Ist die Umsetzung der Verkehrswende nur eine Frage der Zeit oder ist noch gar nicht entschieden, wohin die Reise rund um die Mobilität in Deutschland überhaupt geht? In den letzten Jahren hatten viele den Eindruck, dass mehr über das „Wie“ einer Verkehrswende als über das „Ob“ gestritten wurde. Doch inzwischen scheint es, als habe sich der Wind grundlegend gedreht. Tatsächlich kommt die Verkehrswende zumindest auf Bundesebene kaum voran. Die Gegner jedweder Veränderungen im Verkehrsbereich werden zunehmend selbstbewusster und offensiver. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Dass im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien Ende 2021 das Wort „Verkehrswende“ kein einziges Mal vorkommt, hatte bereits hellhörig gemacht. Es hätte politisch ja gar nichts gekostet, den Begriff aufzunehmen, schließlich wäre er für alle Partner jederzeit interpretationsfähig geblieben. Von einer Antriebswende bis hin zu einer substanziellen Neuausrichtung deutscher Verkehrspolitik über die Elektrifizierung hinaus wäre hier alles drin gewesen. Stattdessen: Nicht mal das.
Mittlerweile ist die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Verkehrswende voll entbrannt. Jetzt rächt sich auch, dass nicht eindeutig diskutiert wurde, warum die Verkehrswende notwendig ist. Viele Menschen verbinden das Thema ausschließlich mit dem Klimaschutz. Andere denken dabei in größeren Kategorien, über das Klima hinaus: Schließlich ist auch der Wandel zu lebenswerten, inklusiven und menschengerechten Aufenthaltsräumen in unseren Städten und Dörfern erstrebenswert. Die Schaffung von Begegnungsräumen für Jung und Alt und auch der Lärmschutz durch weniger Autoverkehr sind ohne eine strukturelle Neugestaltung unseres Verkehrs kaum möglich. Fast überflüssig hier zu sagen, dass hierbei der Radverkehr eine tragende Rolle spielen kann und auch der Fußverkehr gestärkt werden muss.

„Bayern ist Autoland und die CSU bleibt auch Autopartei.“

Markus Söder

Autofahrer als Opfer der aktuellen Verkehrspolitik? Wahlslogan einer rechts-populistischen Partei.

Stumme Wirtschaft

Die Fahrradwirtschaft selbst ist in dieser Debatte wenig sichtbar. Das ist bedauerlich, denn die Rolle des Fahrrads als Wirtschaftsfaktor in Deutschland kann nur sie authentisch darstellen. Der Politikwissenschaftler und Soziologe Prof. Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) mahnt: „Die Branche insgesamt muss sich bewusst werden, dass Erfolge insgesamt nur durch politische Lobbyarbeit funktionieren.“ Das Auto konnte nur deshalb so erfolgreich sein, weil die frühen Automobilisten viel dafür geworben hätten, dass die Regeln geändert werden, dass es mehr Platz und mehr Geld für Autos gibt. „Und die Fahrradindustrie glaubt immer, das fiele vom Himmel.“
Das Thema Verkehrswende sollte auch nicht ausschließlich unter dem Aspekt der Klimakatastrophe diskutiert werden, das würde zu kurz greifen. Bereits der Begriff „Verkehrswende“ ist unglücklich gewählt. „Mobilitätswandel“ wäre treffender, weil der Mobilitätsbegriff umfassender ist. Jede Wende, jede Veränderung macht Menschen Angst, wie der Kommunikationsexperte Michael Adler feststellt, „weil die unter archaischen Gesichtspunkten immer mit Bedrohung verbunden war“. Daher ist es auch besser von „Wandel“ zu sprechen, denn Wandel kommt von innen, er wird von vielen mitgestaltet, ist häufig ein gesellschaftlicher Prozess.
Solche Spitzfindigkeiten sind all denen egal, die heute für die Kontinuität der Dominanz des Automobils kämpfen. Dass die AfD das Auto in Deutschland als „bedrohte Art“ sieht, überrascht nicht, „Rettet den Diesel“ wurde zum Schlachtruf. Als dann die FDP den Verbrenner mit dem Argument klimaneutraler E-Fuels vor der Verbannung durch die EU schützen wollte, wurde deutlich, dass das Thema offensichtlich auch für den Wahlkampf taugt. Aus dieser Überzeugung schöpft auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, der Anfang Mai vor großem Publikum erklärte „Bayern ist Autoland und die CSU bleibt auch Autopartei“. Er fügt noch an, dass der ländliche Raum das Auto eben braucht und deshalb auch die Autobahnen weiter ausgebaut werden müssen. Es scheint, als stünden wir wieder ganz am Anfang der Debatte über den Sinn oder Unsinn einer Verkehrswende in Deutschland. Weit her ist es dabei mit dem Niveau vieler Äußerungen zu dieser Auseinandersetzung nicht, besonders wenn man in die digitalen Medien schaut. Die Verkehrswende wird Teil eines Kulturkampfes.
Dabei ist gar nicht so entscheidend, was da gesagt wird, sondern wie etwas vorgebracht wird. So sagte der im April noch designierte Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, man werde nicht „gegen den Willen vieler Anwohner 2,30 Meter breite Fahrradwege fertigstellen, die am Ende kaum einer nutzt“. Er sagte das in einem Ton, als wären 2,30 Meter breite Radwege eine absurde Idee. Dabei entspricht diese Breite dem seit 2018 geltenden Berliner Mobilitätsgesetz. Dieses soll jetzt auch vom neuen, CDU-geführten Senat „weiterentwickelt“, sprich: autofreundlicher verändert werden. Kai Wegner wollte aber auch auf den „Klassiker“ der politischen Polemik nicht verzichten: Es ginge den Anhängern von mehr Radverkehr wohl mehr um Ideologie als um Lösungen. Die anderen wollten mit dem „Kopf durch die Wand“.
Ja, der gute alte Ideologie-Vorwurf. Merke: Man selbst lässt sich grundsätzlich nur von sachlichen Fakten, von pragmatischer Vernunft und gesundem Menschenverstand leiten. „Alle anderen sind ja immer Ideologen“, sagt Prof. Andreas Knie. Ideologie als abqualifizierendes Schimpfwort. Zwar stammt der Begriff aus dem Griechischen und bedeutet eigentlich etwas Positives, nämlich die „Lehre von den Ideen“. Aber im gängigen politischen Sprachgebrauch steht die Ideologie heute meist für starre und totalitäre Weltanschauungen. Ein Totschlag-Vorwurf also.
Der Riss zum Thema Verkehrswende geht nicht nur durch die Parteilandschaft, sondern auch durch die Wählerschaft innerhalb ein und derselben Stadt. Das zeigt sich vielerorts an den Wahlergebnissen der Stadtteile und Bezirke. Meist sind die Bewohner*innen des Stadtkerns tendenziell eher Befürworter der Verkehrswende, während in den Außenbezirken eher konservativ und autofreundlich gewählt wird.

Widerstände gegen Veränderungen gehören dazu, selbst wenn es um Dinge geht, die wir heute für selbstverständlich halten, wie etwa die Einführung der Gurtpflicht 1975.

Vergiftete Atmosphäre

Die verkehrspolitische Auseinandersetzung ist in Deutschland heutzutage oft schon so vergiftet und emotional aufgeladen, dass ein vernünftiger gesellschaftlicher Diskurs über sinnvolle Ziele für die Verkehrsentwicklung fast unmöglich scheint. Dabei entzündet sich der häufigste Streit am Ausbau von Radverkehrsinfrastruktur. Meist geht es hier um die Konkurrenz beim begrenzten Verkehrsraum, insbesondere dann, wenn dem Automobil Platz weggenommen und die Dominanz des motorisierten Individualverkehrs (MIV) eingeschränkt werden soll. Dann wird auch nicht mehr von Kritikern gesprochen, sondern von „Autohassern“. Neben der Pathologisierung einer anderen Meinung wird die Gegenseite auch gern bewusst missverstanden. Bei der Forderung nach „weniger Verkehrsbelastung“ wird gleich unterstellt, das Auto solle komplett abgeschafft werden. Gegnerinnen jeglicher Veränderungen entdecken dann auch gern ihr soziales Herz: Wo soll der Pflegedienst denn parken? Wie soll die Oma zum Arzt kommen? Und der kleine Handwerks-Familienbetrieb, wie soll der die Kundschaft erreichen? Und ja, natürlich: Ein Tempolimit bedroht grundsätzlich das hohe Gut der Freiheit. Wir stecken also mitten in einer Auseinandersetzung, in der die wahren Motive der Protagonistinnen meist geschönt sind. Auch handfeste wirtschaftliche Interessen werden verschleiert. Offensichtliche Lobbyisten sind klug genug, nicht offen aufzutreten und lieber Dritte „soziale“ Argumente vorbringen zu lassen. Auch die interessierte Politik sorgt sich um den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ und fordert deshalb, man müsse bei jeder Veränderung „die Menschen mitnehmen“. Das klingt nett und ist im Kern auch richtig, wird aber einseitig interpretiert. Denn die Politik muss sich natürlich fragen lassen, was sie dafür getan hat, „die Menschen“ auf notwendige gesellschaftliche Veränderungen rechtzeitig offen und ehrlich vorzubereiten. Maßnahmen gegen die Klimakrise beispielsweise sind Handlungen zur gesellschaftlichen Gefahrenabwehr, um noch viel größere Schäden für die Spezies Mensch abzuwenden. Das ist nicht ideologisch, sondern schlicht eine Güterabwägung. Über die darf sicher gestritten werden, doch das geschieht bei uns nicht mit „offenem Visier“. Der Debatte fehlt es häufig an der Redlichkeit ihrer Akteur*innen. So kann ein gesellschaftlicher Dialog nicht gelingen.

„Wir müssen viel mehr sagen, wo die Reise hingeht, in fünf oder zehn Jahren, auf welche Vorteile wir zusteuern.“

Michael Adler

Widerstände überwinden

„Die Menschen mitnehmen“ ist eine nette Floskel, besonders wenn der Ausspruch unterstellt, man müsse alle Menschen überzeugen können. Ein Blick zurück zeigt, dass es gegen gesellschaftliche Veränderungen immer lautstarke und emotional gezeigte Widerstände gab, auch gegen solche, die heute gewiss niemand wieder rückgängig machen will. Drei Beispiele genügen, um das zu belegen: Die Einführung von Fußgängerzonen in den 1950ern (Widerstand der ansässigen Kaufleute), die zwangsweise Einführung des Sicherheitsgurts beim Auto in den 1970er- Jahren und das Rauchverbot in Gaststätten 2008. Immer wurden die Debatten erbittert und oft auch mit fadenscheinigen und vorgeschobenen Argumenten geführt. Doch am Ende war die Zustimmung überwältigend.
Redlichkeit in der Debatte ist ein wichtiges Stichwort. Wenn sie fehlt, ist einer fruchtbaren Diskussion die Grundlage entzogen. Beim Klimaschutzgesetz spielt aber auch die Bundesregierung selbst eine zwielichtige Rolle. Der Staat erwartet von seinen Bürgerinnen und Bürgern zu Recht Gesetzestreue, aber das muss auch umgekehrt gelten dürfen. Es war schon grenzwertig genug, dass erst das Bundesverfassungsgericht 2021 die Bundesregierung zwingen musste, ihr Klimaschutzgesetz wirkungsvoll nachzuschärfen. Aber gut. Dann stellt die Bundesregierung fest, dass der Verkehrsbereich die gesetzlichen Klimaziele deutlich verfehlt und bei unveränderter Verkehrspolitik auch weiter verfehlen wird. Doch anstatt nun entsprechende Maßnahmen aufzusetzen, beschließt die Regierung die künftige Aufweichung der Sektorenziele, um nicht weiter gegen das Gesetz zu verstoßen. Eine „Insolvenzanmeldung“ nennt das Prof. Andreas Knie: Die Regierung sage damit, „Wir wollen uns nicht ändern, weil wir glauben, wir können uns nicht ändern“. Dieser Winkelzug der Bundesregierung, das Klimaschutzgesetz jetzt anzupassen, um sich aus der Schusslinie zu nehmen, hat in der Bevölkerung viel Vertrauen gekostet. Das führt zu einer weiteren Verhärtung.
Anders als bei der Corona-Pandemie, als sich die politischen Entscheider*innen intensiv von der Wissenschaft beraten ließen, scheint die Bundesregierung und allen voran Bundesverkehrsminister Volker Wissing völlig taub gegen jede fachliche Kritik. Die kommt ja nicht nur von den „üblichen Verdächtigen“, sondern praktisch von allen Seiten, auch von Sachverständigen aus dem eigenen Haus.

„Viele Chancen (…) wurden nicht genutzt, andere (…) werden nur langsam realisiert.“

OECD-Bericht über Deutschland

Verkehrsblockaden sind kein neues Phänomen, aber selten war die politische Bewertung so kritisch wie gegenwärtig gegen die Klimaproteste.

Resistenz gegen Kritik

Die auf die Klimakrise bezogene Kritik an der Verkehrspolitik der Bundesregierung ist so eindeutig, dass diese Resistenz schon beispiellos ist. Zuletzt hat Anfang Mai die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrem Wirtschaftsbericht für Deutschland eine Verdreifachung des Tempos bei den Klimaschutzmaßnahmen und mehr Entschlossenheit bei der Verkehrswende angemahnt: „Anstelle von Einzelmaßnahmen, die in erster Linie umweltfreundlichere Autos auf die Straße bringen sollen, braucht es eine ganzheitliche Strategie für nachhaltige Mobilität.“ Die OECD gibt auch Hinweise, welche Instrumente Deutschland nutzen könnte: „Viele Chancen, wie zum Beispiel ein breiterer Einsatz von Tempolimits, Mautgebühren für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge oder City-Mauten, wurden nicht genutzt; andere, beispielsweise die Anhebung der Parkgebühren, werden nur langsam realisiert.“
Vor diesem Hintergrund, wo Worte und die Demonstrationen der Fridays-for-Future-Bewegung offenbar wenig nützen, kann es nicht verwundern, dass sich radikalere Formen des Widerstands bilden. Alle wissen, dass die Zeit wirkungsvoller Maßnahmen gegen die Klimakrise extrem begrenzt ist. Besonders betroffen von dieser Situation sind jüngere Menschen, die sich zuletzt mit verschiedenen spektakulären Aktionen (in Museen) oder Verkehrsblockaden in die Schlagzeilen gebracht haben. Aktivisten der „Letzten Generation“ sorgen mit ihren Aktionsformen für Aufmerksamkeit.
Besonders die Verkehrsblockaden erregen die Gemüter. Hier scheint ein Nerv getroffen zu sein, der Bürger wie Politik maximal emotionalisiert. Von „Klimaterroristen“ ist die Rede und die „Bild“-Zeitung heizt die Stimmung weiter an. Die politische Debatte verlagert sich in dieser Phase weg von den Defiziten der Klimapolitik der Regierung hin zu einem Streit über die Aktionsformen. Einigen dürfte das durchaus entgegenkommen. Es wird der Vorwurf formuliert, die „Klimakleber“ schadeten dem Klimaschutz mehr, als dass sie nutzten. Prof. Andreas Knie hält dagegen: „Nur durch die Regelübertretung passiert etwas. Ende Gelände, Extinction Rebellion und die Letzte Generation sind solche Regelbrecher und nur durch Regelbrecher wird ein gesellschaftliches Bewusstsein wach.“
Verkehrsblockaden sind übrigens keine Erfindung der „Klima-Kleber“. Es gab auch zuvor schon massive Blockaden in Deutschland und auch anderswo durch protestierende Landwirte. Und letztlich ist jeder Bahnstreik eine Einschränkung der persönlichen Freiheit all derer, die mit der Bahn mobil sein wollen. Doch das scheint im kollektiven Bewusstsein anders abgespeichert zu sein. Es scheint im Rechtsverständnis für viele akzeptabler zu sein, wenn Straßenblockaden wegen materieller Forderungen einzelner Gruppen durchgeführt werden, als wenn es um das Gemeininteresse Klimaschutz geht.

„Die Branche insgesamt muss sich bewusst werden, dass Erfolge insgesamt nur durch politische Lobbyarbeit funktionieren.“

Prof. Andreas Knie

Bahnstreiks sind gesellschaftlich akzeptiert, Blockaden durch Trecker von Landwirten ebenfalls, die Verkehrsblockaden der „Letzten Generation“ aber nicht?

Emotionale Sprengkraft

Die Verkehrsblockaden der „Letzten Generation“ besitzen eine solche emotionale Sprengkraft, dass sie sogar die Grundfeste unserer Demokratie erschüttern. Bundesfinanzminister Christian Lindner erklärte beim FDP-Bundesparteitag im April, Straßenblockaden seien „nichts anderes als physische Gewalt“. Und Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) sagte angesichts der immer häufigeren Gewaltaktionen durch blockierte Autofahrende, Gewalttaten und Selbstjustiz gegen Klimaaktivisten müssten „leider dann eben auch zur Rechenschaft gezogen werden“. Leider. Aha. Rechtsstaat sieht anders aus. In diesem Klima langte zuletzt auch die Polizei ordentlich hin. Videos von unverhältnismäßiger Polizeigewalt mit sogenannten Schmerzgriffen lösten bei vielen Empörung aus. Hier läuft offenkundig etwas aus dem Ruder. Alles deutet auf eine weitere Eskalation des Protests hin, was für unser Gemeinwesen nicht ungefährlich ist.
Angesichts der verfahrenen Situation stellt sich die Frage, wie es mit der Entwicklung hin zu einer gesellschaftlich breit getragenen Mobilitätswende voran gehen kann. „Wir müssen positiv über eine veränderte Zukunft reden“, sagt Kommunikationsexperte Adler. „Der sprachliche und visuelle Rahmen, der um ein Thema gesetzt wird, bestimmt auch die Gefühle, die mit dem Thema verbunden werden.“ So etwas braucht natürlich Zeit, bevor es seine Wirkung entfalten kann. Anders gesagt: Es wäre gut gewesen, wenn wir mit der „neuen Sprache“ und den „neuen Geschichten“ schon vor vielen Jahren begonnen hätten. Michael Adler: „Wir müssen viel mehr sagen, wo die Reise hingeht, in fünf oder zehn Jahren, auf welche Vorteile wir zusteuern.“
Zum Bild einer positiven Fahrradkultur kann auch die Fahrradwirtschaft einiges beitragen. Dazu muss sie sich allerdings stärker in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Branchenverbände, deren Schwerpunkt naturgemäß die politische Lobbyarbeit sein wird. Eine Fahrradkultur setzt sich aus unzähligen kleinen Bausteinen zusammen, die in der Summe dann das Mindset der Menschen prägen. Wenn sich die Unternehmen der Fahrradwirtschaft, Hersteller wie Fachhändler vor Ort, überall auf der lokalen Ebene für eine stärkere Fahrradkultur engagieren, dann leisten sie einen wichtigen Beitrag zum Mobilitätswandel mit all seinen positiven Auswirkungen.


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Kommentar von Reiner Kolberg


Wenn es um Radfahrende geht, dann greifen Kolleginnen aus dem Journalismus, aus Pressestellen oder Teilen der Bevölkerung gern zu Pauschalisierungen. Oft verbunden mit einem leicht spöttischen Unterton „mit dem Drahtesel ins Büro“, oder mitleidig, wenn zum Beispiel wieder ein Mensch auf dem Rad „unter einen Lkw geraten“ ist. Und in den sozialen Medien gehören Diffamierungen und falsche Informationen, bis hin zu offener Aggression längst zum Standard. Radfahrende (alternativ Menschen mit E-Scooter) sind allesamt „Rüpelraser, die sich ohnehin nie an die Regeln halten“ oder überhaupt, „die sollen erst mal Steuern zahlen…“. Das Internet ist voll von solchen Äußerungen, also wieso sollte man sich darüber aufregen? Die Tatsache, dass Autobesitzerinnen mit ihrem Steueranteil die Infrastruktur und Folgeschäden gar nicht vollständig finanzieren und Radfahrende, ebenso wie Menschen mit E-Scootern etc. selbstverständlich ebenfalls Steuern zahlen – geschenkt. Die Analyse, dass Autofahrende mindestens genauso lax mit Verkehrsregeln umgehen, wie Falschparken, Handynutzung, zu hohe Geschwindigkeiten, Missachtung von Stoppschildern, Gelb/Rot-Fahrten etc. – ebenfalls geschenkt. Was dagegen tatsächlich verstört sind die vielen Aufnahmen im Netz, vor allem auf Twitter, in denen Radfahrende augenscheinlich mutwillig geschnitten oder ausgebremst werden, ihnen die Vorfahrt genommen oder sogar offen Jagd auf sie gemacht wird, weil sie beispielsweise mit dem Rennrad auf einer Bundesstraße unterwegs sind. Jeder, der/die häufiger mit dem Rad unterwegs ist, kennt ähnliche Situationen und vielfältige Beschimpfungen – auch ich. Was hilft eine gute Infrastruktur, wenn wir Aggressionen in Worten und Taten und Gefährdungen billigend in Kauf nehmen? Was helfen gut meinende Appelle für „mehr Rücksicht“ und „Radeln fürs Klima“, wenn es auf der anderen Seite an klaren Worten, stringenten Kontrollen und spürbaren Sanktionen fehlt? Die Änderungen der StVO und des Bußgeldkatalogs sind sicher kein schlechter Anfang. Weiterhin braucht es den Willen aller Beteiligten, die Dinge politisch und gesellschaftlich nachhaltig positiv zu verändern. Der allgemeine Sprachgebrauch gehört sicher ebenso dazu wie gezielt wirkende positive Kommunikationsstrategien und auch Vorbildfunktion und starke Worte von ganz oben, zum Beispiel aus den Ministerien, von Minister-präsidentinnen, Bürgermeister*innen etc. Der ehemalige Verkehrsminister Scheuer hat hier einen guten Punkt gemacht, als er sich zuletzt verstärkt auch als Fahrradminister inszenierte. Nils Weiland, Verkehrsplaner aus Bremen und Hamburg, hat in unserer letzten VELOPLAN-Ausgabe geschätzt, dass 80 Prozent der Verkehrswende Kommunikation sei. Es gibt also noch viel zu tun für alle Beteiligten, wenn es mit den gesetzten Zielen in der Mobilität, also einem deutlich höheren Radverkehrsanteil und gleichzeitig weniger Unfallopfern klappen soll. Gute Kommunikation ist machbar und kostet nicht die Welt. Also packen wir’s an.

Tweet von Markus Söder parallel zur IAA Mobility zur Förderung von Lastenrädern. Antwort von Wasilis von Rauch, Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF): „Was ist damit gemeint? Dass die nachhaltige Mobilitätswirtschaft eine Verschwörung ist? Wenn, dann jedenfalls eine praktische (keine theoretische). Über 800.000 Arbeitsplätze lassen grüßen.“


Bild: Tweet Markus Söder

Das Verkehrsministerium geht überraschend an die FDP. Wie stehen die Chancen für eine Verkehrswende mit den Liberalen? Bislang hatte sich weder die FDP selbst noch eine(r) ihrer Kandidat*innen nach allgemeiner Einschätzung in diesem Bereich ein besonderes Renommee aufgebaut. Aber vielleicht werden die Möglichkeiten und Perspektiven für Veränderungen, die sich mit der neuen Situation ergeben, ja auch unterschätzt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


Ein Bild, das durch alle Medien ging: das gemeinsame Selfie nach dem ersten Spitzengespräch zwischen FDP und Grünen. Mit Volker Wissing, Annalena Baerbock, Christian Lindner und Robert Habeck.

Nicht einmal eine Woche vor der Präsentation des Koalitionsvertrags und der Verteilung der Ministerien habe ich mit Stefan Gelbhaar, MdB und Sprecher für Verkehrspolitik und Radverkehr bei Bündnis 90/Die Grünen, ein Interview geführt. Alles deutete zu diesem Zeitpunkt darauf hin, dass das Verkehrsministerium künftig zum Ressort der Grünen werden würde. Tage vor der Vorstellung kursierten sogar vollständige Listen mit Posten von Ministerinnen und Staatssekretärinnen. Und dann am 24.11., 15.00 Uhr völlig überraschend die Nachricht: Das Verkehrsministerium geht an die FDP. Wir gehörten sicher nicht zu den Einzigen, die bereits ein Bild gezeichnet hatten von den Kompetenzen und dem politischen und persönlichen Werdegang der Kandidaten Anton Hofreiter und Cem Özdemir, denn auf einen von ihnen, so die Meinung einer großen Mehrheit, würde es ganz sicher hinauslaufen als neuer Verkehrsminister. Und jetzt?

Erster Eindruck: große Ernüchterung – nicht nur bei den Grünen

„Die Verkehrswende ist nach der Energiewende mit das wichtigste Projekt, das wir aktuell haben und um das wir uns kompetent und sehr intensiv kümmern müssen“, so Stefan Gelbhaar im Interview. Tatsächlich haben die Grünen hier in der Vergangenheit unter anderem mit Symposien und Fachkongressen einiges getan, um Kompetenz und Glaubwürdigkeit aufzubauen. Auch personell schienen sie hier sehr gut aufgestellt: Der gebürtige Münchner Anton „Toni“ Hofreiter war beispielsweise von 2011 bis 2013 Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Verkehrspolitik war, nach eigener Aussage, für ihn immer eines der Lieblingsfelder. Mindestens ebenso viel Kompetenz und dazu nach Umfragen ein hohes Ansehen bei Fachleuten und in der Bevölkerung hätte der zweite Kandidat Cem Özdemir aus Bad Urach bei Reutlingen mitgebracht. Der „anatolische Schwabe“ war bislang Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und digitale In-frastruktur, ist bodenständig und bestens vernetzt und dazu ein bekennender und praktizierender Fahrradfan: „Das Fahrrad ist ein Gewinnertyp und gehört in die Bundesliga der Politik.“ In einem Interview mit dem ADFC skizzierte er einige zentrale Herausforderungen: „Wir sind in puncto Fahrradwegen in Deutschland Entwicklungsland.“ Der Anteil fürs Fahrrad im Etat des Verkehrsministeriums liege bisher bei unter einem Prozent. Die Kommunen bräuchten beispielsweise die Freiheit, unbürokratisch Tempo-30-Zonen und Fahrradstraßen einrichten zu können.
Auch wenn die Koalitionsvereinbarung weitgehend Zustimmung findet, sorgt die Tatsache, dass das Bundesministerium für Verkehr und Digitales nicht an die Grünen gegangen ist, bei vielen Fahrradinteressierten erst einmal für Unverständnis und Frustration. Deutliche Worte fand zum Beispiel der Grüne Landtagsabgeordnete Arndt Klocke, der sich in Nordrhein-Westfalen für ein Fahrradgesetz starkgemacht hat, auf Twitter: „Mein fachlicher Eindruck: Im Koalitionsvertrag sind die Bereiche Verkehr und Wohnen inhaltlich für Grün tragfähig. Natürlich müssen aus Worten im Vertrag jetzt politische Taten werden. Bedauerlich bis ärgerlich ist, dass das Verkehrsministerium nicht grün besetzt wird.“ Nach Medienberichten, unter anderem im Spiegel, stößt die Entscheidung unter etlichen Experten auf Unverständnis. Andererseits wird in der Presse auch berichtet, dass die Sozialdemokraten aus industriepolitischen Gründen ein Grünes Verkehrsministerium unbedingt verhindern wollten und deswegen die Bemühungen der FDP unterstützten, das Ressort zu erhalten.

„Das Fahrrad

gehört in die

Bundesliga der Politik“

Cem Özdemir, Grüne

Passen FDP und Verkehrsministerium zusammen?

Auf den ersten Blick ergeben sich mit Blick auf die immer wieder angemahnte Notwendigkeit einer Mobilitäts- oder Verkehrswende sicher Zweifel, ob die FDP und Volker Wissing hier eine optimale gute Lösung sind. Auf den zweiten Blick lassen sich aber auch gute Argumente und neue Optionen erkennen:

Punkt 1: mehr Freiheit, weniger zusätzliche Belastungen.

Durch die Pandemie ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik zuletzt deutlich gesunken. Viele Menschen sind zudem sichtbar und nachvollziehbar verbotsmüde geworden. Hier kann die FDP, die als Markenkern auf individuelle Freiheitsrechte und weniger Staat pocht, in der aktuellen Situation viele Menschen wahrscheinlich besser mitnehmen als die Grünen, die den Staat im Bereich Verkehr in einer eher paternalistischen Rolle sehen, zum Beispiel mit flächendeckenden Tempobeschränkungen oder Dieselfahrverboten. Angesichts steigender Lebenshaltungskosten und galoppierender Energiepreise sind auch zusätzliche Belastungen momentan eher schwierig zu vermitteln. Ein Versprechen für tatsächliche Umbrüche in der Mobilität liegt, genau betrachtet, aber durchaus in der vielfach von der FDP beschworenen freien Wahl der Verkehrsmittel. Denn de facto können Bürger oftmals gar nicht frei wählen, da das Auto entweder alternativlos ist oder Alternativen wie Radfahren oder ÖV-Nutzung zumindest gefühlt zu unpraktisch, zu teuer oder zu gefährlich sind.

„Es sind enorme Veränderungsprozesse nötig.“

Volker Wissing, FDP
Punkt 2: mehr Eigenverantwortung.

Die FDP könnte zum Beispiel für die Städte und Kommunen mehr Gestaltungsräume eröffnen, was der parteiunabhängige Deutsche Städtetag schon seit Langem (vergeblich) fordert. Unter anderem bei der Einrichtung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit, bei der Verkehrslenkung, der Parkraumbewirtschaftung oder der Freigabe von Radspuren für schnelle E-Bikes. Das wäre sicher im Sinne des von den Liberalen schon immer vertretenen Subsidiaritätsprinzips. Das besagt, dass eine höhere staatliche Institution nur dann regulativ eingreifen sollte, wenn die Möglichkeiten des Einzelnen, einer kleineren Gruppe oder niedrigeren Hierarchie-Ebene allein nicht ausreichen, eine bestimmte Aufgabe zu lösen. „Wir wollen den Verkehr in den Städten effizienter, klimaschonender und sicherer machen. Dafür brauchen wir aber vor Ort mehr Entscheidungsspielräume“, forderte Burkhard Jung, Präsident des Deutschen Städtetages, nochmals im Juni dieses Jahres zum Thema Tempo 30. Die Kommunen könnten am besten entscheiden, welche Geschwindigkeiten in welchen Straßen angemessen seien.

Punkt 3: Transformation von Wirtschaft und Mobilität.

„Mobilität ist für uns ein zentraler Baustein der Daseinsvorsorge, Voraussetzung für gleichwertige Lebensverhältnisse und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschafts- und Logistikstandorts Deutschland mit zukunftsfesten Arbeitsplätzen“, so heißt es im Koalitionsvertrag. Unter Experten ist klar, dass eine Verkehrswende immer auch die Belange der Wirtschaft und der Automobilwirtschaft im Blick haben muss. Traut man das der wirtschaftsnahen FDP zu? Ja. Und traut man ihr auch die, ebenfalls im Koalitionspapier vereinbarte Transformation zu? Im Koalitionspapier zumindest sind die Ziele gesteckt. Hier heißt es „Wir wollen die 2020er-Jahre zu einem Aufbruch in der Mobilitätspolitik nutzen und eine nachhaltige, effiziente, barrierefreie, intelligente, innovative und für alle bezahlbare Mobilität ermöglichen.“

Punkt 4: neue Technologien und Digitalisierung.

Erstaunlich konkret wird der Koalitionsvertrag beim Thema Digitalisierung, ebenfalls eins der Kernthemen der FDP und als zweiter Schwerpunkt im Ministerium angesiedelt. „Für eine nahtlose Mobilität verpflichten wir Verkehrsunternehmen und Mobilitätsanbieter, ihre Echtzeitdaten unter fairen Bedingungen bereitzustellen“, heißt es dort zum Beispiel. „Anbieterübergreifende digitale Buchung und Bezahlung wollen wir ermöglichen. Den Datenraum Mobilität entwickeln wir weiter.“ Und im Folgenden: „Digitale Mobilitätsdienste, innovative Mobilitätslösungen und Carsharing werden wir unterstützen und in eine langfristige Strategie für autonomes und vernetztes Fahren öffentlicher Verkehre einbeziehen.“ Im Bahnverkehr soll „die Digitalisierung von Fahrzeugen und Strecken prioritär“ vorangetrieben werden. Kaum jemand wird bestreiten, dass digitale Systeme und Mobility as a Service Kernpunkte der künftigen Mobilität sind und Deutschland beim Thema Digitalisierung Nachholbedarf hat.

Punkt5: Abstimmungsbedarf mit Grünem „Superministerium“.

Fraglich bleibt ersten Einschätzungen nach, ob die von vielen als übergroß wahrgenommene Nähe zur Automobilindustrie so aufrechterhalten wird und ob der FDP-Minister nicht andere Prioritäten setzt – zum Beispiel im Bereich Digitalisierung. Dazu kommt die Frage, wie frei das Verkehrsministerium agieren kann mit den anspruchsvollen Vorgaben aus Brüssel und dem neu geschaffenen „Superministerium“ für Wirtschaft und Klima am Kabinettstisch, das von Robert Habeck geführt werden soll. Es soll zwar nur ein abgeschwächtes Vetorecht des Ministeriums geben, nicht zu unterschätzen sind aber die Berichtspflichten für den Verkehrssektor. Damit steht zu vermuten, dass banale Erklärungen wie „die Klimaziele sind nicht erreicht worden, weil der Verkehr insgesamt zugenommen hat“ künftig nicht mehr ausreichen werden und stattdessen ernsthaft an Alternativen und der dringend benötigten klimaneutralen Transformation im Automobil- und Verkehrssektor gearbeitet wird. Wie sich die neuen Ministerien im Einzelnen und die Regierung insgesamt positionieren, bleibt also noch abzuwarten.


„Die Ampelkoalition muss sich unterscheiden“

Interview: Stefan Gelbhaar MdB, Verkehrspolitiker bei Bündnis 90/Die Grünen und ehemaliger Sprecher für Verkehrspolitik und Radverkehr

Herr Gelbhaar, kommt es mit der Ampelkoalition zu einer Mobilitätswende?
Eins ist klar: Die Ampelkoalition muss sich unterscheiden. Darin waren wir uns in den Koalitionsgesprächen alle einig. Und wir alle sehen die Probleme und Herausforderungen. Die Verkehrswende ist nach der Energiewende mit das wichtigste Projekt, um das wir uns kompetent und intensiv kümmern müssen. Das ist nun mit dem FDP-Verkehrsministerium in beständiger Zusammenarbeit nach vorne zu entwickeln. Einfach wird das mit so unterschiedlichen Partnern natürlich nicht – aber dass es einfach wird, hat ja auch niemand gedacht.

Inwiefern wird es Unterschiede geben zur alten Bundesregierung?
Die Ziele, die sich die Bundesregierung in den vergangenen Jahren gesetzt hat, sind nicht ansatzweise erfüllt worden. Wir haben, je nachdem, wie wir es interpretieren wollen, die letzten vier, acht oder zwölf Jahre verschenkt. Das betrifft auch, aber nicht nur den Bereich Verkehr. Es ist in den Gesprächen klar geworden, dass es nicht ausreicht, nur hier und da einen Akzent zu setzen.

Welche konkreten Ziele sehen Sie mit der Ampelkoalition in Reichweite?
Im Bereich Verkehrssicherheit sind wir beispielsweise nah beieinander, was die Zielbeschreibung Vision Zero angeht. In der Vergangenheit haben sich die Hersteller erfolgreich um die Insassensicherheit in Fahrzeugen gekümmert. Vernachlässigt wurde allerdings die Umfeldsicherheit. Da gibt es ganz viele Ansatzpunkte auf der Bundes-, aber auch auf der EU-Ebene. Was die Sicherheit angeht, ist die EU ja normalerweise Treiber. Bei Technologien wie Lkw-Abbiegeassistenten kann und sollte die Bundesregierung – auch in der EU – mehr Druck machen.

Wo sehen Sie allgemeine Schwerpunkte in der Verkehrspolitik?
Viele Punkte finden sich im Koalitionspapier. Ein wichtiges Feld, das zu bearbeiten ist, ist neben der Verkehrssicherheit und der Antriebswende die Vernetzung der Mobilität. Bei der geteilten Mobilität etwa besteht die gemeinsame Einschätzung: Das ist ein großer Baustein der künftigen Mobilität. Die Zeit ist reif, die vorhandenen Angebote viel stärker zu vernetzen. Wir müssen uns generell fragen: Was haben wir schon? Was können wir wie besser nutzen?

Was braucht es konkret?
Wir brauchen bessere rechtliche Regelungen, Zuschüsse, mehr Personal, mehr Forschungsgelder und mehr Freiheiten für die Kommunen. Wir müssen ran an das Verkehrsrecht und den Bußgeldkatalog, und wir brauchen Forschungsgelder, nicht nur, wie in der Vergangenheit, für die Belange des Autos, sondern beispielsweise auch beim ÖPNV und im Bereich Mikromobilität. Natürlich brauchen wir auch mehr Radinfrastruktur, zum Beispiel entlang von Bundesstraßen, und eigenständige Radnetze. Und ganz wichtig: Wir müssen die Kommunen befreien und empowern.

Wo liegen die Herausforderungen in den Kommunen?
Alle sind sich beispielsweise über die Probleme im Klaren mit dem zunehmenden Wirtschaftsverkehr im städtischen Raum. Dazu kommt, dass wir auch die Infrastruktur schnell anpassen müssen, wenn wir mehr Radverkehr wollen. Der Bund kann beispielsweise bei der Finanzierung von Fahrradbrücken, Radparkhäusern oder beim Aufbau von zentralisiertem Know-how helfen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Förderung und der Kompetenzaufbau bei der DB für Fahrradparkhäuser an Bahnhöfen.

Wie stehen Sie als Berliner zur Zunahme der E-Kickscooter in der Stadt?
Ich denke, E-Scooter sind in der Mobilität eine gute Ergänzung, und oft habe ich das Gefühl, dass die Debatte schief ist. Wir empfinden über 1,2 Millionen zugelassene Pkw in Berlin als normal, einige Tausend E-Scooter sind dagegen ein Aufreger. Was wir aus meiner Sicht aber brauchen, ist eine gute Evaluation, aus der wir dann gezielt Maßnahmen ableiten können.

Welche Aufgaben sehen Sie in der Bundespolitik über das Verkehrsministerium hinaus?
Wir sehen aktuell beispielsweise die Versorgungsengpässe der Fahrradindus-trie. Hier könnte es eine Aufgabe des Wirtschaftsministeriums sein, dabei zu helfen, Teile der Produktion wieder nach Deutschland oder in die EU zu holen. Auch das betriebliche Mobilitätsmanagement und das Thema Mobilitätsbudget gehören mit auf die bundespolitische Agenda. Umweltfreundliche Mobilität sollte beispielsweise nicht länger steuerlich benachteiligt werden.

Was sagen Sie Kritikern, denen es nicht schnell genug geht?
Wir haben die Wahl nicht mit 51% gewonnen. Deshalb geht es darum, immer wieder Wege und auch zufriedenstellende Kompromisse mit den Ampelpartnern zu finden. Das gehört mit zur Wirklichkeit und es ist klar, dass wir da auch einen seriösen Umgang mit Konflikten finden. Mit zur Wirklichkeit gehört aber genauso: Mobilität ist nicht statisch. Das Thema ist schon aus Klimasicht enorm wichtig. Wir sind in der Pflicht. Paris, die 1,5-Grad-Grenze gelten für diese Ampelkoalition, das müssen wir gestalten – und wir werden den künftigen Verkehrsminister dabei unterstützen, den Pfad zum Klimaschutz seriös und zügig zu beschreiten.


Volker Wissing bezieht Stellung in Interview

In einem ersten Interview mit dem Fernsehsender Phoenix im Anschluss an die Vorstellung des Koalitionspapiers, das er als Generalsekretär der FDP wesentlich mit verhandelte, hat der designierte neue Bundesverkehrsminister Volker Wissing Stellung bezogen und erste Schwerpunkte gesetzt. Deutschland stehe im Bereich der Mobilität in den kommenden Jahren vor großen Herausforderungen. „Es sind enorme Veränderungsprozesse nötig. So wie es ist, kann es nicht bleiben“, erklärte Wissing im Fernsehsender. Es gehe künftig darum, die Balance zu wahren zwischen einer Klimaneutralität bei der Mobilität und den Bedürfnissen derjenigen, die auch künftig auf das Auto angewiesen seien. Gleichzeitig müsse man „den Bahnverkehr besser vertakten, wir brauchen einen Deutschland-Takt, und wir müssen gleichzeitig eine Ladesäulen-Infrastruktur aufbauen, die es jedem ermöglicht, mit Elektromobilität auch größere Strecken zurückzulegen“, so Wissing. Auch müsse die neue Koalition eine Antwort auf die Frage finden, wie die Menschen im ländlichen Raum mobil bleiben könnten. „Politik ist ein Inklusionsauftrag. Wir müssen jeder und jedem ein Angebot machen“, ist der FDP-Politiker überzeugt. Die neue Ampelkoalition werde das Land modernisieren und besitze den Mut, diese große Aufgabe auch anzugehen. „Wir werden das nicht so machen, dass wir die Menschen überfordern, aber wir werden es in dem Maße tun, wie es das Land braucht“, so Wissing. Es gelte, die sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren und sowohl Arbeitsplätze wie auch die Zukunft der jungen Generation zu sichern.

Über Volker Wissing

Stand Redaktionsschluss ist der FDP-Generalsekretär Volker Wissing designierter Minister für Verkehr und digitale Infrastruktur. Der gebürtige Rheinland-Pfälzer bringt seit 2016 Ampel-Erfahrung aus seinem Heimatbundesland mit und gilt als einer der zentralen Architekten der Koalition.
Medienberichten zufolge hat er im rot-gelb-grünen Kabinett bis Mai dieses Jahres einen respektablen Landesminister für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau sowie stellvertretenden Ministerpräsidenten abgegeben. Auf den ersten Blick deutlich spröder als sein Vorgänger Andreas Scheuer gilt der Vollblutjurist, der unter anderem als Richter am Landgericht Landau tätig war, als guter Redner, inhaltlich qualifiziert und in Unternehmerkreisen geschätzt. In ersten Äußerungen war ihm anzumerken, dass das BMVI nicht sein Wunschministerium ist. Seine Aufgabe sieht er nach eigenen Aussagen darin, das Land insgesamt wieder nach vorne zu bringen. Auf deutlichen Widerspruch stießen seine kürzlich gegenüber der Bild-Zeitung getätigten Aussagen, höhere Energiesteuern auf Dieselkraftstoffe durch geringere Kfz-Steuern auszugleichen.


Bilder: stock.adobe.com – monika pinter/EyeEm, Sedat Mehder, Stefan Kaminski, Volker Wissing

Kommentar von Reiner Kolberg, Chefredakteur (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Darf man sich im „Superwahljahr“ als Fachmagazin Gedanken machen zur Politik? Ja, man darf, und ich meine, man muss sogar. Natürlich bewegt man sich dabei auf einem schmalen Grat als Journalist, denn man sollte ja möglichst objektiv und neutral sein. Wobei es auch hier Ausnahmen gibt. Denn selbstverständlich stehen wir, wie jedes Fachmedium, positiv und sagen wir ruhig „parteiisch“ zu unseren Themen Radverkehr und Mikromobilität. Was im Umkehrschluss selbstverständlich nicht heißt, dass wir gegen Autos wären und den öffentlichen Verkehr oder den Fußverkehr vergessen würden. Parteiisch darf man, so die Meinung vieler Journalisten, auch sein, wenn es um den Klimaschutz geht. Angesichts der inzwischen sicheren wissenschaftlichen Erkenntnisse und des Bedrohungspotenzials für die Wirtschaft und die Gesellschaft kann engagierter Journalismus, so die Auffassung, nicht umhin, Stellung zu beziehen und Dinge und Entscheidungen kritisch zu hinter-fragen.

Geflügeltes Wort: „Wir machen das mit den Fähnchen!“ Oder, wie der Karikaturist meint: „Und wenn wir einfach auf ein Wunder warten?“

Zäsur: Gerichtsurteile verankern Klimaschutz

Eine von den meisten Seiten sicher unerwartete Zäsur bringt nach Einschätzungen von Experten das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021 zum Klimaschutz. Es erklärte nicht nur das Klimagesetz der Bundesregierung für verfassungswidrig, es betonte auch die besondere grundgesetzliche Verantwortung der Bundespolitik. „Das Grundgesetz verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen“, so die Richter*innen des höchsten unabhängigen Verfassungsorgans in Deutschland. Diese nach Expertenmeinung „Neudefinition des Freiheitsbegriffs“ setzt uns in Verbindung mit der verbindlichen Festschreibung auf das Pariser Klima-Abkommen unmissverständlich Grenzen und legt uns für heute und die Zukunft Pflichten auf.
Während die Politik noch nach Lösungen sucht, kommt schon das nächste Urteil, dessen Gewicht und Auswirkungen auf die Bereiche Energie und Verkehr ebenfalls kaum abzusehen sind. „Das Urteil gegen Shell zeigt die neue Klima-Macht der Justiz“ schreibt die „Welt“ zum Sieg niederländischer Aktivisten am 26. Mai gegen einen der größten Ölkonzerne der Welt. Zum ersten Mal in der Geschichte wird ein Konzern gerichtlich gezwungen, Verantwortung für die Klimakrise zu übernehmen und seine Emissionen radikal zu reduzieren. Weitere „Klima-Klagen“ gegen verschiedene Länder und Konzerne sind weltweit anhängig.
Die bislang gesprochenen und noch zu erwartenden Urteile könnten, verbunden mit erweiterten Klagemöglichkeiten, direkt in die Diskussionen und Entscheidungen auf allen Ebenen wirken: auf die Wirtschaft, den Bund, die Länder und Kommunen und nicht zuletzt wohl auch in die Verwaltungen hinein. Möglichkeiten für Veränderungen in Richtung klimafreundliche Mobilität sowie Pläne und Empfehlungen dazu gibt es reichlich, nicht nur von ökologisch orientierten Verbänden, Instituten oder Parteien. Auch die hochkarätig besetzten Arbeitsgruppen, Untersuchungen und Studien der Bundesregierung bzw. beauftragter Institute geben eine klare Richtung vor. Nur bei der Umsetzung hapert es bislang.

Laut Umfragen des Umweltbundesamts sehen 65 % der Bevölkerung Umwelt- und Klimaschutz als sehr wichtiges Thema. Für 51 % sollte das auch in der Verkehrspolitik eine übergeordnete Rolle spielen.

„Deutschland hat in der Verkehrsinfrastruktur massiv den Anschluss an andere Länder verloren.“

Stefan Wallmann, Ramboll Deutschland (Ingenieur-, Planungs- und Managementberatung)

Politik bislang zu langsam und zu zögerlich?

Kritiker merken immer wieder an, dass es die Politik in den vergangenen Jahren trotz gegenteiliger Zielsetzungen und Bekundungen nicht geschafft hat, den CO2-Ausstoß im Verkehr maßgeblich zu verringern, mehr Waren vom Lkw auf die Schiene oder deutlich mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen. Gleiches gilt für das Vorhaben, die Zahl der Toten und Schwerverletzten bei geschützten und ungeschützten Verkehrsteilnehmer*innen deutlich zu senken. Selbst beim Thema Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit, das Kommunen, der Städtetag und auch der Bundestag als Modellprojekt fordern: Fehlanzeige.
Bei neuen Plänen, wie dem kürzlich vorgestellten Nationalen Radverkehrsplan (NRVP 3.0) oder dem geplanten Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz in Nordrhein-Westfalen mangelt es nicht an Zielen. Aber auch hier fehlen nach Meinungen von Fachverbänden und Experten bislang noch konkret ausgestaltete Maßnahmenpakete inklusive messbarer Zwischenziele. Dabei besteht ein großer Konsens darin, dass es ein „Business as usual“ künftig nicht mehr geben kann. Selbst die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, die die grundlegenden Regelwerke, wie die Straßenverkehrsordnung (StVO), Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) und das Straßenverkehrsgesetz (StVG), erarbeitet, kam schon 2016 in einem Ergebnisbericht zu dem Schluss, dass die Klimaziele mit einer Umstellung auf Elektroantriebe allein im Verkehrssektor nicht zu erfüllen seien. Was unabdingbar dazu- kommen müsse, seien Verhaltensänderungen, also eine Verkehrsvermeidung, sowie der Umstieg auf ÖPNV, Fahrrad und Zufußgehen.
Hinter den Erwartungen vieler Fachleute und Verbände zurückgeblieben sind auch die kürzliche StVO-Reform sowie der vom BMVI Anfang Mai vorgestellte „Pakt für Verkehrssicherheit“. Fachleute reiben sich verwundert die Augen und fragen sich, wie man mit wenigen Änderungen, vielen Appellen und einem Verweis auf neue Technologien, die wohl erst in 15 Jahren wirksam werden, Richtung Vision Zero kommen oder eine Mobilitätswende voranbringen soll.

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Radfahrende sind 2019 bei Unfällen
in Deutschland getötet worden.
Mehr als die Hälfte von ihnen
war über 64 Jahre alt.

Quelle: Statistisches Bundesamt

„In Deutschland hat Verkehrssicherheit leider zu wenig Lobby, und Verkehrstote werden oftmals als Kollateralschaden angesehen. Erst wenn man persönlich betroffen ist, wird das Thema real.“ Stefan Pfeiffer, Vorsitzender Fachkommission Verkehr, Deutsche Polizeigewerkschaft

Kritischer Punkt: mehr Sicherheit für Radfahrende

Parteiisch dürfen und müssen wir als Magazin auch sein, wenn es um die subjektive und objektive Sicherheit von ungeschützten Verkehrsteil-nehmer*innen, vom Kind bis zur stark wachsenden Gruppe der Alten geht. Neben den tatsächlichen Gefahren spielt vor allem die subjektive Sicherheit beim Radverkehr eine große Rolle. Denn wie will man mehr Menschen, also auch Unsichere, Neueinsteiger, Ältere, Kinder und (werdende) Eltern aufs Rad bringen, wie die Alltagsmobilität dauerhaft verändern und wie den Fahrradanteil vervielfachen, wenn die Menschen kein Vertrauen haben in ihre eigene Sicherheit oder die ihrer Kinder? Fakt ist: Selbst erfahrene Nutzerinnen und Nutzer fühlen sich hierzulande nicht sicher auf dem Rad. Fast 70 Prozent gaben dies laut ADFC Klimatest 2020 deutschlandweit so an. Wie fühlen sich dann wohl erst Unerfahrene oder die große Zahl der Älteren, die nicht mehr so gut hören, sehen, den Kopf drehen oder im Notfall blitzschnell reagieren können? Dabei ist mehr gefühlte Sicherheit ebenso machbar, wie das von der EU vorgegebene und von der Großen Koalition angenommene Ziel Vision Zero. Im Arbeitsschutz haben wir uns an hohe Standards, etablierte Systeme und ständige Audits zur Vermeidung von Gefahren, Unfällen und gesundheitlichen Schäden seit Jahrzehnten ebenso gewöhnt wie in vielen anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Produktsicherheit oder beim Flugverkehr. Es geht also, wenn man wirklich will und weder Kosten noch Mühen noch unpopuläre Maßnahmen scheut.

Nicht nur Kritik, auch Lob und Ausblick

Nicht, dass wir uns falsch verstehen, in den letzten Jahren hat sich in Deutschland ganz sicher sowohl in den Köpfen wie auch bei den Maßnahmen einiges getan. Dass der Radverkehr beispielsweise nicht nur als Freizeitvergnügen, sondern sowohl in der Bevölkerung als auch in der Politik und der Verwaltung als ernst zu nehmende Verkehrsart gesehen wird, ist eine wichtige Entwicklung und auch das Verdienst vieler Menschen auf allen Ebenen. Gleichzeitig muss anerkannt werden, dass es in der Politik immer auch darum geht, Bevölkerungsgruppen mitzunehmen und nicht zu verprellen. Rechnet man hier Beharrungskräfte, Zukunftsängste und die durchaus unterschiedlichen Lebenssituationen mit ein, dann kann man manche Aussagen und Entscheidungen sicher besser nachvollziehen. Ähnliches gilt auch für die Verwaltungen in den Städten und Kommunen, die mit vielerlei Hürden und Widerständen zu kämpfen haben und mit dem Aufbau der notwendigen Kapazitäten und der nötigen Planung kaum nachkommen.
Klar ist aber auch, es gibt akuten Handlungsbedarf und noch viel Luft nach oben. Hier wäre zu wünschen, dass sich im Zuge des Wahlkampfs nicht unnötig Fronten aufbauen oder verhärten, sondern die Menschen im Gespräch bleiben und die wichtigen Probleme entschlossen zusammen angegangen werden. Die Erfahrung, dass zuerst viele gegen Veränderungen, dann aber fast alle dafür sind, sobald das Neue sichtbar und erlebbar wird, machen auch Stadt- und Verkehrsplaner in den viel gelobten Vorreiterstädten wie Kopenhagen, Amsterdam, Wien oder neu, Barcelona und Paris. In Paris gibt es beispielsweise inzwischen eine große Allianz zwischen allen Parteien und den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt für eine schnelle Transformation, und in Spanien war kein Aufschrei nach der landesweiten Einführung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Ortschaften zu hören.
Wie es gelingt, Menschen nicht nur mitzunehmen, sondern aktiv einzubinden und zu begeistern für Veränderungen und wie die Mobilität der Zukunft aussehen kann, dazu haben wir in den vergangenen Ausgaben mit renommierten Experten gesprochen, unter anderem mit Dr. Uwe Schneidewind, Transformationsforscher und neuer Oberbürgermeister in Wuppertal, und Prof. Dr. Stephan Rammler vom IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, einem der renommiertesten Vordenker, wenn es um die großen Zusammenhänge bei der Mobilität geht. Beide Interviews können Sie jetzt auch online lesen unter veloplan.de/magazin.


Bilder: stock.adobe.com – sveta, stock.adobe.com – cartoonresource, stock.adobe.com – Halfpoint, Norbert Michalke – Changing Cities

Ein Kommentar von Reiner Kolberg

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Die zentrale Frage, die wir uns aktuell wohl alle auf die eine oder andere Weise, bewusst oder unbewusst, stellen heißt: Wie geht es weiter? „Nichts wird so sein wie zuvor“, zu dieser Schlussfolgerung kam schon Mitte März der Zukunftsforscher Mattias Horx in einem viel beachteten Artikel, als sich das Ausmaß der Pandemie erst andeutete. Ist das so? Und, wenn ja, was sollten wir tun?

Neuer Blick auf alte Probleme

Unter Wissenschaftlern und Journalisten scheint es in einer Auffassung einen großen Konsens zu geben: Die Corona-Krise beschleunigt Prozesse und macht Schwierigkeiten und Bruchstellen sichtbar, die es vorher zwar gab, die wir aber aus unserem Bewusstsein ausgeblendet haben. Dazu gehört zentral das Thema Gesundheit, verbunden mit einer ethischen Diskussion, wie viel unsere physische und psychische Gesundheit und Menschenleben eigentlich wert sind – im Vergleich zu Einschränkungen, finanziellen Einbußen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten. In einem anderen Licht erscheint auch das Verhältnis zu unserer Umwelt, unserem Glauben an „immer schneller und mehr“ und das Vertrauen in die Beherrschbarkeit von Risiken.

Neu im Fokus: der Mensch

Die zurückliegenden Wochen haben in vielerlei Hinsicht gezeigt, was Menschen wirklich bewegt. Ohne Freizeitstress haben Millionen wieder Bewegung und Natur für sich entdeckt. Zu Fuß beim Spazieren, Wandern und Joggen, mit Rollern, Inlineskates und mit dem Fahrrad. Anthropologen sehen darin eine völlig logische Konsequenz, denn genau da fühlen wir uns als Menschen seit Jahrtausenden wohl, während umgekehrt das Zeitalter des „vor dem Bildschirm und hinter dem Lenkrad sitzen“ wohl viel zu kurz war, um uns zu prägen. Werden diese Erfahrungen unser Verhalten oder unsere Ansprüche ändern? Gut möglich. Die Älteren unter uns erinnern sich noch an die Ölkrise Anfang der 1970er-Jahren. Nicht? Aber an die autofreien Sonntage ganz sicher, oder? Ich fand sie herrlich! Und danach? Bei uns markierte die Krise den Beginn neuer Verkaufsargumente für Autos mit Blick auf den Benzinverbrauch (heute verdrängt) und den CW-Wert (erst recht verdrängt). Für die USA begann der bis vor Kurzem andauernde Kampf ums Öl und in den Niederlanden startete der Wandel hin zu einer Fahrradnation. Randbemerkung: Die Niederländer sind weiterhin ziemlich glücklich mit ihrer Entscheidung. Moderne Mobilität, lebenswerte Städte und wirtschaftlicher Erfolg gehen hier weiter Hand in Hand.

„The best way to predict the future is to create it .“

Abraham Lincoln (1809 – 1865), Der 16. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika schaffte die Sklaverei ab und legte die Grundsteine für die Industrienation und den Aufstieg zur Weltmacht.

Wertvoll: Gesundheit und ein gutes Leben

Plötzlich kann man sich über die vielen kleinen, noch vor Kurzem selbstverständlichen Dinge freuen und es ist gleichermaßen traurig und berührend zu sehen, wie sehr die meisten Menschen „das gute Leben“ vermissen. Umso unverständlicher ist es, wenn man realisiert, wie lässig und fahrlässig Menschen, Unternehmen oder die Politik mit der Gesundheit anderer umgehen. Und für was eigentlich? Diese Frage stelle ich mir auch im Verkehrssektor. Immer wieder betont wird beispielsweise der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Schwere von Erkrankungen durch das Corona-Virus und Vorerkrankungen. Die wiederum entstehen laut WHO vorwiegend durch unseren Lebenswandel, unter anderem durch zu wenig Bewegung und externe Einflüsse wie zu hohe Luftschadstoffwerte. Wir wissen es, aber wir handeln nicht danach. Regelmäßig wird, sogar von höchster Stelle, versucht, wissenschaftliche Erkenntnisse zu entkräften.
Auch vom ausgegebenen Ziel „null Verkehrstote und Schwerverletzte“ (Vision Zero) sind wir weit entfernt. Viel weiter, als uns bewusst ist. An die nach wie vor hohen Zahlen haben wir uns einfach gewöhnt. Warum? Kann man das? Und warum machen wir bei uns in der Krise nicht einfach Platz auf Straßen und Parkplätzen frei für Fußgänger, Radfahrer und Gastronomen? Brüssel kann es, Wien kann es, Paris, London, Mailand, … Und wir? Wir reden stattdessen über die StVO und Unverhältnismäßigkeit bei Strafen für Raser. Wirklich?

Willkommen in den 20ern

Wie wir leben wollen, welchen Kurs wir einschlagen und ob wir für die nächste Krise gerüstet sind, all das liegt viel mehr in unserer Hand, als wir bislang dachten. Auch das scheint eine Erkenntnis aus der Krise zu sein. Experten zufolge öffnet sich mit den geplanten Milliardenhilfen gerade ein Fenster für neue Möglichkeiten – und es wird sich wieder schließen. „Manything goes“ heißt es dazu vom Zukunftsinstitut in Verbindung mit der Forderung nach mehr Resilienz. Mein Tipp: In der Vergangenheit hat sich das Fahrrad als weltweit meistgebaute Maschine und effektivstes Fortbewegungsmittel, das die Menschheit je erfunden hat, vielfach als nützliches Instrument zur Bewältigung von Krisen bewährt. Die 20er-Jahre werden besonders. So oder so. Dafür sorgt, neben Covid-19 oder Covid-XY, der Klimawandel. Wir haben die Zukunft in der Hand. Wenn nicht für uns, dann für unsere Kinder und Enkel.


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