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„Jetzt mal richtig Klotzen“

Wie können Kommunen mehr Sicherheit für Radfahrer erreichen? Gibt es aktuell neuen Handlungsdruck? Wir haben den Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV) Siegfried Brockmann gefragt. Die UDV im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) hat sich zur Aufgabe gemacht, die Verkehrssicherheit auf Deutschlands Straßen zu verbessern und zu helfen, Unfälle zu vermeiden oder zumindest abzuschwächen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Herr Brockmann, in der Corona-Krise gibt es aktuell deutlich mehr Radfahrer. Verändert sich Ihrer Meinung nach damit etwas?
Im Moment ist es so, dass der ÖPNV mit dem Virus-Ausbruch gemieden wurde und noch weiter gemieden wird. Ich gehe aber davon aus, dass sich langfristig die alten Prozesse wieder so einspielen werden, wie sie vorher waren. Was ich aktuell beobachte, ist, dass viele Menschen aufs Fahrrad umgestiegen sind, genauso aber auch auf das Auto. Das kann positive, aber auch negative Effekte haben.

Welche negativen Effekte sehen Sie durch die Zunahme des Radverkehrs?
Radfahrer sind zwar gesünder unterwegs, eine schnelle Steigerung des Radverkehrsanteils produziert aber zusätzliche Gefahren. Das muss man auch offen aussprechen. Denn der gestiegene Radverkehrsanteil trifft ja auf die Infrastruktur, die schon vorher da war. Die meisten Städte haben nicht für einen Anstieg vorgesorgt.

Was halten Sie von der Annahme, dass eine höhere Anzahl von Radfahrern auch mehr Sicherheit bringe?
In der Fachwelt gilt die These der „Safety in Numbers“ als widerlegt. Zudem muss man sich nur einmal die Rahmenbedingungen wie die Platzverhältnisse für den Radverkehr anschauen. Wir haben ja mit 1,5 Metern Breite sehr enge Radwege – viele sind noch schmaler. Ich bin davon überzeugt, dass das zu wenig ist. Mit einer Lenkerbreite von 80 Zentimetern, mit der man rechnen muss, ist das Überholen untereinander hier schon extrem anspruchsvoll.

Was würden Sie Städten und Kommunen empfehlen?
Wenn der Radverkehr stark steigt, bin ich durchaus der Meinung, dass Lösungen, wie sie in Berlin gemacht werden (Anm. d. Red.: z. B. temporäre Pop-up-Bikelanes), sinnvoll sein können. Hier muss man aber natürlich planerisch nachgehen, denn im Zweifel drohen auch Klagen. Der Straßenraum lässt sich nicht per Order anders verteilen, das muss schon ein planerischer Prozess sein. Generell wäre eine deutliche Steigerung des Radverkehrsanteils eine Aufforderung an die Kommunen, jetzt mal richtig zu klotzen und nicht zu kleckern.

Parkdruck, mangelhafte Infrastruktur und fehlende Kontrollen führen zu gefährlichen Sichtbehinderungen an Kreuzungen.

Dauert der Umbau der Infrastruktur nicht viel zu lange?
Die Infrastruktur ist ja nur einer der Verursacher der Probleme. Langfristig brauchen wir natürlich ordentliche Lösungen und für die müssen auch mehr Planer da sein. An einer Stadt wie Berlin sieht man, wie lange es in der Realität dauert. Das Pro­blem haben andere Städte auch – man darf halt keine Wunder erwarten. Andererseits glaube ich, dass es massig Dinge gibt, die nicht so einen großen Planungsvorlauf haben und wo man auch eine Menge machen kann.

Was wäre denn aus Ihrer Sicht möglich und nötig für mehr Sicherheit?
Ich wünsche mir schon lange, dass das, was die Forschung ermittelt hat, schneller Eingang in die Realität findet. Durch die Forschung ist ja alles auf dem Tisch! Aber es passiert nichts oder viel zu wenig. Wir alle in der Szene haben uns angewöhnt, da mit einem sehr langen Atem heranzugehen. Das fängt an beim Abbiegeassistenten für Lkws. Wir haben bereits im Jahr 2013 vor schweren Unfällen mit Radfahrern gewarnt. Die Technik steht prinzipiell zur Verfügung. Aber wo bleibt sie? Erst vor Kurzem haben wir eine Studie vorgestellt, die untersucht, wie viele Fußgänger durch anfahrende Lkws überfahren werden. Auch da gibt es die nötige Technik. Aber es kommt bislang nichts in Bewegung.

„Der Straßenraum lässt sich nicht per Order anders verteilen, das muss schon ein planerischer Prozess sein.“

Vielfach werden auch schlechte Sichtbeziehungen und gefährdendes Parken für Unfälle mitverantwortlich gemacht.
Gute Sichtbeziehungen sind ein enorm wichtiges Thema. Und hier mangelt es sehr deutlich. Wir werden demnächst eine Studie vorstellen, was legales und illegales Parken eigentlich für die Gefährdung von Fußgängern und Radfahrern bedeutet. Unsere Fragen: Warum müssen rechts neben Radfahrstreifen noch Parkstände sein? Das produziert uns doch erst das Dooring-Thema. Warum parken Autos, meist unbehelligt, bis in die Ecken hinein, sodass hier kein Fußgänger sicher queren kann?

Mit welchen weiteren Themen sollten sich Politik und Entscheider mit Blick auf mehr Sicherheit Ihrer Meinung nach noch beschäftigen?
Wichtige Themen sind die Einhaltung der StVO, die allgemeine Verkehrsmoral und die gegenseitige Rücksichtnahme. Auch hier kann man kurzfristig einiges machen. Aktuell wird sehr klar, dass alle mehr Rücksicht auf den jeweils anderen nehmen müssen. Das bezieht sich nicht nur auf den Rad- und Autoverkehr, sondern insgesamt auf das Verhalten untereinander.

Warum klappt es in anderen Ländern zum Teil besser?
Eine Erklärung für mich ist, dass wir in Deutschland einen sehr ausgeprägten Hang danach haben, uns selbst zu verwirklichen. Das betrifft alle Verkehrsteilnehmer. Radfahrer würde ich hier nicht ausnehmen.

Mit einer Lenkerbreite von 80 Zentimetern, mit der man rechnen muss, ist nach den Erkenntnissen des UDV das Überholen auf engen Radwegen untereinander extrem anspruchsvoll.

Laut UDV vergessen Autofahrer beim Abbiegen „viel zu oft den Schulterblick“ oder sie könnten wegen Sichtbehinderungen und ungünstig geführter Radwege gar nichts sehen. Deshalb käme es häufig zu schweren Unfällen mit geradeausfahrenden Radfahrern. Diese Konfliktsituation hat die UDV in einem Forschungsprojekt und einem Crashtest detailliert untersucht.

Tun Politik und Verwaltung hierzulande zu wenig?
Wir haben in den letzten Jahren im Bereich Verkehrssicherheit gute Fortschritte gemacht und brauchen uns mit den Zahlen im internationalen Vergleich nicht zu verstecken. Das heißt aber nicht, dass das nicht alles noch viel besser geht.

Wie sehen Sie die Aussagen von Bundesverkehrsminister Scheuer der „erlauben, erleichtern und ermöglichen und nicht verbieten, verteufeln und verteuern“ möchte?
Tatsächlich sehe ich im Verkehrsministerium eine sehr ambivalente Haltung. Auf der einen Seite eben zum Beispiel die Änderungen der StVO, die für Radfahrer einiges Gutes tun wird. Auf der anderen Seite haben wir einen sehr wirtschaftsfreundlichen Kurs. Das sehen wir beim Thema Pedelec, wo meines Erachtens nicht ausreichend darauf reagiert wird, dass die Unfallzahlen jedes Jahr zweistellig steigen, das sehen wir beim Thema E-Scooter in Bezug auf die Radverkehrsanlagen und wir sehen es auch bei den PS-starken Autos oder dem neuen A1-Motorradführerschein für Autofahrer. Die Frage ist, was soll das für ein Signal sein? Ist es tatsächlich so, dass Sicherheit im Vordergrund steht, oder eher vermeintliche Bedürfnisse der Bürger und das Interesse der Industrie? Ich sehe hier ein Spannungsfeld.

Wie beurteilen Sie die steigende Zahl von hochmotorisierten Fahrzeugen und SUVs?
Die hohe Motorisierung fällt in Bezug auf die Unfallzahlen nicht besonders ins Gewicht. SUVs sind aus ökologischen Gründen, aufgrund des hohen Luftwiderstands und des großen Gewichts, natürlich nicht zu vertreten. In Bezug auf die Unfälle mit Radfahrern und Fußgängern, die vor allem innerorts passieren, ist es aber nicht relevant, ob das Auto 150 oder 250 PS hat, oder ob ein Unfall durch ein normales Auto oder einen SUV verursacht wird. Der entscheidende Faktor ist einfach die Geschwindigkeit. Und die kann heute jeder VW Polo fahren. Wie gesagt, wichtig sind die Einhaltung der StVO und die gegenseitige Rücksichtnahme.

Siegfried Brockmann

ist seit 2006 Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV) im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) sowie Vorstandsmitglied des Deutschen Verkehrssicherheitsrats und Präsidiumsmitglied der Deutschen Verkehrswacht. In Deutschland gehört er zu den gefragtesten Experten im Bereich Verkehrssicherheit.

Informationen und Studienergebnisse unter udv.de


Bilder: UDV, Reiner Kolberg