Mit der Bike+Ride-Offensive will die DB Station&Service AG die Zahl der Fahrradstellplätze an Bahnhöfen in den kommenden Jahren deutlich ausbauen. Als Partner des Programms hat der Stadtmobiliar-Anbieter Kienzler die modulare Sammelschließanlage K27 speziell für Bike+Ride entwickelt. Inzwischen gibt es mit Rad-Safe zudem eine digitale Komponente mit App und Buchungswebsite.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)
Für die Sammelschließanlagen steht damit nun ein Buchungssystem zur Verfügung, das über den Rahmenvertrag von Kienzler mit der Deutschen Bahn bestellt werden kann. Ein Stellplatz in einer Sammelschließanlage lässt sich am Computer oder per Smartphone über die Website rad-safe.de oder die Rad-Safe-App buchen und per PayPal, Lastschrift oder Kreditkarte bezahlen. Mittels des direkt generierten Zugangscodes können Nutzerinnen dann die Sammelschließanlage betreten. Alternativ kann eine RFID-Karte als Öffnungsmedium genutzt werden. Ebenso unbürokratisch wie für die Nutzerinnen selbst sollen die Sammelschließanlagen auch für die betreibende Kommune sein. Das Buchungssystem betreibt Kienzler im Dienst der kaufenden Kommune. Die Mietdauern und -preise für die Stellplätze werden dabei durch die Kommunen festgelegt. Für die Kommunen bestehen zwei entscheidende Vorteile durch das Projekt: ein einfacher Bestellvorgang und die Förderfähigkeit der Anlagen. Durch die Ausschreibung des Rahmenvertrages können Kommunen ohne eigene Ausschreibungen direkt bei Kienzler Stadtmobiliar Fahrrad-überdachungen und Sammelschließanlagen mit oder ohne Buchungssystem bestellen. Die Bestellung der Anlagen erfolgt über ein Bestellformular, das alle möglichen Ausführungen und Ausstattungen darstellt, um so den Verwaltungsaufwand seitens der Kommune möglichst gering zu halten. Der zweite große Vorteil für Kommunen ist, dass für die Überdachungen und Sammelschließanlagen von Bund und Ländern zahlreiche Fördermittel bereitgestellt werden. Die Förderhöhe seitens des BMU liegt aktuell bei 70 Prozent der Kosten, eine Kofinanzierung mit Landesmitteln ist meist möglich.
Sicherheit in Sammelschließanlagen
Stabil, sicher und langlebig soll ein Radparksystem sein, um auch hochwertigen Rädern zuverlässig Schutz vor Diebstahl oder Wettereinflüssen zu bieten. Daneben sollte es die größtmögliche Vandalismus-Resistenz bieten und auch eine nachlässige oder unsachgemäße Behandlung problemlos wegstecken, um den Instandhaltungsaufwand seitens der Kommunen möglichst gering zu halten. Diese Anforderungen wurden bei der Entwicklung der Sammelschließanlagen stets berücksichtigt. Ein Zugang zur Sammelschließanlage wird nur gewährt, wenn ein Stellplatz über das Buchungsportal oder die App erfolgreich gebucht und bezahlt wurde. So wird durch die standfeste Konstruktion und das Buchungssystem ein unberechtigter Zugang vermieden. Das Konzept mit den beiden Schiebetüren und der außen liegenden Verkehrsfläche ist zudem so ausgelegt, dass sich kaum ein Dieb ungesehen in der Anlage einschließen lassen kann.
Bilder: Stadt Wolfratshausen – Chris Weber, Kienzler Stadtmobiliar
https://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2022/10/CW_6343-scaled.jpg17072560Markus Fritschhttps://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2019/08/veloplan-340x156-300x138.pngMarkus Fritsch2022-09-15 12:51:042023-06-09 12:56:01Robust, sicher und digital
How to take back our streets and transform our lives
von Thalia Verkade & Marco te Brömmelstroet
Als Sozialwissenschaftler und Journalistin stellen der Autor und die Autorin von Movement sehr unterschiedliche Fragen. Deshalb taten sie sich über einen mehrjährigen Zeitraum zusammen und gingen der Frage auf den Grund, wie öffentlicher Raum aussehen könnte, wenn man den Menschen als Priorität vorne anstellt.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)
In ihrem unterhaltsamen Buch klären Thalia Verkade und Marco te Brömmelstroet auf, wie der Verkehr in der Stadt so viel öffentlichen Raum einnehmen konnte, dass alles der Fortbewegung von A nach B untergeordnet ist. Sie mahnen an, wem das schadet und welch düstere Entwicklung unseren Städten ohne eine Kehrtwende noch bevorstehen könnte. Das Druckwerk erinnert zum Teil eher an eine Biografie als an ein Sachbuch, ist es doch gefüllt mit persönlichen Anekdoten und Leidenschaft für die Sache. Ihre Recherchen basieren Verkade und Te Brömmelstroet auf theoriebasierten Grafiken und aktuellen Forschungserkenntnissen. Aber Movement enthält auch Fotos, Twitter-Chatverläufe oder Vergleiche zwischen Radfahrer*innen und Vogelschwärmen. Sie gehen an das Fundament und scheuen nicht davor zurück, die elementaren Überzeugungen, auf denen unsere Städte gebaut sind, ins Wanken zu bringen. Wem gehören unsere Straßen, wofür nutzen wir sie und wer entscheidet das? Die Autorin und der Autor vermitteln Motivation dafür, den Status quo nicht einfach hinzunehmen. Sie diskutieren städtebauliche und politische Lösungsansätze und die Frage, was Städte für spielende Kinder, die Natur und jene Menschen, die das Leben in einem langsameren Tempo bevorzugen oder brauchen, leisten können. Und das Duo gibt Tipps, wie die Leserschaft selbst in Bewegung kommen kann. Aber eben nicht nur von A nach B. Sie warnen jedoch auch: „Sie werden die Straße vor Ihrer Haustür nie wieder auf die gleiche Weise sehen.“ Das von Fiona Graham ins Englisch übersetzte Buch konnte im vergangenen Jahr auch die Jury des Brusse-Preises überzeugen. Die Original-fassung wurde damit als bestes niederländischsprachiges journalistisches Buch geehrt.
Movement. How to take back our streets and transform our lives | von Thalia Verkade & Marco te Brömmelstroet | Scribe Publications UK | 1. Auflage 2022 | ca. 270 Seiten, Softcover | ISBN: 1911344978 | ca. 16 Euro
Ob als Bestseller-Autorin oder vor fast 50.000 Twitter-Follower*innen, Katja Diehl setzt sich für die Lebensrealitäten jener Menschen ein, die in Mobilitätsdebatten zu selten zu Wort kommen. Im Veloplan-Interview erzählt sie, wie das System Auto so mächtig werden konnte, welche Eindrücke sie von ihrer Interrail-Reise mitnimmt und was sie sich von ihrem neuen Projekt erhofft. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)
Sie sind im Sommer einige Wochen per Interrail durch Europa gereist. Was hat Sie unterwegs besonders inspiriert? Die pragmatische Art, mit der manche Länder agieren. Die baltischen Staaten sind nicht bekannt dafür, dass sie superreich sind. Ich war in Vilnius und in Tallinn. Gerade in Tallinn roch es überall nach Farbe, weil sie Radspuren markieren und Parkspuren zu Radspuren machen. Die sind da auch schon relativ komfortabel, gerade im Vergleich zu manchen deutschen Radstreifen, wo ich mal ein Fragezeichen dran machen und fragen würde „Ist das überhaupt ein Radstreifen?“. Es ist ja schnell so, dass es eher gefährlicher für Radfahrer wird, wenn man Farbe aufbringt, weil Autopersonen sich dann an diese Linie halten und nicht denken, ab der Linie sind nochmal 1,50 Meter Abstand einzuhalten. Gestartet habe ich meine Reise in Paris. Dort habe ich mitbekommen, dass die Menschen der Oberbürgermeisterin Anne Hidalgo nicht nur wohlgesonnen sind. Wenn ich aber ins Gespräch kam, gerade in Straßen, die vorher vier Autospuren hatten und jetzt zwei Spuren Auto, zwei Spuren fürs Fahrrad, dann erkannten die Leute: „Na ja, es ist schon leiser geworden.“ Dennoch: Du hast am Anfang vom Gespräch gemerkt, wenn der Name Hidalgo fiel, war die Reaktion nicht positiv. Paris ist auch eine Autostadt, hat aber eine Führungskraft, die eine ganz klare Vision hat. Ich muss gestehen, dass alle Städte, die ich besucht habe, mehr Aufbruchsschwung vermittelt haben, als jede deutsche Stadt. Ich habe in Paris gesehen, dass alle Menschen E-Scooter nutzen: alte Menschen, junge Menschen, Frauen, Männer, alle Ethnien. Während das hier in Deutschland eher eine weiße, männliche Mobilität ist und das liegt meiner Meinung nach an der Infrastruktur. Und es gab eine gewisse Lässigkeit dabei, diese Angebote zu nutzen.
Sie schreiben in Ihrem Buch Autokorrektur „Die Verkehrswende hat in Deutschland noch nicht mal begonnen.“ Würden Sie das also immer noch unterschreiben? Ja, weil das Gefühl von „Ich werde gesehen“ fehlt, was ich in diesen Städten hatte. In Hamburg gibt es Radwege, aber es ist nicht so, dass es sofort losgehen kann, sondern du musst dich erstmal orientieren. In anderen Städten gibt es das Gefühl, dass ich eine Person bin, um deren Sicherheit man sich bemüht, weil ich nun mal die Schwächste bin im System, nach den Fußgängern, Menschen, die ein bisschen älter sind, und so weiter. Ich finde, dass die aktuellen Debatten zeigen, dass die Verkehrswende überhaupt nicht angefangen hat. Dass ein Verkehrsminister mit seinen Nachbesserungen gegen das Gesetz verstößt und ein Expertenrat sagt, wir beschäftigen uns nicht mal damit. Ich hatte die letzten Tage einen Hänger deswegen und habe auch bei Twitter geschrieben, dass ich einfach nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Ich will nicht in die Konfrontation, das zeigt das Buch hoffentlich auch. Allmählich komme ich aber in die Situation, dass ich sage, wir knacken bald 49 Millionen private Pkw, davon werden aktuell zwei Drittel gewerblich zugelassen, also viele Dienstwagen, auch über Boni. Muss ich da nicht auch meine Strategie mal ändern, weil der Verkehr die Emissionen noch mal gesteigert hat? Wie komme ich an die Leute ran? Nach dieser Tour – ich habe ja bis auf Südeuropa fast alles gesehen– würde ich sagen, alle sind schon anders unterwegs, als wir das sind. Der Bürgermeister von London hat gesagt, in 2030 fahren in meiner Stadt fast 30 Prozent weniger Pkw. Das ist eine Messlatte, das ist etwas, das er erreichen muss. Und das sehe ich bei uns halt einfach nicht, wir haben gar keine Ziele.
Wieso ist das System Auto denn so mächtig in Deutschland? Porschegate habe ich natürlich auch mitbekommen im Urlaub, dass da einfach mal so die Autoindustrie anruft und in die Koalitionsverhandlungen eingreift. Das Buch Lobbyland von Marco Bülow habe ich auch gelesen, was auf diese Drehtüreffekte zwischen Politik, Lobby und Wirtschaft eingeht. Ich finde auch, Volker Wissing als Digital- und Verkehrsminister hat einen guten Antritt gehabt und gesagt: mit mir keine E-Fuels, Plugin-Hybride machen keinen Sinn. Dann war er einmal beim VDA und bei den Autoherstellern und ist komplett umgedreht.
Die systematische Dominanz des Autos haben Sie ja selbst auch nicht vom Kindesalter an hinterfragt. Was hat Ihnen da die Augen geöffnet? Es waren neben dem schon immer vorhandenen persönlichen Interesse an Nachhaltigkeit und vor allem auch Gerechtigkeit unter anderem die Jobs, die ich gemacht habe, zum Beispiel für die Deutsche Bundesstiftung Umwelt mit Förderprojekten in der Richtung. Von da aus bin ich dann in die Logistik und in die Verkehrsunternehmen, da ging es dann auch viel um Barrierefreiheit. Ich habe gelernt, wie wichtig das Thema für Betroffene zu Recht ist. Es gab in dem Prozess jetzt nicht den Punkt Y, aber ich habe gelernt, den Status quo zu hinterfragen, und bekam immer mehr dieses Gefühl, da ist etwas ungerecht und die Welt ist nicht so, wie Verkehrspolitik und Autoindustrie sie uns vorgaukeln. Die Klimakatastrophe ist furchtbar, aber dass wir sie als Anlass brauchen, um mal auf die Mobilität zu schauen, ist schade. Denn ich hätte mir gewünscht, dass wir eher solidarisch auf Mobilität gucken, denn Automobilität ist keine Lösung. Sie ist dann eine Lösung, wenn sie eine von ganz vielen gleichberechtigten Angebotsformen ist. Das ist sie aber nicht, da bin ich dann immer tiefer rein und habe dann gemerkt „Boah, fuck“.
Diese solidarische Brille habenSie auch aufgehabt, als Sie weniger privilegierte Menschen für Ihr Buch interviewt haben. Welche Erkenntnisse haben Sie da überrascht? Ich habe da viel gelernt. Daniela, die im Buch vorkommt, hat mir deutlich vor Augen geführt, dass Automobilität eine unklare Kostengröße ist, weil du ja beim Öffi-Ticket einen festen Betrag zahlst und dann hast du einen Monat deine Ruhe. Sie sagt, dass sie an Tag 31 nicht weiß, was die Kosten sind, weil sie ein altes Auto fährt: Spritkosten, Reparatur und Wartung. Auch das, was die alleinerziehende Anästhesistin gesagt hat: Dass sie sofort die Karre abschaffen würde, weil sie weiß, dass die Zukunft ihrer Tochter darunter leidet, dass sie ein Auto fährt. Das sind prägende Momente gewesen. Es war nicht von Anfang an geplant, diese Interviews zu machen, die Idee kam zu Beginn des Buches. Auch die unterschiedlichen Facetten von Sicherheit, dass vielen Menschen ein roter Knopf nicht ausreicht, wenn sie sich bedroht fühlen. Sondern dass es um Personal geht, um Aufenthaltsräume und Aufenthaltsqualität. Dann kommt man auch zum Thema Barrierefreiheit, die für viele Menschen auch sehr unterschiedlich ist. Menschen, die kognitiv nicht die Fähigkeiten haben, die die Mehrheitsgesellschaft erwartet, die sind schon mit Fahrplänen manchmal überfordert. Freie Wahl des Verkehrsmittels, Sicherheit, Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit, wenn diese Sachen da sind, dann kommt Klimagerechtigkeit ins Spiel.
„Freie Wahl des Verkehrsmittels, Sicherheit, Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit, wenn diese Sachen da sind, dann kommt Klimagerechtigkeit ins Spiel.“
Das sind viele Lektionen aus weniger privilegierten Perspektiven, die oft untergehen. Was muss denn geschehen, damit sie mitgedacht werden? Der größte Faktor ist überhaupt nicht technisch, sondern es geht darum, dass wir zuhören. Dass wir auch aushalten, wenn Leute zu uns sagen „Das passt euch, mir aber nicht“. Das ist auch was, worauf ich bei Volker Wissing noch warte. Er hat, glaub ich, den Expertenrat von Andi Scheuer auch übernommen. Wenn Sie sich die Gruppe anschauen, auf dem Foto stehen erstens alle, sind zumindest optisch ohne Behinderung, sind weiß und haben wohl auch ein gewisses Bildungsniveau, das nicht alle in Deutschland erreichen können. Ich habe bei Twitter gesagt „Kann nicht jemand von den weißen Herren zurücktreten und jemanden vorschlagen, der nicht sich selbst entspricht?“
Ein erstaunlich kleiner Anteil, weniger als fünf Prozent der Führungskräfte in der Mobilitätsbranche, ist weiblich. Wie sollten wir dem begegnen? Ich denke, es geht ganz viel auch um Sichtbarkeit. Das versuche ich ja auch mit dem Podcast SheDrivesMobility, dass ich da Frauen und andere Menschen, die nicht der weißen Mehrheitsgesellschaft entsprechen, zeige und zu Wort kommen lasse. Es geht nicht nur um Frauenförderung, sondern weit darüber hinaus. 50 Prozent gesunde, weiße Frauen in die Führung zu bringen, ist nicht das Endziel, das wir haben sollten. Der Bundestag ist da auch nicht das beste Beispiel. Was wichtig wäre, ist auch mal in die NGOs und in die Zivilgesellschaft zu schauen, welche Verbände da unterwegs sind, und dieses Silo-Denken zu sprengen. Wir sind in der Veränderungs-Bubble immer ganz gut darin, gegeneinander zu schießen. Es gibt die Autoindustrie und uns. Und wir sind halt dieses zerfledderte, heterogene Geflecht. Da gibt es den Fuss e.V., hier den VCD, da den ADFC und so weiter.
Sie kritisieren auch regelmäßig, dass der Mobilitätsbewegung Fantasie für neue Lösungen fehlt.Was kann diese Fantasie fördern? Ganz viel friedliche Guerilla, zum Beispiel der Parking-Day. Und dann so was wie Jan Kamensky, ein guter Kumpel von mir, der solche Visualisierungen macht von Utopien ohne Auto. Ganz viel mit Bildern arbeiten und mit Beispielen aus dem Ausland.
Welches Bild soll denn vermittelt werden? Welche Faktoren machen Städte lebenswert? Dass alle sich bewegen, vor der Haustür. Dass ich alle, die in einem Viertel leben, auch wahrnehme. Und dass der Raum zwischen den Häusern, wie Jan Gehl so schön gesagt hat, wieder den Menschen gehört, dass da Bänke sind und viel Grün. Viel Ruhe und muskelbetriebene, wenn überhaupt elektrische Mobilität. Die Stadt wird wieder zum Begegnungsort.
Gibt es bei der Frage nach einer lebenswerten Stadt etwas, das noch zu wenig Beachtung findet? Was mir gespiegelt wird, ist, dass die Frage „Musst du oder willst du Auto fahren?“ überhaupt nicht thematisiert wird. Leute denken, das Auto ist eine Lösung. Aber ist es eine Lösung, wenn man keine Wahl hat? Oder ist es nicht vielmehr eine fatale Abhängigkeit? Viele Menschen sind gar nicht aktiv autofahrend, das sind 13 Millionen Erwachsene ohne Führerschein und 13 Millionen Kinder. Das haben mir viele Leute zurückgespiegelt, dass sie an diese große Gruppe nie denken, oder aber denken: Kinder können doch gefahren werden. Nein! Kinder sollten selbst aktiv mobil sein dürfen – das entlastet letztlich auch den Kalender der Eltern. Viele Leute denken in ihrer eigenen Mobilität. Und übersehen dabei die Bedürfnisse der Menschen neben ihnen.
Wie kommen wir denn zu einer Mobilität, in der sich niemand zum Autofahren gezwungen fühlt? Es braucht erst mal Angebote, aber es braucht auch, dass das Auto sich einreiht in die Möglichkeiten der Mobilität. Und seine Privilegien verliert.Dazu gehört, Parkraum in der Stadt zu verknappen und zu bepreisen. Dass die Leute in vorhandene Parkgaragen fahren, die es ja auch gibt. Dass Ladeinfrastruktur nicht auf Gehwege gebaut wird, sondern in Parkgaragen und auf Supermarktparkplätze. Der Raum in der Stadt darf nicht mehr als Abstellraum für Stehblech missbraucht werden. Dann braucht es auf jeden Fall, gerade wenn ich noch mal auf meine Interrail-Reise gucke, Entschleunigung, also auf 30 km/h und darunter. In dem Moment wirst du auch im Auto wieder zum Mensch, weil dich Leute auch erkennen, und es gibt einen anderen Verkehrsfluss. Außerdem braucht es eine bauliche Trennung, damit meine ich aber nicht den Bau von neuer Infrastruktur, sondern sich die Fläche vom Auto zu holen. Das Ganze, was da als Schmerz empfunden wird in der Auto-Bubble, das ist ja der Schmerz, den alle anderen schon seit Jahrzehnten erleiden. Da kann man, finde ich, auch mal wieder was zurückgeben.
„Das Auto ist nicht erfolgreich, sondern es ist in einem System, das komplett privilegiert ist.“
Wie hat das Auto es in der Straßenhierarchie ganz nach oben geschafft? Ich fand es während der Recherche total erstaunlich, dass wir aus dem Zweiten Weltkrieg mit so vielen Autobahnen rausgegangen sind. Auch in den 40ern und 50ern wurden viele Autobahnen gebaut. Dabei gab es da noch gar nicht so viele Autos, alle sind eher Mopeds gefahren und Fahrräder, weil es billiger war und auch einfacher zu reparieren. Das fand ich echt krass, diesen vorauseilenden Gehorsam, weil Adolf Hitler ja auch den Kraft-durch-Freude-Wagen mit Volkswagen gebaut hat. Dass Wolfsburg sogar mal „Stadt des KdF-Wagens“ hieß. Uff. Das Auto ist nicht erfolgreich, sondern es ist in einem System, das komplett privilegiert ist und andere Mobilitätsformen unattraktiv gemacht hat.
Erfahren Sie zum Beispiel auf Ihrer Buch-Tour eigentlich viel Ablehnung, weil Sie dem Auto an den Kragen wollen? Wie sind die Reaktionen? Es gibt ganz viele im Publikum, die schon aufgegeben haben. Die sagen, nur wegen dir fange ich jetzt noch mal an, mich da zu engagieren. Ich würde sagen, jede zweite Lesung kommt hinterher ein Mensch, der oder die weint, weil sie sagen, „Ich kann das nicht mehr ab, ich will nicht Auto fahren“ oder „Ich fühle mich auf dem Rad so unsicher“. Da entstehen dann auch so kleine Selbsthilfegruppen, an manchen Orten haben die Leute auch Mail-Adressen ausgetauscht und wollten in Kontakt bleiben. Aber viele sind auch so richtig am Ende ihrer aktivistischen Kraft, die sind müde. Das ist dann auch anstrengend für mich, weil es so emotional wird. An manchen Orten sind wir gar nicht zur Lesung gekommen, weil wir direkt losdiskutiert haben. Das ist schon interessant, was das Buch auslöst.
Wie nehmen Sie auf Twitter die Diskussionskultur wahr? Ich habe noch nie so viele tolle Menschen kennengelernt wie über Twitter. Es ist schon so, dass bei Twitter die positiven Dinge überwiegen. Es gibt natürlich auch Eskalation, aber das ist normal, wenn man etwas verändern will. Ich werde da auch von links und rechts gebasht. Den Linken bin ich zu wenig Autofeindin und zu industriefreundlich, für die anderen bin ich die, die Autos und Menschen, die diese fahren, hasst. Das kommt vielleicht auch aus der Vielschichtigkeit des Themas heraus, weil ich intersektional arbeite und diesen Wunsch nach Gerechtigkeit in mir habe.
Sollten Menschen, die mit Radverkehr und Mobilität zu tun haben, beruflich Zeit auf Twitter verbringen? Wenn man nur lesen will und gar nicht in die Interaktion gehen, ist das ein total gutes Informationsmedium, finde ich. Gerade wenn man auch bestimmte Hashtags verfolgt, sich bestimmte Listen macht mit Begriffen oder bestimmten Personen, die man auf dem Schirm behalten möchte, finde ich schon, dass man da auch mal ein bisschen Abseitigeres mitbekommt.
Was ist deine Sicht auf Partizipationsverfahren, die lokale Bedürfnisse und Themen aufzeigen sollen? Ich bin der Meinung, dass man bei der Beteiligung nicht unbedingt von null anfangen sollte. Ich habe das bei den Superblocks in Barcelona zum Beispiel gelernt, dass die mit einer gewissen Vorstellung kommen, was sie machen wollen, und dann mit den Leuten, die vor Ort wohnen, in die konkrete Planung gehen: Wollt ihr Bänke, wollt ihr Sportgeräte, was wollt ihr? Weil das in deren Lebensbereich stattfindet. Da hat die Bürgermeisterin sehr positive Erfahrungen gemacht. In manchen Bereichen gibt es mehr Seniorinnen, in anderen mehr Kinder. Das finde ich zum Beispiel echt cool, weil da auch festgestellt wurde, dass zum Beispiel, wenn Parklets gebaut werden, sich auch drum gekümmert wird. Die verlottern nicht, sondern schaffen eine Identifikation. Bei U-Bahn- oder S-Bahn-Bauten bin ich mir nicht so sicher, ob das immer über Bürgerinnenentscheide gemacht werden kann, weil die nicht so die Kenntnisse haben. Aber fortwährende und transparente Information ist wichtig, denn meist machen Baustellen ja erst mal große Pro-bleme, deswegen ist es so wichtig, immer auch zu zeigen, was da gerade gebaut wird – was der Gewinn der anstrengenden Zeit ist. Beispiel: Wenn man jetzt sagt, man macht ein halbes Jahr einen Versuch, wie jetzt im Graefekiez in Berlin. Da werden Parkplätze rausgenommen und der frei werdende Platz wird anderweitig genutzt. Das wird sowohl wissenschaftlich begleitet als auch durch die Anwohner*innen mitgestaltet. Es wäre sicher auch positiv, dass Menschen, die in anderen Stadtvierteln leben, sich so etwas mal ansehen können.
Sie moderieren seit Neustem für den Hamburger Verkehrsverbund die Serie „Your Turn“ auf Youtube. Worum geht es Ihnen und euch dabei? Gerade haben wir das Format vorgestellt, mit dem Verkehrssenator von Hamburg und der Geschäftsführerin vom HVV. Morgen drehen wir die nächste Folge. Das sind immer Leute, die in Hamburg oder dem Hamburger Umland wohnen und aus ganz anderen Bereichen kommen. Die erste Gästin war eine Fitness-Influencerin, die auch als Model arbeitet und berichtet hat, dass sie viel StadtRad nutzt und auch viel durch Hamburg joggt. Sie hat ihre eigene Sicht, auch in die Zukunft. Ich gehe sehr konkret mit denen in die Verkehrsmittel, unterhalte mich über verschiedene Bereiche von Hamburg. Die dritte Folge werden wir auch im Umland drehen, weil es um jemanden geht, der eher die umländische Mobilität von Hamburg kennt. Also es geht sehr stark natürlich ums konkrete Produkt, aber wir thematisieren auch, wo es eigentlich hingeht mit dem Nahverkehr in Hamburg. So eine Fitness-Influencerin oder ein Sänger oder andere, die wir besuchen werden, haben ja auch immer andere Leute, die sie kennen, sodass man da auch ein bisschen diese Verkehrs-Bubble verlässt.
Worauf kommt es an, wenn Mobilitätsfragen blasenübergreifend stattfinden? Mir wäre es wichtig, dass wir uns nicht mit Verkehrsmitteln identifizieren, auch nicht übermäßig mit dem Fahrrad. Sondern dass wir unseren Blick weiten, auch immer im Sinne von Barrierefreiheit und im Sinne davon, die Bedürfnisse alter oder ganz junger Menschen mitzudenken. Und dass wir da, die wir alle eigentlich ja den Platz vom Auto wiederbekommen wollen, viel mehr zusammenarbeiten. Das zeigt uns die Autoindus-trie. Da gibt es keine Marken mehr, die arbeiten zusammen und das sollten wir auch tun.
https://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2022/10/garbe_Katja_Diehl09-2048x1365-1.jpg13652048Sebastian Gengenbachhttps://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2019/08/veloplan-340x156-300x138.pngSebastian Gengenbach2022-09-15 12:51:032023-06-09 12:56:42„Es geht darum, dass wir zuhören“
Stadtplanung ist kein eindimensionales Feld, sondern betrifft die meisten Facetten der Gesellschaft. Das Fach muss interdisziplinär diversen menschlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht werden. Sabine Baumgart und Andrea Rüdiger zeigen, welche Rolle Gesundheit in der Stadtplanung spielen sollte und mit welchen Mitteln Stadtplaner*innen sich ihr widmen können.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, September 2022)
Gesundheit und Städte sind eigentlich schon lange Themen, die eng beieinanderliegen. Früher schützten Städte vor Gefahren aus der Umgebung, brachten aber auch selbst neue Risiken, wie Krankheiten und Unfälle mit sich. Diesem historischen Verhältnis geht unser Buchtipp auf die Spur, Corona-Pandemie, Affenpocken und Co. sind der jüngste Beweis, dass die Themen auch heute noch nahe beieinanderliegen und vielleicht relevanter denn je sind. „Gesundheit in der Stadtplanung“ ist der vierte Band der Edition Nachhaltige Gesundheit und setzt das Oberthema in Bezug zu vielen städtebaulichen Handlungsfeldern, etwa Wohnen, Arbeiten, Baukultur und Mobilität. Nachdem sie diese Handlungsfelder in Beziehung zueinander setzen, widmen die Autorinnen mehr als die Hälfte der Seiten der aktiven Stadtplanung. Sie erklären, auf welche rechtlichen Instrumente sich Städtebau stützen darf, welche Akteure Städteplaner*innen unbedingt einbeziehen sollten und welche Daten und Informationen sich als Basis guter Planung eignen.
Die Bücherreihe „Edition Nachhaltige Gesundheit in Stadt und Region“ besteht aus fünf Werken, die zwischen 2018 und 2022 im Oekom-Verlag erschienen sind. Drei der Bücher, zwei davon mit dem Schwerpunkt Hamburg, stehen unter Open-Access-Lizenz. Interessierte können sie in digitaler Form kostenlos beziehen. Band 1, ebenfalls kostenlos zum Download, thematisiert die nachhaltige und gesunde Stadt der Zukunft, während der dritte Band gesunde Quartiere beleuchtet. Die Reihe wird unterstützt von der Fritz und Hildegard Berg-Stiftung im Stifterverband.
Gesundheit in der Stadtplanung: Instrumente, Verfahren, Methoden. Edition Nachhaltige Gesundheit in Stadt und Region (Band 4) | von Sabine Baumgart & Andrea Rüdiger | Oekom Verlag | 1. Auflage 2022 |490 Seiten, Softcover | ISBN 978-3-96238-301-5 | 40,00 Euro
https://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2019/08/veloplan-340x156-300x138.png00Markus Fritschhttps://www.veloplan.de/wp-content/uploads/2019/08/veloplan-340x156-300x138.pngMarkus Fritsch2022-09-15 12:51:032023-06-09 12:56:27Gesundheit in der Stadtplanung
In Deutschland kann man Radverkehr studieren. An sieben Hochschulen und Universitäten landesweit. Die Kurzporträts der Professorinnen und Professoren, die zum Thema Fahrrad lehren und forschen, zeigen, wie vielfältig das Feld ist.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)
Rad mit Rückenwind – so betitelte das Bundesministerium für Verkehr und Infrastruktur (BMVI) seine Studie über Mobilität in Deutschland. Tatsächlich findet sich mittlerweile in 80 Prozent der hiesigen Haushalte (mindestens) ein Fahrrad, pro Tag werden 257 Millionen Wege mit dem Velo zurückgelegt und dem Umweltbundesamt zufolge ließen sich zumindest in der Theorie bis zu 30 Prozent der Autofahrten durch das Rad ersetzen. Doch in der Praxis erfordert mehr Fahrradverkehr andere Infrastrukturen, anderes Mobilitätsmanagement und eine andere, fahrradfreundlichere Gesetzgebung. Damit das Rad künftig im Verkehr von Anfang an mitgedacht und -geplant wird, hat das BMVI Anfang 2020 sieben Stiftungsprofessuren Radverkehr vergeben, von denen aktuell sechs besetzt sind (die siebte in Karlsruhe interimsmäßig durch Prof. Dr. Joachim Eckart). Seitdem ist Radfahren Studienfach. Wer sind die Menschen hinter den Professuren, die Studierende zu wichtigen Radverkehrsaspekten ausbilden und interdisziplinär zu nachhaltiger Mobilität forschen sollen? Wo liegen ihre Arbeitsschwerpunkte und was haben sie bisher erreichen können? Ein Überblick.
„Wir sind an einem Punkt in der Geschichte, wo wir es uns nicht mehr erlauben können, 20 oder 30 Jahre zu warten, um auf klimafreundliche Mobilität umzusteigen.“
Prof. Dr. Dennis Knese
Prof. Dr.-Ing. Dennis Knese
Frankfurt University of Applied Sciences
Vorherige Tätigkeiten unter anderem: Berater für nachhaltige Mobilität bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit; wissenschaftlicher Mitarbeiter für Elektromobilität, Stadt- und Verkehrsplanung an der Frankfurt University
Lehr-/Forschungsschwerpunkte: In Frankfurt gibt es keinen separa-ten Radverkehrsstudiengang, das Thema wird in verschiedene Studiengänge integriert. Je nach Studiengang behandelt Dennis Knese entsprechend verkehrsplanerische, ökonomische oder logistische Themen. In der Forschung arbeitet er im Research Lab for Urban Transport (ReLUT) und beschäftigt sich mit Mobilitäts- und Logistikthemen, zum Beispiel zu neuen Konzepten für die Straßenraum- und Infrastrukturgestaltung, die Auswirkungen von elektrischen Fahrrädern und Kleinstfahrzeugen sowie Potenzialen und Herausforderungen der Radlogistik.
Ziele in dieser Position: Wege aufzuzeigen, wie sich das Fahrrad noch stärker als Mainstream-Fortbewegungsmittel und wichtige Säule im Verkehrssystem neben ÖPNV und Fußverkehr etablieren kann. „Wir sind an einem Punkt in der Geschichte, wo wir es uns nicht mehr erlauben können, 20 oder 30 Jahre zu warten, um auf klimafreundliche Mobilität umzusteigen. Die Bevölkerung muss verstehen, dass jeder seinen Beitrag leisten kann, um einerseits die dramatischen Auswirkungen des Klimawandels zu reduzieren und andererseits lebenswertere Städte zu schaffen“, sagt er. Dazu sei eine sachliche Diskussion nötig, die das Fahrrad als gleichberechtigtes Verkehrsmittel in Gesetzgebung, Verkehrspolitik und Planung berücksichtigt, zum Beispiel durch eine veränderte Straßenraumaufteilung, gut ausgebaute Radwegenetze und stärkere Anreizsysteme für nachhaltige Verkehrsangebote.
Persönliche Bedeutung des Fahrrads: Das Fahrrad gehört seit frühester Kindheit zum Alltag von Dennis Knese. „In meiner Heimatregion, dem Emsland, war es völlig normal, dass wir mit dem Fahrrad zur Schule, zum Sport oder ins Stadtzentrum fahren“, erzählt er. Seit seiner Studienzeit ist er multimodal unterwegs, das heißt, er nutzt das Verkehrsmittel, welches er für den jeweiligen Zweck als am geeignetsten erachtet – zumeist das Fahrrad oder die Öffentlichen. „Ein eigenes Auto brauchen meine Familie und ich in Frankfurt nicht“, ist er überzeugt.
„Mein Ziel ist es, dass jeder Mensch an jedem Wohnort die freie Verkehrsmittelwahl und damit eine echte Alternative zum Auto hat.“
Prof. Dr.-Ing. Martina Lohmeier
Prof. Dr.-Ing. Martina Lohmeier
Hochschule Rhein Main Wiesbaden
Vorherige Tätigkeiten unter anderem: Studiengang Mobilitätsmanagement und Studiengangsleitung Master Nachhaltige Mobilität, promovierte Bauingenieurin (Raum- und Infrastrukturplanung), Erfahrung als Planungs- und Projektingenieurin in der Verwaltung und im Consultingbereich
Lehr-/Forschungsschwerpunkte: Martina Lohmeier hat sich bewusst in Wiesbaden beworben, da ihr die Kombination der verschiedenen interdisziplinären fachlichen Ausrichtungen der Kolleginnen und Kollegen im Bereich Mobilitätsmanagement gefiel. Sie möchte die Master- und Bachelorstudiengänge mitgestalten, in der Lehre liegen ihre Schwerpunkte bei der Planung und dem Entwurf von Rad- und Fußverkehrsanlagen, aber auch beim Management, also Betrieb, Erhaltung und Instandsetzung selbiger. In der Forschung haben sich im vergangenen Jahr drei Themenkomplexe stärker entwickelt: Gender-Mainstreaming (das heißt, unterschiedliche Auswirkungen für Männer, Frauen und Divers berücksichtigen), innovative Zustandserfassung und -bewertung von Radverkehrsinfrastruktur sowie die Beschreibung von Anforderungen an die urbane Radverkehrsinfrastruktur zur Förderung von Radlogistikkonzepten.
Ziele in dieser Position: Motivierte Fachmenschen mit einem frischen, aber auch kritischen Blick auf die Planungspraxis möchte Martina Lohmeier aus- und weiterbilden. Sie sollen in ihren zukünftigen Jobs in der Verwaltung, in Ingenieurbüros, bei Verkehrsträgern, bei Anbietern von Sharingangeboten oder in Firmen, die innovative Lösungen im Verkehrssektor (er-)finden, aktiv zur Verkehrswende beitragen und neue Ansätze selbstbewusst umsetzen. Denn nur dann sei es möglich, die Maximen, nach denen zuerst der motorisierte Verkehr geplant wird und dann erst der Platzbedarf für Fahrräder und Fußgänger, umzudrehen. „Mein Ziel ist es, dass jeder Mensch an jedem Wohnort die freie Verkehrsmittelwahl und damit eine echte Alternative zum Auto hat“, fasst sie zusammen.
Persönliche Bedeutung des Fahrrads: Vor dem Eintritt ins Berufsleben war das Fahrrad Martina Lohmeiers Hauptfortbewegungsmittel. „Ich habe mir darüber gar keine Gedanken gemacht, es stand einfach immer bereit“, erinnert sie sich. Nachdem es durch einen Umzug eine Weile dann fast aus ihrem Leben verschwunden war, spielt es nun wieder eine große Rolle – natürlich aus beruflichen Gründen und „weil ich jetzt ein Pedelec habe“, wie sie sagt.
„Mich begeistert das Fahrrad mit seiner Einfachheit und gleichzeitigen Perfektion.“
Prof. Dr. Angela Francke
Prof. Dr. Angela Francke
Universität Kassel
Vorherige Tätigkeiten unter anderem: Promotion an der Professur für Verkehrspsychologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for International Postgraduate Studies of Environmental Management (CIPSEM), Professur für Verkehrspsychologie an der TU Dresden
Lehr-/Forschungsschwerpunkt: Seit zehn Jahren forscht Angela Francke zu nachhaltiger Mobilität. Ganz aktuell bearbeitet sie mit ihren wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Fachgebiet verschiedene Forschungsprojekte, unter anderem zum 9-Euro-Ticket, zu Alleinunfällen bei Radfahrenden und deren Ursachen oder zum Einfluss von disruptiven Ereignissen auf eine nachhaltige und resiliente Verkehrsplanung in Städten am Beispiel der Corona-Pandemie, der Klimakrise sowie in Braunkohlefolgeregionen. Ein Schwerpunkt sind zudem internationale Projekte, zum Beispiel zur Förderung von Rad- und Fußverkehr in Ostafkrika.
Ziel in dieser Position: Die Fahrradnutzung und der Umweltverbund insgesamt haben Angela Franckes Meinung nach viel Potenzial, hier werde mehr Forschung benötigt. Sie möchte mit ihrer Arbeit dazu beitragen, Radverkehr und umweltfreundliche Mobilität weiterzuentwickeln, um von der autozentrierten zur menschenzentrierten Perspektive in der Verkehrs- und Stadtplanung zu kommen. „Es ist für mich eine Herzensangelegenheit, den Radverkehr zu steigern und ihm die Wertigkeit zu geben, die er haben sollte“, sagt sie. Mit Freude sieht sie, dass das Fahrradfahren seit einigen Jahren mehr Aufmerksamkeit in der breiten Öffentlichkeit erfährt, „für eine weitere Steigerung benötigen wir mehr Wissen und gut ausgebildete Fachkräfte“. Eine Ausbildung in Radverkehr und nachhaltiger Mobilität insgesamt ist im neuen Master „Mobilität, Verkehr und Infrastruktur“ an der Uni Kassel möglich. Angela Francke möchte ein Testfeld für nachhaltige Mobilität aufbauen, um damit über Studien im Feld, im Fahrradsimulator und über Befragungen noch mehr über die Radfahrenden, Nicht-Radfahrenden und ihre Bedürfnisse zu erfahren. Darüber hinaus ist die subjektive Sicherheit für die Radverkehrsförderung ein zentrales Thema ihrer Arbeit. Sie sieht das Thema nachhaltige Mobilität als eine globale Aufgabe und ist international tätig, vor allem in Sub-Sahara-Afrika und Osteuropa.
Persönliche Bedeutung des Fahrrads: Angela Francke sammelt seit ihrer Jugend historische Fahrradtypenschilder und Fahrräder und interessiert sich für die Technik- und kulturelle Geschichte des Fahrrads in Vergangenheit und Zukunft. „Mich begeistert das Fahrrad mit seiner Einfachheit und gleichzeitigen Perfektion, seit Jahrzehnten quasi unverändert. Ich mag es, dass ich die Umwelt ganz direkt wahrnehmen kann und mit Muskelkraft unterwegs bin“, schwärmt die Professorin, die privat hauptsächlich mit einem sportlichen City-Bike fährt.
Prof. Dr. Jana Kühl
Ostfalia Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Vorherige Tätigkeiten unter anderem: Referentin Verkehrsplanung/neue Mobilitätsformen NAH.SH GmbH, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der AG Kulturgeographie am Geographischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Raumordnung und Planungstheorie an der Technischen Universität Dortmund, wissenschaftliche Mitarbeiterin Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung Dortmund
Lehr-/Forschungsschwerpunkte: Jana Kühl beschäftigt sich insbesondere mit gesellschaftlichen Herausforderungen zur Realisierung einer (Rad-)Verkehrswende. Neben verkehrlichen Fragen geht es um die Verknüpfung von Radverkehr mit Stadt- und Regionalentwicklung, Tourismus, Sport sowie Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. Gleichzeitig gehört es zum Job, im Rahmen der Lehre zukünftige Fachkräfte verschiedenster Fachdisziplinen für Radverkehrsthemen zu begeistern und Studierende im Verkehrswesen zu Fachleuten auszubilden, mit deren Expertise Mobilität zukünftig nachhaltiger und vielfältiger wird.
Ziele in dieser Position: Junge Menschen fachlich zu qualifizieren sowie Radverkehrsbelange in ihrem Tätigkeitsfeld sinnvoll und integriert einzubringen, sieht Jana Kühl als ihre Aufgabe. „Darüber hinaus möchte ich mit meiner Lehr- und Forschungstätigkeit ein Bewusstsein für bestehende Ungleichgewichte in der Verkehrsplanung fördern und gleichzeitig durch Erkenntnisse zur Lösungsfindung sowie zu einem Umdenken und Umsteigen im Verkehr beitragen“, sagt sie, denn ihrer Meinung nach ist „Radfahren vielerorts aufgrund von Defiziten in der Infrastruktur sowie aufgrund fehlender Sensibilität von Autofahrenden immer noch viel zu gefährlich und unattraktiv.“
Persönliche Bedeutung des Fahrrads: Da sie selbst nicht Auto fährt und sich nicht auf die Öffentlichen verlassen möchte, ist das Fahrrad Jana Kühls „zentrale Mobilitätsgarantie. Es ist flexibel und in der Stadt auch schnell“. Für sie bedeutet Radfahren mobil und aktiv sein, ohne anderen Menschen oder der Natur zu schaden: „Für mich persönlich ist das Radfahren eine interaktive Form der Mobilität.“
Prof. Dr.-Ing. Heather Kaths
Bergische Universität Wuppertal
Vorherige Tätigkeiten unter anderem: Promotion zur Modellierung des Radverkehrs an der TU München, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Verkehrstechnik der TU München, Forschungsgruppenleitung am Lehrstuhl für Verkehrstechnik der TU München
Lehr-/Forschungsschwerpunkte: Heather Kaths forscht in puncto Modellierung und Simulation des Radverkehrs sowie zu intelligenten Verkehrssystemen. Zu ihrer Arbeit gehören zudem die Datenerhebung und -analyse im Radverkehr und die Konstruktion eines Fahrradsimulators, in dem sich in virtueller Umgebung die Wirkung verschiedener infrastruktureller Maßnahmen testen lässt.
Ziele in dieser Position: In ihrer Professur möchte Heather Kath in dem Umfang Wissen über den Radverkehr sammeln, in dem wir es über den Autoverkehr schon lange haben. Es soll entsprechend genutzt werden, um die Architektur des Straßenraums einladender zu gestalten. Sie möchte dem Thema Radverkehr mehr Öffentlichkeit verschaffen. Das heißt: nicht nur möglichst viele Studierende erreichen, sondern auch mit Verkehrspsychologen, Städteplanern und Menschen aus dem Bauingenieurswesen an einer fahrradfreundlichen Zukunftsversion arbeiten und Strukturen schaffen, die genutzt werden können.
Persönliche Bedeutung des Fahrrads: In München erledigte Heather Kaths 99 Prozent der Wege mit dem Fahrrad. „Wuppertal ist aber recht bergig und es gibt wenig Platz für den Radverkehr, da ist es nicht mehr so einfach mit dem Rad, gerade mit Kinderanhänger“, gesteht die Ingenieurin, die früher auch viel Rennrad gefahren ist, aber: „Wir haben jetzt Longtail-E-Bikes bestellt, auf denen die Kinder hinten Platz haben.“
„Radverkehrsplanung umfasst nicht nur das Bauen von Radwegen.“
Prof. Dr. Christian Rudolph
Prof. Dr.-Ing. Christian Rudolph
TH Wildau
Vorherige Tätigkeiten unter anderem: Leiter der Forschungsgruppe Last Mile Logistik und Güterverkehr am Institut für Verkehrsforschung beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e. V. (DLR)
Lehr-/Forschungsschwerpunkte: Die künftigen Radverkehrsplanerinnen und -planer erlernen unter anderem den sicheren Umgang mit Verkehrsdaten und Digitalisierungstrends. Beleuchtet werden außerdem Technologien zur Verknüpfung vom Radverkehr mit anderen Verkehrsmitteln genauso wie betriebswirtschaftliche Belange, zum Beispiel für den Betrieb von Bike-Sharing-Systemen. Dazu befähigt der Studiengang die Studierenden, Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu interpretieren und richtig anzuwenden. Christian Rudolph erforscht darüber hinaus, wie die Radverkehrsförderung noch besser klappen kann, auch wenn das Kosten-Nutzen-Verhältnis aufgrund der geringen Siedlungsdichte gering ist.
Ziele in dieser Position: „Radverkehrsplanung umfasst nicht nur das Bauen von Radwegen. Ich würde mir wünschen, dass der Radverkehr die gleiche Akzeptanz wie in unseren Nachbarländern Dänemark und den Niederlanden erfährt“, sagt Rudolph, der in den vergangenen Jahren bereits einen Willen zum Wandel, aber auch einen Mangel an Fachkräften in Städten und Gemeinden erkannt hat.
Persönliche Bedeutung des Fahrrads: Christian Rudolph nutzt das Fahrrad quasi jeden Tag für den Einkauf und für die Kinderlogistik. „Es ist einfach das schnellste Fortbewegungsmittel auf Wegen bis ca. sechs Kilometern“, sagt er. Auch in der Freizeit und im Urlaub ist er gern mit dem Fahrrad unterwegs, denn: „Es macht einfach Spaß und man bekommt seine Umwelt direkt mit – Bewegung inklusive.“
Bilder: stock.adobe.com – luckybusiness, Friederike Mannig, FG Mobilitätsmanagement, Markus Weinberg, Andre Hutzenlaub, Christian Rudolph
Corona hat auch den Radtourismus gedrosselt, doch im Hintergrund läuft ein solider Boom. Wie machen sich Spezialisten für den Fahrradtourismus der Zukunft fit?(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)
Man kann nicht behaupten, dass Radtouristiker in den vergangenen zwei Jahren leichtes Spiel gehabt hätten. Auch wenn der Fahrradmarkt boomte und die Menschen sich unter Pandemiebedingungen wieder auf das Fahrrad besonnen haben, so war das Geschäft mit Gästen auf Rädern doch ebenso problematisch wie der gesamte Tourismus. Bei der Active Travel AG, besser bekannt für ihre Radsport-Reisemarke Huerzeler, ging es seit März 2020 jedenfalls ans Eingemachte. Politische Maßnahmen, Zurückhaltung bei Reisenden, Unsicherheiten der Pandemie – mehr als ein Jahr lang war die Stimmung schlecht, die Erlöslage kritisch, Kurzarbeit und Räderverkauf waren Mittel der Krise. „Doch seit dem Herbst 2021 erleben wir etwas ganz anderes“, sagt CEO Urs Weiss. Auf den besten Herbst der Unternehmensgeschichte folgte ein Frühjahr 2022, bei dem Huerzeler seine komplette Rennradflotte fast dauerhaft vermietet und auch mit seinem Pauschalreisen-Angebot enorme Kundenzahlen erreicht hat. „Was die Nachfrage aus Deutschland anbelangt, haben wir 2022 sogar unser Rekordjahr 2019 übertroffen“, sagt Weiss. „Die sportiven Reisen nach Mallorca sind so beliebt, dass wir Probleme hatten, genug Räder vorzuhalten.“ Dank guter Beziehungen zum Hersteller Cube konnte Huerzeler trotz der schwierigen Marktlage aber 400 zusätzliche Rennräder und 200 E-Bikes organisieren, um den wiedererstarkten Radtourismus kommerziell umzumünzen. „Der Radtourismus ist relativ gut davongekommen“, bilanziert Christian Tänzler, der beim Allgemeinen Deutschen Fahrrad Club (ADFC) als ehrenamtlicher Vorstand für Tourismus verantwortlich zeichnet und in seinem Hauptberuf als Sprecher bei visitBerlin arbeitet. Jahr für Jahr stellt der ADFC seine Radreiseanalyse vor, und die Zahlen für 2020 und 2021 dokumentierten einen Rückgang gegenüber den Jahren davor. „Man darf allerdings nicht vergessen, dass der Tourismus in der Pandemie bis Juni 21 durch Lockdowns quasi nicht mehr möglich war“, sagt Tänzler.
Sprunghafte Rückkehr zu neuer Normalität
Schaut man mit diesem Gedanken erneut auf die Zahlen, dann ist ein erheblicher Sprung im Jahr 2022 zu erwarten. „Die Pandemie hat zu einem Bewusstseinswandel geführt, das Fahrrad als Fortbewegungsmittel ist wesentlich interessanter geworden“, sagt Tänzler. Immer stärker verbreitet haben sich E-Bikes auch als hochwertige Räder für längere Strecken, was wiederum die Fantasien der Touristiker mit Blick auf zahlungskräftige Kundschaft beschwingt, die auch mal ein paar Kilometer mehr pro Tag zurücklegen und auf ihren Reisen so noch mehr erleben können. Radtourismus, sagt Tänzler, ist auch für die Anbieter rundum attraktiv geworden. Fünf-Sterne-Hotels zeigten sich fahrradfreundlich, Radfahren habe ein positives, umweltfreundliches Image und für immer mehr Menschen gehört das Fahrrad zum Lifestyle. Gute Bedingungen also für langfristiges Wachstum, wenn Kommunen investieren, personelle Ressourcen für die Planung aufbauen und die Infrastruktur für die Radler verbessern. Ein Aspekt, den ADFC-Tourismusvorstand Christian Tänzler betont, ist der relevante Anteil von Tages- oder Kurz-Trips in der Gesamtzahl der Bewegungen in einer Fahrraddestination. „In der Pandemie hat es einen klaren Trend zu Microadventures gegeben, zu kleinen Ausflüchten ins Umland, bei denen die Menschen positive Impulse für ihre Gesundheit und ihr Seelenheil suchen“, sagt Tänzler. Diese Kundinnen sind für touristische Destinationen von hoher Bedeutung, sie bringen Umsatz beispielsweise für die Gastronomie und sind ein Gradmesser, ob eine Destination attraktiv für Radtouristinnen und -touristen ist und weiteres Potenzial hat.
„Diese konstante Erneuerung und Bereitschaft, Überliefertes abzulösen, ist für eine touristische Destination sehr wichtig“
Tilman Sobek, absolutGPS
Eine gute Tourismusdestination bietet für verschiedene Zielgruppen ein reichhaltiges Anbebot, das über eine abwechslungsreiche Streckenführung hinausreicht. Keine leichte Aufgabe.
Für Tilman Sobek, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens absolutGPS aus Leipzig, ist der Blick auf diese oft unterschätzte Zielgruppe nicht neu. In manchen Regionen mache der Anteil der Tagesausflügler mehr als die Hälfte der Kundschaft aus, aber auch in ausgeprägten Radtourismusgebieten mit starkem Fernverkehr seien es meist 15 bis 30 Prozent. Auch die ADFC-Daten zeigen, dass immerhin 14,2 Prozent der Radreisenden nur drei Nächte oder weniger reisen. Für eine touristische Destination sei dieses Publikum allerdings nicht nur Beifang: „Wie überzeugen Sie die Gäste aus der Nähe, dass sie neugierig auf eine meist vertraute Region werden oder noch einmal hinfahren?“, formuliert es Sobek. Für Akteure im Radtourismus ergibt sich daraus ein Zwang zur Innovation, sagt Sobek. „Sie brauchen konstant neue Anstriche, das ist wie bei den erfolgreichen Betriebssystemen von Apple oder Google.“ Damit eine Destination attraktiv in der Wahrnehmung bleibt, müssten die Verantwortlichen trotz aller Eingebundenheit ins Tagesgeschäft bereit sein, jedes Jahr etwa 10 bis 20 Prozent ihres Angebots zu überarbeiten. Das kann das Foto- oder Videomaterial sein, die Präsenz in sozialen Medien oder eben auch die Arbeit am Kern der touristischen Streckenangebote. „Diese konstante Erneuerung und Bereitschaft, Überliefertes abzulösen, ist für eine touristische Destination sehr wichtig“, beobachtet Sobek.
Konstante Weiterentwicklung gehört zwingend dazu
Diese Notwendigkeit zur dauerhaften Evolution kennt Petra Wegener nur zu gut. Wegener ist Geschäftsführerin des Weserbergland Tourismus e. V. in Hameln und verantwortlich für die beliebteste Radroute Deutschlands, den Weser-Radweg. Er rangiert in der ADFC-Radreiseanalyse mit 13,9 Prozent der Reisenden noch vor Elberadweg und Main-Radweg als meistbefahrener Radfernweg des Landes. Allerdings war es ein gehöriger Niedergang, der dem heutigen Triumph vorausging. Schon früh gab es zwar für damalige Verhältnisse ordentliche Wege entlang der Weser, schon in den Achtzigern war damit zunächst zwischen Höxter und Holzminden und später dann bis zur Nordsee eine Radroute erschaffen. „Man hielt das allerdings für einen Selbstläufer und investierte nichts mehr in die Infrastruktur und das Angebot“, erinnert sich Wegener. Erst 2008/9 gingen die Touristiker mit externer Beratung die Renovierung des Angebots an. „Es hat insgesamt etwa zehn Jahre gedauert, bis wir das heutige attraktive Angebot erfahrbar gemacht haben“, sagt Wegener und macht keinen Hehl daraus, dass diese Zeit für sie als Touristikerin sehr mühevoll war. Schließlich muss sich ihr Verein für den Weser-Radweg mit 16 Landkreisen und den darin liegenden Kommunen arrangieren, um das Produkt als Ganzes nach vorne zu bringen. Heute ist ihr Verein für die Gestaltung und das Marketing des Weser-Radwegs zentral zuständig, finanziert von nur vier Landkreisen und den angeschlossenen Städten und Gemeinden, aber zum Wohle der gesamten Strecke zwischen Mittelgebirge und Küste aktiv. „Wir müssen die Menschen immer wieder dazu bringen, dass sie das Gesamtbild der touristischen Route sehen“, sagt Wegener. Früher habe jeder nur an seinem Teilstück gearbeitet. Doch so habe kein orchestriertes, für Gäste attraktives Gesamtpaket entstehen können. Inzwischen hat man, auch dank Millionenförderungen aus EU-Mitteln, die Infrastruktur auf der gesamten Strecke verbessert und die Qualität des touristischen Angebots in einer etablierten Reiseregion mit Blick auf die Radfahrenden deutlich angehoben. Wegener hat hierfür mit dem ADFC zusammengearbeitet und die Strecke von den Experten des Verbands prüfen lassen. Anfangs war die Qualität sowohl der Wege als auch der touristischen Angebote zu gering, um in die Zertifizierung zu gehen – inzwischen verweist Wegener mit Stolz auf die vier Sterne für die ADFC-Qualitätsradroute. Spricht man mit Wegener, dann wird schnell klar: Der Weser-Radweg ist nicht nur eine Route, an der Hotels und Biergärten stehen. Er ist ein touristisches Paket, das als solches erkennbar wird. Der Weser-Radweg bietet ein Erlebnis, nämlich die Tour von den Höhenzügen bis ans Meer, und zudem eine pittoreske Kulisse mit Schlössern, Burgen und weiteren Sehenswürdigkeiten in enger Taktung. „Wir wissen um diesen Kern und steigen deswegen nicht auf jeden kurzfristigen Trend ein“, sagt Wegener. Was allerdings keine Abwehrhaltung gegen Neuerungen bedeutet, im Gegenteil: Mit E-Bike-Tourismus hat man sich in Hameln schon früh beschäftigt, inzwischen ist eine klare Verjüngung der Zielgruppen auf dem Radweg zu sehen. „Corona hat das Verhalten der Menschen sehr verändert“, sagt Wegener, und so muss sich ihr Verein nun auf Marketing in neuen Kanälen einstellen: Onlinemarketing ist für sie sehr wichtig, Instagram ein zunehmend bedeutsamer Kanal, der Radweg hat sogar eine eigene App. „Im Zuge dieser Weiterentwicklung geht es auch stärker darum, die Nachhaltigkeit des Reiseangebots zum Thema zu machen und auch in unserer touristischen Arbeit den Klimawandel in den Blick zu nehmen“, sagt Wegener.
Die aktuelle ADFC-Radreiseanalyse zeigt die derzeit beliebtesten Fernradwege von Radreisenden.
Perspektivwechsel und mehr Investitionen gefragt
Geht es nach Tanja Brunnhuber, dann gibt es beim Radtourismus gerade in Deutschland noch viel zu tun. „Es hakt bei der Investitionsbereitschaft der kommunalen Politik, es hakt aber oft auch noch beim Thema fahrradfreundliche Betriebe“, sagt die Gründerin des Beratungsunternehmens Destination to Market. Ihr Kernargument: Wer mit Radreisenden Erfolg haben wolle, müsse die Perspektive wechseln. „Häufig denken die Touristiker noch angebotsorientiert, nicht nachfrageorientiert“, sagt Brunnhuber. Der Perspektivenwechsel bedeute, nicht Übernachtungsmöglichkeiten und Gaststätten zusammenzusammeln, sondern aus Sicht von Radurlaubern auf eine Region zu schauen, eben „nutzerorientiert denken“, wie es heutzutage heißt. Und das funktioniert aus ihrer Sicht nur, wenn der Radtourismus als Inszenierung funktioniert, wenn die empfohlene Kirche geöffnet, gute Abstellmöglichkeiten vorhanden und die Beschilderung radfahrfreundlich ausfalle. „Ganz weit vorne sind hier österreichische Gebiete, etwa Kärnten, wo Radtouristinnen und -touristen Pakete in rundum guter Qualität vorfinden.“ Es gehe darum, sagt Brunnhuber, dass die Inszenierung auch zur Region passe. Sie hat gerade mitgewirkt an einem Konzept, das jetzt in der Zugspitz-Region/Tourismusregion Pfaffenwinkel umgesetzt wird. „Wenn Sie ein touristisches Produkt entwerfen und im Rahmen eines Beteiligungsprozesses bis zu 50 Kommunen, den Naturschutz sowie unzählige private Eigentümer berücksichtigen müssen, bedeutet das auch Einschränkungen für die Möglichkeiten“, sagt Brunnhuber. So richten sich die Touristiker künftig verstärkt an Tourenfahrer, Rennradlerinnen und explizit auch an Gravelbiker. „Nach unseren Analysen sind gerade Gravelbiker für den Tourismus eine lukrative Zielgruppe, die touristischen Umsatz versprechen und zugleich nicht allzu hohe Anforderungen an die Infrastruktur mit sich bringen“, erklärt Brunnhuber. Dass es nötig wird, mehr Mühe in die Produktentwicklung und die radtouristischen Pakete zu stecken, unterschreibt auch Berater Sobek von absolutGPS. Etwa 200 Destinationen gebe es heute in Deutschland, die um Radtouristinnen und -touristen werben, die Zahl habe sich in relativ kurzer Zeit verdoppelt, „da sehe ich schon einen Boom.“ In diesem Markt reiche es nicht, einfach als weiterer Anbieter für Radtourismus aufzutreten, sondern es gehe um das zielgenaue Schaffen von Touren, die zur Region passen. Sobek hält das Ruhrgebiet für ein sehr gutes Beispiel. Dort habe man sich erst später auf Velotouristen konzentriert, dann aber thematisch passende Erlebnisse geschaffen. „Und es gibt fünf Mitarbeitende, die sich um das Thema kümmern und die touristischen Produkte weiterentwickeln.“ Doch bei aller Konzentration auf qualitätsorientierte Reisende sieht Sobek im Fahrradmarkt noch ein weiteres Thema: Nicht in allen 16 Bundesländern werde es funktionieren, wenn sich die Tourismusvermarktung künftig nur auf die hochpreisigen Segmente konzentriert. Auch für preissensiblere Kundschaft müsse man weiter Angebote schaffen, denn ansonsten würden diese Zielgruppen in günstigere Nachbarregionen fahren und damit potenziellen Umsatz mitnehmen. Klar festzustellen ist, dass die Kommunikation und das Marketing für die Radtouristiker zu immer komplexeren Aufgaben werden. Es reicht nicht, Schilder aufzustellen, Karten und Broschüren zu drucken und Tageszeitungen anzusprechen. Es geht darum, verschiedene Zielgruppen an unterschiedlichen digitalen Orten zu erreichen und dann an die eigene Destination zu binden. Dafür sind auch die Präsenzen der Urlaubsgebiete auf digitalen Navigationsangeboten immer wichtiger, beispielsweise im Angebot von Komoot. Laut ADFC-Radreiseanalyse ist dies die meistgenutzte App der Radreisenden in Deutschland. Mehrere Hundert Tourismusanbieter sind laut Komoot bereits auf der Plattform und werben dort für ihre Destinationen. Als Anbieter braucht man für ein Profil auf Komoot nichts zu bezahlen, kann aber die Reichweite über bezahlte Werbung steigern. „Erster zahlender Kunde waren übrigens die Bikehotels Südtirol, die 2016 für den Bike-Frühling in ihrer Region warben und heute 20.000 Follower auf Komoot haben“, berichtet Jördis Hille, Senior B2B Communications Manager bei Komoot. Das Unternehmen bietet Schulungen an, damit die Touristiker lernen, in dieser digitalen Welt ihre Destinationen zielgenau zu präsentieren.
„Häufig denken die Touristiker noch angebotsorientiert, nicht nachfrageorientiert.“
Tanja Brunnhuber, Destination to Market
Jüngere Radreisende mit höheren Ansprüchen
Erheblich ins Erscheinungsbild investiert hat man auch bei Mallorca-Radreise-Spezialist Huerzeler. Der Anbieter hat nun eine eigene App, macht Storytelling statt nüchterner Kataloge und hat ein Buchungsportal aufgezogen, in dem Rad, Hotel und Flug auf einmal gebucht werden können. Man hat also die Grundlagen für weiteres Wachstum gelegt, sagt CEO Urs Weiss. Dabei haben seine Leute in den vergangenen Monaten einen interessanten Trend bemerkt: Die Touristinnen und Touristen, die zum Rennradfahren beim Traditionsunternehmen kommen, sind inzwischen häufig deutlich jünger. „Unsere Stammgäste der Altersgruppe 50+ kommen nach wie vor, aber ganz neu sind Leute im Alter von 30 oder 40 Jahren“, berichtet Weiss. Die Kunden und Kundinnen sind auch anspruchsvoller. Sie ordern eher die teuersten Räder, sie zahlen mehr. Für den Touristiker ist das an sich eine gute Nachricht, allerdings wird das bei den Hotels künftig zu anderen Kalkulationen führen. Denn traditionell schliefen die Radsporttouristen zu zweit in einem Zimmer, inzwischen geht der Trend zur Einzelbelegung. In der nachwachsenden Zielgruppe scheint die Preisempfindlichkeit sehr viel geringer zu sein. „Dafür achten sie wesentlich mehr aufs Erscheinungsbild“, sagt CEO Urs Weiss. Er kündigt deshalb schon mal an, für diese Zielgruppe modernere Accessoires anzubieten.