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Wem gehört die Natur?

Während es im deutschen Sprachraum repressiver zugeht als allgemein gedacht, zeigen sich die skandinavischen Länder entspannt naturnah. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Zu einem spöttisch-verzweifelten Echo in der Fahrrad- und Mountainbike-Szene hat die im letzten Frühjahr vorgestellte Kampagne der Österreich Werbung unter dem Claim „You like it? Bike it!“ geführt. Denn was hierzulande wohl nur wenigen bekannt ist: Im Gegensatz zum Wandern ist das Radfahren in österreichischen Wäldern verboten, wenn es nicht explizit erlaubt ist. Und natürlich gibt es gegen diese ebenso unverständliche wie unzeitgemäße Regel auch unzählige Verstöße. In Deutschland sieht es dagegen anders aus – bis auf das Land Baden-Württemberg. Hier gilt seit 1995 laut Landeswaldgesetz BW die sogenannte Zwei-Meter-Regel, die das Fahrradfahren im Wald auf Wegen unter zwei Meter Breite bis auf wenige Ausnahmen verbietet.

Wohin mit den Radfahrern?

Nach Ansicht von Betroffenen, Verbänden und Fachmedien schaden sich damit nicht nur die Tourismusregionen selbst, sie kriminalisieren regelmäßig auch Alltagsradler und Sportler. „Die Regelung wird von einheimischen Radfahrern seit Bestehen in der Praxis ignoriert“, schreibt zur Zwei-Meter-Regel die Deutsche Initiative Mountainbike e. V. (DIMB). Der Mountainbikesport werde durch diese Gesetzgebung in die Illegalität gedrängt inklusive großer Probleme für Lehrkräfte und die Jugendarbeit der Vereine. „Ob Familie mit Kindern, Jugendgruppe oder Rentnerausfahrt – sie alle begehen in Baden-Württemberg regelmäßig und häufig ohne Vorsatz Verstöße gegen das Landeswaldgesetz“, heißt es auch beim Online-Medium MTB-News. Nicht nur aus ökologischer Sicht bedenklich ist auch die damit einhergehende regelmäßige Freizeitflucht mit Auto und Rädern in benachbarte Bundesländer oder die MTB-Eldorados in der Schweiz.

Nur Betretungsrecht oder Jedermannsrecht?

Auch bei der Outdoor-Übernachtung gibt es außerhalb von ausgewiesenen Camping- oder Biwakplätzen hierzulande Probleme. Mit Zelt ist es zumeist verboten, und auch mit einem Biwakschlafsack befindet man sich schnell in einer Grauzone. Auch wenn gern der Naturschutz ins Feld geführt wird – die Gründe liegen sowohl beim Mountainbiken wie auch beim Übernachten wohl vor allem in der Historie. Denn im europäischen Ausland geht man mit dem Thema teils deutlich entspannter um. In den skandinavischen Ländern (ausgenommen Dänemark), Schottland und in der Schweiz gibt es das Jedermannsrecht, das allen Menschen grundlegende Rechte bei der Nutzung der Wildnis und sogar gewissem privaten Landeigentum zugesteht. Unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt es unter anderem Zelten und Feuermachen und geht damit deutlich über ein reines Betretungsrecht, wie es in Deutschland oder Österreich besteht, hinaus.

Eine Frage der Tradition

In Schweden ist das Jedermannsrecht sogar ein wichtiger Bestandteil der Kultur, dessen Wurzeln bis ins Mittelalter zurückreichen. Es räumt den Einwohnern und ausländischen Besuchern auch auf privatem Grund große Freiheiten ein, solange man Rücksicht nimmt, behutsam mit der Natur umgeht und keine Schäden anrichtet. Demgegenüber gibt es hierzulande eine gänzlich andere Tradition, die nach Meinung von Betroffenen und Experten nicht die Natur, sondern vor allem die historisch gewachsenen Rechte der Grundbesitzer, Pächter oder Jäger schützt.

Gerne ein „Jedermannsrecht“ für Deutschland

Kommentar von Reiner Kolberg

Die Städte überhitzt, Badeseen und Strände überfüllt, Reisewarnungen für viele Urlaubsziele. Wohin nur mit den Menschen? Fast 80 Prozent der Einwohner Deutschlands leben mittlerweile in Städten und drängen sich zu Ferienzeiten, an Feiertagen und an den Wochenenden auf den immer gleichen Hotspots. Dabei wäre auch hierzulande Platz genug. Mit der Bahn oder dem Pkw ist man in der Regel in weniger als einer Stunde raus aus der Stadt und kann ab da zu Fuß oder mit dem Fahrrad wunderbare Routen und Plätze neu entdecken und könnte prinzipiell gleich eine Übernachtung in der freien Natur anschließen.
Wer schon einmal – legal oder illegal – naturnah unter freiem Himmel oder in einem kleinen Zelt übernachtet hat, weiß, wie unvergesslich und prägend solche Eindrücke sein können. Mit dem Rad durch den Wald zu fahren und draußen zu übernachten könnte nicht nur in Corona-Zeiten für viele eine preiswerte Lösung sein, um rauszukommen aus der Stadt und das natürliche Umfeld und die Schönheit der Natur wieder neu zu entdecken. Aber wo und für wen gibt es überhaupt noch diese Möglichkeit? Wenn Kinder heute nicht gerade mit Fahrradenthusiasten oder Campingfreunden aufwachsen oder zu den Pfadfindern kommen, stehen die Chancen schlecht, nachdem auch die Wehrpflicht mit der Natursozialisation unter dem Motto „Leben im Felde“ eingestellt wurde.
Heute wird nicht nur in den Medien das Narrativ vom Konflikt der Wanderer mit störenden Radfahrern ebenso gern gepflegt wie das der Mountainbiker und Wildcamper, die den Wald schädigen und die „Natur zerstören“.
Naturschutz, so könnte man meinen, schließt die wirklich freie Bewegung in der Natur aus. Dabei ist wahrscheinlich das Gegenteil der Fall: Ohne eine echte Beziehung zur Natur fällt es umso schwerer, echte Wertschätzung zu entwickeln und sich aktiv für ihre Erhaltung einzusetzen. Mehr naturnahe Erlebnisse, mehr Freiheit verbunden mit einer höheren Verantwortung für sich selbst, seine Umwelt und den Anderen wären sicher eine gute Idee und die Skandinavier haben uns hier mit ihren Gesellschaftsidealen und dem Jedermannsrecht einiges voraus. Aber warum sollten mehr Bürgerrechte nicht auch in Deutschland eine gute Sache und grundsätzlich machbar sein? Im Kleinen anfangen könnte man ja schon mal mit der für Radfahrer unsäglichen Zwei-Meter-Regel in Baden-Württemberg.


Bild: stock.adobe.com – Markus Bormann