Mit ungewohnter Klarheit fordert der Deutsche Städtetag (staedtetag.de) seit einiger Zeit nachdrücklich eine Verkehrswende. Im Spitzenverband, der die Interessen der Städte auch gegenüber den politischen Institutionen bündelt, gibt es dazu offenbar große Einigkeit. Gründe, Positionen und Zielrichtungen erläutert Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy.
Herr Dedy, der Deutsche Städtetag setzt sich für eine schnelle Weichenstellung zu einer Verkehrswende ein. Was sind die Beweggründe?
Der Blick in die Städte zeigt: So wie der Verkehr heute organisiert ist, kommt er an seine Grenzen. Staus, Lärm und Abgasbelastungen mindern die Lebensqualität. Und der Verkehr hat in Deutschland noch nicht zu einer wirksamen CO2-Verringerung beigetragen. Deshalb brauchen wir eine Verkehrswende.
Vor welchen Problemen stehen die Städte und Kommunen aktuell konkret?
Es gibt große Herausforderungen, denen sich die Städte stellen: Bezahlbarer Wohnraum, Luftreinhaltung, Investitionsstau, Fachkräftemangel – um einige zu nennen. Uns ist es wichtig, all diese Aufgaben über die einzelnen Fachbereiche hinaus anzugehen. Deswegen ist die Verkehrswende für die Städte nicht bloße Verkehrspolitik. Da geht es zum Beispiel auch um Stadtentwicklung. Unser Ansatz ist, Verkehr stärker als bisher in Regionen zu denken.
Und natürlich müssen die notwendigen Investitionen für die Verkehrswende auch finanziert werden. Bei der kommunalen Verkehrsinfrastruktur haben wir einen Investitionsstau von 38 Milliarden Euro. Deshalb ist es gut, dass die Bundesmittel mit dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz aufgestockt werden. Ab dem Jahr 2025 sollen es zwei Milliarden Euro jährlich sein. Das brauchen wir dauerhaft und dynamisiert. Nur dann haben die Städte Planungssicherheit, um den Umfang der Maßnahmen zu stemmen.
“Die Städte wollen die Verkehrswende.”
Immer wieder kommen Einwürfe, dass Bemühungen um eine Verkehrswende ideologiegetrieben oder einfach nicht machbar seien. Wie sehen Sie das?
Die Städte wollen die Verkehrswende. Diese Entscheidung haben wir im Städtetag einstimmig und über alle Parteigrenzen hinweg getroffen. Natürlich werden wir in den Städten die Frage beantworten müssen, wie viel Raum will ich dem motorisierten Individualverkehr für andere Verkehrsmittel abnehmen. Wenn zum Beispiel eine Stadt neue Radwege bauen will, kann das nicht auf dem Bürgersteig geschehen. Das zeigt auch, dass Verkehrswende nicht bedeuten kann, einfach jedes Verbrennerauto durch ein E-Fahrzeug zu ersetzen. Diese Gleichung kann nicht aufgehen.
Angesichts langer Planungshorizonte beim Ausbau des ÖPNV sehen viele Experten einen wichtigen Lösungsansatz für die nächsten Jahre in der Stärkung des Fuß- und Radverkehrs.
Die Städte unterstützen es, wenn mehr Menschen im Alltag das Fahrrad nutzen oder zu Fuß gehen. In vielen Innenstädten werden schon jetzt über 30 Prozent der Wege mit dem Rad zurückgelegt, Tendenz steigend. Die Städte wollen das Fahrradfahren weiter stärken, etwa durch gut ausgebaute Radwege, Vorrangschaltungen an Ampeln für Radfahrer oder Fahrradparkhäuser, zum Beispiel an Bahnhöfen. Wo allerdings nicht nur umgeplant, sondern auch aufwendig umgebaut werden muss, da sind auch Bürgerinnen und Bürger und auch der Einzelhandel zu überzeugen.
“Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Der Bund muss den Städten vertrauen.”
Helmut Dedy, Deutscher Städtetag
Man gewinnt den Eindruck, dass immer mehr Städte im europäischen Ausland umdenken und viel stärker auf den Radverkehr setzen als bei uns. Hinken wir in Deutschland hinterher?
Immer mehr Städte in Deutschland erreichen gute Platzierungen beim Fahrradklima-Test des ADFC. Wir müssen daher nicht immer nur in die Niederlande oder nach Kopenhagen schauen. Denn nicht alle Maßnahmen würden in deutschen Städten funktionieren, auch die rechtlichen Rahmenbedingungen sind andere. Die Radverkehrsinfrastruktur wird sich durch die Förderung im Rahmen des Klimaschutzprogramms weiter verbessern – und das ist gut so. Denn der Radverkehr ist ein wichtiger Baustein für klimafreundliche Mobilität. Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Der Bund muss den Städten vertrauen.
Bundesverkehrsminister Scheuer hat mit dem „Bündnis für moderne Mobilität“, Fördermitteln für den Radverkehr und einer Reform der StVO ja einige Veränderungen auf den Weg gebracht. Sind Sie damit zufrieden?
Das Bündnis für moderne Mobilität ist ein sinnvoller Erfahrungs- und Wissensaustausch zwischen Bund, Städtetag und anderen Organisationen. Wir haben dadurch die Möglichkeit, dem Bund klarzumachen: Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Ein Beispiel: Bisher können die Städte nur an Gefahrenstellen Tempo 30 anordnen, etwa vor einer Schule oder einer Kita. Wenn aber der Schulweg auch an einer Hauptverkehrsstraße entlanggeht, ist das im Moment nicht möglich.
Positiv ist, dass Bund und Länder inzwischen einig darüber sind, dass ein neuer Gebührenrahmen für das Bewohnerparken notwendig ist. Die Städte fordern seit Langem, dass der Spielraum größer wird. Wir können uns einen Rahmen zwischen 20 und 200 Euro pro Jahr für das Anwohnerparken vorstellen. Denn bei dem bisherigen Gebührenrahmen bis 30 Euro werden noch nicht einmal die Verwaltungskosten gedeckt. Wenn der neue Rahmen in Kürze steht, können die Städte selbst entscheiden, wie sie ihre Satzungen ändern. Wichtig ist, dass zukünftig auch der wirtschaftliche Wert des Bewohnerparkausweises berücksichtigt werden kann. Öffentlicher Raum ist ein knappes Gut.
Aus den Kommunen ist zu hören, dass beim Radverkehr sowohl die Beantragung von Fördermitteln als auch Planungsprozesse zu aufwendig seien. Wie kann man das verändern?
Klar ist, dass die Städte den Ausbau der Radinfrastruktur nicht allein stemmen können. Durch das Sofortprogramm Saubere Luft haben die Städte eine Vielzahl unterschiedlicher, aber meist kurzfristiger Fördermöglichkeiten erhalten. Wir brauchen aber eine Verlässlichkeit und Verstetigung der Förderung über Jahre, damit es nicht bei einem „Strohfeuer“ bleibt. Das Ziel der Städte ist es, gemeinsam mit Bund und Ländern die Vision Zero zu erreichen (…) dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum.
Der Deutsche Städtetag will mehr Schutz für Radfahrer und Fußgänger. Wo sehen sie Veränderungsbedarf?
Die Zahl der im Verkehr getöteten Radfahrer bleibt seit 2010 besorgniserregend hoch. Dagegen müssen Kommunen, Bund und Länder gemeinsam mehr tun. Dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum, damit sie Mobilität so organisieren können, dass sie den Bedürfnissen der Menschen vor Ort gerecht wird. Deshalb ist die Entschließung zum sicheren Radverkehr, die die Regierungsfraktionen im Bundestag im Januar 2020 getroffen haben, ein guter Schritt. Darin wird z. B. betont, dass die Städte Erprobungsmöglichkeiten brauchen, zum Beispiel um ein generelles Tempolimit von 30 km/h auszuprobieren.
“Das Ziel der Städte ist es, gemeinsam mit Bund und Ländern die Vision Zero zu erreichen (…) dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum.”
Helmut Dedy, Deutscher Städtetag
Beim Thema Lkw-Abbiegeassistent verweist Bundesverkehrsminister Scheuer immer wieder auf die EU. Was können Kommunen in der Zwischenzeit hier tun und warum folgen sie nicht dem Wiener Beispiel, Lkws ohne Assistenten die Durchfahrt zu verbieten?
Die Assistenzsysteme in Lkw für das Rechtsabbiegen helfen, Unfälle mit Fahrradfahrern an Kreuzungen zu verhindern. Das Bundesverkehrsministerium setzt auf eine freiwillige Selbstverpflichtung der Betreiber von Lkw, um den Abbiegeassistent möglichst flächendeckend einzuführen. Dieser Initiative haben sich auch viele städtische Betriebe angeschlossen. Das ist ein guter Weg, weil dadurch bereits vor dem Inkrafttreten der EU-weiten Regelung ab 2023 Maßnahmen angeschoben werden können, auch wenn nicht alle Lkw damit erreicht werden. Ein Vorgehen wie in Wien ist den deutschen Städten nicht möglich. Sie dürfen Lkw ohne Abbiegeassistenzsysteme die Einfahrt nicht einfach verbieten.
Der Verkehrsexperte Prof. Andreas Knie hat im Interview mit VELOPLAN die Auffassung vertreten, dass zwei Drittel der Menschen in den Großstädten bereit wären, dem Auto Raum zu nehmen und dem Fahrrad mehr Raum zu geben. Wie ist das Stimmungsbild in den Kommunen?
Wir werden es nicht schaffen, den Großteil der Autos von heute auf morgen aus den Innenstädten zu verdrängen. Auch wissen wir, dass sich die Stimmungsbilder zwischen Stadt und Land deutlich unterscheiden. Die Verkehrswende braucht die Akzeptanz der Bevölkerung, das ist klar. Wir wissen heute, dass der Verkehr von morgen vielseitiger und flexibler sein wird. Mit den Möglichkeiten der Digitalisierung wollen wir ihn auch umfassend vernetzen. Dann ist die Mobilität von morgen nicht nur umweltfreundlicher und klimaschonender, sondern komfortabler und schneller als heute.
Thema Bikesharing und E-Tretroller: Man hat den Eindruck, dass die Städte den Entwicklungen ziemlich hinterherlaufen. Was muss sich aus Ihrer Sicht verändern?
Die Zulassung von E-Tretrollern hat von der Idee bis zur Verwirklichung auf Bundesebene ein knappes Jahr gedauert. Die Städte hatten wenige Monate, um Anforderungen an Verleihsysteme umzusetzen. Wir haben deshalb eine Handlungsempfehlung zu E-Tretrollern im Stadtverkehr herausgegeben. Und mit den ersten Anbietern haben wir uns auf gemeinsames Vorgehen verständigt. Das zeigt: Wir setzen uns für Nachbesserungen in den gesetzlichen Regelungen ein, damit das Abstellen von Leihfahrzeugen auf Bürgersteigen und Fußgängerzonen ordentlicher erfolgt und Tabuzonen bei Fahrten mit den Scootern beachtet werden. Die aktuelle Initiative im Bundesrat begrüßen wir deshalb.
Die KEP-Branche verzeichnet rasante Zuwächse und eine aktuelle Studie des IFH Köln geht davon aus, dass der Online-Anteil am Lebensmittelhandel bis 2030 auf neun Prozent ansteigt. Was sollten Städte hier tun?
Rund vier Milliarden Paketsendungen werden für das Jahr 2020 erwartet. Damit steigt das Verkehrsaufkommen in den Innenstädten durch Lieferverkehre. Es ist wichtig, dass die Städte und ihre Bürgerinnen und Bürger zuverlässig erreichbar sind. Aber wir wollen, dass die Logistiker sich auf der „letzten Meile“ zusammentun. Gemeinsame Mikrodepots für Paketsendungen und die gebündelte Auslieferung mit Elektrofahrzeugen oder Lastenrädern werden bereits in mehreren Städten erprobt. Das ist der richtige Weg, weil dadurch Lärm und Abgase in den Innenstädten verringert werden und der innerstädtische Verkehr entlastet wird.
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Das Interview mit Helmut Dedy hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im Februar 2020 geführt. Erschienen in Ausgabe 1/20.
Über den Deutschen Städtetag
Der Deutsche Städtetag ist ein freiwilliger Zusammenschluss von kreisfreien und kreisangehörigen Städten in Deutschland. Er vertritt aktiv die kommunale Selbstverwaltung und nimmt die Interessen der Städte gegenüber Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat, Europäischer Union und zahlreichen Organisationen wahr. Zudem berät er seine Mitgliedsstädte, informiert über Vorgänge und Entwicklungen und fördert den Erfahrungsaustausch. Der Verwaltungsjurist Helmut Dedy ist seit 2016 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages und Geschäftsführer des Städtetages Nordrhein-Westfalen.
Bilder: Deutscher Städtetag / Laurence Chaperon, ADFC, Pixabay / Thomas Wolter