Lastenräder erfordern von ihren Fahrerinnen eine andere Routenwahl als ein wendiges Stadtrad oder ein sportliches Mountainbike. Im Projekt I-Route-Cargobike wurde gewerblichen Lastenrad-Nutzerinnen deshalb genau auf die Finger geschaut. Im Veloplan-Interview erklären Michael Heß (Seven Principles Mobility GmbH) und Johannes Gruber (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt, DLR) das Forschungsprojekt und die Vision dahinter. Passend navigiert zu werden, könnte immer wichtiger werden, wenn in Zukunft neben Kurier-Profis auch Anfänger*innen vermehrt mit dem Lastenrad unterwegs sind. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Michael Heß (oben) und Johannes Gruber (unten) bringen Cargobike-Expertise aus der Praxis und der Forschung zusammen.

Wie ist das Projekt I-Route-Cargobike entstanden und was genau wollten Sie damit herausfinden?
Johannes Gruber: Alle Arten von Betrieben – vom großen Logistiker bis hin zum Handwerksbetrieb – nutzen Lastenräder, und auch die technologische Entwicklung von Lastenrädern ist extrem dynamisch. Vor diesem Hintergrund haben wir gesehen, dass es noch nicht wirklich Support-Tools gibt, wenn jemand auf das Cargobike umsteigen möchte, der noch nicht bereits jahrelang als Kurierfahrer tätig war. Etwa beim Thema Navigation und Routing: Wir sind davon ausgegangen, dass gewerbliche Cargobike-Fahrende andere Vorlieben und Rahmenbedingungen für die Routenwahl haben als normale Fahrradfahrende.
In der Zusammenarbeit haben wir uns ideal ergänzt, da die Seven Principles Mobility GmbH aus der Praxis kommt und eine datengetriebene IT-Lösung beitragen will. Wir bringen die Vorerfahrung mit Cargobike-Nutzern ein. Aus bestehenden Datengrundlagen haben wir ermittelt, wie sich diese Präferenzen für verschiedene Routencharakteristiken von Lastenradfahrern unterscheiden und bieten damit eine Grundlage, wie sich Strazoon Cargobike, das Produkt von 7P Mobility, weiterentwickeln lässt.

In Ihrem Projekt stützen Sie sich auf den Datensatz eines großen DLR-Projekts. Wie bewerten Sie diese Arbeitsgrundlage?
Gruber: Wir haben ein sehr großes Daten-Set gehabt aus dem früheren Projekt „Ich entlaste Städte“, für das wir insgesamt 750 Unternehmen und Betriebe deutschlandweit begleitet haben. Dabei haben wir im Projekt den Unternehmen und Betrieben Lastenräder zur Verfügung gestellt. Über GPS-Tracking und appbasierte Befragungen haben wir einen einzigartigen Datensatz aufgebaut, was reale Fahrten von Neuanfängern im Lastenradgeschäft betrifft. Das waren Unternehmen jeder Couleur, Lieferdienste, Handwerker, öffentliche Einrichtungen, Werksverkehre, Agenturen oder Gebäudedienstleistungen – alles, wo hin und wieder solche Güter zur Aufrechterhaltung von Betrieben transportiert werden müssen, die in ein Cargobike passen. Das war die Grundlage. Die gefahrenen Routen haben wir ergänzt um Kontextfaktoren, zum Beispiel, ob ein Radweg genutzt wurde, der Weg durch Grünflächen ging, wie hoch die Knotendichte ist oder ob das Haupt- oder Nebenstraßennetz genutzt wurde.
Michael Heß: Was in der Datenqualität etwas schwieriger war, sind die Open-Street-Map-Daten. Die sind grundsätzlich sehr gut, aber als wir erstmals ein spezielles Cargobike-Routing entwickeln wollten, sind wir auf verschiedene Probleme gestoßen. Zum Beispiel heißen Datenelemente in unterschiedlichen Regionen oder Ländern anders. Verschiedene Communitys pflegen das in Open Street Map unterschiedlich ein. Da wäre es natürlich super, wenn noch mehr und weltweit einheitliche Daten verfügbar wären, mit denen man eine Route noch besser berechnen kann. So etwas wie Poller und Drängelgitter zum Beispiel. Solche Barrieren würden wir den Lastenradfahrenden auf ihrer Route gerne ersparen. Da ist noch Potenzial in den Datengrundlagen vorhanden.

Profikuriere in Zürich wurden mit Kameras ausgestattet, um die von ihnen gewählten Routen später detailliert verstehen zu können.

Zusätzlich zu den Fahrten aus „Ich entlaste Städte“ haben Sie auch qualitative Daten erhoben, unter anderem in Zürich. Spielt das Land, in dem die Nutzer*innen unterwegs sind, kaum eine Rolle? Oder sind die Schweiz und Deutschland in dieser Hinsicht besonders gut vergleichbar?
Gruber: Hinter den Datenerhebungen stecken zwei unterschiedliche Ansätze. Wir haben für die Analyse der quantitativen Daten real gefahrenen Routen alternative Routen gegenübergestellt. Diese basierten auf einem Vorschlag von 7P Mobility, der ein normales Fahrrad-Routing mit speziellen Logiken erweiterte, um zum Beispiel Treppen oder steile Anstiege zu vermeiden. Auf dieser Basis haben wir versucht herauszufinden, welche Einflussfaktoren bei der Routenwahl wirken. Dabei kam zum Beispiel heraus, dass ein hoher Grünflächenanteil sehr wertgeschätzt und dass das Nebenstraßennetz tendenziell bevorzugt wird von Cargobike-Fahrenden. Eine größere Abweichung vom normalen Radverkehr war, dass Fahrradinfrastruktur nicht per se genutzt wird, sondern nur dann eine Rolle spielt, wenn es sich um die schlanken einspurigen Lastenräder handelt. Wir konnten in den Daten also nachweisen, dass dreirädrige und größere Lastenräder zumindest durch die aktuell vorhandene Fahrradinfrastruktur keinen Vorteil haben.
Beim qualitativen Zugang spielen der individuelle Hintergrund des Fahrenden und der räumliche Kontext eine stärkere Rolle. Wir haben mit Berliner Profi-Logistikern gesprochen und die Daten verglichen. Noch detaillierter sind wir mit Züricher Lastenradkurieren vorgegangen, die wir drei Tage begleitet haben. So individuell, wie die Fahrradwege manchmal beschaffen sind, Kreuzungen besonders sind oder es sogar leichte Unterschiede zwischen den Regulierungen verschiedener Länder gibt, so hilfreich ist es doch, durch ganz konkrete Beobachtungen von einzelnen Situationen abzuleiten, wo wir gute Nutzungsentscheidungen treffen und diese vielleicht sogar generalisieren können. Wo ist es für Anfänger nützlich, wenn das Wissen von Profis in so eine Software-Lösung einfließt? Und wo sehen wir aber, dass es ganz individuelle, situative Entscheidungen gibt, die nicht generalisiert abgebildet werden können?
Heß: Die Bedeutung lokaler Besonderheiten fand ich bemerkenswert. Der Profi-Logistiker aus Berlin sagte zum Beispiel „Durch den Tiergarten fahre ich nicht! Da laufen lauter Touristen und Jogger rum“. Solche spezifischen Details kennt man halt nur, wenn man schon vor Ort war und sich durch einen Touristenstrom gekämpft hat.

„Das Naturell von Cargobike-Profikurieren ist, die direkteste aller Linien ohne Rücksicht auf Komfort- und Ästhetik-Aspekte zu nehmen. Das ist an sich nicht überraschend. Trotzdem gibt es natürlich auch gewerbliche Nutzungsformen, die weniger Zeitdruck unterlegen sind.“

Johannes Gruber, DLR

Gibt es sonst noch Verhaltensweisen der Lastenradprofis, die Sie überrascht haben?
Gruber: Das Naturell von Cargobike-Profikurieren ist, die direkteste aller Linien ohne Rücksicht auf Komfort- und Ästhetik-Aspekte zu nehmen. Das ist an sich nicht überraschend. Trotzdem gibt es natürlich auch gewerbliche Nutzungsformen, die weniger Zeitdruck unterlegen sind. Gerade wenn wir an Handwerker denken, die drei bis vier Kundentermine haben und bei denen das Geld woanders erwirtschaftet wird. Da kann man in so einer App später sagen: „Ich nehme lieber den komfortablen Weg oder den Weg durch den Park und bin daher bereit, auch 10, 20 oder 30 Prozent längere Wege in Kauf zu nehmen.“

Da sind wir dann beim Punkt Stadtgrün, der auf vielen Routen präferiert wurde. Was steckt denn hinter einer anderen Präferenz, den Strecken mit vielen Knotenpunkten? Warum sind die für die Nutzer*innen attraktiv?
Gruber: Ein klassisches Erklärungsmuster ist, dass viele Knoten, also eine hohe Konnektivität, eine möglichst direkte, individuell passende Route ermöglichen. Das würde ich in dem Fall auch mit der großen Präferenz für Nebenstraßen zusammenbetrachten. Dieses Netz hat mehr Kreuzungen, die sind aber leichter einsehbar, ohne Ampeln und können einfacher passiert werden. Die hohe Knotendichte ist da also nicht schädlich. Große Kreuzungen gilt es zu vermeiden, da es dort viel Passantenaufkommen und viele Busspuren und Tramlinien mit gefährlichen Bodenbeschaffenheiten gibt. Die sind deutlich schädlicher.

War Strazoon Cargobike, das Tool, mit dem Sie die Vergleichsrouten entwickelt haben, von Anfang an eine Anwendung spezifisch fürs Cargobike? Mit welcher Navigationslogik sind Sie in das Projekt gestartet?
Heß: Wir waren auf der Suche nach innovativen Lösungen für die letzte Meile und hatten damit schon vor dem Forschungsprojekt begonnen. In Strazoon Cargobike haben wir uns drauf konzentriert, primär die alltäglichen Prozesse der Kuriere abzubilden, also Track & Trace, Nachweis der Übergabe oder auch Handling im Mikrodepot. Wir haben gelernt, dass die Prozesse der Radlogistiker aktuell zu heterogen sind, als dass wir sie alle abbilden könnten. Die machen alle tolle Sachen, aber leider alle ein bisschen anders. Die einen holen Korken beim Restaurant ab und bringen sie zum Wertstoffhof, die anderen haben Container mit Mini-Depots in der Stadt verteilt und vieles mehr.
Auch eine erste Version der Touren- und Routenplanung war bereits in Strazoon Cargobike enthalten. Aufgebaut haben wir die auf einer Open-Source-Lösung, dem Open-Route-Service. Der hatte bereits ein Routing-Profil „E-Bike“. Da war zum Beispiel schon hinterlegt, dass Treppenstufen komplett zu vermeiden sind. Das war unser Startpunkt, weil es den Routing-Bedürfnissen eines Cargobikes nahekommt.

Was haben Sie nach dem Projekt nun mit der Anwendung Strazoon Cargobike für eine Vision?
Heß: Für mich persönlich ist das ein bisschen frustrierend. Die Idee, Logistiker mit unserer Lösung glücklich zu machen, funktioniert derzeit wegen der zu geringen Volumina und Heterogenität leider nicht so, wie wir uns das erhofft hatten. Das ist für mich zwar sehr schade, aber dann ist das halt so. Wir sehen zwar noch weitere Kundengruppen – die eine oder andere Supermarktkette liefert zum Beispiel per Lastenrad aus –, die haben aber meist schon Track-and-Trace-Lösungen und Apps für ihre Fahrer. Für uns ist daher klar, dass wir uns noch mehr fokussieren und auf einen Kernteil spezialisieren wollen. Das ist, das Cargobike-Routing als API-Lösung anzubieten. Kunden können ihre Anwendung dann über eine Internetschnittstelle anbinden und unser Routing direkt in ihre eigenen Applikationen integrieren. Dort bekommen wir dann die anzufahrenden Stopps und liefern für Cargobikes optimierte Touren und Routen zurück. Damit lösen wir uns davon, ein sehr heterogenes Kundenumfeld bedienen zu müssen und konzentrieren uns auf den Innovations-Aspekt unserer Lösung.

Inwiefern ist diese Innovation auch für private Nutzer*innen von Lastenrädern interessant?
Heß: Wir haben den Versuch gewagt und eine App gebaut, die nur Zielführung und Navigation bietet. Im Prinzip eine Zweitverwertung des Routings. Die App ist auch schon im Play-Store zu finden. Wir haben aber nicht geglaubt, dass man damit die Menschen besonders glücklich machen kann, da man als Privatnutzer sehr häufig dieselben Routen fährt, so die Annahme. Man fährt da, wo man sich gut auskennt, und braucht die Routing-Unterstützung eher selten. Wir wollten es trotzdem ausprobieren.
Was wir noch auf dem Zettel haben, aber noch nicht als Feature eingebaut haben, ist eine unfallfreie Route. Man kann sich zum Beispiel anschauen, wo Unfallschwerpunkte sind und diese meiden, um sicherer durch die Stadt zu kommen. Das wäre ein Feature, das vielleicht auch für private Kunden einen Mehrwert bietet.
Gruber: Die Erkenntnisse, die wir herausgezogen haben – wie zum Beispiel die Wichtigkeit eines guten Nebenstraßennetzes oder die Radwegebreite – sind natürlich Aussagen, die auch für die Planung von Relevanz sein können. Dass man das Fahrradnetz nicht nur an Hauptstraßen denkt, sondern zum Beispiel durch Fahrradstraßen auch Möglichkeiten schafft in den Nebenstraßen. Ich denke, dass Privatleute das eher bevorzugen würden und tendenziell große Knoten und Ansammlungen eher meiden. Wenn man sich die stark wachsenden Lastenradverkaufsanteile ansieht, verbunden mit Substitutionsquoten, die manche Kommunen und Unternehmen rausgeben, dann können über den Aspekt der Planung auch Privatleute profitieren.

„Wenn die Wachstumspotenziale, die wir uns wünschen, kommen, sind nicht nur Profis auf den Lastenrädern unterwegs. Dann kommt der Moment, wo eine Lastenradnavigation immer wichtiger wird, um Leute, die sich etwas unsicher fühlen oder eine Gegend noch nicht gut kennen, besser zu unterstützen.“

Michael Heß, 7P Mobility

Was hoffen Sie, wie sich das Thema Lastenradnavigation in den kommenden Jahren weiterentwickeln wird, und welche Projekte und Forschung sind zu diesem Thema noch nötig?
Gruber: Ich denke, wir haben einige Ansatzpunkte, an denen es Optionen gibt, weiterzumachen. So könnte man vielleicht die situativen Aspekte wie den aktuellen Verkehrsfluss berücksichtigen oder unterschiedliche Stadttypen und Nutzungsarten unterscheiden.
Heß: Wir versuchen, einen Teil dessen, was ich mir auch persönlich wünsche, umzusetzen: nämlich, dass wir das, was wir jetzt erarbeitet haben, Open Source bereitstellen. Damit können auch andere zum Thema beitragen. Denn die Entwicklung einer Navigation, die an einen Radkurierprofi heranreicht, ist sehr herausfordernd. Mein Erlebnis war bisher auch immer, dass die Profis das ein wenig abtun und sagen „euer Algorithmus kann nicht so gut sein wie ich, wenn ich hier unterwegs bin“ – was ja ehrlicherweise auch stimmt. Wenn die Wachstumspotenziale, die wir uns wünschen, kommen, sind aber nicht nur Profis auf den Lastenrädern unterwegs. Dann kommt der Moment, wo eine Lastenradnavigation immer wichtiger wird, um Leute, die sich etwas unsicher fühlen oder eine Gegend noch nicht gut kennen, besser zu unterstützen.
Gruber: Wahrscheinlich müsste man direkt beim Absatz, also bei Händlern oder Herstellern anfangen. Man kann sich überall sein Smartphone auf den Lenker schnallen. Jedes Auto hat ein Touchdisplay, braucht es das nicht auch noch stärker? Wo ich auswählen kann, wo ich hinwill und ob der Weg schnell, sicher, bequem oder landschaftlich reizvoll sein soll. Das könnte ein Hebel sein für nachhaltige Fahrradlogistik, aber eben auch für Routing-Lösungen.


Bilder: DLR – Amac Garbe, 7 Principles, DLR, Johannes Gruber

Señoritas Courier mag auf den ersten Blick wie eine gewöhnliche kleine Kurier-Genossenschaft wirken. Doch die Idee dahinter fordert den Status quo in Brasilien heraus. In São Paulo ist der Radverkehr männlich dominiert und gefährlich. Fast alle Beschäftigten sind weiblich oder transgeschlechtlich. Gründerin Aline Os erzählt im Veloplan-Interview, welche Vision sie bei ihrer Arbeit antreibt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Aline Os (2. v. l.) hat den Kurierdienst Señoritas Courier 2015 ins Leben gerufen. Sie hatte genug von geschlechterspezifischer Diskriminierung und frauenfeindlichem Verhalten in der Kurierszene São Paulos.

Wie sind Sie dazu gekommen, Señoritas Courier ins Leben zu rufen? Was war die Idee dahinter?
Aline Os: Señoritas Courier ist eine Genossenschaft, die sich aus Frauen und transgeschlechtlichen Personen zusammensetzt. Derzeit sind wir zu neunt. Die meisten von uns sind People of Colour von eher ländlicher Herkunft: acht Cis-Frauen, ein trans Mann und ein venezolanischer Immigrant.
Sie entstand 2015, als ich anfing, freiberuflich Lieferungen für ein Radlogistikunternehmen zu machen. Ich fühlte mich von dem überwiegend männlichen Team des Unternehmens durch frauenfeindliches Verhalten und geschlechtsspezifische Diskriminierung weder vertreten noch respektiert. Da ich zu dieser Zeit als Dozentin an der Universität tätig war, dachte ich, dass die Arbeit mit dem Fahrrad in der Stadt mir guttun könnte. Dann begann ich, über eine kollektive Lösung für Frauen und LGBTQ+-Personen, ein nicht traditionelles Unternehmen nachzudenken.

Welche Bedeutung kommt der Radlogistik in Brasilien zu?
Sie ist auf der ganzen Welt unglaublich wichtig, vor allem angesichts der Herausforderung, die globale Erwärmung zu bekämpfen. Aber wenn wir über die Besonderheiten einer Stadt wie São Paulo und Brasiliens insgesamt sprechen, ist die Radlogistik auch deshalb wichtig, weil sie die Verkehrsgewalt verringern kann Mehr Fahrräder in einer Stadt bedeuten einen ruhigeren, einladenderen Verkehr für Frauen und Kinder. Es geht darum, dass eine durchschnittliche Person einen Radfahrer ansieht und das Gefühl hat, dass auch er oder sie mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, das Auto zu Hause lassen oder sogar die überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel meiden kann.
Wenn wir also über Radlogistik nachdenken, müssen wir auch über die positiven Auswirkungen sprechen, die das Radfahren für Städte und ihre Einwohner hat. Leider erkennen die öffentliche Verwaltung und viele Unternehmen das noch nicht und glauben zum Teil, dass die Zustellung per Fahrrad billiger sein sollte als die Zustellung mit umweltschädlichen Kraftfahrzeugen.

Wie herausfordernd ist es in diesem Umfeld, auf wirtschaftlich tragfähige Weise zu arbeiten?
Die eigentliche Herausforderung für Señoritas Courier bestand darin, dass wir bei null angefangen haben und keinen betriebswirtschaftlichen Hintergrund haben. Wir wollen, dass die Dienstleistung wirtschaftlich lebensfähig ist und uns angemessene Arbeitsbedingungen bietet. Manchmal sagt uns der Kapitalismus, dass dies unmöglich ist. Die Befürworter des Genossenschaftswesens zeigen uns aber, dass es möglich sein kann. In Brasilien gibt es Gesetze, die große Genossenschaften in der Landwirtschaft, im Kreditwesen und im Gesundheitswesen begünstigen.
Kleinen Genossenschaften, die meist aus armen Arbeitnehmern bestehen, die keine Möglichkeit haben, in den Kongress zu kommen und für ihre Initiativen kämpfende Lobbyisten zu haben, wird kaum Beachtung geschenkt. Also machen wir weiter ohne Subventionen für den Kauf von Ausrüstung – ein Lastenrad beginnt bei 2.000 USD zuzüglich Steuern, und das übersteigt bei Weitem unsere Mittel – und mit einer hohen Steuerlast, während wir zusehen, wie traditionelle Lieferplattformen Subventionen erhalten, da sie als Technologieunternehmen agieren.

„Frauen machen zwischen sieben und zehn Prozent der gesamten Radverkehrsteilnehmer in São Paulo aus.“

Aline Os

Die Verkehrswende ist in São Paulo alles andere als ein sicheres Ding. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind zwar einige Fahrradwege hinzugekommen, gerade in den Außenbezirken der Großstadt ist der Handlungsbedarf aber noch groß.

Was das Radfahren angeht, gibt es in Brasilien ein großes Geschlechtergefälle. Woher kommt dieses Problem aus Ihrer Sicht und inwiefern können die Señoritas-Kurier*innen es verändern?
Das Fahrrad kann ein Instrument zur Befreiung von Menschen mit verschiedenen Körpern sein. Der Feminismus hat uns das schon lange gezeigt. Allerdings ist Brasilien, wie viele andere Länder der Welt, ein sexistisches Land, und viele Menschen glauben immer noch, dass Frauen zu Hause bleiben und sich um den Haushalt kümmern sollten, oder dass diese Aufgaben zusätzlich zur Lohnarbeit von ihnen zu bewältigen sind.
Wenn man zusätzlich zur geschlechtsspezifischen Gewalt noch den weltweit tödlichsten Straßenverkehr und das Risiko, ausgeraubt zu werden, bedenkt, versteht man, warum vielen Frauen das Fahrradfahren gar nicht in den Sinn kommt.
Gruppen, die ausschließlich aus Minderheiten bestehen, ermöglichen es anderen, sich im Radverkehr wiederzuerkennen, und können sie motivieren, selbst das Fahrrad zu benutzen. Frauen machen zwischen sieben und zehn Prozent der gesamten Radverkehrsteilnehmer in São Paulo aus. Deshalb ist es bedeutsam, wenn diese Menschen einer anderen Person Lieferungen übergeben, die sich selbst so identifiziert.
Darüber hinaus bieten wir Kurse und Workshops in Mechanik an, bei denen die meisten Teilnehmer einer Randgruppe angehören. Die Idee ist, sie als Radfahrende selbstständiger zu machen, da das Fahrzeug während der Nutzung mechanische Probleme bekommen kann. Wir bringen ihnen also unter anderem bei, wie man das Fahrzeug pflegt und reinigt, welche Werkzeuge man braucht und wie man mit ihnen einfache Reparaturen durchführt. Sie fühlen sich in der Werkstatt respektiert, legen die Angst davor ab, Fragen zu stellen, und fühlen sich nicht der Gefahr von Belästigung oder Gewalt ausgesetzt.

Diesen Schutzraum haben die Kurier*innen auf der Straße natürlich nicht. Wie muss man sich ihren Alltag vorstellen?
Es gibt unzählige und immer wiederkehrende Fälle von Vorurteilen und Diskriminierung gegenüber Kurieren, sei es aufgrund ethnischer Merkmale, ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft. Wir haben diese Situationen selbst erlebt, und wir wissen, dass sie weiter bestehen werden, solange Vorurteile nicht streng geahndet werden. Dies ist nicht nur ein Problem in Brasilien, sondern weltweit. Anständige Bezahlung, weniger anstrengende Arbeitszeiten, angemessene Ruhe- und Essensbedingungen, Unterstützung bei Verkehrsunfällen, eine Versicherung, wenn unser Fahrrad gestohlen wird, und der Zugang zu Hygienemöglichkeiten – all das wird nicht nur in Brasilien vernachlässigt, wenn es um Lieferpersonal geht.

Wie verändert die Arbeit als Señoritas-Kurierin das Leben Ihrer Mitarbeiterinnen?
Ich glaube, dass die Menschen die Organisationen verändern müssen, nicht umgekehrt. Als ich anfing zu arbeiten, sagte man mir, dass ich acht bis neun Stunden am Tag arbeiten müsse, dass ich nur sonntags das Recht hätte, mich auszuruhen und dass ich nicht fehlen dürfe. Warum muss das so sein?
Wir haben unsere Treffen zu einem sicheren Umfeld gemacht, in dem Vertrauen der Schlüssel ist und wo man Wünsche, Ideen, Ängste, Unzufriedenheit und Frustrationen teilen kann. Der Zusammenhalt des Teams wird immer stärker. Von den neun Personen, die die Genossenschaft bilden, liefern drei gar nicht mehr aus. Aber diese Menschen sind weiterhin Mitglieder, weil sie hier willkommen sind, und nehmen aktiv an den Treffen und anderen Projekten teil.

Wie verbreitet ist das Radfahren im Allgemeinen in São Paulo oder Brasilien?
Die Stadt São Paulo hat in den letzten zwei Jahrzehnten dank der Einrichtung von Fahrradwegen und -spuren einen beträchtlichen Zuwachs an Radfahrern zu verzeichnen. Dieser Zuwachs konnte nur mit Mühe aufrechterhalten werden, da die beiden letzten Stadtverwaltungen versuchten, diese Strukturen wieder zu beseitigen, was jedoch von Fahrradaktivisten und -organisationen bekämpft wurde. In den wohlhabenderen Gegenden der Stadt haben sich die Menschen schon an die Radfahrenden gewöhnt. Es ist jedoch nach wie vor notwendig, die Nutzung von Fahrrädern in Randgebieten, die über weniger Infrastruktur verfügen, zu fördern.
Die Tendenz geht dahin, dass andere Städte dem Beispiel São Paulos folgen, aber die Kultur der Autos und Motorräder für den täglichen Transport ist in unserem Land immer noch sehr stark ausgeprägt. Diese Kultur bringt die Nutzung umweltschädlicher Fahrzeuge fälschlicherweise mit Fortschritt und sozialem Aufstieg in Verbindung.
Auch als Sport bleibt Radfahren aufgrund der hohen Kosten für Fahrräder für diesen Einsatzzweck bislang eine ungewöhnliche Aktivität, aber die Leidenschaft für diesen Sport zeigt sich in spezifischen Nischen. Kürzlich haben Fahrradmedien davon berichtet, dass die Nachfrage nach neuen Fahrrädern auf dem Markt zurückgegangen ist – die Steuerlast für den Import von Teilen und Fahrrädern ist sehr hoch, was das Endprodukt viel teurer macht und vom Kauf abhält. Wir haben nicht viele einheimische Hersteller, sodass die meisten Menschen beim Kauf auf importierte Produkte zurückgreifen. Viele von uns Fahrradaktivisten träumen von dem Tag, an dem das Fahrrad hierzulande nicht mehr als Kinderkram angesehen wird, sondern als das Fahrzeug der Zukunft.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Radkurier*innen in Brasilien und der Gruppen, die Sie mit der Genossenschaft stärken wollen?
Ich wünsche mir, dass die Online-Plattformen ausliefernde Menschen, egal ob Männer, Frauen oder nicht-binäre Menschen, mit Würde behandeln. Nicht nur in Brasilien, sondern auf der ganzen Welt. Ich wünsche mir, dass unsere Organisationsform weitere Projekte in der ganzen Welt inspiriert und dass es möglich sein wird, dieses Wissen miteinander zu teilen.
Wir werden uns weiterhin um Unterstützung bemühen, um Genossenschaften und die Nutzung von Fahrrädern in allen Städten voranzutreiben und dafür zu sorgen, dass sich mehr Frauen und trans Personen sicher fühlen und der Arbeit ihrer Wahl nachgehen können. Schlussendlich müssen wir auch über den Zugang zu Krediten, zu Wohnraum, zu Gesundheit und menschenwürdiger Arbeit sprechen, damit sich immer mehr Minderheitengruppen selbst organisieren und ändern können, was geändert werden muss.


Bilder: Señoritas Courier

Christian Rudolph verantwortet als Professor das Masterstudium Radverkehr an der TH Wildau. Im Interview mit Veloplan spricht er über den Fachkräftemangel, den Austausch mit Unternehmen und dem Ausland und Sicherheit als höchstes Gut des Radverkehrs. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


In Städten und Gemeinden wird der Radverkehr vielfach vom Fachkräftemangel gebremst. Worauf ist der eigentlich zurückzuführen?
Wir haben in den letzten Jahren viel zu wenige Studierende im Bereich Verkehr und Mobilität zu verzeichnen. Was ich wiederum gar nicht verstehen kann, bewegen wir uns doch alle statistisch jeden Tag im Schnitt rund eine Stunde im Verkehr. Bei den aktuellen Staus und Verspätungen, müsste doch jeder das Bedürfnis haben, das System zu verbessern. Ich denke, besonders problematisch ist, dass das Thema Verkehr in den letzten Jahren politisch so aufgeheizt ist, da will sich niemand die Finger verbrennen. Zudem machen sich die geburtenschwachen Jahrgänge nun bemerkbar, was allgemein die niedrige Absolventenzahl betrifft.
Was wir aber auf jeden Fall sagen können: Radverkehrsplanerinnen und -planer werden deutschlandweit händeringend gesucht! Sowohl die öffentliche Hand als auch private Planungsbüros bekommen ihre offenen Stellen in diesem Bereich nicht besetzt. Hier haben unsere Absolventinnen und Absolventen tolle Chancen, einen attraktiven Beruf zu bekommen. Im Rahmen des Studiums geben wir unterschiedlichsten Institutionen die Möglichkeit, von ihren Projekten und aktuellen Fragestellungen zu berichten und den Studierenden Einblicke in das jeweilige Berufsbild zu geben. So bauen die Studierenden schon während des Studiums ein breites Netzwerk auf, das ihnen nach dem Studium zur Verfügung steht.

„Der Austausch mit dem Ausland ist immens wichtig, um überhaupt mal andere Planungsphilosophien mitzukriegen.“

In den letzten Jahren hat das Thema Radverkehr schon durch die sieben Stiftungsprofessuren mehr Präsenz in der deutschen Hochschullandschaft bekommen. Wie ist Deutschland denn insgesamt akademisch aufgestellt für diesen Schwerpunkt?
Durch die Verbindungen, die die Stiftungsprofessuren auch zum Ausland aufgenommen haben, vor allem nach Dänemark und in die Niederlande, ist der internationale Austausch mit Best Practices da. Aber der Bekanntheitsgrad, also dass Radverkehr ein eigenes Studienfach ist, ist leider noch zu gering. An 7 von über 400 Hochschulen gibt es nun die Professuren Radverkehr. Das fühlt sich an wie der bekannte Tropfen auf den heißen Stein.
Dennoch ist das Wissen um gute Radverkehrsplanung an den deutschen Hochschulen grundsätzlich vorhanden. Aber fehlendes Personal und langwierige Planungsprozesse bremsen die Mobilitätswende förmlich aus. Wenn wir die Verkehrswende wollen, können Planfeststellungsverfahren für Radschnellwege nicht 15 Jahre dauern, sondern es muss deutlich zügiger gehen. Daher ist es ganz wichtig, dass die Mobilitätswende stärkeren politischen Rückwind bekommt – und zwar auf allen Ebenen!

Christian Rudolph ist Professor an der TH Wildau in Brandenburg. In der Lehre greift er auf ein Netzwerk an Kontakten zurück, das seine Mitarbeiter*innen und er in vielen Jahren der Mobilitätsforschung aufgebaut haben.
Das Studium bei Christian Rudolph findet nicht nur im Hörsaal statt. Exkursionen ins Ausland spielen im Radverkehrsmaster an der TH Wildau eine wichtige Rolle. Dort lassen sich andere Planungsphilosphien hautnah erleben.

Was sind die typischen Bachelor-Studiengänge, auf deren Grundlage die Studierenden in den Radverkehrsmaster starten und in denen der Radverkehr vielleicht noch mehr Gewicht braucht?
Zunächst natürlich alle Studiengänge, die sich mit dem Verkehrs- und Transportwesen auseinandersetzen. Und natürlich Stadt- und Raumplanungsstudiengänge. Zudem bieten Studiengänge wie Verkehrsgeogeografie, Bauingenieurwesen, Geoinformatik und Logistik ein gutes Fundament für unser Masterstudium Radverkehr. Diese Studiengänge erfüllen die Zulassungsvoraussetzungen, alles andere muss man prüfen.

Wie genau wissen Sie denn, wie die Studierenden auf den Master-Studiengang gestoßen sind?
Das ist dann so divers wie die Kanäle, auf denen wir dafür werben. Ich habe mal ein Interview mit Mario Barth morgens im RBB gehabt, das hatte der Bruder eines unserer Studierenden gehört. Eine Woche später saß der bei uns in der Vorlesung. Andere kommen auch über Info-Webseiten und Webportale, Mundpropaganda, unsere Projekte oder meinen Instagram-Kanal zu uns. Tatsächlich ist es eine Blackbox für uns, welche Kanäle wir bespielen müssen, um junge Leute mit unseren Themen zu erreichen.

Radverkehr ist eingebettet in ein diverses Verkehrssystem und kann nicht einzeln betrachtet werden. Der Schwerpunkt des Masterstudiums Radverkehr an der TH Wildau liegt daher auf intermodalen Verkehrsnetzen.

Sie haben viele externe Unternehmen und Institutionen in Ihren Lehrveranstaltungen zu Gast. Wie kommen diese Kooperationen zustande?
Das basiert im Großen und Ganzen auf den Netzwerken, die ich und meine Mitarbeitenden in den letzten Jahren aufgebaut haben. Ich bin nun schon über 13 Jahren in der Mobilitätsforschung und konnte mir ein breites Netzwerk aufbauen. Die Zusammenarbeit ist super bereichernd, macht viel Spaß und bereichert die Seminare extrem. Wenn wir zu einem Thema niemanden aus unseren Netzwerken kennen, dann wird kurzerhand die Suchmaschine angeschmissen und zum Hörer gegriffen.
So ist auch der Kontakt zu Ecocounter entstanden, einem Hersteller für Zählgeräte, die den Radverkehr erfassen können. Mittlerweile war die Firma schon zweimal zum Semesterstart mit einer mobilen Zähleinheit bei uns auf dem Campus. Die Studierenden lernen, wie man das Zählgerät in Betrieb nimmt und wie die Funktionsweise ist. Sie sollen dann selbst das pneumatische System auf dem Boden befestigen. Und dann wird das System getestet. Das ist ein cooles Gimmick.
Die Zusammenarbeit mit der FH Amsterdam lief umgekehrt. Hier hat mich der Dozent angeschrieben, ob wir Lust auf eine Kooperation hätten. Wir waren nun schon zweimal mit unseren Studierenden in Amsterdam und Utrecht und die Niederländer haben uns auch schon zweimal besucht. Die Exkursion zum weltgrößten Fahrradparkhaus gehört mittlerweile fest zum Studium dazu.

Würden Sie Unternehmen generell empfehlen, vermehrt auf die Unis zuzugehen, um Partnerschaften einzugehen oder sich präsent zu zeigen?
Warum nicht? Das obliegt dann immer dem jeweiligen Studiengangssprecher oder Modulverantwortlichen, ob er dem dann auch Raum geben will. Fachhochschulen sind ja grundsätzlich anwendungs- und praxisorientiert. Auch bei den Masterarbeiten liegt die Priorität darauf, dass die Studierenden in einem Unternehmen ihre Abschlussarbeit schreiben. So können sie meist ein reales Problem bearbeiten und schon etwas Praxisluft schnuppern. Also klar, ich würde jedem Unternehmen empfehlen, auf die Hochschulen zuzugehen, sich zu präsentieren oder gemeinsame Projekte zu initiieren, semesterbegleitend oder als Abschlussarbeit.

„Planerinnen und Planer müssen lernen, Angsträume zu vermeiden, also dunkle, nicht einsehbare Ecken in Fahrradabstellanlagen und Parkhäusern zum Beispiel.“

Die Exkursionen scheinen ein Highlight des Studiums zu sein. Wie wichtig ist dieser Austausch, um den Radverkehr voranzubringen, und wie übertragbar sind die Dinge, die man in anderen Ländern lernen kann?
Aus meiner Sicht ist es extrem wichtig, die Menschen – gerade auch Entscheidungsträger – einmal in diesen Kontext zu bringen, um ihnen zu zeigen, wie sich eine Welt anfühlen kann, in der der Radverkehr ein gutes Ökosystem hat. Niederländische Städte wie Utrecht, Zwolle, Den Haag und Amsterdam eignen sich besonders gut. Hier kann man direkt erleben, wie es sich anfühlt, eine ausreichende Infrastruktur zu haben, sodass man bequem nebeneinander fahren und sich dabei unterhalten kann. Solche Erfahrungen können zu einem Sinneswandel beitragen. Wenn man in das Fahrradparkhaus in Utrecht einfährt und an 12.000 Fahrrädern vorbeifährt, das hat schon Impact. Von daher ist dieser Austausch immens wichtig, auch um überhaupt mal andere Planungsphilosophien mitzukriegen: Hier wird zuerst für den Fuß- und den Radverkehr geplant, dann für das Kfz. Das ist eine ganz andere Herangehensweise, die sich in den letzten 50 Jahren in den Niederlanden entwickelt hat. Vorher war da ja auch alles autoorientiert.

Sicherheit ist für Christian Rudolph das höchste Gut des Radverkehrs. Deshalb bekommt dieses Thema auch im von ihm verantworteten Master viel Aufmerksamkeit. Die zukünftigen Expert*innen, die Radverkehr studieren, werden auf dem Arbeitsmarkt händeringend gesucht.

Am meisten Austausch besteht also mit den Niederlanden. Welche Länder sind sonst noch wichtig?
Im Sommer hatten wir eine Roadshow, das ist ein Format, bei der sich die sieben Stiftungsprofessuren mit ihren Themen der Öffentlichkeit präsentieren können. Das findet online statt, ca. ein bis zwei Stunden in der Mittagspause. Neulich hatten wir Oboi Reed aus Chicago zu Gast, der zum Thema Inklusion und Alltagsrassismus einen Vortrag gehalten hat. Das ist auch ein Thema, das uns sehr umtreibt, also der diskriminierungs- und barrierefreie Zugang zu Mobilität für alle.
In Dänemark sind wir noch auf der Suche nach Partnern, gerade die Metropole Kopenhagen mit dem größten Radschnellwegenetz der Welt ist eine äußerst spannende Region.

Worum geht es bei dem Thema Diskriminierungs- und Barrierefreiheit im Detail?
Auf der einen Seite geht es darum, dass der öffentliche Raum für alle da ist und sich alle sicher fühlen müssen. Jeder Mensch nimmt den öffentlichen Raum anders wahr und fühlt sich unterschiedlich sicher beziehungsweise bedroht. Ein Mann nimmt ihn anders wahr als eine Frau, ein Kind anders als ein Erwachsener und je nach kulturellem Background werden Situationen anders eingeschätzt beziehungsweise wahrgenommen.
Auf der anderen Seite müssen Planerinnen und Planer lernen, Angsträume zu vermeiden, also dunkle, nicht einsehbare Ecken in Fahrradabstellanlagen und Parkhäusern zum Beispiel. In Deutschland ist es im Winter nun mal ab 16 Uhr dunkel.
Wir wollen die Studierenden dafür sensibilisieren, dass der Radverkehr immer diverser wird: Fatbikes, Lastenräder, Fahrräder mit Anhängern, Elektroräder, E-Scooter usw. weisen sehr unterschiedliche Geschwindigkeitsniveaus auf. Mit Elektrofahrrädern beziehungsweise Dreirädern können auch ältere Leute noch lange mobil sein und so ein weitestgehend von Dritten unabhängiges Leben führen. Dies führt zu Herausforderungen bei der Planung. Für ältere Menschen mit schwerem Fahrrad stellen hohe Bordsteine schnell mal ein unüberwindbares Hindernis dar. Wir sensibilisieren die Studierenden für die unterschiedlichen Nutzungsansprüche.

„Fühlen die Menschen sich subjektiv nicht sicher, nutzen sie das Fahrrad nicht als Alltagsfahrzeug, und sind sie objektiv nicht sicher, dann ist ihr Leben faktisch gefährdet.“

Welcher der Themenschwerpunkte im Master liegt Ihnen als Professor besonders am Herzen?
Das ist eigentlich schon die Sicherheit. Fühlen die Menschen sich subjektiv nicht sicher, nutzen sie das Fahrrad nicht als Alltagsfahrzeug, und sind sie objektiv nicht sicher, dann ist ihr Leben faktisch gefährdet. Von daher ist die Sicherheit das höchste Gut der Radfahrenden und das Thema, das alles überspannt. Und es betrifft natürlich alle, aber besonders Kinder, die sich noch nicht so gut konzentrieren können und auch mal einen Fahrfehler machen, und ältere Menschen, die vielleicht nicht mehr so gut die Balance halten können. Deshalb brauchen wir sichere, baulich separierte Infrastrukturen und eine Geschwindigkeitsharmonisierung unter den verschiedenen Verkehrsteilnehmenden.
Das wäre ein großer Gewinn für alle. Bei hohem Verkehrsaufkommen und hohen Geschwindigkeiten sind Infrastrukturen anzuwenden, die diese Verkehre trennen. Bei Protektionselementen besteht die große Herausforderung, wie sich diese städtebaulich verträglich einbinden lassen. Zu diesem Thema läuft gerade eine Masterarbeit bei uns im Studiengang. Der Student setzt sich mit den Anforderungen der Träger öffentlicher Belange, also Müllabfuhr, Feuerwehr, Rettungsdienst, Polizei, Reinigungsdienste etc. auseinander. Ich denke, die Arbeit wird spannende Erkenntnisse hierzu hervorbringen.

Der Master an der TH Wildau hat den Schwerpunkt „Radverkehr in intermodalen Verkehrsnetzen“. Wie kam dieser Fokus zustande?
Meine Kollegen haben die Grundstruktur des Masterstudiums kreiert. Sie hatten die Idee, den Radverkehr nicht singulär zu betrachten, sondern integriert in das Gesamtverkehrssystem, um die Stärken des jeweiligen Verkehrssystems bestmöglich ausnutzen zu können. Über intelligente Verknüpfungen kann die Kombination Fahrrad-ÖPNV eine attraktive Alternative zum Kfz-Verkehr darstellen.
Um den Umweltverbund – also Fußverkehr, Radverkehr und ÖPNV – zu stärken, braucht es Schnittstellen auf der technologischen, aber auch auf der informatorischen Seite. Den Reisenden müssen alle Informationen zu den bestehenden Mobilitätsangeboten zur Verfügung gestellt werden. Da geht es dann auch um nahtlose Abrechnungsmodelle, zum Beispiel bei der Integration von Sharing-Angeboten.

Wie bewerten Sie das Thema Fahrradmitnahme im Zug als Kombination von ÖPNV und Radverkehr?
Das ist in der Tat ein komplexes Thema und es gibt keine allgemeingültige Antwort. Wir wollen natürlich nicht, dass alle Berufspendler ihr Fahrrad morgens in der Rush-Hour mit in die U-Bahn nehmen. Hier sind gute Abstellmöglichkeiten am Bahnhof auf der ersten Meile und Sharing-Angebote auf der letzten Meile gefragt. Auf der anderen Seite macht es natürlich Spaß, mit seinem eigenen Fahrrad am Wochenende mit dem Zug raus aus der Stadt zu fahren, um dort gleich im Grünen die Radtour beginnen zu können. An warmen langen Wochenenden stellt die Fahrradmitnahme für die Betreiber eine große Herausforderung dar. Da muss man schauen, wie man in diesen Zeiten Züge mit ausreichend Kapazitäten zur Mitnahme zur Verfügung stellen kann.


Bilder: TH Wildau – Mareike Rammelt, Christian Rudolph, TH Wildau, Uwe Voelkner – Fotoagentur FOX

Wer den Verkehrsraum umgestalten und neu verteilen will, begegnet meist großen Widerständen, egal ob durch die Bevölkerung oder das ortsansässige Gewerbe. Albert Herresthal, Herausgeber des Informationsdienstes Fahrradwirtschaft, sprach mit Kirsten Pfaue, Leiterin des Amts Mobilitätswende Straßen in Hamburg, darüber, wie sie in der Hansestadt Akzeptanz für ihre Maßnahmen erzeugt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Verkehrspolitik ist immer ein Konfliktfeld, denn Veränderungen gefallen nicht jedem. Wie gelingt es Ihnen, vor Ort eine möglichst breite Akzeptanz für die Umgestaltungen zu schaffen?
Die Hamburger Radverkehrsförderung haben wir einerseits durch das stadtweite Erheben und Analysieren von Daten untermauert. Wir haben in Hamburg ein dauerhaftes und automatisiertes Radverkehrszählnetz aufgebaut. Die Daten von rund 100 Messquerschnitten mit Wärmebildtechnik sind online abrufbar. Darüber können wir Entwicklungen erläutern und konkrete Maßnahmen erklären. Zahlen, Daten, Fakten schaffen Akzeptanz und Verständnis. Denn am Ende bilden sie das Verhalten der Menschen selbst ab und diese gehören als Nutzerinnen und Nutzer in den Mittelpunkt. Außerdem haben wir einen guten Maßnahmen-Mix hinbekommen zwischen Marathon, also lang andauernden Projekten wie dem Netzausbau und Sprints, also schnell umzusetzenden Maßnahmen wie der Roteinfärbung von Kreuzungsbereichen, der Umsetzung von Pop-up-Bikelanes und der Schaffung von mehr Protektion. Letztlich ist es so, dass Maßnahmen Akzeptanz haben, wenn die Menschen merken, dass sie ihre tägliche Mobilität verbessern. Durch mehr Komfort und mehr Sicherheit.

Setzen Sie Planungen auch gegen Widerstände durch oder ist die Akzeptanz der unmittelbar Betroffenen für Sie eine Voraussetzung für die Umsetzung?
Mit dem Kopf durch die Wand ist keine gute Grundhaltung und sicher nicht meine. Ich bin überzeugt davon, dass in jeder Kritik auch eine Botschaft und eine Chance stecken. Deshalb gilt es, in einem ersten Schritt ernsthaft zuzuhören, die Belange in den Prozess einzubauen und dann abzuwägen.

„Mit dem Kopf durch die Wand ist keine gute Grundhaltung.“

Kirsten Pfaue, Leiterin des Amts Mobilitätswende Straßen in Hamburg

Vielerorts kämpfen ansässige Einzelhändler um jeden Parkplatz und eine optimale Anbindung mit dem Auto. Erleben Sie das in Hamburg auch so? Welchen Weg haben Sie im Gespräch mit den Händlern gefunden, Verständnis für Ihre Planungen zu erreichen?
Wir haben uns in unserem „Hamburger Bündnis für den Rad- und Fußverkehr“ einen Grundsatz gegeben und zwischen allen Partnern abgestimmt, der heißt, dass alle Beteiligten der Information von Bürgerinnen und Bürgern, Betroffenen, Politik und Interessenverbänden in ihren Zuständigkeiten einen hohen Stellenwert einräumen. Dies insbesondere dort, wo bereits artikuliertes öffentliches Interesse, eine Verknüpfung mit anderen Planungsprozessen im Stadtteil, hoher Einzelhandels- und Gewerbebesatz, Parkplatzmangel oder viele Straßenbäume in engem Straßenraum Konflikte möglich erscheinen lassen. Hier soll stets eine Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden. Unser Ziel in Hamburg ist es, ins Gespräch zu kommen und zu verdeutlichen, welche Chancen auch für Händlerinnen und Händler durch eine bessere Radverkehrsanbindung bestehen – vor allem in Kombination mit dem ÖPNV.

Gibt es Projekte, die am Widerstand gescheitert sind, und wie gehen Sie damit um?
Natürlich ist es auch schon vorgekommen, dass wir Projekte „on hold gestellt“ oder umgeplant haben, weil es Rückmeldungen und Diskurse gab, die uns veranlasst haben, Dinge zu überdenken. Wichtig ist, sich dann nicht festzubeißen, sondern die Dinge in Ruhe mit allen Stakeholdern zu erörtern.

Welche Rolle spielen Presse und Medien für Ihre Arbeit und wie gelingt es, dass sie eine konstruktive Rolle einnehmen?
Der gesellschaftliche Konsens, dass wir eine Mobilitätswende brauchen, der ist in Hamburg da, und die Zahlen zeigen dies auch eindrucksvoll. In 2022 wurden 68 Prozent aller Wege der Bevölkerung Hamburgs mit Verkehrsmitteln des Umweltverbunds, also im ÖPNV, mit dem Fahrrad und zu Fuß, zurückgelegt. Im Vergleich zu 2017 ist dieser Anteil um 4 Prozentpunkte gestiegen. Den größten Zuwachs erreichte dabei das Fahrrad, dessen Anteil in 2022 gegenüber 2017 um sieben Prozentpunkte auf 22 Prozent angestiegen ist. Das ist enorm! Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs sank von 36 Prozent in 2017 auf 32 Prozent in 2022. Dies gibt meiner Arbeit natürlich viel Rückenwind und letztlich wissen wir doch alle, auch Presse und Medien, dass ein „einfach weiter so“ nicht geht. Auch gegenüber den Medien ist es deshalb wichtig, und dies ist unser Bestreben, transparent und klar zu erläutern, was wir warum tun. Dies hilft enorm.

Zur Person

Kirsten Pfaue hat mit dem Thema Fahrrad eine erstaunliche Karriere gemacht: Von 2010 bis 2014 war sie Landesvorsitzende des ADFC Hamburg, 2015 wurde sie Radverkehrskoordinatorin der Freien und Hansestadt Hamburg und heute leitet sie das Amt „Mobilitätswende Straßen“. Doch auch bundesweit ist Kirsten Pfaue gefragt. So wurde sie 2022 zur Vorsitzenden des Beirats Radverkehr im Bundesverkehrsministerium gewählt.
Doch Posten sind nur das eine, spannender sind die tatsächlichen Ergebnisse auf der Straße. Und hier hat Hamburg in den letzten zehn Jahren große Fortschritte gemacht, wenn auch beginnend auf sehr niedrigem Niveau (Bewertung Fahrradklimatest 2012: Schulnote 4,4). Heute findet man Velorouten und Fahrradstraßen, gerade auch an sehr prominenten Stellen, etwa entlang der Außenalster. Zwar ist Hamburg von durchgängigen Netzen für den Radverkehr noch weit entfernt, aber es ist eine konsequente Strategie erkennbar, deren Umsetzung im Vergleich zu vielen anderen Städten relativ geräuscharm erfolgt.


Bild: bvm.hamburg

Will Butler-Adams ist CEO des Faltradherstellers Brompton. Im Interview erklärt er, wie die Firma ihr eigenes Verleihsystem von Fahrrädern aufgebaut hat und welche Rolle die Fahrradindustrie in sich wandelnden Städten einnehmen sollte. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Sie sind seit 21 Jahren bei Brompton. Welche Entwicklungen der Industrie in dieser Zeit sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?
Ich war überall, auf der IFMA, der Eurobike, der Interbike etc. Auf der ganzen Welt habe ich mein Fahrrad auf- und eingefaltet. Für eine Weile hat sich die Industrie selbst verloren, glaube ich, und war auf Mode anstatt auf die Technik fokussiert. Sie war interessiert an sexy Postern und Werbung, kostenlosem Bier, riesigen Ständen und Partys auf der Eurobike. Der Technik-Fokus ist wieder zurückgekommen aufgrund des E-Bikes. Das hat Einnahmen erbracht, Innovationen gefördert und meiner Meinung nach die Branche gerettet.

Und welches derzeitige Branchen-Thema beschäftigt Sie und Ihr Team?
Wir haben eine Klima- und Gesundheitskrise. Es geht nicht um sexy Bilder, sondern darum, einige der globalen Probleme zu lösen. Ein großer Teil davon ließe sich durch das Fahrrad lösen. Wenn wir als Industrie Lobbyarbeit betreiben und zusammenarbeiten mit Stadtplanern, Bürgermeistern, Politikern, dann können wir diese Schande beenden, dass zwei Tonnen schwere Fahrzeuge für drei oder vier Meilen durch unsere Städte rollen. Wir müssen lauter und animierender sein und einen besseren Job dabei machen, die Politik zu verändern. Das muss passieren.

Wie sollten Unternehmen agieren in dieser Forderung nach Veränderung?
Wir müssen ehrlicher sein. Manchmal sind die Leute in der Wirtschaft zu höflich. Wir haben eine Klimakrise, weil wir zu viel konsumieren. Konsum führt zu CO2-Emissionen. Ich kann eine 100 Kilogramm schwere Person zehn Kilometer durch Berlin transportieren mit einem zehn Kilogramm schweren Rad. Ich brauche dafür keine über zwei Tonnen schweren Elektrofahrzeuge. Aber auf der Autobahn kann ich keine 120 km/h fahren und einen Unfall überleben. Dafür sind diese Fahrzeuge gemacht.
Auch Güter sollten in der Stadt mit leichten Elektrofahrzeugen transportiert werden, die keinen Überrollkäfig, keine Airbags und Co. brauchen, weil sie nur 25 km/h fahren. Städte müssen zu Inseln werden und die Menschen schützen, die in ihnen leben. Wir sollten uns mit dem öffentlichen und dem aktiven Verkehr fortbewegen. Aber Fahrzeuge, die für 120 km/h auf der Autobahn gebaut sind, sollten nicht in der Stadt erlaubt sein. Die sind dort nicht angemessen.

„Für uns ist es viel einfacher, jemanden von einem Scooter zum Fahrrad zu konvertieren als aus einem Auto oder aus einer Straßenbahn. “

Will Butler-Adams, CEO Brompton

In der 25-km/h-Kategorie sind E-Bikes aktuell besonders beliebt. Welche Rolle spielen die motorisierten Fahrräder für Brompton?
Wir denken immer darüber nach, was unsere Fahrräder für die Kunden und Kundinnen leisten können. E-Bikes sind wichtig, weil wir wollen, dass mehr Leute Fahrrad fahren. Es gibt eine gewisse Anzahl an Leuten, die das nicht tut. Wenn man sie auf ein elektrisch unterstütztes Fahrrad setzt, lächeln sie, sind glücklich und sagen: „Okay, jetzt verstehen wir uns!“ Wir können sie zum Radfahren zurückholen und das Radfahren inklusiv halten.
Für Brompton werden E-Bikes aber nie genauso wichtig sein wie für gewöhnliche Fahrräder. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Fahrrädern tragen wir unsere Räder. Das Gewicht ist wirklich wichtig. In den Märkten, wo wir die elektrischen Räder verkaufen, machen sie rund 30 Prozent aus. Wir verkaufen sie aber nur auf der Hälfte der Märkte. Wir bieten sie nicht an in China, Japan oder Südkorea, was einige unserer größten Märkte sind. An den Gesamtverkäufen machen die E-Bikes ungefähr 15 Prozent aus. Dieser Anteil wird vermutlich nie größer als 30 Prozent werden, weil die Elektronik je nach Einsatzzweck des Fahrrads zu viel wiegen kann.

Welche Märkte wird Brompton als Nächstes erschließen? Ist das Faltrad ein Produkt, das überall funktionieren kann?
Unser größter Markt weltweit ist aktuell China, das Land hat das Vereinigte Königreich überholt. Weitere große Märkte sind Japan, Südkorea, Singapur, Frankreich, Spanien, Benelux, Deutschland und die USA. Sie sind sehr divers, aber funktionieren allesamt. Ihre Gemeinsamkeiten sind größer als ihre Unterschiede, obwohl Städte sehr verschieden sind. Sogar Los Angeles, was ein seltsames flaches Konglomerat ist, hat mehr Gemeinsamkeiten mit New York oder Tokio als Unterschiede. Die Herausforderungen sind dieselben, etwa Gesundheit oder Bevölkerungsdichte. Unsere strategischen Schlüsselmärkte sind China, Deutschland, die USA und das Vereinigte Königreich. In die werden wir am stärksten investieren.

Gibt es Negativbeispiele, also Märkte, in die Sie nicht vordringen konnten?
Nicht wirklich. Als wir angefangen haben, Fahrräder in Indonesien zu verkaufen, erlebten wir aber eine spannende Situation. Niemand von uns war je in Indonesien gewesen, dennoch waren wir dort in drei Geschäften präsent. Die verkauften erst 200, dann 1000, dann 2500 Räder. Wir vermuteten, dass sie die Räder über den grauen Markt nach Japan oder Südkorea weiterverkaufen. Ich besuchte die Städte dort und verbrachte Zeit mit unseren Kunden. Bei einer Frühstücksausfahrt traf ich 750 Bromton-Besitzer und Besitzerinnen. Gerechnet hatte ich mit 20.

Brompton hat immer in London produziert. Andere Firmen arbeiten gerade am Reshoring, also daran, die Produktion nach Europa zurückzubringen. Was wären Ihre Tipps für diesen Schritt?
Um die Kosten lokaler Produktion zu rechtfertigen, braucht man geistiges Eigentum. Wenn ein Unternehmen nur mit Standardrahmen arbeitet, sollte man diese weiterhin aus Asien oder vielleicht aus Portugal beziehen. Der Grund, mit dem wir rechtfertigen, vor Ort zu produzieren, ist, dass der Rahmen voll von geistigem Eigentum steckt. Wir stellen ihn also nicht nur her, sondern schützen unser Knowhow. Wir folgen außerdem nicht der Mode. Die Industrie ändert ihre Rahmen alle zwei Jahre. Wir haben unser Rad und die Art, wie wir es herstellen, 50 Jahre lang optimiert. Wir sind dabei unglaublich effizient und haben sehr wenig Ausschussware. 99,5 Prozent der Räder sind im ersten Anlauf richtig.

Bike Hire ist die Leihradsparte des Londoner Herstellers Brompton. Bereits gezahlte Leihgebühren können Kund*innen sich beim Privatkauf zum Teil gutschreiben lassen.

Ein spezielles Geschäftsfeld Ihres Unternehmens in Großbritannien ist Brompton Bike Hire. Wie wichtig ist dieses Projekt für die Firma?
Bike Hire ist ein zwölf Jahre altes Projekt. Zu der Zeit waren wir eines der ersten Mietradkonzepte. Es war ein Desaster. Aber da das Projekt klein war, konnten wir uns das leisten. So lernt man dabei etwas.

Ist es denn immer noch ein Desaster?
Nein, es ist fantastisch! Wir haben das Projekt entwickelt, weil unser Fahrrad kontraintuitiv ist. Einem Ferrari sieht man an, dass er schnell ist. Wenn man ein Brompton ansieht, denkt man erst mal, dass es ein Rollstuhl ist. Dann glaubt man, dass das Rad kaputt gehen könnte oder die kleinen Räder stören. Man muss es ausprobieren, um es zu verstehen.
Der ganze Grund, warum wir Bike Hire gestartet haben, war, um den Leuten Tests zu geringen Preisen zu ermöglichen und das Fahrrad zu erleben. Dann kann man das Investment rechtfertigen. Wir sind außerdem die einzige Radvermietung der Welt, wo Leute ein Fahrrad von uns kaufen können, wenn sie nach dem Test davon überzeugt sind. Wir sorgen damit also für Einnahmen und haben ein profitables, landesweites Geschäft. Wir sind in 50 Städten in Großbritannien. Die Kosten liegen bei fünf Pfund pro Tag.

Bereits gezahlte Kosten können Mieter über einen Rabatt zurückerhalten, wenn sie sich ein eigenes Brompton kaufen. Wie viele Menschen nutzen dieses Angebot?
Das funktioniert für uns gut. Wir nutzen Bike Hire aber auch für soziale Zwecke. Wir können Communitys, die sich beim Radfahren eigentlich nicht wohlfühlen, die Möglichkeit geben, unser Rad umsonst zu testen. Außerdem können Menschen das Rad leihen, es mit nach Hause nehmen und mit dem Auto in einen Park bringen und es dort fahren. Dort fühlen sich die Leute sicher und können sich wieder mit dem Radfahren vertraut machen.

Gibt es Pläne, das Konzept auch in anderen Ländern einzusetzen?
Es hat elf Jahre gedauert, bis wir dieses Konzept zum Laufen gebracht haben. Wir planen, in den nächsten zwölf Monaten in Singapur an den Start zu gehen. Schöne ist, dass dort niemand etwas stiehlt. Dieses Problem zu lösen, war eine unserer größten Hürden. Jetzt haben wir ein System, dem wir vertrauen, und sind in der Lage, es in anderen Ländern auszurollen.

Multimodaler Transport ist eine der Kernstärken von Falträdern. Wie blicken Sie auf die Konkurrenz aus Leihrädern und Sharing-Scootern?
Ich sehe das eher als Chance, denn als Gefahr. Wir müssen mehr Leute auf Fahrräder aller Art kriegen. Der Haupttreiber ist, dass wir unser Leben in Städten falsch gestalten. Wir als Industrie, egal ob Fahrräder, E-Scooter oder andere elektrische Leichtfahrzeuge, tragen diese Verantwortung gemeinsam. Ich bin ein großer Fan von E-Scootern. Früher war es so, dass Menschen geboren wurden, mit vier Jahren ein Laufrad hatten, Fahrrad fuhren und es mit 13 nicht mehr so cool fanden. Dann nahmen sie lieber den Bus und irgendwann ein Motorrad oder Auto. Jetzt realisieren die Kinder mit Scootern, dass Autos und U-Bahnen langweilig sind. Scooter fahren ist cool und gibt ihnen einen kleinen Adrenalinrausch. Die Menschen verschwinden nicht ins Auto oder in die Straßenbahn, sondern bleiben auf der Straße. Wenn sie dann 25 oder 27 sind, überlegen sie, ob es nicht besser wäre, ein Fahrrad zu nutzen, weil es sicherer ist und sie sich bei der Fortbewegung mehr bewegen können. Für uns ist es viel einfacher, jemanden von einem Scooter zum Fahrrad zu konvertieren als aus einem Auto oder aus einer Straßenbahn. Außerdem erzeugen Scooter-Fahrer mehr Druck auf die Fahrradinfrastruktur und fordern hier Verbesserungen.

Österreich fördert das Mobilitätsmittel Lastenrad in Kombination mit einem ÖV-Abo. Sollten andere Länder solche Maßnahmen adaptieren?
Der wichtigere Punkt ist, dass Regierungen Autobesitz mit Milliarden von Euros subventionieren. Damit sollten sie aufhören und in Radinfrastruktur, die Radverkehrserziehung von Kindern, mehr Parks und bessere Gehwege investieren. Es geht nicht um das Fahrrad, sondern um unser Zusammenleben in Städten. Wir müssen uns unsere Städte zurückholen und zusammenhalten. Wir müssen Städte gemeinsam gestalten, anstatt von der Autoindustrie gespalten zu werden.


Bilder: Brompton

Dr. Axel Sprenger hat in einer Marktstudie untersucht, wie die Menschen in Deutschland gegenüber elektrischen Leichtfahrzeugen eingestellt sind. Im Interview erklärt Sprenger, welche Rolle Identität beim Umstieg spielt und warum eine gewisse Langsamkeit dem Wandel guttun könnte. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Wie kamen Sie dazu, sich in Ihrer Studie mit Mikromobilität auseinanderzusetzen? War das ein Auftrag des Bundesverbandes E-Mobilität (BEM), mit dem Sie die Studie auf der Polis-Mobility vorgestellt haben?
Wir bei UScale führen unsere Studien in 99 Prozent der Fälle im Eigenauftrag durch. Wir greifen aber gerne Impulse von außen auf. In dem Fall hat uns das Thema einfach interessiert. Das geschäftliche Potenzial für uns ist hier gering, weil die Unternehmen, die in diesem Markt unterwegs sind, meist noch kein Geld für Marktforschung ausgeben. Wir haben für die Studie mit Voylt.com, einer Plattform für Mikromobilität, zusammengearbeitet. Voylt hat uns zur Mikromobilität, ein für uns neues Feld, beraten und geholfen, die relevanten Fragen zu stellen. Voylt hat die Umfrage auch an die Hersteller von LEVs verschickt, damit sie die Befragung an ihre Kunden weiterleiten. Der BEM ist als Verband an den Daten interessiert und hat sie von uns quasi „pro bono“ für seine Verbandsarbeit erhalten.

Sie beraten mit UScale auch regelmäßig Automobilhersteller. Nehmen diese das Thema Mikromobilität ernst genug? Geht es Ihnen mit dieser Studie vielleicht auch ein bisschen darum, das Thema mehr an sie heranzutragen?
Wir arbeiten mit vielen Autoherstellern zusammen. Ich habe aber bisher von keinem Autohersteller Anfragen in die Richtung bekommen. Von daher vermute ich, dass das Thema für Autohersteller derzeit weniger interessant ist. Smart und andere haben vor langer Zeit Elektrofahrräder angeboten. Das waren tolle Produkte, aber vom Geschäftspotenzial eher weniger relevant.

„Ich bin sicher, dass sich die Mikromobilität weiter durchsetzen wird, weil sie einfach sinnvoll ist und noch viele überzeugen wird. Dazu kommt, dass die LEVs noch deutlich billiger werden.“

Dr. Axel Sprenger, Uscale

Welche Rolle haben denn E-Bikes in der Studie gespielt? Die sind ja doch verbreiteter als andere Elektroleichtfahrzeuge.
Elektroräder sind nach meiner Einschätzung vollständig akzeptiert, jeder fährt sie und sie sind politisch unumstritten. Andere, wie etwa Cargobikes, tragen aber erhebliches Konfliktpotenzial; sie sind historisch betrachtet ein neues Fahrzeugkonzept und benötigen neue Fahrzeugspuren im Verkehr. Das führt zu Konflikten mit Autofahrern oder Fußgängern. Hier gibt es also Forschungsbedarf. Wenn Befragte in unserer Studie ein E-Bike hatten, haben wir sie in der Studie aufgenommen. Aber wenn jemand zum Beispiel auch noch ein elektrisches Skateboard hat, haben wir darauf fokussiert. So haben wir priorisiert, um zu allen Fahrzeugarten etwas zu erfahren, aber E-Bikes natürlich auch aufgenommen.

Welche Fahrzeuge waren denn besonders beliebt?
Wir waren überrascht, wie viele über das Access-Panel Befragte bereits LEVs im Haushalt haben. Rund 20 Prozent der Befragten besitzen ein E-Bike, auf Platz zwei kamen die E-Scooter, gefolgt von E-Mopeds und E-Motorrädern, die zusammen gleichauf mit den E-Cargobikes vertreten waren.

Welche Fahrzeugklassen könnten in Zukunft Ihrer Meinung nach noch eine größere Rolle spielen?
Ich glaube, dass wir im Lieferverkehr noch vieles in ganz unterschiedlichen Größenordnungen sehen werden. Beim Kindertransport und zum Einkaufen werden sicher auch Lastenräder eine große Rolle spielen. In der Studie haben wir auch gesehen, dass viele Menschen E-Scooter auf ihrer letzten Meile verwenden. Elektro-Skateboards und Mono-Wheels werden tendenziell noch als Fun-Fahrzeuge gesehen, was diese Fahrzeugklasse unterschätzt. Ich persönlich fände es sehr schade, wenn die nicht doch eines Tages noch erlaubt werden würden. Unterm Strich komme ich auf alles Mögliche, da werden wir noch viel Spaß haben mit den verschiedensten Fahrzeugtypen, wenn wir uns einigen mit der Verteilung des verfügbaren Platzes und aufpassen, dass wir keinen „Krieg der Verkehrsteilnehmer“ draus machen.

Worauf führen Sie es zurück, dass einige Fahrzeuge potenziell als Klischee reizen können?
Wie viele, sehe ich eine unglaubliche Polarisierung in unserem Land. Ein wichtiger Treiber sind Themen, die die Identität berühren und elektrische Leichtfahrzeuge berühren offenbar das Identitätsempfinden vieler Menschen. Viele Fahrzeuge sind noch teuer und werden von einigen weniger als Fortbewegungsmittel, sondern als ein Statement für eine politische Einstellung wahrgenommen. Wenn sie dann auch noch die Platzrechte der Autofahrer angreifen, berührt das viele Menschen offenbar.

Wie ließe es sich vermeiden, dass Identität dort so eine große Rolle spielt?
Es wäre schade, wenn Hersteller im Marketing in diese Identitätskerbe hauen würden. Käufer*innen werden natürlich von Bildern angesprochen, mit denen sie sich identifizieren können. Das kann ein Cargobike sein, in dem drei Kinder sitzen. Es könnten aber auch Bilder von Männern sein, die fürs Grillfest Mineralwasser- und Bierkästen holen, oder ältere Menschen, die ihre Einkäufe auf diese Weise nach Hause bringen. So fühlen sich auch Menschen angesprochen, der ansonsten gerne einen großen SUV fahren. Ich glaube, wir brauchen Bilder, mit denen sich möglichst viele identifizieren können. Ich war vor Kurzem in München. Da war ich in einer Nebenstraße am Theaterplatz völlig begeistert. Auf beiden Seiten wurde geparkt. Auf der einen Seite waren zwei Autoparkplätze zu Parkplätzen für E-Bikes und Lastenräder umgewidmet. Alle Plätze waren belegt. Ich fand das sehr gelungen, Parkplätze Stück für Stück bedarfsgerecht umzuwidmen. Wenn da acht Fahrräder stehen, kann sich jeder vorstellen, wie es wäre, wenn stattdessen acht Autos einen Parkplatz gesucht hätten. Manche Prozesse dauern einfach ein bisschen. Aber es werden sich auch die daran gewöhnen, die es am Anfang nicht toll finden, und dann geht das. Sich gegenseitig zu beschimpfen, ist in der Regel nicht hilfreich.

Elektroleichtfahrzeuge sind stark abhängig von rechtlichen Rahmenbedingungen. Elektrische Longboards sind in Deutschland verboten. E-Scooter wurden jüngst aus Paris verbannt.

Man soll den Leuten also Zeit lassen. Sollte es finanzielle Anreize für Mikromobilität geben? Elektroautos werden schließlich auch gefördert, um den Umstieg zu beschleunigen.
An vielen Stellen darf es mit dem Umbau sicher schneller gehen. Ich glaube, die Kunst wird es sein, das richtige Tempo zu finden. Kleine und größere Änderungen, die aber kontinuierlich und Stück für Stück die Stadt umbauen. Zu den Förderungen: Meine persönliche Meinung ist, dass es das nicht braucht. Wir müssen nicht innerhalb der nächsten drei Jahre jedem ein elektrisches Leichtfahrzeug verpassen. Ich glaube, das kommt von ganz alleine: Man fährt sie mal, der Nachbar hat eins und man probiert es aus. Dann steigen die Stückzahlen und die Fahrzeuge werden billiger. Aber ich brauche nicht alles, was ich innerhalb der nächsten zehn Jahre haben will, mit einem finanziellen Anreiz zu überziehen. Ich würde sagen, sie werden im Moment zu einem Preis angeboten, zu dem sie nachgefragt werden. Das erste iPhone hat auch nicht jeder sofort gehabt. Ich erinnere mich, wie die CD eingeführt wurde. Der erste CD-Player hat 3000 Mark gekostet und drei Jahre später hat auch ohne staatliche Förderung jeder einen CD-Player gehabt.

Um der Klimakrise zu begegnen, ist es ja auch nicht wichtig, dass jeder CDs hören kann. Aber weniger Autoverkehr ist eine zentrale Stellschraube. Ist das kein Grund für einen Anreiz?
Richtig, aber mir geht es um die Diffusion von Technologien, die nicht erzwungen werden kann. Aber zu Ihrer Frage: Natürlich sehe ich ein Gerechtigkeitsthema. Warum bekommt der Mensch für sein 40.000-Euro-Auto 6000 Euro geschenkt und ich muss mein Kleinfahrzeug komplett bezahlen? Aber vielleicht müssen wir eher fragen, warum der Staat Autos so hoch fördert, und nicht, was er dann aber alles auch noch fördern muss. Ich bin sicher, dass sich die Mikromobilität weiter durchsetzen wird, weil sie einfach sinnvoll ist und noch viele überzeugen wird. Dazu kommt, dass die LEVs noch deutlich billiger werden.

Gegen herumstehende Autos, aber auch Cargobikes, helfen Sharing-Angebote. Wie sehen Sie das Verhältnis von Privatbesitz und Sharing, was Mikromobilität angeht?
Ich habe bei Mercedes und Smart die ersten Stunden des Car2Go miterlebt und auch die Probleme, die damit verbunden waren, was die Wirtschaftlichkeit angeht. So wie Car2Go immer wieder in finanzielle Probleme gerät, wundert mich, dass sich die vielen Sharing-Angebote in unseren Städten finanziell halten können. Wenn es aber funktioniert, dann ist es doch gut! Aber: In der Studie bezog sich die Hauptkritik der Nicht-Besitzer eines LEV an der Mi-kromobilität darauf, dass sich Fußgänger von der manchmal abenteuerlichen Fahrweise von Scooter-Fahrern verunsichert fühlen und an den oft chaotischen Abstellgewohnheiten stören. Hier ziehen Sharing-Angebote also viel Kritik auf die Mikromobilität generell. Das ist nicht hilfreich. Ich denke, dass wir die Bedürfnisse der Nicht-LEV-Nutzenden genauso ernst nehmen müssen wie die der LEV-Fahrenden vor Autos, die ihnen zu wenig Raum auf der Straße geben.

Was hat Sie an Ihren Studienergebnissen besonders überrascht? Womit haben Sie nicht gerechnet?
Mich hat überrascht, dass die allermeisten Befragten die Mikromobilität positiv oder immerhin neutral bewerten. Nur fünf Prozent sind ganz grundsätzlich dagegen. Ich habe in der Zusammenfassung deshalb geschrieben, dass wir keinen Kulturkampf sehen. Ja, die Menschen sind genervt, wenn drei Jugendliche auf einem Scooter in Schlangenlinien über den Bürgersteig fahren. Dann gibt es die Autofahrer, denen eine Spur weggenommen werden soll und die sich darüber beklagen. Beim Zeitunglesen habe ich manchmal das Gefühl, wir sind kurz vor einem Mobilitätskrieg. Wenn wir aber die Studienergebnisse ansehen, können wir das nicht bestätigen. Es gibt einige Probleme und berechtigte Sorgen, die wir der Reihe nach auflösen müssen. Aber ich glaube, wir sind schon viel weiter, als wir glauben.

Sie haben auch festgestellt, dass bei den bisherigen Nicht-Besitzern viel Interesse besteht an LEVs. Was können die Hersteller tun, um diese Gruppe noch besser zu erreichen?
Ich würde sagen, die tun schon alles. Die Anzahl dieser Fahrzeuge wächst wie verrückt. Das ist unglaublich, was in den letzten Jahren passiert. Dazu kommen Angebote, wie das Job-Rad, Mobilitätsbudgets, das 49-Euro-Ticket. Es ist gigantisch, was da alles passiert ist!

Ein Auszug der Studie ist auf der Website von UScale als Download erhältlich:
https://uscale.digital/lev-studie-2023/#inhalte-der-lev-studie


Bilder: UScale, Mellow Boards, Äike

Veränderungen erzeugen Ängste, sind im „archaischen Setting“ der Menschen mit Bedrohung verbunden, sagt der Kommunikationsexperte Michael Adler. Statt Ängste zu schüren, sollte über Klimathemen anders geredet werden. „Unser Leben wird gesünder, besser, sozialer, wenn wir umsteuern“, sagt Adler im Interview. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Michael Adler ist mit Nachhaltigkeits- und Mobilitätsthemen schon sein Leben lang verbunden. Der Journalist, Moderator und Kommunikationsexperte war viele Jahre Chefredakteur des VCD-Magazins „Fairkehr“. Vor elf Jahren gründete er seine Agentur Tippingpoints für nachhaltige Kommunikation mit Standorten in Berlin und Bonn. Hier arbeitet er an den kulturellen und politischen Kipppunkten, um Verhältnisse und Verhalten ändern zu können.
Das Fahrrad spielt bei Michael Adler eine große Rolle. So hat er unter anderem Vivavelo-Kongresse der Fahrradbranche moderiert und er war Mitglied im Beirat des Bundesverkehrsministeriums zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans. Auch für das Bundesumweltministerium und für das Land Baden-Württemberg hat er Kampagnen zum Radverkehr entwickelt. Klar ist aber auch: Der Radverkehr ist nur eine von vielen Facetten der Mobilitätswende. Sein Blick gilt stets dem großen Ganzen, und das mit dem Schwerpunkt auf einer Kommunikation, die Menschen nicht nur intellektuell erreicht.

Worte können die Welt verändern, weil sie unser Denken prägen. Das gilt besonders für komplexe Angelegenheiten wie die Klimakrise. In seinem 2022 erschienenen Buch „Klimaschutz ist Menschenschutz“ entwirft Michael Adler eine positive, motivierende Klimasprache. Statt von Verzicht und Kosten zu reden, erzählt er lebensfrohe Geschichten von „desirable futures“.

Die Verkehrswende in Deutschland kommt nicht voran. In der aktuellen Phase scheint es gerade so, als wäre der Rückwärtsgang eingelegt. Hat die Verkehrswende noch eine Chance?
Sie muss ja! Die Verkehrswende ist alternativlos, weil wir sonst einerseits unsere Klimaziele nicht erreichen, aber auch darüber hinaus, weil sonst der Wandel zu lebenswerten, guten, menschengerechten Aufenthaltsräumen in unseren Städten und Dörfern nicht erreichbar ist. Wir haben es gerade in der Corona-Zeit gespürt, wie wichtig eine gute Qualität von Stadt und Dorf auch direkt vor der Haustür ist. Die Mobilitätswende – eigentlich das treffendere Wort – bräuchte Rückenwind von der Bundesebene. FDP-Minister Wissing lässt aber leider noch keinen grundlegenden Kurswechsel zu seinen CSU-Vorgängern erkennen. Dadurch wird die dringend notwendige Änderung der politischen Rahmenbedingungen weiter verzögert.
Auf der anderen Seite gibt es nach meiner Wahrnehmung lokal schon eine Menge Bewegung. In der Stadt, in der ich hauptsächlich lebe, in Bonn, gibt es gerade viel Dynamik. Deshalb hat Bonn auch kürzlich beim Fahrradklimatest den 1. Platz unter den Aufholern bekommen – und das haben sie hier auch verdient. Es gibt viele Städte, die Mobilitätswende machen, und es ist klar, dass das nicht nur eine Antriebswende sein kann, es muss auch den Modal Split verändern, und zwar sehr deutlich. Ein Hauptproblem ist ja, dass alles zu groß wird, mit dem wir uns individuell motorisiert bewegen. Das muss wieder zurückwachsen, um nachhaltig tragbar zu werden.

Die Bundesregierung ist zurzeit ein Bremsfaktor bei der Umsetzung der Verkehrswende. Dennoch finden auch positive Veränderungen in etlichen Städten und Kommunen statt. Wird der Einfluss des Bundes vielleicht überschätzt?
Ja und nein. Fakt ist, dass in den Kommunen viel passiert, aber genauso ist es ein Unding, dass der Bund die Gestaltungsräume der Kommunen weiter so eng hält. Nehmen Sie nur die „Initiative für lebenswerte Städte und Gemeinden“. Über 700 Kommunen fordern hier mehr Selbstständigkeit bei der Umsetzung von Tempo 30. Wir halten doch immer unseren Föderalismus hoch und sagen, dass es richtig ist, wenn am Ort, wo Politik sich konkret auswirkt, auch die Entscheidungen getroffen werden dürfen. Aber bei so wichtigen Fragen, wie organisieren wir das Klima zwischen den Menschen, an öffentlichen Räumen und Plätzen und im Verkehr, dass der Bund da nicht zulassen will, dass die Kommunen selber bestimmen, ist ein Unding. Deshalb würde ich mir modernere, progressivere Weichenstellungen vom Bund wünschen, die dann auch mit Fördermitteln für Länder und Kommunen hinterlegt sind.

Ein Kultur der Verkehrswende entstehe, wenn viele Menschen in die gleiche Richtung denken und agieren, erklärt Michael Adler. Einfach nur eine neue Kultur zu proklamieren, genüge da nicht.

In Ihrem Buch „Klimaschutz ist Menschenschutz“ weisen Sie auf die Bedeutung der Sprache für die emotionale Wahrnehmung von Themen hin. Hätten wir heute mehr Klimaschutz, wenn wir gleich die richtigen Worte benutzt hätten?
Was mich in meinem Buch umtreibt, ist positiv über eine veränderte Zukunft zu reden. Menschen haben vor Veränderungen Angst, weil das in unserem archaischen Setting immer auch mit Bedrohung verbunden war. Wir Menschen bleiben lieber auf unserer Scholle sitzen und sind nur begrenzt in der Lage, visionär zu denken und Routinen, die wir gewohnt sind, infrage zu stellen.
Das Ziel meines Buches ist es, über das Klimathema anders zu reden. Der sprachliche und visuelle Rahmen, der um ein Thema gesetzt wird, bestimmt auch die Gefühle, die mit dem Thema verbunden werden. Bisher herrscht beim Thema Klima der VerzichtsFrame vor. Die Politik will uns was wegnehmen, unser Leben wird freudlos. Mein Anliegen ist es, hier den Gewinn-Frame zu bedienen. Unser Leben wird gesünder, besser, sozialer, wenn wir umsteuern. So haben wir beispielsweise in Bonn mit der Verwaltung autofreie Wohnquartiere geplant und wir haben als Agentur gesagt, die dürfen wir nicht „Auto-frei“ nennen, sondern wir müssen Begriffe wählen, die beschreiben, was dort besser wird, wenn nicht mehr das Auto dominiert. Auto-frei impliziert ja, dass wir etwas wegnehmen – und das wird assoziiert mit Verzicht oder Verbot. Der Wandel zu nachhaltigen Wohnquartieren ist für die Anwohner*innen aber das Gegenteil von Verzicht. Es ist ja ein Gewinn an Freiheit für Kinder und Ältere – und damit für alle, ein Gewinn an Lebensqualität, mehr Möglichkeiten für soziale Interaktion. Sie heißen jetzt „Bönnsche Viertel – lebendige Straßen für Menschen“. Da sind dann sehr viele Dinge möglich, die den Zusammenhalt stärken. Die Mobilität spielte schließlich in der Beschreibung durch die Verwaltungsprofis eine eher untergeordnete Rolle. Es soll eine bessere ÖPNV-Anbindung geben, Mobilstationen im Viertel machen Mobilität ohne Abgase und Lärm möglich.
Das ist mein Anliegen in meinem Buch: Wir müssen viel mehr sagen, wo die Reise hingeht, in fünf oder zehn Jahren, auf welche Vorteile wir zusteuern. Stattdessen werden in der politischen Diskussion mit vernichtender Rhetorik oft die Horrorszenarien beschworen. Natürlich wird hier politisch instrumentalisiert, dass wir Menschen vor der Veränderung Angst haben. Wir sollten daher mehr über eine verheißungsvolle Zukunft sprechen. Dann kann man auch mehr Menschen mitnehmen auf diesem Weg.

„Wir Menschen bleiben lieber auf unserer Scholle sitzen und sind nur begrenzt in der Lage, visionär zu denken.“

Michael Adler

Wie entsteht eine „Kultur der Verkehrswende“? Welche Voraussetzungen braucht es dafür und was könnte die Fahrradwirtschaft dazu beitragen?
Eine Kultur ist ein komplexes Gebilde, das entsteht, wenn viele, auch unterschiedliche Menschen in eine gleiche Richtung denken und agieren. Gegenwärtig haben wir eine automobile Kultur. Die ist sehr ausgeprägt und sie wird auch von ganz unterschiedlichen Kreisen bedient: Von normalen Bürgerinnen, von Medien, von der Automobilindustrie, von Teilen der Politik. Wir haben auch eine Fleisch-Esskultur, eine Bierkultur, in manchen Gegenden eine Weinkultur, eine Karnevalskultur u.s.w. Das sind alles Dinge, die über einen sehr langen Zeitraum gewachsen sind. Vor zehn Jahren wurde in Baden-Württemberg der Begriff der Fahrradkultur aus der Taufe gehoben. Ich finde das einen guten Begriff, aber eine Kultur ist natürlich nicht dann sofort da, wenn man sie proklamiert. Jetzt geht es darum, eine Struktur zu schaffen, die mehr Radverkehr in unseren Städten und Dörfern möglich macht, die die Verhältnisse so ändert, dass der Platz anders verteilt wird, dass mehr Raum für Radverkehr aller Art entsteht. Wenn wir die Verhältnisse verändern, lässt sich auch das individuelle Verhalten leichter ändern. Es ist extrem schwer, Verhalten gegen widerspenstige Verhältnisse zu ändern. Wenn ich aber günstige Rahmenbedingungen habe und eine offene Kultur, dann gelingt das viel leichter. Und je mehr Präsenz das Fahrrad in allen möglichen Alltagssituationen hat, umso eher entsteht eine Fahrradkultur. Leider ist aktuell die Lobby für das Fahrrad, von ADFC bis ZIV, nicht sehr stark, immer noch zersplittert. Wir haben versäumt, vor dem Hintergrund des Pariser Klimaabkommens, der Debatten um Fridays for Future dem Thema noch mal einen neuen Kick zu geben. Man hat sich auf der Verbändeseite vielleicht auch ein bisschen ausgeruht, dass es ein paar neue Fördermittel auf Bundesebene gegeben hat. Wenn man eine Kultur verändern will, dann braucht man mehr als ein paar Fördermillionen – so wichtig Geld natürlich auch ist. Mir ist die Branche politisch zu abstinent und zu defensiv. Da ist noch viel Luft nach oben. Ich würde mir wünschen, dass mehr Vertreterinnen der Fahrradwirtschaft sich stärker engagieren auf der politischen Ebene und in der Lobbyarbeit, sowohl auf der Bundesebene als auch lokal vor Ort. Je besser die gebaute Infrastruktur ist, desto besser sind die Geschäfte für die Branche.


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Eine der interessantesten Optionen, nahtlose Mobilität anzubieten, und gleichzeitig Datengold zu schürfen, erarbeiten gerade die Berliner Verkehrsbetriebe BVG. „Einmal anmelden und alles fahren: Bus, Bahn, Roller, Fahrrad, Auto, Ridesharing und Taxi.“ Das ist das Versprechen der BVG-App Jelbi. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Wir haben mit Christof Schminke gesprochen. Er ist Managing Director Germany des litauischen Mobilitäts-App-Spezialisten Trafi. Die international renommierten Spezialisten setzen den Service zusammen mit der BVG um. Neuester deutscher Trafi-Kunde sind die Münchner Verkehrsbetriebe.

Herr Schminke, warum macht die BVG Jelbi?
Die Berliner Verkehrsbetriebe haben sich vorgenommen, Aggregator von Mobilität zu werden. Deswegen integrieren wir kontinuierlich weitere Services. Das heißt, wir haben angefangen mit dem ganzen öffentlichen Nahverkehr, dann zuerst Roller von Emmy integriert, dann Tier E-Scooter und Carsharing. Nextbike ist schon drin und dieses Jahr werden wir noch weitere Carsharer im System sehen. Das macht natürlich auch die Attraktivität für die Kunden aus, denn der Nutzen wird über die Menge deutlich größer. Das Besondere ist, dass alle Services tiefenintegriert sind. Das heißt, der Nutzer hat einmal seine Zahlungsdaten hinterlegt und, sofern er Carsharing nutzen möchte, einmal seinen Führerschein verifiziert, und kann dann wirklich alle Services in einer Applikation nutzen. Er muss nicht mehr in eine andere App gehen.

Es gibt schon diverse Apps für verschiedene Mobilitätsangebote in der Stadt. Reichen die nicht aus?
Nein, damit ist überhaupt nichts gewonnen. Zuerst einmal ist es für den Kunden einfach kein gutes Erlebnis: Er sieht, dass da Fahrräder stehen und Autos, muss dann aber trotzdem fünf verschiedene Apps haben, bei jeder Zahlungsdaten hinterlegen und die Führerscheinprüfung durchlaufen. Vor allem kann er nicht verschiedene Verkehrsmittel vergleichen und keine multimodale Route planen. Und auch für Stadt ist es schlecht: Wenn ich die Mobilitätsangebote nicht tiefenintegriert habe, bekomme ich natürlich auch keinen Zugriff auf die Daten. Das heißt, ich weiß am Ende des Tages nicht, ob die Person den Carsharer genommen oder im Anschluss an die Fahrt mit dem ÖPNV noch den E-Scooter genutzt hat.

„Ich glaube, nur wenn die Städte das selber machen und verstehen, dann können sie auch künftig Einfluss nehmen.“

Christof Schminke

Also empfehlen Sie Kommunen das volle Programm?
Es geht hier nicht darum, nur eine App zu launchen, das wäre viel zu kurz gesprungen. Wir sagen: Als Stadt musst du die Mobilität verstehen, du musst im Mittelpunkt stehen und jetzt anfangen zu begreifen, wie sich Leute bewegen und welche Modi miteinander kombiniert werden. Ich glaube, nur wenn die Städte das selber machen und verstehen, dann können sie auch künftig Einfluss nehmen. Wenn die Städte das Firmen wie Google überlassen, dann wird es natürlich schwierig, weil sie dann einfach nicht die Datenhoheit haben und es dann immer schwerer fällt, auch Einfluss zu nehmen.

Haben Sie Echtzeitdaten? Kann man die in Ihrem System verfolgen?
Echtzeitdaten im Sinne von, wo fährt der Bus und die Straßenbahn, sodass wir auch die Möglichkeit haben, dass die Menschen wirklich den Bus fahren sehen können. Es kommt aber immer drauf an, was wir an Daten von unseren Partnern zur Verfügung gestellt bekommen.

Das gäbe doch auch den Städten die Möglichkeit zur Steuerung?
Genau da muss es hingehen. Stellen Sie sich vor, Sie wollen in ein paar Jahren morgens zur Arbeit fahren und können dann genau sehen: Wenn ich jetzt das private Auto nehme, dann muss ich auf der Straße so viel Maut bezahlen, weil die Stadt heute eine große Veranstaltung hat und das Autofahren teuer macht. Zudem sehe ich schon, wie viel ich fürs Parken bezahlen muss und was mich das Laden des Autos kostet, und kann dann als Alternative schauen, was es mich kostet, wenn ich geteilte Mobilität nehme. Das Ziel muss natürlich genau das sein: Dass die Stadt zukünftig in Realtime steuert, wie die Verkehrssituation ist, und damit natürlich Einfluss auf Emissionen, auf Verkehrsbelastung und weitere Faktoren nehmen kann. Dafür muss ich natürlich als Stadt jetzt den ersten Schritt machen und genau verstehen, wie das System funktioniert.

MaaS-Spezialisten im Kommen

„Mobility as a Service“ (MaaS) ist eine Kombination aus öffentlichen und privaten Verkehrsdiensten innerhalb einer Region, die es Menschen ermöglicht, immer die beste Kombination von Verkehrsmitteln für den Weg von A nach B zu finden und diese an einer Stelle zu buchen. Trafi ist ein Technologieunternehmen mit Sitz in Vilnius, Litauen, London und Berlin, das komplette MaaS-Lösungen für Städte anbietet. Zurzeit in Vilnius, Prag, Jakarta und Berlin, ab Herbst 2020 auch in München. Ein ähnliches Angebot bietet MaaS Global aus Helsinki mit der Plattform Whim. Bei Whim können Kunden Pakete kaufen, die zum Beispiel unbegrenzte Fahrten per Bahn, Leihrad oder Mietwagen beinhalten und außerdem Zugang zu Taxis oder E-Scootern bieten. Whim gibt es neben Helsinki in Antwerpen, Wien, Tokio, Singapur und Teilen Großbritanniens.


Bilder: BVG, BVG – Oliver Lang

Konrad Otto-Zimmermann zählt zu den Erfindern des Konzepts der fahrradfreundlichen Stadt. Nun hat der Stadt- und Umweltplaner mit der „Feinmobilität“ eine neue Idee entwickelt, wie verschiedene Mobilitätsformen in einem zunehmend begrenzten Straßenraum in Einklang gebracht werden können. Planerinnen und Entscheiderinnen soll das Konzept ein Werkzeug an die Hand geben, um die Mobilität in der Innenstadt oder einzelnen Quartieren zu steuern. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Sie haben 1980 eines der ersten Bücher zur fahrradfreundlichen Stadt herausgegeben. Wie unterscheiden sich die damaligen Probleme und Forderungen für den Radverkehr von der aktuellen Situation?
Sie unterscheiden sich wenig. Ich arbeitete damals im Umweltbundesamt und wir haben wie heute den Flächenverbrauch und die Verkehrsplanung mit Priorität auf Autos scharf kritisiert. In den 80er-Jahren stand jedoch weniger das Weltklima im Fokus, sondern die Luftverschmutzung im Straßenraum und die Gesundheitsaspekte. Seinerzeit haben Autos noch deutlich mehr Stickstoffoxid und Partikel ausgestoßen als heute.

„Wir haben in unseren Straßen oft keinen Platz für weitere separate Spuren und müssen deshalb den Verkehr auf den Fahrbahnen sicher, stadt- und umweltverträglich organisieren.“

Welche Rolle hatte damals der Radverkehr und wieso stammen die Veröffentlichungen aus dieser Zeit ausschließlich aus dem Umweltbundesamt?
Radverkehr kam im Verkehrsministerium damals noch nicht vor. Mit dem Umweltbundesamt haben wir dafür gesorgt, dass er ernst genommen wurde. Das war damals eine besondere Zeit. Das Umweltbundesamt war erst 1974 gegründet worden und wir Mitarbeiter konnten Themen einbringen. Mein Vorschlag war, den Radverkehr zu fördern. Daraus entstand das Modellvorhaben „Fahrradfreundliche Stadt“. Über sieben Jahre haben wir im Team Projekte und Forschungsvorhaben initiiert und vergeben. Wir haben unter anderem eine Studie zum Fahrradrecht vergeben, die Rechtsanwalt Dieter Gersemann erstellt hat. Der Begriff war neu und viele konnten damit nichts anfangen. Die Studie wurde als Buch veröffentlicht und hat das Thema Fahrradrecht in der Fachwelt verankert.

Mittlerweile bauen erste Städte Protected Bikelanes, Radschnellwege und entwickeln zusammenhängende Radwegenetze. Sind Sie mit der Entwicklung zufrieden?
Auf das Gesamtbild bezogen sind diese Erfolge eher Kleinigkeiten. Entscheidend ist, ob weniger Kfz-Kilometer gefahren werden, weil die Leute aufs Rad umgestiegen sind. Es gibt sicherlich ein paar Städte oder Bezirke, die sehr weit sind bei der Radverkehrsförderung. Diese sind aber eher die Ausnahme. Die Situation für Radfahrer und Fußgänger hat sich über die Jahre in den Zentren zunehmend verschlechtert. Der Platz, der ihnen zur Verfügung steht, schwindet jedes Jahr, weil der Pkw-Bestand stetig wächst und immer mehr Straßenraum belegt. Hinzu kommt, dass die Autos mit jedem Modellwechsel wachsen, die Straßen aber nicht. Das heißt, Straßenräume sind zu Lagerräumen für aufgeblähte Stehzeuge verkommen. Das ist eine bedenkliche Entwicklung.

Nach der neuen GGG-Fahrzeugklassifizierung werden die drei S-Klassen (XXS, XS, S) als Feinmobilität definiert.
Feinmobilität ist nicht Mikromobilität. Sie schließt Elektro-Kleinstfahrzeuge, Fahrräder, Elektromobile, elektrische Leichtfahrzeuge und E-Minicars ein.

Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) passt jetzt das Bemessungsfahrzeug für Pkw und damit die Standards für Parkplätze an die stetig wachsenden Autos an. Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Weg?
Handwerklich ist das Vorgehen der FGSV sicherlich sauber. Aber die Philosophie dahinter ist meinem Erachten nach falsch. Die Forschungsgesellschaft ermittelt anhand des Fahrzeugbestands die Maße des Durchschnittsfahrzeugs, das von 85 Prozent aller Fahrzeuge nicht überschritten wird. Seine Abmessungen werden in der Praxis für den Bau von Straßen, Wendekreisen und Parkplätzen herangezogen. Weil die Fahrzeuge immer größer werden, übernimmt die FGSV unkritisch diesen Status und zementiert die Autoblähung für weitere Jahrzehnte, anstatt normativ zu denken und Anreize zum Flächensparen zu setzen. Wir sollten uns nicht vom Markt die Größe unserer Parkplätze diktieren lassen.

Wie können die Kommunen gegensteuern?
Der Stadtraum ist für Kommunen die wichtigste Stellschraube. Sie sollten entscheiden können, welchen Fahrzeugtypen sie wie viel Platz einräumen. Lassen sie in einem Straßenabschnitt wenige riesige Autos parken, oder ist es nicht flächengerechter, stattdessen mehr kleine Fahrzeuge dort parken zu lassen? Bislang fehlte den Kommunen dazu das Handwerkszeug. Mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Kassel, des VCD und der SRL (Verkehrsclub Deutschland und Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung, Anm. d. Red.) haben wir das Konzept „Feinmobilität“ entwickelt. Damit geben wir ihnen eine neue Fahrzeug-Klassifizierung nach Größe, Gewicht und Geschwindigkeit in die Hand. Wir haben eine Maßeinheit verwendet, die jeder kennt: die Kleidergröße. Wir unterscheiden sieben GGG-Klassen von XXS, XS und S über M bis zu L, XL und XXL.

„Die Situation für Radfahrer und Fußgänger hat sich über die Jahre in den Zentren zunehmend verschlechtert.“

Welche Fahrzeuge haben Sie für Ihr Konzept Feinmobilität erfasst?
Wir haben die gesamte Räderwelt vom Rollschuh über Fahrräder und elektrische Leichtfahrzeuge bis zum Geländefahrzeug betrachtet. Rund 100 Fahrzeuge wurden systematisch erfasst. Damit kommen auch all die Fahrzeuge oberhalb des Fahrrads und unterhalb des Autos mit einer sinnvollen Kategorie und einem Verkehrsraum zur Geltung. Die FGSV kennt nur ein Bemessungsfahrzeug Pkw und die Bemessungsfahrzeuge Fahrrad und Motorrad.

Der Begriff „Feinmobilität“ ist neu. Was wollen Sie damit bewirken?
Wir wollen ein Umdenken und ein Umhandeln anstoßen, eine Abrüstung im Verkehr von groben zu feineren Fahrzeugen. Feinmobile Fahrzeuge, zu denen auch leichte Elektrofahrzeuge gehören, können bis zu vier Sitzplätze haben und bis zu 120 km/h schnell fahren. Mit ihnen können Strecken bis zu 100 Kilometer Länge zurückgelegt werden und sie sind fernstraßentauglich. Damit eignen sie sich für Pendler-, Dienst- und Freizeitfahrten. Wissenschaftler vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt haben jüngst berechnet, dass leichte Elektrofahrzeuge mit bauartbedingter Höchstgeschwindigkeit bis 45 km/h rund 65 Prozent der Kfz-Wege übernehmen könnten. Das entspricht einem Drittel der Personenkilometer. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von 125 km/h sind es sogar 75 Prozent der Wege und die Hälfte der Fahrleistung. Feinmobile könnten 44 Prozent der CO2-Emissionen der Pkw reduzieren und Mobilität mit menschlichem Maß ermöglichen.

Der Architekt Jan Gehl hat den Begriff „Stadtplanung mit menschlichem Maß“ geprägt. Er stellt den Menschen in den Mittelpunkt der Stadtplanung. Wo ist das menschliche Maß in der Feinmobilität?
Feinmobilität bietet für alle und für jeden Fahrtzweck die jeweils feinste, also kleinste, leichteste und wendigste Option. Sie ist nachhaltig. Sie macht keinen Lärm und produziert keine oder kaum Schadstoffe. Bei Unfällen ist der Schaden gering, weil die Fahrzeuge leicht sind und mit maßvollen Geschwindigkeiten unterwegs sind. Außerdem behindern sie nicht das Blickfeld der Menschen. Wer heute im Erdgeschoss lebt und aus dem Fenster schaut, blickt, wenn er Pech hat, nur noch auf Autoseiten.

Zurück zu den Parkplätzen. Wie könnte die Steuerung mithilfe der Größe der Fahrzeuge erfolgen?
Immer mehr Kommunen möchten Parkgebühren an die Stadtraumbeanspruchung, also die Größe der Fahrzeuge koppeln. In Freiburg ist der Preis des Anwohnerparkausweises bereits an die Länge des Fahrzeugs gebunden. Unsere Kategorisierung macht es Kommunen leicht, eine Gebührenstaffelung auf der Grundlage unserer GGG-Klassifizierung einzuführen. Indem Kommunen oder Wohnungsbaugesellschaften Parkplätze verschiedener Größen anbieten, können sie Anreize für Feinmobilität im Quartier setzen. Wenn es mehr kleinere als wenige große Parkplätze im Wohngebiet oder in Tiefgaragen gibt, überlegen sich die Menschen, welches Fahrzeug sie kaufen und nutzen.

Autonutzerinnen verzwergen sich zunehmend, indem sie sich in Fahrzeuge hüllen, die 100- oder sogar 160-mal voluminöser sind als sie selbst. Der wahre Souverän ist, wer ein Fahrrad fährt, das nur ein Zehntel des Fahrerinnen-Volumens hat.

Sie wollen die Verkehrsflächen ebenfalls neu definieren. Wie soll das aussehen?
Wir schlagen vor, statt der Vielfalt von Straßentypen und Höchstgeschwindigkeiten acht Verkehrsflächen zu definieren, die sich nach Geschwindigkeitsniveaus unterscheiden: von Gehflächen mit Schrittgeschwindigkeit bis zu Fernstraßen mit Tempo 120. Für jede dieser Verkehrsflächen wird festgelegt, welche Fahrzeuge dort unterwegs sein dürfen.

Wie unterscheidet sich Tempo 30 heute von Tempo 30 nach dem Feinmobilität-Ansatz?
Wenig. Tempo 30 ebenso wie Schrittgeschwindigkeit in verkehrsberuhigten Zonen ermöglichen bereits heute Feinmobilität. Die kleinen und leichten Fahrzeuge können im Verkehr sicher mitschwimmen. Demzufolge braucht Feinmobilität nicht unbedingt eigene Fahrspuren. Auf mehrspurigen Fahrbahnen sollte nach unserem Ansatz jedoch für den äußersten Fahrstreifen grundsätzlich 30 Stundenkilometer gelten. Wobei die örtliche Straßenverkehrsbehörde dort die Benutzung auf Feinmobile beschränken kann. Dort wären dann keine Autos mehr unterwegs, sondern nur noch Feinmobile vom Fahrrad bis zum Elektromobil, das auch ein E-Bike mit Kabine oder ein E-Motorroller sein kann. Der Vorteil ist: Sämtliche Fahrzeuge, die dort unterwegs sind, sind aufgrund ihrer Masse, ihres Gewichts und ihrer Geschwindigkeit miteinander verträglich.

Radaktivist*innen fordern schon lange, die äußerste Fahrspur für den Radverkehr freizugeben.Wo ist der Unterschied zu ihrem Ansatz?
Wir denken über das Fahrrad hinaus und blicken auf die gesamte Feinmobilität. Unser Ansatz verlangt keinen Radweg im heutigen Sinne, sondern Verkehrsflächen, auf denen Verkehrsmittel verschiedener GGG-Klassen mit einem vergleichbaren Tempo unterwegs sind. Wir haben in unseren Straßen oft keinen Platz für weitere separate Spuren und müssen deshalb den Verkehr auf den Fahrbahnen sicher, stadt- und umweltverträglich organisieren.

Wie realistisch ist es, mit Fahrrädern und Elektrokleinstfahrzeugen die Alltagsmobilität zu ersetzen?
Dass es funktioniert, haben wir 2013 im Rahmen des „EcoMobility World Festivals“ in Suwon in Südkorea gezeigt. Damals war ich Generaldirektor von ICLEI, dem Weltstädtenetzwerk für Nachhaltigkeit, und habe das EcoMobility Festival in Suwon initiiert und geleitet. Im Rahmen dessen haben wir die 4300 Bewohner eines Quartiers dazu motiviert, ihre 1.500 Autos außerhalb des Wohngebiets zu parken und sich feinmobil fortzubewegen. Zu den Parkplätzen mussten sie fünf bis zehn Minuten laufen. Als Alternative für die Mobilität im Quartier hat die Stadtverwaltung ihnen Fahrräder und eine Vielzahl von Leichtfahrzeugen angeboten. Für ältere Menschen, Behinderte und den Warentransport der Geschäftsleute wurde zudem ein Shuttledienst mit kleinen Elektrofahrzeugen eingerichtet.

Wie ging es nach der autofreien Zeit in dem Bezirk weiter?
Einige SUV-affine Anwohner und Geschäftsleute haben mit Auslaufen des Projekts um Mitternacht ihre Fahrzeuge wieder vor der Haustür abgestellt. Aber der Bürgermeister hat nach Projektende mit den Anwohnern diskutiert, wie es für sie weitergehen soll. Nach verschiedenen Treffen und Diskussionsrunden wurde beschlossen, die Geschwindigkeit in ihrem Viertel auf 20 km/h zu reduzieren und das Parken entlang der Hauptgeschäftsstraßen zu verbieten. Das Parkverbot hat die Stadt umgesetzt, allerdings musste sie die Höchstgeschwindigkeit auf Tempo 30 anheben, weil es Tempo 20 in Südkorea nicht gibt. Aber das allein reichte, um den Durchgangsverkehr aus dem Viertel praktisch auszusperren. Das hat die Lebensqualität erheblich gesteigert. Der Nachteil war, dass die Immobilienpreise ebenfalls gestiegen sind, weil das autoarme Quartier zum angesagten Viertel wurde.

Was haben Sie von dem Projekt mitgenommen?
Wir haben gezeigt: Feinmobilität funktioniert. Das Leben geht auch ohne einen großen Privatwagen vor der eigenen Haustür weiter. Man kommt mit kleineren Fahrzeugen überallhin und muss auch nicht auf zügiges Fortkommen, Lastentransport oder Wetterschutz verzichten. Im Gegenteil. Man muss auf gar nichts verzichten, sondern man beendet Verzicht.

Welchen Verzicht meinen Sie genau?
Feinmobilität beendet den Verzicht auf Ruhe in den Städten, den Verzicht auf gute Luft, auf Aufenthaltsqualität, auf Übersichtlichkeit des Straßenraums und auf Spielflächen für Kinder. Feinmobilität ist ein Gewinn, ein Gewinn für die gesamte Stadt und die Stadtbewohner.

Zur Person:

Konrad Otto-Zimmermann ist Stadt- und Umweltplaner und Verwaltungswissenschaftler. Er hat beim Umweltbundesamt gearbeitet, bei der Stadt Freiburg, und ein Jahrzehnt lang das ICLEI-Weltsekretariat in Toronto/Kanada und Bonn geleitet. Fünfmal wurde er in den „Global Agenda Council on Urban Management“ des Weltwirtschaftsforums berufen. Mit seinem Büro „The Urban Idea“ setzt er von Freiburg aus weiterhin Projekte um. Dazu gehören auch die Freiburger Mobilitätsgespräche, die der Fachwelt seit Jahren innovative Mobilitätslösungen nahebringen.


Bilder: The Urban Idea, Projekt Feinmobilität, Projekt Feinmobilität

Jahrzehntelang wurden Fußgänger*innen mit Restflächen abgespeist. Das funktioniert nicht mehr. Wenn die Mobilitätswende gelingen soll, brauchen die Städte mehr Grün und attraktive Wege in jedem Quartier. In Köln soll nun Nico Rathmann als erster Fußverkehrsbeauftragter den öffentlichen Raum fit machen für mehr Fußverkehr. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Auch wenn die Autos ausgesperrt werden, wie hier in der Ehrenstraße, bedeutet das noch nicht das Ende der Konflikte zwischen Verkehrsteilnehmern. Auch Radfahrerinnen und Fußgängerinnen kommen sich dort immer wieder in die Quere.

Herr Rathmann, Sie sind Kölns erster Fußverkehrsbeauftragter. Gehört zu Fuß gehen zu Ihrer Jobbeschreibung?
Das fragt tatsächlich jeder. Aber nein, gehört es nicht. Ich lebe seit März wieder im Rheinland und lerne nun im Laufe der Zeit die Stadt besser kennen. In meiner Rolle als Fußverkehrsbeauftragter werde ich allerdings in den kommenden Monaten in verschiedenen Stadtteilen in Anlehnung an das Wiener Konzept der Geh-Cafés Stadtspaziergänge organisieren. Das sind Stadtrundgänge mit Experten, etwa vom Fuss e.V. (Fachverband Fußverkehr Deutschland, Anm. d. Red.) und mit Anwohner*innen. So verschaffe ich mir einen Überblick, wo es beim Fußverkehr in Köln hakt.

Wie geht man vor, wenn zügig ein flächendeckendes Fußverkehrsnetz für eine Großstadt wie Köln entstehen soll?
Um schnell in die Umsetzung zu kommen, müssen wir zunächst definieren, was guten Fußverkehr ausmacht. Daraus entwickeln wir Standards und Maßnahmen, die wir stadtweit umsetzen. Die Basis dafür ist eine gute Datengrundlage. Die haben wir aber noch nicht.

Welche Daten brauchen Sie?
Uns interessiert beispielsweise, wie viele Menschen täglich in den Straßen unterwegs sind und wie die Flächen verteilt sind. Paris erhebt unter anderem die Breiten der Gehwege seit Jahren. Sie haben ein sehr ausgeklügeltes System entwickelt. Auf digitalen Karten erkennen Planer*innen allein anhand der Farbe, wie breit der Gehweg vor Ort ist. Paris erfasst zudem das Stadtmobiliar. Also die Bänke und Pflanzkübel, aber auch Tische und Stühle, die Cafés und Restaurants auf Fußwegen platzieren. Das sind Basisdaten, um ein sinnvolles Fußverkehrsnetz zu erstellen.

Scanfahrzeuge und Software-Experten können diese Daten relativ zügig per Video erheben, indem sie die Straßen abfahren, die Straßenquerschnitte filmen und mithilfe Künstlicher Intelligenz das Videomaterial gezielt auswerten. Werden Sie dieses Vorgehen auch in Köln nutzen?
Das beschreibt eine Lösung. Wie wir vorgehen, werde ich mit dem neuen Amtsleiter besprechen, der im August sein Amt antritt.

Müssen sämtliche Daten erhoben werden, bevor in Köln erste Veränderungen pro Fußverkehr umgesetzt werden?
Der Wandel braucht tatsächlich Zeit. Aber wir arbeiten mehrgleisig. Ein wichtiger Baustein könnte hier zum Beispiel sein, zügig ein flächendeckendes digitales Schulwegenetz zu erstellen. Dazu brauchen wir zwar ebenfalls Daten, aber sie können relativ schnell erhoben und ausgewertet werden. Diese Daten können ganz klassisch durch eine Befragung an Grundschulen erhoben werden. Eine modernere Version, um Schulwege zu kartieren, hat der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg im Frühjahr mit dem Startup FixMyCity umgesetzt.

Wie hat FixMyCity das digitale Schulwegenetz erstellt?
Das Startup hat die anonymisierten Wohnorte von 17.000 Sechs- bis Dreizehnjährigen aus Friedrichshain-Kreuzberg mit den kürzesten Wegen zur nächstgelegenen Schule und zum nächsten Spielplatz verknüpft und auf einer Karte visualisiert. Im nächsten Schritt wurden weitere Parameter hinzugefügt wie etwa Ampeln, Ze-brastreifen, Unfallzahlen oder die erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Mit diesen Daten wurden verschiedene interaktive Karten erstellt, die Hauptrouten der Schüler*innen zeigen und an welchen Stellen der Handlungsbedarf am größten ist. Kinder verunfallen nämlich am häufigsten, wenn sie die Straße überqueren. Mit einer guten Datengrundlage kann der Bedarf für eine Querungshilfe besser abgeschätzt und schlussendlich auch transparent priorisiert werden.

Ist das nicht ein sehr eingeschränkter Blick auf den Fußverkehr? Wie repräsentativ ist die Auswertung der Schulwege für alle übrigen Alltagswege?
Die Erhebung von Schulwegen sollte immer ein integraler Bestandteil eines Fußwegenetzes sein. Kinder gehen täglich immer die gleichen Wege. Anders als Seniorinnen oder Pendlerinnen. Deshalb sind Schulwege eine gute Basis für ein Fußwegenetz. Köln hat fast 150 Grundschulen in 86 Stadtteilen. Erstellen wir für sie Schulwegenetze, decken wir eine große Fläche in der Stadt ab. Hinzu kommt, dass Grundschulkinder besonders schutzbedürftig sind. Aufgrund ihrer Größe haben sie einen schlechteren Überblick im Verkehr. Allein aus diesem Grund sollten wir sie auf ihren Wegen besonders schützen. Verbesserungen auf Schulwegen kommen schlussendlich allen Fußgänger*innen zugute.

Zurück zu den Stadtspaziergängen. Welche Daten werden Sie dort erhalten und wie wollen Sie sie nutzen?
Mir schwebt vor, einen Steckbrief zu erstellen, der den groben Zustand des Bezirks beschreibt und aufzeigt, welche Kosten entstehen und welchen Effekt eine Maßnahme auf den Fußverkehr hat. Mängel können beispielsweise zu hohe Bordsteine sein, fehlende Querungen, fehlende Bänke oder zugestellte Gehwege. Wichtig ist: Mir geht es nicht um individuelle Verbesserungen an einer Straßenecke oder um die Absenkung eines bestimmten Bordsteins in einem Bezirk. Wir agieren stadtweit. Wir müssen grundlegende Qualitätsstandards festlegen und ein Gesamtkonzept entwickeln. Dafür ist Transparenz wichtig. Die Menschen müssen verstehen, warum wir an manchen Kreuzungen Bordsteine absenken oder Zebrastreifen einrichten und an anderen nicht. Dafür brauchen wir Daten. Unsere Richtlinie, um Entscheidungen zu treffen, ist beispielsweise die Zahl der Menschen, die in den Straßen unterwegs sind, aber auch die Zahl der Autos, die Durchschnittsgeschwindigkeit, die dort herrscht, oder die Unfallhäufigkeit. Wir treffen keine individuellen Entscheidungen, sondern beschließen immer auf Basis der Datenlage vor Ort.

Gibt es eine Stadt, die beim Fußverkehr heute bereits viel richtig macht?
Paris. Wir kennen alle die schönen breiten Boulevards, wo Fußgänger*in-nen wirklich viel Platz haben. Wenn man dort durch die Innenstadt geht, findet man an fast jeder Kreuzung einen Zebrastreifen, selbst in den kleinen Seitenstraßen. Das macht den Menschen das Queren unkompliziert und komfortabel. Der Fußverkehr wird in Paris immer mitgedacht. Dort werden die Fußwege zudem konsequent freigehalten. Sharing-Fahrzeuge, vom Fahrrad bis zum Scooter müssen alle auf der Straße parken.

„Die Basis für Standards und Maßnahmen ist eine gute Datengrundlage. Die haben wir aber noch nicht.“

In Köln werden die Gehwege teilweise von Autos zugeparkt, sodass Fußgängerinnen auf die Straße ausweichen müssen. Gehen Sie mit der Fußverkehrsstrategie dagegen vor?
Wenn die Mindestbreiten für Fußgängerinnen nicht mehr eingehalten werden, könnte das Gehwegparken untersagt werden. Aus meiner Sicht wäre das ein faires Verfahren und außerdem eine sehr transparente Entscheidung.

Was verstehen sie genau unter Mindestbreiten?
Die genauen Standards werden wir für Köln noch festlegen. Aber Rollstuhlfahrer*innen oder auch Eltern mit Kinderwagen sollten auf Gehweg bequem unterwegs sein. Je nach Frequenz des Fußverkehrs in manchen Straßen könnte das Parken stellenweise auch komplett unterbunden werden. Aber auch für derlei Entscheidungen ist eine gute Datengrundlage notwendig. Diese Entscheidungen fallen auch nicht von heute auf morgen, sondern im Rahmen von Fünf- bis Zehnjahresplänen.

Köln hat bereits mit dem Umbau pro Fußgängerinnen in der Innenstadt begonnen. Beispielsweise in der Ehrenstraße, einer einspurigen beliebten Einkaufsstraße in Domnähe. Sie war immer stark befahren, inzwischen sind die Autos hier weitestgehend ausgesperrt und Radfahrerinnen und Fußgängerinnen teilen sich die Straße. Ist das für Köln ein Ansatz mit Zukunft?
Das beobachten wir gerade. Zur Ehrenstraße landen immer wieder Beschwerden von Fußgängern und Fußgängerinnen auf meinen Schreibtisch. Offiziell ist die Straße eine Fußgängerzone, in der Radfahren erlaubt ist. Momentan kommen sich Radfahrerinnen und Fußgänger*innen dort jedoch immer wieder in die Quere. Aus meiner Sicht ist dieser Konflikt bei temporären Maßnahmen ein zu erwartender Effekt, weshalb am Anfang die gegenseitige Rücksichtnahme noch mehr gefragt ist als sonst. Da der Raum noch nicht selbsterklärend ist, wird es noch eine Weile dauern, bis sich alle an die neue Situation gewöhnt haben. Dennoch ist die Maßnahme richtig: Den Menschen wird Raum zurückgegeben und genau das ist das Ziel.

Paris sperrt eine seiner Prunkstraßen, die Champs Élysées, einmal im Monat für den Autoverkehr. Dann gehört er ausschließlich den Menschen. Ist das auch in Köln denkbar?
In Paris ist das wahrscheinlich leichter umzusetzen. Die kurzzeitige Sperrung ist ein schönes Konzept, um Dinge auszuprobieren und den Menschen zu zeigen, wie viel Raum in der Stadt tatsächlich zur Verfügung steht. Bei solchen Angeboten ist die Regelmäßigkeit entscheidend. Die Menschen müssen die Gelegenheit bekommen, den Raum für sich zu entdecken und zu bespielen. Wenn wir den Fußverkehr stärken und attraktiver gestalten wollen, geht es genau darum: Attraktive Räume in der Stadt zu schaffen, die die Allgemeinheit in Besitz nimmt.

Köln hat im Zentrum sehr viele schmale Straßen. Am Friesenwall, einer Nebenstraße der Ehrenstraße, haben Ihre Kollegen mit einem Multifunktionsstreifen die Gehwege bereits frei geräumt. Werden Sie das Konzept weiterführen?
Das Konzept wird bereits auf weitere Fahrradstraßenabschnitte ausgeweitet, voraussichtlich noch in diesem Jahr wird der Mauritiuswall nach dem gleichen Prinzip umgestaltet.
Der Multifunktionsstreifen ist ein cleverer Schachzug für schmale einspurige Straßen wie den Friesenwall. Dort hatte vor dem Umbau niemand so richtig Platz. Anwohnerinnen und Besucherinnen haben in beide Richtungen am Fahrbahnrand geparkt und den Gehweg blockierten Fahrräder, Mülleimer und Parkscheinautomaten. Der Friesenwall ist Bestandteil des Fahrradstraßennetzes, deshalb musste die Fahrbahn frei geräumt werden. Dabei hat die Analyse der Parkdaten geholfen. Die Kolleginnen haben festgestellt: Selbst wenn die Zahl der Stellplätze halbiert würde, wären für die Anwohnerinnen noch ausreichend Stellplätze vorhanden. Gäste und Besucher*innen könnten in die umliegenden Parkhäuser ausweichen. Aufgrund dieser Analyse wurde das Parken am linken Fahrbahnrand abgeschafft und der Multifunktionsstreifen installiert.

Das ist ein etwa handtuchbreiter Streifen …
… am linken Fahrbahnrand, der alles beherbergt, was vorher auf dem Gehweg störte: Parkscheinautomaten, Verkehrsschilder und Mülleimer. Außerdem wurden dort Fahrradbügel aufgestellt, sowie Blumenkübel und Sitzmöglichkeiten. Jetzt sind die Gehwege frei und Falschparken unmöglich. Schöner kann man kaum Platz schaffen.

Vorher-Nachher: Ein Multifunktionsstreifen schafft auf dem Friesenwall mehr Platz auf dem Gehweg.

Köln hat im Zentrum recht wenig Grünflächen. Die vergangenen Wochen und Monate haben nochmals gezeigt: Die Sommer werden heißer und längere Hitzeperioden setzen den Städten besonders zu. Wie wollen sie Kölns Straßen für die Fußgängerinnen kühlen?
Sie haben recht: Die Sommer werden länger. Sie beginnen im Mai und enden im Oktober. Deshalb brauchen wir zukünftig mehr Grün in den Straßen. Allerdings müssen die Straßenquerschnitte den Umbau auch erlauben. Kölns Straßen sind an vielen Stellen sehr schmal. Dort, wo wir nicht begrünen können, müssen wir uns mit Alternativen, etwa mit Sonnensegeln behelfen. Wir werden langfristig darüber nachdenken müssen, Schattenwege in den einzelnen Quartieren zu schaffen. Damit die Fußgängerinnen auch im Hochsommer vor der Sonne geschützt unterwegs sein können. Trinkbrunnen können trotz der hohen hygienischen Anforderungen eine weitere Möglichkeit sein, um mit den zukünftigen Hitzewellen besser umzugehen.

Erfordern der Klimawandel und die notwendigen Anpassungen an große Hitze und Starkregen von Ihnen bei der Umsetzung einer Fußverkehrsstrategie noch mehr Tempo?
Auf jeden Fall. Wir wollen viele Wege ersetzen und vermeiden, die mit dem Auto zurückgelegt werden. Dafür muss zu Fuß gehen deutlich attraktiv werden. Es gibt also viel zu tun.

Infos zur Person

Nico Rathmann (38) arbeitet seit März als Fußverkehrsbeauftragter in Köln. Der Diplom-Geograf hat in Köln studiert. Zuvor war er bereits in Heidelberg (fünf Jahre) zuständig für den Fußverkehr beim Verkehrsmanagement der Stadt.


Bilder: Stadt Köln, Andrea Reidl, verenaFOTOGRAFIERT