,

Die Verkehrswende-Agentur

Über wenige Punkte ist man sich heute im Mobilitätssektor so einig wie darüber, dass der Einsatz von Lastenrädern eine wesentliche Bedingung für ein Gelingen der Verkehrswende ist. Aber welche Räder wo und wie einsetzen? Der Antwort dazu hat sich das Beratungsunternehmen Cargobike.Jetzt verschrieben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


165.000 – so viele Lastenräder mit elektrischer Unterstützung sind laut Zweirad-Industrie-Verband 2022 verkauft worden, ein Zuwachs von 37 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Jemand, den diese Zahl nicht wundert, ist Martin Seißler. „Wir bemerken das direkt bei unseren Projekten. Im privaten Bereich ist das Lastenrad ein echter Selbstläufer geworden“, sagt der Geschäftsführer der Cargobike.Jetzt GmbH. Und auch die Kommunen hätten gemerkt, dass eine Verkehrswende – oder zumindest die Entlastung der Innenstadt – nicht ohne die großflächige Nutzung von Cargobikes ginge.
Die Aufgaben von Cargobike.Jetzt drehen sich ausschließlich um Lastenräder und ihren Sinn und Zweck als Transportmittel. Entsprechend sieht sich das Unternehmen nicht einfach nur als Berater rund ums Cargobike. „Wir sind eine Verkehrswende-Agentur“, so Seißler. Und dann hebt er an zu erklären und man merkt schnell: Das ist sein Thema.

Die Cargobike Roadshow ist ein Format, mit dem Familien und andere Zielgruppen niederschwellig ein Lastenrad antesten können.

Der Glaube an das Lastenrad

Allein in Europa gibt es etwa 200 Lastenradhersteller. Doch wer bringt Ordnung in dieses riesige Angebot? Ende 2020 gründete Martin Seißler mit Arne Behrensen die heutige GmbH „mit dem Ziel, die Verkehrswende mit dem Cargobike voranzubringen“. Und zwar, indem man den Menschen in allen Bereichen hilft, sich in dem Angebot an Lastenrädern zurechtzufinden. Da geht es zunächst um den bereits angesprochenen privaten Bereich, aber auch um den
gewerblichen – Cargobikes für Unternehmen in allen möglichen Variationen – und um den öffentlichen Sektor. „Was wir damals, als wir anfingen, vor allem brauchten, war Netzwerk-Erfahrung“, erklärt Seißler, „und die hatten wir beide.“ Mittlerweile ist aus dem Duo ein Unternehmen mit zwölf Angestellten und einer Vielzahl von Projekten geworden, die sich alle ums Lastenrad und seine Nutzung drehen.
Das Unternehmen sitzt am Franz-Mehring-Platz in Berlin, im Gebäude, in dem auch die sozialistische Tageszeitung „Neues Deutschland“ untergebracht ist. Mehr großstädtisches Ambiente geht kaum, und das passt für eine Verkehrswende-Agentur. Zu Pandemie-Zeiten war hier, wie fast überall, Homeoffice angesagt. „Jetzt ist wieder viel los im Büro in Berlin“, sagt Mitarbeiterin Kirsten Havers. Wie es sich für eine moderne Agentur gehört, läuft trotzdem viel digital, und die Arbeitsplätze werden flexibel zugeteilt.
Kirsten Havers ist bei Cargobike.Jetzt für die Projektkoordination zur gewerblichen Lastenrad-Nutzung zuständig – ein Feld, das noch viel beackert werden muss, wie wir noch sehen werden. Sie hat unter anderem beim BUND zu Themen wie Güterverkehr gearbeitet und ist seit 2021 bei Cargobike.Jetzt.

Bei der Cargobike Roadshow erklären Expert*innen die verschiedenen Modelle und ihre Vor- und Nachteile und bauen damit auch viele Vorurteile ab.

Lastenrad-Streetworker

Das bekannteste Projekt des Unternehmens ist die Cargobike Road-show als Testformat für Privatkunden. Kurztitel: Drei Lastenradexpert*innen und zwölf Lastenräder erobern eine Stadt. Dieses Jahr passiert das 53-mal in Deutschland. „Und diesmal ist die Roadshow erstmals in den östlichen Bundesländern unterwegs“, erzählt Seißler.
Die Organisation der Roadshow läuft über die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundliche Städte in Nordrhein-Westfalen (AGFS). Die Kommunen können sich bei der AGFS als Station der Road-show bewerben. „Die meisten Menschen nutzen das Angebot, weil die jeweilige Stadt noch keine Händler vor Ort hat“, so Seißler. „Sie wollen oft nur kurz vorbeischauen, sind nach drei Stunden immer noch da und haben Räder getestet.“ Und oft kaufen sie kurz danach ein Rad.
„Das Gewerbe ist da viel zögerlicher“, erklärt Seißler, „75 Prozent der Lastenräder dürften heute im privaten Einsatz sein, nur 25 Prozent im gewerblichen.“ Die Hersteller stellen die Räder zur Verfügung und sind Mit-Auftraggeber. „Wir sehen uns dabei als Kuratoren, stellen einen möglichst breiten Fuhrpark zur Verfügung.“ Schließlich sind auch die Interessenten bunt gemischt: Familien mit Kindern, Menschen, die ihren Einkauf transportieren, Menschen, die mit ihrem Hund mobil sein wollen. Schöner Nebeneffekt: „Die Entscheider in den Kommunen nehmen gern teil und lassen sich auf den Lastenrädern fotografieren.“

Lastenmobilität für Unternehmen: „Flottes Gewerbe“

Ein Punkt wird betont, wenn man mit dem Team spricht: Die Beratung der Unternehmen wie der privaten Lastenrad-Interessierten ist immer herstellerneutral. „Es ist uns enorm wichtig, dass das so ist – und die Interessenten und Interessentinnen das auch so wahrnehmen. Wir wollen die Kunden so beraten, dass sie oder er das genau passende Cargobike findet, und das hat zunächst nichts mit dem Hersteller zu tun“, erklärt Seißler.
Das gilt auch bei gewerblicher Nutzung. Um den Abbau des Rückstands der Nutzung im gewerblichen Bereich kümmert sich Projektleiterin Kirsten Havers mit dem vielleicht zweitwichtigsten Projekt Flottes Gewerbe. Das ist ein Projekt, das zusammen mit Städten organisiert wird. „In der Regel wenden sich die Kommunen an uns“, erklärt Havers. „Auch die IHK, die Handwerkskammer und Kreishandwerkerschaft sind oft involviert, sodass wir viele Unternehmen hierbei erreichen können.“
Lokale Unternehmen können sich ebenfalls für einen Lastenrad-Test innerhalb ihres Unternehmens bewerben. „Wir wählen dann acht Unternehmen pro Stadt aus. Dabei achten wir auf eine möglichst breite Streuung.“ In einer offiziellen Auftaktveranstaltung bekommen die Unternehmen ihre Räder übergeben, die sie dann fünf Wochen lang testen. Am Aktionstag gibt es zudem für interessierte Unternehmen die Möglichkeit, Räder vor Ort auf einem Parcours zu testen und sich beraten zu lassen. „Ganz wesentlich sind die Beratungsgespräche. Wir lernen unglaublich viel von den Unternehmen, auf das wir wieder mit den richtigen Angeboten reagieren können – wie ist die Parksituation in der Stadt, wie die Verkehrssituation, gibt es Probleme der Unternehmen, weil ihre Auszubildenden keinen Führerschein haben et cetera.“ Außerdem wird ein Abschlussbericht erstellt und später eine Evaluierung, in der festgehalten wird, welches Unternehmen tatsächlich dann auch in ein Lastenrad investiert hat. „Die Städte haben ein starkes Interesse an weniger belastendem gewerblichen Güterverkehr“, so Havers. Daneben läuft gerade auch das Projekt „Ich entlaste Städte“ an, das – mit anderen Partnern – ähnlich funktioniert (siehe www.lastenrad-test.de). Ein Ziel des Flotten Gewerbes ist auch, über den Kontakt zu Händlern und Servicestellen Grundlagen für Wartung und Instandhaltung der Räder zu schaffen. Denn erst wenn Fragen eines Netzwerkes dafür geklärt sind, können Unternehmen Vertrauen gewinnen in eine erfolgreiche Nutzung von Lastenrädern statt Lieferwagen auf der Last Mile.
Am schwierigsten ist dabei sicher die Einbeziehung von Logistik-Unternehmen, auch wenn es dazu schon erfolgreiche Beispiele gibt – wie etwa die Dreiräder von UPS. Hier spielen vielfältige Anforderungen eine Rolle – unter anderem braucht man auch ein System von Mikrodepots. Dazu müssen viele Partner zusammenwirken.

„Wir wollen die Kunden so beraten, dass sie oder er das genau passende Cargobike findet, und das hat zunächst nichts mit dem Hersteller zu tun.“

Martin Seißler, Cargobike.Jetzt

Martin Seißler hat die Entwicklung der Lastenradnutzung in der vergangenen Dekade an vielen Stellen mitgeprägt. Als Mitgründer und Geschäftsführer von Cargobike.Jetzt will er nun dieser Fahrradgattung zu noch mehr Popularität verhelfen, denn „wir haben wenig Zeit, unsere Städte umzubauen – und es gibt so viele Gründe, auf kleinere und energieärmere Fahrzeuge umzusteigen.“

Leihen und Laden

Ein weiterer wichtiger Aufgabenbereich von Cargobike.Jetzt sind Konferenzen und Fachvorträge. Bei der zweitägigen Nationalen Radlogistik-Konferenz – 2023 am 19. und 20. September in Darmstadt – ist das Unternehmen Organisator, der Radlogistik-Verband Deutschland Schirmherr. Hier werden am ersten Tag Exkursionen zu Orten der Radlogistik veranstaltet, am zweiten Tag trifft man sich zu Workshops. Eine weitere wichtige Konferenz ist die Cargo Bike Sharing Europe in Köln. Alexander Lutz, der den Vertrieb Kommunal bei Cargobike.Jetzt leitet, arbeitete in diesem Bereich und auch er sieht sich vor allem als Netzwerker für das Thema Lastenrad. Er baut die Kontakte zu den Kommunen aus, er weiß: „Das Lastenrad bietet für alle Beteiligten viel größere Chancen, die Verkehrswende aktiv zu beschleunigen. Und es ist ein erster Schritt in die lebenswerte Stadt!“
Als besonders wichtig zum Einstieg in die Verkehrswende sieht Lutz für die Kommunen das Lastenrad-Sharing. „Das liegt uns sehr am Herzen, denn Sharing ist eigentlich so eine Art Einstiegsdroge in die Lastenradnutzung“, sagt er. „Es macht das Rad finanzierbar auch für untere Einkommen und es ist wirklich im Sinne der öffentlichen Daseinsvorsorge. In Köln fand im Mai die Cargobike Sharing Europe im Rahmen der Messe Polis Mobility statt. Lutz kann Beispiele gelungener Sharing- und Leih-Projekte herunterrasseln. Begeistert ist er vom „Stuttgarter Rössle“: Hier kann man sich für mehrere Jahre ein Lastenrad bereits ab 20 Euro (mit regionaler Ermäßigungskarte) im Monat leihen. „Damit schafft man es, den gut Situierten zumindest den Zweitwagen abspenstig zu machen“, sagt er. „Besonders wichtig“, sagt er, „ist auch die Kooperation mit dem Wohnungsbau.“ Stellplatz-Satzungen oder andere Regelungen, bei denen für Neubauten Stellplätze für Lastenräder oder allgemein alternative Mobilität mit eingeplant werden, sorgen quasi für integrierte Umstiegsvoraussetzungen in die schonende Mobilität.

Studien und Servicedienste für Cargobiker in spe

Eine weitere Aufgabe, der sich das Unternehmen widmet, sind Studien, für die Cargobike.Jetzt mit Hochschulen und anderen Partnern zusammenarbeitet. Für eine Hamburger Behörde hat man zusammen mit den Universitäten Wuppertal und Magdeburg über den Infrastruktur-Bedarf von Lastenrädern insbesondere beim Einsatz in der Last-Mile-Logistik gearbeitet. Eine andere Studie behandelte die Potenziale und Wirkungen von Mikro-Depots in Berlin.
„Cargobike.Jetzt ist nicht nur durch die Roadshow direkt für die Endverbrauchenden interessant. Auf der Homepage findet man eine ausführliche Beratung nach Ansprüchen und Nutzung von Lastenrädern und – unser beliebtester Anlaufpunkt – die Kaufprämien-Übersicht für Deutschland und Österreich“, so Lutz. Aber die Homepage ist unter dem Menüpunkt „Tipps“ ohnehin eine Fundgrube: Vom Marktüberblick über Rechtliches zum Personentransport bis hin zur Radwegnutzung von Cargobikes oder den Transport in der Bahn wird alles, was im Zusammenhang mit diesen Rädern Fragen aufwerfen kann, behandelt.
Darauf setzen auch viele, die das Cargobike publik machen und in die moderne Mobilitätsentwicklung implantieren wollen. So auch die Leitmesse der Fahrradbranche, die Eurobike 2023. Sie hat Cargobike.Jetzt als Partner für eine groß angelegte Cargo Area gewonnen.

Prominenter Beirat

Der Beirat von Cargobike.Jetzt liest sich wie ein Who-is-who der New Mobility.

Arne Behrensen

ist Mitgründer von Cargobike.Jetzt. Seit Januar dieses Jahres ist er der politische Lastenrad-Kopf bei Bundesverband Zukunft Fahrrad.

Swantje Michaelsen

ist Bundestagsabgeordnete für die Grünen. Sie bearbeitet vor allem Mobilitäts- und Verkehrsthemen.

Dr. Tom Assmann

ist Vorsitzender des Radlogistik-Verbands Deutschland und arbeitet zudem in der Erforschung und Entwicklung zu urbanen, nachhaltigen Logistiklösungen.

Johannes Reichel

ist Ressortleiter Transport bei der Zeitschrift Logistra.

Katja Diehl

hat mit „Autokorrektur“ einen Spiegel-Bestseller über die Mobilitätswende geschrieben. Sie ist dafür auch mit dem deutschen Wirtschaftsbuchpreis ausge-zeichnet worden.


Bilder: Andreas Lörcher, CBRS, Andreas Domma