Ich fand sie herrlich! Und danach? Bei uns markierte die Krise den Beginn neuer Verkaufsargumente für Autos mit Blick auf den Benzinverbrauch (heute verdrängt) und den CW-Wert (erst recht verdrängt). Für die USA begann der bis vor Kurzem andauernde Kampf ums Öl und in den Niederlanden startete der Wandel hin zu einer Fahrradnation. Randbemerkung: Die Niederländer sind weiterhin ziemlich glücklich mit ihrer Entscheidung. Moderne Mobilität, lebenswerte Städte und wirtschaftlicher Erfolg gehen hier weiter Hand in Hand.

„The best way to predict the future is to create it .“

Abraham Lincoln (1809 – 1865), Der 16. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika schaffte die Sklaverei ab und legte die Grundsteine für die Industrienation und den Aufstieg zur Weltmacht.

Wertvoll: Gesundheit und ein gutes Leben

Plötzlich kann man sich über die vielen kleinen, noch vor Kurzem selbstverständlichen Dinge freuen und es ist gleichermaßen traurig und berührend zu sehen, wie sehr die meisten Menschen „das gute Leben“ vermissen. Umso unverständlicher ist es, wenn man realisiert, wie lässig und fahrlässig Menschen, Unternehmen oder die Politik mit der Gesundheit anderer umgehen. Und für was eigentlich? Diese Frage stelle ich mir auch im Verkehrssektor. Immer wieder betont wird beispielsweise der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Schwere von Erkrankungen durch das Corona-Virus und Vorerkrankungen. Die wiederum entstehen laut WHO vorwiegend durch unseren Lebenswandel, unter anderem durch zu wenig Bewegung und externe Einflüsse wie zu hohe Luftschadstoffwerte. Wir wissen es, aber wir handeln nicht danach. Regelmäßig wird, sogar von höchster Stelle, versucht, wissenschaftliche Erkenntnisse zu entkräften.
Auch vom ausgegebenen Ziel „null Verkehrstote und Schwerverletzte“ (Vision Zero) sind wir weit entfernt. Viel weiter, als uns bewusst ist. An die nach wie vor hohen Zahlen haben wir uns einfach gewöhnt. Warum? Kann man das? Und warum machen wir bei uns in der Krise nicht einfach Platz auf Straßen und Parkplätzen frei für Fußgänger, Radfahrer und Gastronomen? Brüssel kann es, Wien kann es, Paris, London, Mailand, … Und wir? Wir reden stattdessen über die StVO und Unverhältnismäßigkeit bei Strafen für Raser. Wirklich?

Willkommen in den 20ern

Wie wir leben wollen, welchen Kurs wir einschlagen und ob wir für die nächste Krise gerüstet sind, all das liegt viel mehr in unserer Hand, als wir bislang dachten. Auch das scheint eine Erkenntnis aus der Krise zu sein. Experten zufolge öffnet sich mit den geplanten Milliardenhilfen gerade ein Fenster für neue Möglichkeiten – und es wird sich wieder schließen. „Manything goes“ heißt es dazu vom Zukunftsinstitut in Verbindung mit der Forderung nach mehr Resilienz. Mein Tipp: In der Vergangenheit hat sich das Fahrrad als weltweit meistgebaute Maschine und effektivstes Fortbewegungsmittel, das die Menschheit je erfunden hat, vielfach als nützliches Instrument zur Bewältigung von Krisen bewährt. Die 20er-Jahre werden besonders. So oder so. Dafür sorgt, neben Covid-19 oder Covid-XY, der Klimawandel. Wir haben die Zukunft in der Hand. Wenn nicht für uns, dann für unsere Kinder und Enkel.


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