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Im Dezember 2023 war die Regierung aus SPD, FDP und Grünen zwei Jahre im Amt. Wie sieht ihre bisherige verkehrspolitische Halbzeitbilanz aus Sicht der Fahrradbranche aus? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Es sollte eine „Fortschrittskoalition“ werden. Das neue Bündnis hatte sich viel vorgenommen. Im 177-seitigen Koalitionsvertrag von 2021 findet sich 72-mal das Wort „Zukunft“, 11-mal ist von „Aufbruch“ die Rede. Doch neben blumigen Worten gibt es kaum etwas zum Thema Mobilität und Verkehrswende. Ein Lichtblick: Die Ampel-Koalitionäre formulierten ihre Absicht, Straßenverkehrsgesetz und StVO so anzupassen, „dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen“.
Der Fahrradbranche fiel ansonsten auf, dass der Begriff „Verkehrswende“ im Koalitionsvertrag überhaupt nicht vorkam. Dem Thema Radverkehr waren ganze vier Zeilen gewidmet, zum Beispiel: „Wir werden den Nationalen Radverkehrsplan umsetzen und fortschreiben, den Ausbau und die Modernisierung des Radwegenetzes sowie die Förderung kommunaler Radverkehrsinfrastruktur vorantreiben.“ Allgemeinplätze.
Für den Radverkehr war der Koalitionsvertrag 2021 daher eine Enttäuschung. Hinzu kam – neutral gesagt – die Überraschung, dass ein FDP-Minister das Ministerium führen sollte. Viele waren davon ausgegangen, dass der Grüne Cem Özdemir Verkehrsminister werden würde. Dessen Haltung zur Verkehrswende war bekannt, Volker Wissing hingegen hier eher ein unbeschriebenes Blatt. In seiner Zeit als Landesminister für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau in Rheinland-Pfalz war er nicht durch eine besonders fortschrittliche Verkehrspolitik aufgefallen.

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Verkehrspolitische Zwischenbilanz

Nach gut zwei Jahren Regierungszeit lässt sich nun eine Zwischenbilanz ziehen. Welche verkehrspolitischen Akzente hat Volker Wissing als Bundesverkehrsminister gesetzt? Hat er die Verkehrswende vorangebracht? In welcher Weise hat er etwas für die Fahrradbranche bewegt?
In den ersten Monaten seiner Amtszeit war auffällig, wie sehr sich Volker Wissing öffentlich bemühte, jede Erwartung zu zerstreuen, er könnte die Rahmenbedingungen für den motorisierten Verkehr verschlechtern oder das Autofahren teurer machen. Die Ablehnung von Tempolimits war sogar im Koalitionsvertrag bereits festgeschrieben worden. Allerdings war nach dem Bundesklimaschutzgesetz (KSG) 2019, das zwei Jahre später als Konsequenz eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts nochmals verschärft wurde, eine klar definierte CO2-Reduktion auch für das Verkehrsressort gesetzlich verpflichtend. Daher stand der Minister unter Druck, hier auch zu liefern.
Doch Volker Wissing schien das KSG nicht weiter zu interessieren. Bisher wurde in jedem Jahr seiner Amtszeit festgestellt, dass der Verkehrssektor die gesetzlichen Vorgaben nicht eingehalten hat und die Reduktionsziele deutlich verfehlt wurden. Für den Minister war dies allerdings kein Anlass, seinen Kurs zu ändern. Stattdessen wurde die Verantwortung weitergeschoben: Nicht Volker Wissing würde die Klimaschutzziele reißen. Es wären die Bürgerinnen und Bürger, die eben mobil sein wollten – so lautete die Begründung seines Parteichefs Christian Lindner. Der Spiegel nannte diese Haltung eine „Verweigerung des Klimaschutzes“ und „Nichtstun als Methode“.

Dass die Radinfrastruktur noch nicht gerade perfekt ist, ist offensichtlich, aktuell wird aber das Bemühen, daran etwas zu ändern, ausgebremst.

Was kümmert mich das Klimaschutzgesetz?

Mit seinem offensichtlich gesetzeswidrigen Verhalten ist Volker Wissing natürlich ein nicht unerhebliches Risiko eingegangen. Deshalb haben er und seine Partei mit dafür gesorgt, dass das KSG in der Weise geändert werden soll, dass es künftig keine separaten Reduktionsziele für den Verkehrssektor mehr gibt, sondern nur noch ein Gesamtpool aller Sektoren betrachtet wird. Das Kabinett hat im Juli 2023 einen entsprechenden Gesetzentwurf verabschiedet, der allerdings noch nicht durch den Bundestag ist (Stand Januar 2024).
Ein Handeln nach dem Motto: „Wenn ich die Vorgaben des Gesetzes nicht einhalten kann, ändere ich einfach das Gesetz“ ist im Hinblick auf das Rechtsempfinden der meisten Bürgerinnen und Bürger und für die politische Moral in Deutschland allerdings verheerend. Es zeigt zudem, wie wichtig der Ampel-Regierung offenbar ein Festhalten am verkehrspolitischen Status quo ist – mit ein bisschen mehr E-Mobilität und verbessertem ÖPNV.
Das temporäre 9-Euro-Ticket sowie nun das 49-Euro-„Deutschlandticket“ für den Nahverkehr ist hingegen ein Punkt, den sich der Verkehrsminister auf der Haben-Seite seiner Bilanz zu Recht ans Revers heften kann.

Planungsbeschleunigung

Ein weiteres wichtiges verkehrspolitisches Thema in den letzten zwei Jahren war die Planungsbeschleunigung für Infrastrukturmaßnahmen. Hier ging es darum, die Genehmigungsverfahren substanziell schneller zu machen. Durch das vom Bundestag im Oktober 2023 verabschiedete Genehmigungsbeschleunigungsgesetz soll sich das ändern, und zwar für alle Bauvorhaben, die im „überragenden öffentlichen Interesse“ liegen. Doch welche sind das? Der Ausbau der Bahn-Infrastruktur war zwischen allen Ampel-Partnern unstrittig. Auch die Einbeziehung von maroden Straßen- und Autobahnbrücken, wodurch lange Staus oder Umleitungen entstehen, waren nachvollziehbar. Ob angesichts der gravierenden Klimaproblematik jedoch auch Autobahnaus- und -neubauten zum „überragenden öffentlichen Interesse“ gehören, darüber wurde lange gerungen. Der Verkehrsminister argumentierte, ohne Straßen gäbe es in Deutschland kein Wachstum und keinen Wohlstand. Schließlich setzte sich die FDP hier durch, die Koalition verständigte sich neben den unstrittigen Themen auf eine Liste von 138 Autobahnvorhaben, bei deren Genehmigung nun unter anderem die Umweltverträglichkeitsprüfung entfällt. Im Sinne der Verkehrswende müsste die Beschleunigung allerdings auch für Radschnellwege und andere bauliche Radwege gelten. Doch was fiel für den Radverkehr ab? Nur der Bau von Radwegen an Bundesstraßen – aber nur dort, weil diese in der Kompetenz des Bundes liegen – soll ebenfalls beschleunigt werden. Tusch!

Standen dem Radverkehr im Jahr 2022 noch 750 Millionen Euro zur Verfügung, so sollen es in diesem Jahr nur noch rund 350 Millionen Euro sein.

Reform des Straßenverkehrsgesetzes

Eine zeitgemäße Reform des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) stand bereits im Koalitionsvertrag. Bisher zielt das Gesetz allein auf die Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs. Klima- und Umweltschutz oder städtebauliche Aspekte spielen keine Rolle. Die Integration dieser Themen ins Gesetz würde den Kommunen mehr Gestaltungsraum vor Ort geben – eigentlich ein klassisches FDP-Anliegen, dass Dinge von denen entschieden werden, die demokratisch legitimiert und unmittelbar betroffen sind: Stichwort Subsidiaritätsprinzip. Nachdem es 2023 endlich einen Regierungsentwurf gab, der von der Fahrradbranche immerhin als „Schritt in die richtige Richtung“ bewertet wurde, scheiterte dieser überraschend im Bundesrat. Also keine Reform, stattdessen gilt das alte Gesetz weiter.

Bis zur Fahrradidylle ist es noch ein weiter Weg. Die Branche und ihre Verbündeten werden kämpfen müssen, um die selbst gesteckten Ziele zu erreichen.

Haushaltsentwicklung

Die Fahrradwirtschaft ist in erheblichem Umfang von der Haushaltskrise des Bundes nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts betroffen. Zunächst wurde im Herbst 2023 durch die Haushaltssperre die gewerbliche E-Lastenrad-Förderung gestoppt, was viele Hersteller von Cargobikes vor massive Probleme stellt. Auch die Bike+Ride-Offensive wurde blockiert. Schließlich beschloss der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages am 18.01.24 Kürzungen in Höhe von 44,6 Mio. Euro bei dem so wichtigen kommunalen Radverkehrs-Infrastrukturprogramm „Stadt und Land“. Fast komplett gestrichen wurde das „Fahrradparken an Bahnhöfen“. Weitere Kürzungen gibt es bei Finanzhilfen zur Unterstützung des Radverkehrs in Ländern und Kommunen und bei der Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans. Die Kritik der Fahrradverbände ist deutlich, zumal beim Haushalt 2024 die Mittel für den Autobahnausbau verschont blieben und zugleich die Mittel für Regionalflughäfen erhöht wurden. Der ZIV spricht in einer Stellungnahme von einem „Schreddern beim Radverkehr und der Verkehrswende“ durch die Ampel-Parteien. Standen dem Radverkehr im Jahr 2022 noch 750 Mio. Euro zur Verfügung, so sollen es in diesem Jahr nur noch rund 350 Mio. Euro sein. Dabei hatte die Verkehrsministerkonferenz der Länder 2023 unterstrichen, dass Deutschland eine Bundesförderung für den Radverkehr von rund 1 Mrd. Euro pro Jahr benötigt, um zum „Fahrradland“ zu werden.
Die EU hat ihren Mitgliedsländern im April als Beitrag zum Klimaschutz erstmals die Möglichkeit gegeben, Fahrräder statt mit dem Standard-Umsatzsteuersatz nur noch mit dem ermäßigten Satz zu belegen. Zum Vergleich: Bus, Bahn und sogar Taxi werden nur mit 7 Prozent MwSt. belegt, das Ausleihen oder der Kauf von Fahrrädern mit 19 Prozent. Die Verbände der Fahrradwirtschaft hatten sich für eine Umsatzsteuersenkung stark gemacht, doch das Finanzministerium entschied anders. Staatssekretär Michael Kellner begründete die Absage auf dem Vivavelo-Kongress im September unter anderem mit einer sehr gut florierenden Fahrradwirtschaft.

Fahrradbeauftragte des BMDV weg

Seit dem 1. Oktober 2023 hat das BMDV keine Radverkehrsbeauftragte mehr. Karola Lambeck wurde auf eine andere Stelle befördert, seitdem ist die Funktion unbesetzt. Frau Lambeck hatte das Amt seit 2018 bekleidet und war auch in der Fahrradbranche durchaus geschätzt. Nun sind personelle Wechsel innerhalb eines Ministeriums nichts Ungewöhnliches. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Position bisher nicht neu besetzt wurde und dass es keine Information darüber gibt, wann beziehungsweise ob es einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin geben wird oder ob das BMDV diese Funktion künftig für entbehrlich hält. Für Letzteres gäbe es angesichts eines personell und strukturell inzwischen deutlich gestärkten Radverkehrsreferats im BMDV sachlich durchaus Argumente. Doch offiziell gibt es keine Erklärungen.Was sagen die
Fahrradverbände?
Mit der radverkehrspolitischen Bilanz der Ampel-Regierung ist in der Fahrradwirtschaft kaum jemand zufrieden. Im Gegenteil: Burkhard Stork, Geschäftsführer des ZIV, kritisiert, dass die Bundesregierung die Orientierung in der Verkehrspolitik verloren habe und appelliert, die Verkehrswende nicht bis zur Bundestagswahl 2025 zu verschleppen: „Wir erwarten, dass schnellstmöglich der Vermittlungsausschuss angerufen wird, um die StVG-Reform zum Abschluss zu bringen.“ Auch der Verband Zukunft Fahrrad sowie der ADFC sind von der bisherigen Regierungsarbeit im Hinblick auf die Verkehrswende enttäuscht und appellieren gemeinsam mit anderen Verbänden der Mobilitätsbranche an die Koalition, „in der verbleibenden Amtszeit ihre Verkehrspolitik stärker an ökologischen und sozialen Kriterien auszurichten“. Hinter den Kulissen fallen die Worte deutlich drastischer aus, aber richtigerweise will man mit der Regierung im Gespräch bleiben. Ein zugespitztes Ampel-Bashing würde zwar gerade gut in den Zeitgeist passen, wäre aber letztlich eher kontraproduktiv. Da ist es klug, sich mit scharfen öffentlichen Statements etwas zurückzuhalten.

Volker Wissing – wes Geistes Kind?

Bundesminister prägen als Person maßgeblich ihr Ressort, und das gilt auch für Volker Wissing und den Verkehrsbereich. Nach gut zwei Jahren zeichnet sich ein klares Bild ab: Sein abgewählter Amtsvorgänger Andreas Scheuer hatte recht, als er den Koalitionsvertrag der Ampel mit den Worten kommentierte: „Schön, dass die Ampel meine Politik der letzten Jahre fortsetzt.“ Allerdings mit einem Unterschied: In der zweiten Hälfte von Scheuers Amtszeit wurde vieles für den Radverkehr bewegt und es wurden höhere Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt. Unter Volker Wissing findet das Gegenteil statt.
Gleich nach seiner Nominierung positionierte sich Wissing massiv als Anwalt der Autofahrer. Das hätte noch taktischer Natur sein können, aber der Minister meint es ernst mit der Überzeugung, dass der Kfz-Verkehr die Grundlage unseres Wohlstands ist. Wie seine Vorgänger ist er zuallererst Autominister, vielleicht mit einer Einschränkung: ÖPNV (Ländersache) und die Bahn scheinen ihm wichtiger zu sein, Stichwort Deutschlandticket. Aber das Fahrrad?
Die Fahrradbranche sah es als positives Signal, dass Volker Wissing höchstpersönlich am 7. April 2022 zum Parlamentarischen Abend während des Vivavelo-Kongresses kam und enthusiastische Worte über das Fahrrad sagte. Aber das war‘s dann auch mit dem Ministerengagement. Zur Eurobike nach Frankfurt kam nur noch sein Staatssekretär. In seiner eigenen, 13-seitigen „Halbzeitbilanz“ nennt das Ministerium den Radverkehr ganz am Ende auf elf Zeilen und zählt als Erfolge die Verstetigung des Förderprogramms „Stadt und Land“ auf, das Erscheinen einer Broschüre mit ergänzenden Fortbildungskursen sowie die Zertifizierung des BMDV als „Fahrradfreundlicher Arbeitgeber“ in Gold. Das war‘s.
Die grundlegende Desillusionierung über Volker Wissing begann aber durch seinen respektlosen Umgang mit dem Bundesklimaschutzgesetz. Nachdem 2022 erstmals festgestellt wurde, dass der Verkehrsbereich die Sektorziele gerissen hat, musste das BMDV ein Sofortprogramm erstellen. Der Expertenrat der Bundesregierung hat dies als inhaltlich unzureichend bezeichnet, was Volker Wissing aber nicht weiter störte. 2023 wurde erneut amtlich das Verfehlen der gesetzlichen Ziele festgestellt. Diesmal verweigerte das BMDV sogar ein Sofortprogramm mit dem Argument, man wolle das Klimaschutzgesetz ohnehin ändern, was aber bis heute (Stand Januar 24) nicht rechtswirksam geschehen ist. Ende November 2023 verurteilte das OLG Brandenburg die Bundesregierung dazu, Paragraf 8 des KSG einzuhalten und Sofortprogramme aufzulegen. Die Bundesregierung legte Revision ein, um weiter Zeit zu gewinnen. Ein derartiger Umgang mit dem wichtigen Gut der Zukunftssicherung durch den Klimaschutz und vor allem auch mit unserem Rechtssystem erschüttert ganz grundsätzlich das Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern in die politische Moral der Regierung. Ein schwerwiegender Vorgang, den Volker Wissing, selbst Rechtsanwalt und Angehöriger einer Partei, die sich die Rechtsstaatlichkeit besonders auf die Fahne geschrieben hat, mitzuverantworten hat. Gleichwohl liegt hier auch eine Verantwortung beim Bundeskanzler und dem gesamten Kabinett.
Wes Geistes Kind Volker Wissing ist, zeigte sich auch beim Gerangel um die Reform des auch für den Radverkehr so wichtigen Straßenverkehrsgesetzes (SVG), das die Verkehrswende ein Stück weit hätte erleichtern können. Zunächst verzögerte das BMDV das Angehen des Themas, dann gab es um jede Formulierung zähe Verhandlungen innerhalb der Ampel-Parteien und schließlich, nach dem Scheitern des Gesetzes im Bundesrat, verzichtete der Minister auf die umgehende Anrufung des Vermittlungsausschusses, um doch noch zu einer Einigung zu gelangen. Es wirkt so, als wäre es kein allzu großer Schmerz für Volker Wissing, wenn nun wieder alles beim Alten bliebe.

Albert Herresthal


Bilder: stock.adobe.com – Kirill Gorlov, stock.adobe.com – A. Rochau, stock.adobe.com – Kara

Ein integrierter Ansatz für nachhaltigere Verkehre verlangt, Raum und Mobilität stärker zusammenzudenken. Dafür sollte der gesetzliche Rahmen reformiert werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Die Gestaltung von Quartiers- und Stadträumen bestimmt maßgeblich mit, ob sich Menschen beispielsweise fürs Fahrrad, den Bus oder das Auto entscheiden. Im Projekt „Integrierte Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung“ will die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) unter anderem die Frage beantworten, wie individuelles Mobilitätsverhalten funktioniert und welche Interventionsmöglichkeiten zur Förderung nachhaltiger Verkehrsmittelentscheidungen es gibt. Als zentraler Hebel für die Schaffung vielfältiger und klimaresilienter Städte wurden dabei die Wechselwirkungen zwischen räumlichen Strukturen und Mobilität identifiziert. Das ist keine grundlegend neue Erkenntnis, jedoch spannt das Projekt der Akademie einen größeren Bogen, indem sie die integrierte Stadtplanung als Kooperation und fachliche Synergien von Politik, Verwaltung, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft skizziert.

Vier räumliche Maßstabsebenen

Aufgezeigt werden die Wechselwirkungen von Raum und Mobilität an den vier Maßstabsebenen Straße, Stadtquartier, Gesamtstadt sowie Stadtregion. Für jede der Ebenen werden jeweils spezifische Einflussfaktoren beschrieben. So fördert beispielsweise eine hohe Aufenthaltsqualität in Straßen den sozialen Austausch im öffentlichen Raum und die Fortbewegung zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Im Stadtquartier bestimmen Infrastruktur und Erreichbarkeit der Alltagsziele die Mobilitätsoptionen. Entsprechend belebt werden Quartiere durch den Zugang zum öffentlichen Verkehr und durch kürzere Wege. In der Gesamtstadt sollen Standorte verteilt und gut mit dem ÖV oder nicht motorisierten Verkehrsmitteln erreichbar sein. Wichtig für eine Stadtregion ist die Abstimmung von Siedlungsentwicklung, Infrastrukturentwicklung und Verkehrsachsen. Verläuft die Entwicklung beispielsweise entlang von ÖV-Achsen, können im Umfeld von Bahnhöfen und Haltestellen lebendige Zentren entstehen.

Räumliche Maßstabsebenen: Im lebendigen Stadtquartier geht es darum, die Alltagswege zu verkürzen. Für die Gesamtstadt sollen die Standorte im Stadtraum verteilt und mit dem ÖV oder nicht motorisierten Verkehrsmitteln gut erreichbar sein.

Verkehrsmittelwahl nicht immer rational

Ausführlich auf individuelles Verhalten im Kontext von Raum und Mobilität geht der Zwischenbericht ein. Demnach geben zwar, wie zuvor beschrieben, äußere Strukturen oder Angebote den Rahmen vor, Verhaltensentscheidungen sind jedoch nicht unbedingt im ökonomischen Sinn vernünftig. So steht die Wahl von Wohnort und Arbeitsstätte in Wechselwirkung mit der Aktivitätenwahl oder dem individuellen Mobilitätsverhalten. Entscheidungen über Alltags- und Freizeitaktivitäten haben Auswirkungen auf Ziele, Distanz, Frequenz und Abfolge zurückgelegter Wege. Darüber bestimmen sich auch individuelle Mobilitätsoptionen. Das Mobilitätsverhalten ist bestimmt durch Anzahl und Länge täglicher Wege. Bewegungsverhalten beinhaltet beispielsweise schnell oder langsam, zielstrebig oder mäandrierend. Bewegungsverhalten, Aktivitätenwahl und Mobilitätsverhalten beeinflussen sich gegenseitig und haben Auswirkungen auf andere Verkehrsteilnehmende sowie die Wahrnehmung von Raum.

Verhalten nach Budget, Geschlecht und Alter

Wichtig für das Verhalten sind soziodemografische Faktoren. So bedeutet etwa ein höheres Einkommen mehr Freiheit bei der Standortwahl. Die Geburt eines Kindes führt tendenziell zu vermehrter Pkw-Nutzung, ebenso der Fußwege. Je besser der ökonomische Status, desto mehr Wege werden zurückgelegt, während Haushalte mit geringem Budget 28 Prozent mehr Wege zu Fuß gehen. Männer legen fast ein Drittel mehr Wege mit dem Auto zurück als Frauen. Frauen sind um 20 Prozent häufiger zu Fuß unterwegs. Die Hälfte der Frauen fühlt sich unsicher, bei Dunkelheit allein unterwegs zu sein. Mit dem Alter nimmt die Einschränkung der Mobilität zu. Hinzu kommen neuerdings städtische Hitzewellen, bei denen bis zu 65 Prozent ihre Aktivitäten im öffentlichen Raum reduzieren.

Vorstellung in Berlin: Mit den Ergebnissen des Acatech-Projekts wurden auch Handlungsempfehlungen als Orientierungs- und Argumentationshilfe für kommunale Praktikerinnen und Praktiker vorgestellt.

Normen, Werte und Einstellungen

Auch psychologische Aspekte werden beleuchtet. Eine positive Affinität zum Fahrrad etwa hat, wer seit der Kindheit gerne das Rad benutzt hat. In der Jugend wird das Zweirad Mittel zur Selbstständigkeit, die Umgebung auf eigene Faust zu erkunden. Fördert man durch Bildung in Schule und Familie frühzeitig positive Erfahrungen mit aktiver Mobilität, kann dies langfristig ein umweltfreundliches Verkehrsverhalten begünstigen. Und ob jemand in öffentliche Verkehrsmittel einsteigt, ist auch eine Frage des Images. So besitzen Buslinien ein schlechteres Image als schienengebundene Verkehrsmittel. Als Interventionsansatz werden statussensible Angebote und begleitende Kommunikations- und Marketingmaßnahmen empfohlen.

„Die Novellierung des StVG ist eine wichtige Basis für ein Mobilitätsgesetz mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort.“

Helmut Holzapfel, Co-Projektleiter

Wechsel und Krisen als Chancen

Auch eine neue Lebensphase bietet die Chance, mit Routinen und Gewohnheiten zu brechen. Mit Bezug einer Wohnung oder Wechsel des Arbeitsplatzes kann das eigene Mobilitätsverhalten hinterfragt werden. Hilfreich können deshalb Mobilitätsberatungen für Neubürgerinnen und Neubürger oder junge Familien sein. Betriebe können Anreize setzen, wenn sie Mitarbeitenden Abomodelle für Dienstfahrräder oder ein Mobilitätsbudget anbieten. Ebenso bewirken externe Schocks oder unvorhergesehene Ereignisse individuelle Verhaltensänderungen. Als Beispiel wird die Covid-19-Pandemie genannt, in der zahlreiche Personen ihr Standort-, Aktivitäts- und Mobilitätsverhalten hinterfragt haben. Digitale Transformationen haben standortunabhängiges Arbeiten ermöglicht.

Partizipation aller Teilnehmer

„Als einseitiger Top-down-Prozess wird die Transformation der Mobilität jedoch nicht erfolgreich sein. Wichtig ist, dass sich alle gesellschaftlichen Gruppen als Teil dieser Veränderung verstehen, diese für sich als Gewinn betrachten, die Prozesse mitentwickeln und in ihren Alltag integrieren“, heißt es im acatech-Bericht. Konflikte entstehen zum Beispiel bei unterschiedlichen Vorstellungen von Raumnutzung. Deshalb sollte der Austausch zwischen Nutzergruppen ermöglicht werden. Die Akzeptanz neuer Angebote wie temporär verkehrsberuhigte Zonen wird größer durch die Einbindung lokaler Akteurinnen. In Partizipationsprozessen wird das Wissen von Quartieranrainerinnen genutzt und fließt mit in die Planung ein.

Raumebene Stadtregion: Wichtig ist hier die Abstimmung von Siedlungsentwicklung, Infrastruktur und Verkehrsachsen. Rund um Bahnhöfe und Haltestellen können attraktive Zentren entstehen.

Regelwerke reformieren, Zusammenarbeit fördern

Dreh- und Angelpunkt von Interventionen, um auf Verhaltensänderungen einzuwirken, bleibt das Zusammenspiel von Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung. Zu den Bausteinen gehören Umweltzonen, der Ausbau von Fuß- und Radinfrastrukturen, Bike-Sharing-Systeme und Quartiersverbindungen durch den ÖV. Die Empfehlungen der Acatech richten sich auch an die Politik. Co-Projektleiter Helmut Holzapfel sagt: „Es ist ein Dilemma: Kommunen sollen die Mobilitätswende vorantreiben, doch sobald sie Neues ausprobieren, um öffentlichen Raum vielfältiger zu nutzen und etwa Straßen für Fußgängerinnen und Fußgänger zu öffnen, droht schnell der Gang vor Gericht. Die Novellierung des StVG ist eine wichtige Basis für ein Mobilitätsgesetz mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort.“ Kommunen sollten mehr rechtlichen Spielraum erhalten, um integrierte Maßnahmen eigenständig umzusetzen. „Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser“, findet Co-Projektleiter Klaus Beckmann (Interview). Eine entsprechende Reform ist 2023 im Bundesrat jedoch gescheitert.
Patentlösungen für lebenswerte Stadtregionen gibt es nicht. Deshalb sollten Experimentierklauseln erweitert und das temporäre Abweichen von Vorschriften erleichtert werden. So könnten innovative Ansätze und ihre Wirkung rechtssicher ausprobiert werden. „Die Sendlinger Straße in München ist ein gutes Beispiel“, sagt Co-Projektleiter Klaus Beckmann. „Die Straße wurde zunächst versuchsweise zur Fußgängerzone umgewidmet. Seither flanieren die Menschen, sie genießen den neu gewonnenen Freiraum und auch der Einzelhandel profitiert von der höheren Besucherfrequenz. Schon nach einem Jahr war klar: Das soll so bleiben.“
Programme mit angepassten Förderbedingungen sollten einen integrierten Ansatz in Kommunen und Regionen unterstützen für eine langfristige und sichere Planung.

Erfolge in Paris, Freiburg und Hannover

Als Beispiel für einen integrierten Planungsansatz wird unter anderen die französische Hauptstadt Paris genannt mit ihrer Fokussierung auf gute Erreichbarkeit nach dem Konzept der 15-Minuten-Stadt. Dort wurde von 2001 bis 2018 ein deutlicher Rückgang der täglich mit dem Auto zurückgelegten Wege verzeichnet, während sich die zu Fuß zurückgelegten Wege um etwa 50 Prozent erhöht haben. Die Anzahl mit dem Auto zurückgelegter Wege fiel 2018 sogar unter die 6-Millionen-Marke. In Freiburg im Breisgau wiederum verfolgt man seit Ende der 1980er- Jahre das Ziel, Verkehr durch eine abgestimmte Stadtentwicklungs- und Mobilitätspolitik zu vermeiden. Die Wirkung einer integrierten Planung wird deutlich sichtbar. So stieg zwischen 1982 und 2016 der Anteil des Umweltverbunds von 61 auf 79 Prozent, der des motorisierten Individualverkehrs sank von 39 auf 21 Prozent. Nicht zuletzt steht die Region Hannover mit ihrer Regionsversammlung als Beispiel für eine institutionalisierte Form regionaler Zusammenarbeit. Bereits 2011 wurde ein Verkehrsentwicklungsplan für die Region verabschiedet, der auf räumliche Integration abzielte. Im 2023 fortgeschriebenen Verkehrsentwicklungsplan ist eine Senkung des CO2-Ausstoßes von 70 Prozent bis 2035 vorgesehen. Zwischen 2011 und 2017 ging der MIV-Anteil in der Region von 59 auf 55 Prozent zurück, der des Umweltverbunds stieg von 41 auf 45 Prozent.

„Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser“

Interview mit Acatech-Co-Projektleiter Prof. Klaus Beckmann

Was sind Kernanliegen des integrierten Ansatzes?
Es geht um die Frage, welche Effekte auf den Verkehr wir bei der Stadtentwicklung berücksichtigen müssen. Wie können wir die erwünschten Effekte im Verkehr stützen, die unerwünschten bremsen oder umlenken? Das bedeutet, dass ich über die verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen nachdenken muss. Es beginnt im Straßenraum vor der Haustür. Der ist nicht nur Verkehrsfläche, sondern ebenso für Aufenthalt, Kontakte oder Spiel. Ich kann auch Grünflächen zur Verbesserung des Stadtklimas bereitstellen.
Das geht dann ins Quartier hinein. Was ist bereits an Einrichtungen vorhanden? Welche sollte man schaffen, die im Alltagsleben Ziele von Menschen sein können? Von der Schule über den Kindergarten, die Einkaufsgelegenheiten bis hin zu Ärzten. Das muss ich versuchen mitzudenken.
Man könnte jetzt sagen, das ist doch alles fix. Die letzten zwei Jahre haben jedoch gezeigt, dass vieles, von dem wir gemeint haben, es sei fix, nicht so fix ist. Ich erinnere an den für die Innenstädte problematischen Niedergang der Kaufhäuser. Welche Nutzungen ich da reinbringen kann. Ausschließlich Handel ist vielleicht zu monofunktional. Ich muss überlegen, ob nicht auch Wohnungen oder Arbeitsplätze infrage kämen – oder eine Bibliothek. Was wir jahrelang an den Rand der Städte geschoben haben, kann vielleicht wieder in die Stadt rücken. Bei den räumlichen Maßstabs-ebenen bin ich da vom Quartier im Übergang zur Gesamtstadt. Wo liegen die Orte, die Zugänge zu Fußgänger- und Zweiradverkehrsnetzen oder zum ÖPNV bieten? Kann ich die mit der U-Bahn oder Tram erreichbar machen? Hier sind die Botschaften. Wir brauchen Integration. Städtebau auf der einen Seite, Mobilität auf der anderen. Und das über alle Ebenen vom Quartier bis in die Region hinein.

Wie wichtig ist eine selbstständige Planung für die Kommunen?
Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser. Die Politikerinnen und Politiker aus den Gemeinde- und Stadträten müssen letztlich die Wirkungen überprüfen und eventuell nachkorrigieren, also Erfahrungen sammeln. Vor allem die Kritik der Bürgerinnen und Bürger ist aufzunehmen, um sich damit auseinanderzusetzen. Die Verantwortlichkeit ist bei den Kommunen zu sehen. Dieser Weg ist im Augenblick eingeschränkt, beispielsweise durch das bisherige Straßenverkehrsgesetz.
Natürlich gibt es Argumente dafür zu sagen, es wäre nicht förderlich, wenn wir in Kommune A und der Nachbarkommune B völlig gegensätzliche Regelungen hätten. Deswegen bedarf es eines Rahmens wie das Straßenverkehrsgesetz und die Ableitung als StVO. Aber das ist im Augenblick relativ strittig. Es gibt mehr als 1000 Gemeinden, die postuliert haben: Gebt den Städten und Gemeinden mehr Kompetenzen und Verantwortlichkeiten im Bereich der Gestaltung von städtischen Verkehrsräumen. Das betrifft zum Beispiel die Geschwindigkeiten.

Was beeinflusst die individuelle Verkehrsmittelwahl?
Das fängt bei der Wohnungssuche schon mit dem Angebot an. Wo liegt das in der Stadt? Wie erreiche ich von dort meinen Arbeitsplatz und Einkaufsgelegenheiten? Ist das ein gut ausgestattetes Quartier? Was für Mobilitätsoptionen habe ich selbst und bevorzuge ich? Bin ich Fußgänger, Fahrradfahrer, ÖPNV-Nutzer oder passionierter Autofahrer?
Es gibt einige Wohnungsbaugesellschaften, die bereits integrierte Angebote von Wohnungen und Mobilitätsmöglichkeiten machen. Als Nutzer mieten Sie also eine Wohnung und haben vielleicht damit schon einen Mobilitätspool. Dieser kann ein Fahrrad, ein Pedelec, einen Leih-Pkw oder eine ÖPNV-Fahrkarte beinhalten. Gerade im kommunalen Bereich, in Quartieren und Stadtteilen, spielen nicht motorisierte Verkehrsmittel von den Füßen bis zu den Zweirädern eine bedeutende Rolle.

Der integrative Ansatz ist umfangreich: Wer hat den Masterplan, wer fängt an?
Das Schwierige und Interessante daran ist, dass es keine Musterlösung gibt nach dem Motto: Nur so geht´s. Das hängt von den lokalen Rahmenbedingungen ab. Was habe ich für ein Radwegenetz? Wie kann ich das Straßennetz umgestalten? Ich muss bei allem, was die Stadtplanung und die Verkehrsplanung entscheiden, fragen: Was bedeutet das hinsichtlich der städtischen Lebensqualitäten sowie der Mobilitäts- und damit Teilnahmemöglichkeiten? Das sind zentrale Fragen, die man sich ständig stellen muss. Manche Städte haben gute Erfahrungen gemacht, indem sie Masterpläne erstellt und schrittweise in der Verwaltung und Politik umgesetzt haben. Das schließt nicht aus, dass man, wenn Menschen aus dem Quartier sagen: Das ist etwas, was wir für nötig halten, dies berücksichtigen, also davon profitieren sollte.

Ein Leitfaden, der mit dem Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) entwickelt wurde, unterstützt Kommunen bei der Transformation ihrer Governance und zeigt Handlungsbausteine auf für integriertes Arbeiten.

Info: www.acatech.de


Bilder/Grafiken: acatech, David Ausserhofer

Sie haben das Zeug dazu, Autofahrten zu ersetzen. Aber in Deutschland sind S-Pedelecs für die Bundesstraße zu langsam und für den Radweg zu schnell. Nun testen erste Kommunen, wie sie die Räder in den Alltagsverkehr besser integrieren können. Das Ausland ist da schon weiter. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Mit Tempo 70 und schneller ziehen die Autos auf der Bundesstraße an Anja Herz vorbei. Sie schneiden die Radfahrerin, hupen anhaltend und zeigen wild gestikulierend auf den parallel verlaufenden Radweg. Der ist leer, Anja Herz würde gerne auf ihn ausweichen. Aber das verbietet die Rechtslage, denn Anja Herz fährt ein schnelles Pedelec.
Die schnellen Pedelecs, auch Speed-Pedelec oder S-Pedelec genannt, gelten als Kleinkraftrad, weil sie bis zu 45 Kilometer pro Stunde schnell fahren können. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis sind ihre Fahrerinnen und Fahrer eher mit 30 bis 35 Kilometern pro Stunde unterwegs. Trotzdem gelten für sie die gleichen Regeln wie für Autos: Gefahren werden darf nur auf der Fahrbahn.
In Belgien, der Schweiz oder Dänemark ist es umgekehrt. Dort müssen die schnellen Räder zwingend die Radwege nutzen – auch in den Zentren. Ob diese Regelung sinnvoller ist, bezweifeln viele Radverkehrs-expertinnen. Aber auch sie finden: Die Rechtslage in Deutschland sollte angepasst werden. Umfragen und erste Studien zeigen: S-Pedelecs können Autofahrten ersetzen, wenn ihre Nutzerinnen sicher unterwegs sind. Das 2023 gegründete Bündnis „Allianz Zukunft S-Pedelecs“ will dafür die Rahmenbedingungen schaffen. Seit vergangenem Jahr initiieren seine Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verbänden Studien und organisieren regelmäßige Diskussionsrunden mit Experten. Der Blick in die Nachbarländer zeigt, wie Lösungen aussehen könnten. Aber nicht nur jenseits der Grenzen gibt es Vorbilder, auch in Deutschland gibt es erste Versuche, die Nutzung von S-Pedelecs zu liberalisieren.
Die Unistadt Tübingen in Baden-Württemberg gehört dabei zu den Vorreitern. Dort gibt es seit 2019 das erste und bislang einzige S-Pedelec-Netz bundesweit. Auf einer Strecke von rund 80 Kilometer verbindet es sämtliche Ortsteile mit der Kernstadt. Die Idee für die Planung kam aus der Stadtregierung. „Einige Gemeinderäte und der Oberbürgermeister, Boris Palmer, waren damals bereits mit herkömmlichen, aber auch mit schnellen Pedelecs unterwegs“, sagt Daniel Hammer, Verkehrsplaner und zuständig für den Radverkehr in Tübingen. Die baden-württembergische Landesregierung unterstützte das Vorhaben und führte das Zusatzzeichen „S-Pedelec frei“ ein.
Damit begann die Netzplanung. Der Grundsatz war: Das Fahren mit S-Pedelecs im Stadtgebiet muss einfach und intuitiv sein. „Wir haben keine festen Standards definiert“, sagt Hammer. Stattdessen haben sie vor Ort entschieden, auf welcher In-frastruktur die schnellen Rad-fahrerinnen sicher unterwegs sind. Das können Radwege sein, Radfahrstreifen, Fahrradstraßen, verkehrsberuhigte Zonen und Wirtschaftswege. Der Aufwand war groß. Jeder Teil der Route wurde begutachtet. Insbesondere für kritische Stellen mussten sie Lösungen finden. Dazu gehört beispielsweise eine Unterführung im Zentrum. „10.000 Radfahrende sind dort täglich unterwegs und ebenso viele Fußgänger“, sagt Hammer. Die Unterführung ist sechs Meter breit und hat einen getrennten Fuß- und Radweg. Um die schnellen S-Pedelecs zu bremsen, haben sie dort ein Tempolimit von 20 Kilometern pro Stunde für alle Fahrräder eingeführt. Eine spätere Geschwindigkeitsmessung zeigte, dass Rennräder und Pedelecs dort bergab mit 30 bis 35 Kilometern pro Stunde unterwegs sind – ohne andere zu gefährden. Bislang funktioniert das Miteinander der schnellen und langsamen Radfahrerinnen und Radfahrer recht gut. Laut Hammer gab es weder mehr Unfälle noch sonstige Beschwerden. „Wenn sich das ändert, passen wir die Infrastruktur an“, sagt er. Momentan ist das Tübinger Modell nur eine Insellösung. Spätestens am Ortsschild der Nachbarstädte wie Reutlingen oder Rottenburg endet für die schnellen Pendlerinnen das entspannte Fahren. Der Radverkehrsplaner bedauert, „dass S-Pedelecs generell auf die Straße müssen, auch wenn Tempo 100 gilt“. Das schrecke potenzielle Umsteiger ab. Er plädiert für ein landkreisweites S-Pedelec-Netz auf geeigneten Wegen.

Mit maximal 30 Kilometern pro Stunde dürfen die Radfahrer durch den Tunnel fahren. In den Niederlanden sind Tempolimits auf vielen Radwegen üblich. In Deutschland ist Tübingen damit Vorreiter.

Speed-Pedelecs sind mit einer Tretunterstützung bis 45 km/h und einer Motorleistung bis zu 4 kW rechtlich betrachtet kene Fahrräder, sondern Kleinkrafträder der Klasse L1e. Damit sind bisher nicht nur Radwege tabu, sondern auch Feld- und Waldwege, die mit Verbotschildern für Motorfahrzeuge gekennzeichnet sind.

S-Pedelec-Netze für Landkreise

Diese Idee ist besonders für Radregionen interessant, wie etwa den Bodensee. Viele Berufstätige fahren dort täglich 20 oder auch 30 Kilometer zur Arbeit. Von Singen und Radolfzell etwa nach Konstanz oder auch in die Schweiz. „Das ist eine ideale Distanz für S-Pedelecs“, sagt der Radverkehrsplaner der Stadt Kon-stanz, Georg Gaffga. Bislang müssen die schnellen Radfahrerinnen an einigen Stellen die Bundesstraße nutzen. Die wird gerade auf vier Fahrspuren ausgebaut und führt zudem durch einen Tunnel. „Selbst für versierte Radfahrende kommt ein Fahren dort nicht infrage“, sagt Gaffga. Für diese Streckenabschnitte braucht es Ausweichrouten. Mit seinen Kolleginnen plant Gaffga seit vergangenem Jahr das neue Radwegenetz der Stadt. Die S-Pedelecs haben sie dabei stets im Blick. „Wir suchen auf den Hauptachsen ins Umland die Lücken im Netz“, sagt Gaffga. Wo das Fahren auf den Straßen für die schnellen Radfahrer zu gefährlich ist, sollen sie auf Radwege neben der Fahrbahn ausweichen können. Vorausgesetzt, sie sind breit genug und es sind dort nur wenige Fußgänger und Radfahrende unterwegs.

„Unsere Mobilitätsstrategie ist der autofreie Haushalt“

Georg Gaffga, Stadt Konstanz

S-Pedelec: Ein Baustein zum autofreien Haushalt

Innerorts sieht der Radverkehrsplaner Gaffga nahezu keinen Handlungsbedarf in seiner Stadt. In Konstanz’ Zentrum könnten die schnellen Radler bei Tempo 30 oder 50 auf der Fahrbahn mitrollen. Aber es gibt auch Ausnahmen. Im vergangenen Jahr hat er eine Anliegerstraße, die auch Fahrradstraße ist, für S-Pedelecs freigegeben. „Die Straße hat den Charakter einer Außerortsstraße, sie führt durch ein Waldgebiet geradewegs zum Fähranleger Richtung Meersburg“, sagt er, eine wichtige Pendelroute. Auch dort funktioniert das Miteinander. Bislang gab es keine Beschwerden.
Angesichts der geringen Zahl an S-Pedelecs im Straßenverkehr erscheint der hohe Aufwand, den Gaffga mit seinem Team betreibt, unverhältnismäßig hoch. Insbesondere weil sie kein konkretes S-Pedelec-Netz planen, sondern vorerst nur die Möglichkeiten ausloten, potenzielle Lücken im Netz zu schließen. Gaffga hält dagegen: „Unsere Mobilitätsstrategie ist der autofreie Haushalt“, sagt er. Das S-Pedelec ergänze das aktuelle Angebot an Sharing und öffentlichem Verkehr. Deshalb wollen sie die junge Fahrzeuggattung fördern. Das funktioniere allerdings nur, wenn die Fahrer*innenr sich wohlfühlen und sicher unterwegs sind. Die benachbarte Schweiz zeige zudem, dass bei attraktiven Bedingungen die Verkaufszahlen von S-Pedelecs steigen und ihr Anteil am Gesamtverkehr zunimmt.

S-Pedelecs ersetzen das Auto

Hierzulande ist die Fahrzeuggattung bislang nur eine Randerscheinung. Gerade mal 11.000 Stück wurden im Jahr 2022 verkauft. In Belgien, den Niederlanden oder der Schweiz sind S-Pedelecs deutlich populärer. Allein in der Schweiz mit ihren knapp neun Millionen Einwohnerinnen wurden im Jahr 2022 rund 23.000 der S-Pedelecs aus den Läden geschoben. Expertinnen führen das auf die Rechtslage zurück: Schließlich dürfen sie dort die Radinfrastruktur nutzen. Das hat zur Folge, dass 75 Prozent der Strecken, die dort mit schnellen E-Bikes zurückgelegt wurden, Arbeitswege waren. Im niederländischen Rotterdam waren es 2021 rund 60 Prozent.
Für Anke Schäffner vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) sind die Zahlen ein Indiz für das große Potenzial der S-Pedelecs für die Verkehrswende. Sie hat Ende vergangenen Jahres die ZIV-Studie „Wo fahren S-Pedelecs?“ vorgestellt. Die beschreibt, wie die Nachbarländer die Elektroräder in den Verkehr integrieren und wie sich das unter anderem auf die Verkaufszahlen auswirkt.
In Belgien etwa können die Fahrerinnen zwar innerorts wählen, ob sie die Radinfrastruktur oder die Fahrbahn nutzen, dagegen ist außerorts für sie die Radwegbenutzung ab Tempo 50 Pflicht. Diese Regelung kommt in der Bevölkerung anscheinend gut an. Von 2017 bis 2021 sind die Zulassungszahlen der S-Pedelecs von rund 5.300 auf 51.000 gestiegen. In den Niederlanden gelten für die schnellen Elektroräder die gleichen Bestimmungen wie für Mopeds. Ihre Fahrerinnen dürfen Radwege benutzen, die für Mopeds freigegeben sind. Innerorts ist das fast jeder Radweg in einer Tempo-50-Zone. Allerdings gilt dort für sie ein Tempolimit von 30 Stundenkilometern.

Die Fahrradstraße ist für Radpendler*innen von großer Bedeutung. Sie ist die schnellste Verbindung von Konstanz zum Fähranleger Richtung Meersburg.

Ausnahmegenehmigungen für Radwege

Auch beim S-Pedelec zeigt sich: Die Niederlande sind Fahrradland. Seit Jahren testen die verschiedenen Regionen, wie sie die Räder in den Alltagsverkehr integrieren können. Die Provinz Gelderland hat bereits 2018 im Rahmen einer Studie 16 Radwege im Stadtgebiet erst temporär und dann dauerhaft freigegeben. Andere Provinzen wie Groningen und Overijssel folgten dem Beispiel. In Rotterdam, Amersfoort und Utrecht können S-Pedelec-Fahrerinnen mittlerweile Ausnahmegenehmigungen beantragen, wenn sie die Radwege nutzen möchten. Allein in Rotterdam wurden im Jahr 2020 für die 384 angemeldeten Räder 275 Genehmigungen beantragt. Für Tobias Klein vom Team „Nahmobilität“ beim Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) ist das Vorgehen zeitgemäß. „Die Niederlande und auch Dänemark testen seit Jahren, wie sie die Alternativen zum Autoverkehr in ihre Verkehrsinfrastruktur integrieren können“, sagt er. Vor vielen Jahren bauten sie die ersten Radschnellwege, heute geben sie Radwege frei, damit die S-Pedelec-Nutzerinnen sicher unterwegs sind. „Ihre Lösungen sind nicht sofort perfekt, aber sie entwickeln die Systeme weiter und passen sie an“, sagt er. Deutschland hingegen sei bei Neuerungen im Verkehr eher darauf bedacht, nichts falsch zu machen, und bremse damit neue Entwicklungen. Das gelte für die Radinfrastruktur ebenso wie für die Integration neuer Verkehrsmittel wie S-Pedelecs.
Insbesondere außerorts sieht der Mobilitätsexperte verschiedene Möglichkeiten, Radinfrastruktur wie Wirtschaftswege oder auch Radschnellwege für sie freizugeben. „Die Radschnellverbindungen sind darauf ausgelegt, dass die Menschen dort mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs sein können“, sagt er. Die Freigabe per Zusatzschild sei nie ein Freifahrtschein zum Rasen. Im Gegenteil. „Die S-Pedelec-Fahrer müssen ihre Geschwindigkeit auf den Radschnellwegen anpassen, wenn dort viel Verkehr ist“, sagt er. Der Mobilitätsexperte ist zuversichtlich, dass das funktioniert.

Fahrzeiten: Pedelec versus S-Pedelec

Aber lohnt es sich überhaupt, vom normalen, dem Fahrrad rechtlich gleichgestellten E-Bike auf ein Speed-Pedelec umzusteigen? Das Kuratorium für Verkehrssicherheit (KFV) in Österreich, eine der führenden Institutionen der Unfallprävention, wollte es genau wissen und hat im Jahr 2021 die Studie durchgeführt „Potenzial von S-Pedelecs für den Arbeitsweg“.
Fünf Wochen dauerte der Feldversuch. 98 Berufstätige nahmen teil und zeichneten auf, wie viel Zeit sie für ihren Arbeitsweg mit den verschiedenen Fahrzeugen brauchten. Ab einer Strecke von fünf Kilometern kamen die Speed-Pedelecs stets schneller ans Ziel als ihr langsameres Pendant. Konkret benötigten die Berufstätigen für eine Strecke von 15 bis 20 Kilometer mit dem Auto durchschnittlich etwa 23 Minuten, mit dem S-Pedelec 34 Minuten und mit dem Pedelec rund 45 Minuten. Das herkömmliche Pedelec war demnach fast doppelt so lange unterwegs wie das Auto. Für die Forscherinnen ist dieser Zeitunterschied entscheidend. Eine Verdoppelung der Fahrtzeit zur Arbeit ist aus ihrer Sicht unattraktiv. Das S-Pedelec kann diese Differenz aber auf allen Strecken bis etwa 25 Kilometer in etwa halbieren. Damit ist das S-Pedelec für die Wissenschaftlerinnen eine echte Alternative zum Auto. Insbesondere auf langen kreuzungsfreien Strecken wie Radschnellwegen.
Allerdings wird die Freigabe von Radschnellwegen für S-Pedelecs seit Jahren kontrovers diskutiert. Vornehmlich die Vertreter*innen des ADFC waren strikt dagegen. Inzwischen weichen sie von dieser starren Haltung ein wenig ab. Inzwischen befürwortet der Fahrradclub die Freigabe der Radinfrastruktur in Einzelfällen – etwa außerorts, auf breiten, wenig frequentierten Radwegen. Damit sind viele geplante Radschnellwege bereits aus dem Rennen.

„Nur weil mein S-Pedelec 45 km/h fahren kann, fahre ich die Menschen nicht über den Haufen.“

Anja Herz

Klimafreundliche Fahrzeuge dürfen passieren, dazu gehören Busse, Taxen, Fahrräder und S-Pedelecs.

Zentrale Verbindungen in Tübingen wie diese Fahrradbrücke haben die Verkehrsplaner*innen ebenfalls für die Speed-Pedelec-Fahrer freigemacht.

Geschwindigkeit anpassen möglich?

Für die S-Pedelec-Fahrerin Anja Herz ist die ADFC-Haltung nur schwer nachzuvollziehen. Sie lebt außerhalb Münchens. Das S-Pedelec nutzt sie für fast jede Gelegenheit. Mit einer Freundin hat sie damit die Alpen überquert. 400 Kilometer sind die beiden von Garmisch bis zum Gardasee gefahren, die meiste Zeit auf Radwegen. Probleme mit den anderen Radfahrerinnen gab es aus ihrer Sicht keine. „Ich passe meine Geschwindigkeit immer den Gegebenheiten an“, sagt sie. Auf den Radwegen, aber auch, wenn sie beispielsweise an einer Fahrradsternfahrt teilnehmen. „Nur weil mein S-Pedelec 45 km/h fahren kann, fahre ich die Menschen nicht über den Haufen“, sagt sie. Sie bedauert, dass ausgerechnet der Fahrradverband ihr und vielen anderen S-Pedelec-Fahrerinnen die Bereitschaft und Fähigkeit abspricht, ihr Tempo anzupassen.

„Porschefahrenden traut man zu, in einer Tempo-30-Zone 30 km/h zu fahren, S-Pedelec-Fahrern nicht.“

Martina Lohmeier, Hochschule RheinMain Wiesbaden

Fehlende Erfahrungen schüren Vorurteile

Die Vorurteile gegenüber Pedelec-Fahrern kennt Martina Lohmeier, Professorin an der Wiesbadener Hochschule RheinMain. „Mit S-Pedelecs verbinden viele Menschen Überholvorgänge“, sagt sie. Konventionelle Radfahrende fürchten, von ihnen an den Bordstein gedrängt zu werden oder dass sie sich erschrecken, wenn die schnellen Radler*innen an ihnen vorbeijagen. Eltern sorgen sich zudem um ihre Kinder, wenn Schulstraßen oder Tempo-30-Zonen für S-Pedelecs freigegeben werden.
Die Ursache für all diese Bedenken sind laut der Professorin fehlende Erfahrungen. „S-Pedelecs sind noch eine sehr junge Fahrzeuggattung“, sagt sie und anders als die herkömmlichen Pedelecs sind sie in Deutschland immer noch eine Seltenheit. Allein die mögliche Spitzengeschwindigkeit von 45 km/h schüre Ängste. Sie lacht und sagt: „Es ist paradox, dass man Porschefahrenden zutraut, in einer Tempo-30-Zone 30 km/h zu fahren, S-Pedelec-Fahrern aber nicht.“
Im Rahmen eines Feldversuchs erforscht die Radprofessorin mit Kolleginnen und Kollegen der Hochschule Darmstadt und RheinMain, ob diese Sorgen berechtigt sind. Sie untersuchen, wie schnell die S-Pedelecs tatsächlich unterwegs sind, ob Konflikte auf dem Radweg entstehen und wenn ja, welche. Im Winter 2023 starteten die ersten elf Teilnehmerinnen und Teilnehmer den ersten Testlauf. Der dauert für sie und alle weiteren Gruppen jeweils sechs Wochen. Die Wissenschaftler tracken die GPS-Daten und die gefahrenen Geschwindigkeiten. Nach dem Praxisteil befragen sie die Teilnehmenden dann zum Radwegenetz und zu ihren Erfahrungen mit dem Elektrorad als Pendelfahrzeug.
Die Ergebnisse sollen laut Martina Lohmeier interessierten Kommunen dabei helfen, einen Leitfaden für die Integration von S-Pedelecs in den Alltagsverkehr zu entwickeln. Dazu gehört auch, Kriterien für die Freigabe von Radinfrastruktur für S-Pedelecs zu definieren. Der Leitfaden kommt genau zur richtigen Zeit. Seit vergangenem Sommer dürfen Kommunen in Nordrhein-Westfalen ebenfalls ihre Radinfrastruktur für schnelle Elektroräder freigeben. Das Potenzial ist riesig. Dort wird der Radschnellweg RS1 gebaut. Er soll 100 Kilometer lang werden.


Bilder: www.haibike.de – pd-f, Universitätsstadt Tübingen, www.flyer-bikes.com – pd-f, Stadt Konstanz – Gregor Gaffga

Christian Rudolph verantwortet als Professor das Masterstudium Radverkehr an der TH Wildau. Im Interview mit Veloplan spricht er über den Fachkräftemangel, den Austausch mit Unternehmen und dem Ausland und Sicherheit als höchstes Gut des Radverkehrs. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


In Städten und Gemeinden wird der Radverkehr vielfach vom Fachkräftemangel gebremst. Worauf ist der eigentlich zurückzuführen?
Wir haben in den letzten Jahren viel zu wenige Studierende im Bereich Verkehr und Mobilität zu verzeichnen. Was ich wiederum gar nicht verstehen kann, bewegen wir uns doch alle statistisch jeden Tag im Schnitt rund eine Stunde im Verkehr. Bei den aktuellen Staus und Verspätungen, müsste doch jeder das Bedürfnis haben, das System zu verbessern. Ich denke, besonders problematisch ist, dass das Thema Verkehr in den letzten Jahren politisch so aufgeheizt ist, da will sich niemand die Finger verbrennen. Zudem machen sich die geburtenschwachen Jahrgänge nun bemerkbar, was allgemein die niedrige Absolventenzahl betrifft.
Was wir aber auf jeden Fall sagen können: Radverkehrsplanerinnen und -planer werden deutschlandweit händeringend gesucht! Sowohl die öffentliche Hand als auch private Planungsbüros bekommen ihre offenen Stellen in diesem Bereich nicht besetzt. Hier haben unsere Absolventinnen und Absolventen tolle Chancen, einen attraktiven Beruf zu bekommen. Im Rahmen des Studiums geben wir unterschiedlichsten Institutionen die Möglichkeit, von ihren Projekten und aktuellen Fragestellungen zu berichten und den Studierenden Einblicke in das jeweilige Berufsbild zu geben. So bauen die Studierenden schon während des Studiums ein breites Netzwerk auf, das ihnen nach dem Studium zur Verfügung steht.

„Der Austausch mit dem Ausland ist immens wichtig, um überhaupt mal andere Planungsphilosophien mitzukriegen.“

In den letzten Jahren hat das Thema Radverkehr schon durch die sieben Stiftungsprofessuren mehr Präsenz in der deutschen Hochschullandschaft bekommen. Wie ist Deutschland denn insgesamt akademisch aufgestellt für diesen Schwerpunkt?
Durch die Verbindungen, die die Stiftungsprofessuren auch zum Ausland aufgenommen haben, vor allem nach Dänemark und in die Niederlande, ist der internationale Austausch mit Best Practices da. Aber der Bekanntheitsgrad, also dass Radverkehr ein eigenes Studienfach ist, ist leider noch zu gering. An 7 von über 400 Hochschulen gibt es nun die Professuren Radverkehr. Das fühlt sich an wie der bekannte Tropfen auf den heißen Stein.
Dennoch ist das Wissen um gute Radverkehrsplanung an den deutschen Hochschulen grundsätzlich vorhanden. Aber fehlendes Personal und langwierige Planungsprozesse bremsen die Mobilitätswende förmlich aus. Wenn wir die Verkehrswende wollen, können Planfeststellungsverfahren für Radschnellwege nicht 15 Jahre dauern, sondern es muss deutlich zügiger gehen. Daher ist es ganz wichtig, dass die Mobilitätswende stärkeren politischen Rückwind bekommt – und zwar auf allen Ebenen!

Christian Rudolph ist Professor an der TH Wildau in Brandenburg. In der Lehre greift er auf ein Netzwerk an Kontakten zurück, das seine Mitarbeiter*innen und er in vielen Jahren der Mobilitätsforschung aufgebaut haben.
Das Studium bei Christian Rudolph findet nicht nur im Hörsaal statt. Exkursionen ins Ausland spielen im Radverkehrsmaster an der TH Wildau eine wichtige Rolle. Dort lassen sich andere Planungsphilosphien hautnah erleben.

Was sind die typischen Bachelor-Studiengänge, auf deren Grundlage die Studierenden in den Radverkehrsmaster starten und in denen der Radverkehr vielleicht noch mehr Gewicht braucht?
Zunächst natürlich alle Studiengänge, die sich mit dem Verkehrs- und Transportwesen auseinandersetzen. Und natürlich Stadt- und Raumplanungsstudiengänge. Zudem bieten Studiengänge wie Verkehrsgeogeografie, Bauingenieurwesen, Geoinformatik und Logistik ein gutes Fundament für unser Masterstudium Radverkehr. Diese Studiengänge erfüllen die Zulassungsvoraussetzungen, alles andere muss man prüfen.

Wie genau wissen Sie denn, wie die Studierenden auf den Master-Studiengang gestoßen sind?
Das ist dann so divers wie die Kanäle, auf denen wir dafür werben. Ich habe mal ein Interview mit Mario Barth morgens im RBB gehabt, das hatte der Bruder eines unserer Studierenden gehört. Eine Woche später saß der bei uns in der Vorlesung. Andere kommen auch über Info-Webseiten und Webportale, Mundpropaganda, unsere Projekte oder meinen Instagram-Kanal zu uns. Tatsächlich ist es eine Blackbox für uns, welche Kanäle wir bespielen müssen, um junge Leute mit unseren Themen zu erreichen.

Radverkehr ist eingebettet in ein diverses Verkehrssystem und kann nicht einzeln betrachtet werden. Der Schwerpunkt des Masterstudiums Radverkehr an der TH Wildau liegt daher auf intermodalen Verkehrsnetzen.

Sie haben viele externe Unternehmen und Institutionen in Ihren Lehrveranstaltungen zu Gast. Wie kommen diese Kooperationen zustande?
Das basiert im Großen und Ganzen auf den Netzwerken, die ich und meine Mitarbeitenden in den letzten Jahren aufgebaut haben. Ich bin nun schon über 13 Jahren in der Mobilitätsforschung und konnte mir ein breites Netzwerk aufbauen. Die Zusammenarbeit ist super bereichernd, macht viel Spaß und bereichert die Seminare extrem. Wenn wir zu einem Thema niemanden aus unseren Netzwerken kennen, dann wird kurzerhand die Suchmaschine angeschmissen und zum Hörer gegriffen.
So ist auch der Kontakt zu Ecocounter entstanden, einem Hersteller für Zählgeräte, die den Radverkehr erfassen können. Mittlerweile war die Firma schon zweimal zum Semesterstart mit einer mobilen Zähleinheit bei uns auf dem Campus. Die Studierenden lernen, wie man das Zählgerät in Betrieb nimmt und wie die Funktionsweise ist. Sie sollen dann selbst das pneumatische System auf dem Boden befestigen. Und dann wird das System getestet. Das ist ein cooles Gimmick.
Die Zusammenarbeit mit der FH Amsterdam lief umgekehrt. Hier hat mich der Dozent angeschrieben, ob wir Lust auf eine Kooperation hätten. Wir waren nun schon zweimal mit unseren Studierenden in Amsterdam und Utrecht und die Niederländer haben uns auch schon zweimal besucht. Die Exkursion zum weltgrößten Fahrradparkhaus gehört mittlerweile fest zum Studium dazu.

Würden Sie Unternehmen generell empfehlen, vermehrt auf die Unis zuzugehen, um Partnerschaften einzugehen oder sich präsent zu zeigen?
Warum nicht? Das obliegt dann immer dem jeweiligen Studiengangssprecher oder Modulverantwortlichen, ob er dem dann auch Raum geben will. Fachhochschulen sind ja grundsätzlich anwendungs- und praxisorientiert. Auch bei den Masterarbeiten liegt die Priorität darauf, dass die Studierenden in einem Unternehmen ihre Abschlussarbeit schreiben. So können sie meist ein reales Problem bearbeiten und schon etwas Praxisluft schnuppern. Also klar, ich würde jedem Unternehmen empfehlen, auf die Hochschulen zuzugehen, sich zu präsentieren oder gemeinsame Projekte zu initiieren, semesterbegleitend oder als Abschlussarbeit.

„Planerinnen und Planer müssen lernen, Angsträume zu vermeiden, also dunkle, nicht einsehbare Ecken in Fahrradabstellanlagen und Parkhäusern zum Beispiel.“

Die Exkursionen scheinen ein Highlight des Studiums zu sein. Wie wichtig ist dieser Austausch, um den Radverkehr voranzubringen, und wie übertragbar sind die Dinge, die man in anderen Ländern lernen kann?
Aus meiner Sicht ist es extrem wichtig, die Menschen – gerade auch Entscheidungsträger – einmal in diesen Kontext zu bringen, um ihnen zu zeigen, wie sich eine Welt anfühlen kann, in der der Radverkehr ein gutes Ökosystem hat. Niederländische Städte wie Utrecht, Zwolle, Den Haag und Amsterdam eignen sich besonders gut. Hier kann man direkt erleben, wie es sich anfühlt, eine ausreichende Infrastruktur zu haben, sodass man bequem nebeneinander fahren und sich dabei unterhalten kann. Solche Erfahrungen können zu einem Sinneswandel beitragen. Wenn man in das Fahrradparkhaus in Utrecht einfährt und an 12.000 Fahrrädern vorbeifährt, das hat schon Impact. Von daher ist dieser Austausch immens wichtig, auch um überhaupt mal andere Planungsphilosophien mitzukriegen: Hier wird zuerst für den Fuß- und den Radverkehr geplant, dann für das Kfz. Das ist eine ganz andere Herangehensweise, die sich in den letzten 50 Jahren in den Niederlanden entwickelt hat. Vorher war da ja auch alles autoorientiert.

Sicherheit ist für Christian Rudolph das höchste Gut des Radverkehrs. Deshalb bekommt dieses Thema auch im von ihm verantworteten Master viel Aufmerksamkeit. Die zukünftigen Expert*innen, die Radverkehr studieren, werden auf dem Arbeitsmarkt händeringend gesucht.

Am meisten Austausch besteht also mit den Niederlanden. Welche Länder sind sonst noch wichtig?
Im Sommer hatten wir eine Roadshow, das ist ein Format, bei der sich die sieben Stiftungsprofessuren mit ihren Themen der Öffentlichkeit präsentieren können. Das findet online statt, ca. ein bis zwei Stunden in der Mittagspause. Neulich hatten wir Oboi Reed aus Chicago zu Gast, der zum Thema Inklusion und Alltagsrassismus einen Vortrag gehalten hat. Das ist auch ein Thema, das uns sehr umtreibt, also der diskriminierungs- und barrierefreie Zugang zu Mobilität für alle.
In Dänemark sind wir noch auf der Suche nach Partnern, gerade die Metropole Kopenhagen mit dem größten Radschnellwegenetz der Welt ist eine äußerst spannende Region.

Worum geht es bei dem Thema Diskriminierungs- und Barrierefreiheit im Detail?
Auf der einen Seite geht es darum, dass der öffentliche Raum für alle da ist und sich alle sicher fühlen müssen. Jeder Mensch nimmt den öffentlichen Raum anders wahr und fühlt sich unterschiedlich sicher beziehungsweise bedroht. Ein Mann nimmt ihn anders wahr als eine Frau, ein Kind anders als ein Erwachsener und je nach kulturellem Background werden Situationen anders eingeschätzt beziehungsweise wahrgenommen.
Auf der anderen Seite müssen Planerinnen und Planer lernen, Angsträume zu vermeiden, also dunkle, nicht einsehbare Ecken in Fahrradabstellanlagen und Parkhäusern zum Beispiel. In Deutschland ist es im Winter nun mal ab 16 Uhr dunkel.
Wir wollen die Studierenden dafür sensibilisieren, dass der Radverkehr immer diverser wird: Fatbikes, Lastenräder, Fahrräder mit Anhängern, Elektroräder, E-Scooter usw. weisen sehr unterschiedliche Geschwindigkeitsniveaus auf. Mit Elektrofahrrädern beziehungsweise Dreirädern können auch ältere Leute noch lange mobil sein und so ein weitestgehend von Dritten unabhängiges Leben führen. Dies führt zu Herausforderungen bei der Planung. Für ältere Menschen mit schwerem Fahrrad stellen hohe Bordsteine schnell mal ein unüberwindbares Hindernis dar. Wir sensibilisieren die Studierenden für die unterschiedlichen Nutzungsansprüche.

„Fühlen die Menschen sich subjektiv nicht sicher, nutzen sie das Fahrrad nicht als Alltagsfahrzeug, und sind sie objektiv nicht sicher, dann ist ihr Leben faktisch gefährdet.“

Welcher der Themenschwerpunkte im Master liegt Ihnen als Professor besonders am Herzen?
Das ist eigentlich schon die Sicherheit. Fühlen die Menschen sich subjektiv nicht sicher, nutzen sie das Fahrrad nicht als Alltagsfahrzeug, und sind sie objektiv nicht sicher, dann ist ihr Leben faktisch gefährdet. Von daher ist die Sicherheit das höchste Gut der Radfahrenden und das Thema, das alles überspannt. Und es betrifft natürlich alle, aber besonders Kinder, die sich noch nicht so gut konzentrieren können und auch mal einen Fahrfehler machen, und ältere Menschen, die vielleicht nicht mehr so gut die Balance halten können. Deshalb brauchen wir sichere, baulich separierte Infrastrukturen und eine Geschwindigkeitsharmonisierung unter den verschiedenen Verkehrsteilnehmenden.
Das wäre ein großer Gewinn für alle. Bei hohem Verkehrsaufkommen und hohen Geschwindigkeiten sind Infrastrukturen anzuwenden, die diese Verkehre trennen. Bei Protektionselementen besteht die große Herausforderung, wie sich diese städtebaulich verträglich einbinden lassen. Zu diesem Thema läuft gerade eine Masterarbeit bei uns im Studiengang. Der Student setzt sich mit den Anforderungen der Träger öffentlicher Belange, also Müllabfuhr, Feuerwehr, Rettungsdienst, Polizei, Reinigungsdienste etc. auseinander. Ich denke, die Arbeit wird spannende Erkenntnisse hierzu hervorbringen.

Der Master an der TH Wildau hat den Schwerpunkt „Radverkehr in intermodalen Verkehrsnetzen“. Wie kam dieser Fokus zustande?
Meine Kollegen haben die Grundstruktur des Masterstudiums kreiert. Sie hatten die Idee, den Radverkehr nicht singulär zu betrachten, sondern integriert in das Gesamtverkehrssystem, um die Stärken des jeweiligen Verkehrssystems bestmöglich ausnutzen zu können. Über intelligente Verknüpfungen kann die Kombination Fahrrad-ÖPNV eine attraktive Alternative zum Kfz-Verkehr darstellen.
Um den Umweltverbund – also Fußverkehr, Radverkehr und ÖPNV – zu stärken, braucht es Schnittstellen auf der technologischen, aber auch auf der informatorischen Seite. Den Reisenden müssen alle Informationen zu den bestehenden Mobilitätsangeboten zur Verfügung gestellt werden. Da geht es dann auch um nahtlose Abrechnungsmodelle, zum Beispiel bei der Integration von Sharing-Angeboten.

Wie bewerten Sie das Thema Fahrradmitnahme im Zug als Kombination von ÖPNV und Radverkehr?
Das ist in der Tat ein komplexes Thema und es gibt keine allgemeingültige Antwort. Wir wollen natürlich nicht, dass alle Berufspendler ihr Fahrrad morgens in der Rush-Hour mit in die U-Bahn nehmen. Hier sind gute Abstellmöglichkeiten am Bahnhof auf der ersten Meile und Sharing-Angebote auf der letzten Meile gefragt. Auf der anderen Seite macht es natürlich Spaß, mit seinem eigenen Fahrrad am Wochenende mit dem Zug raus aus der Stadt zu fahren, um dort gleich im Grünen die Radtour beginnen zu können. An warmen langen Wochenenden stellt die Fahrradmitnahme für die Betreiber eine große Herausforderung dar. Da muss man schauen, wie man in diesen Zeiten Züge mit ausreichend Kapazitäten zur Mitnahme zur Verfügung stellen kann.


Bilder: TH Wildau – Mareike Rammelt, Christian Rudolph, TH Wildau, Uwe Voelkner – Fotoagentur FOX

Damit die Verkehrswende Fahrt aufnehmen kann, braucht nicht nur der Radverkehr deutlich mehr Platz auf der Straße. Hamburg will künftig mit 10.000 selbstfahrenden Shuttle-Diensten den privaten Autobesitz überflüssig machen. Aber noch ist das autonome Fahren längst nicht alltagstauglich. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Der Holon Mover (oben) soll in einigen Jahren als autonom fahrendes Shuttle durch die Straßen Hamburgs fahren. Den Fahrgästen wird mehr Komfort versprochen. Etwa mit besseren Sitzen wie im Moia-Taxi (unten).

Die Zahlen der neuesten Mobilitätserhebung klingen vielversprechend: In Hamburg fahren die Menschen weniger Auto. Im Jahr 2022 wurden 5 Millionen weniger Pkw-Kilometer gezählt als noch 2017. Im selben Zeitraum wuchs der Radverkehr: Rund 2 Millionen mehr Kilometer ist Hamburgs Bevölkerung im selben Vergleichszeitraum geradelt. Das hört sich nach viel an, jedoch ist im Stadtverkehr davon bislang kaum etwas zu spüren. Auf den Hauptrouten und an den Verkehrsknotenpunkten sind zwar mehr Radfahrerinnen unterwegs, aber auch dort bestimmen die Kraftfahrzeuge weiterhin das Stadtbild. Zum Beispiel am Dammtorbahnhof. Hier rauschen die Pkw permanent an den Radelnden vorbei, während die neuen Radwege und Aufstellflächen, kaum gebaut, schon wieder zu schmal sind für die vielen Fahrradfahrenden. Szenen wie am Dammtorbahnhof gibt es überall in Hamburg. Bis 2030 will der Hamburger Senat das Kräfteverhältnis auf den Straßen ändern. Dann sollen nur noch 20 Prozent der Wege mit dem Auto zurückgelegt werden, 12 Prozent weniger als zurzeit, und der Anteil des Radverkehrs soll im besten Fall auf 30 Prozent steigen. Die Ziele sind ehrgeizig. Um sie zu erreichen, setzt Hamburg auf ein neues Verkehrskonzept, den Hamburg-Takt. Damit soll der Umweltverbund – also der Bus-, Bahn- Rad- und Fußverkehr sowie das Sharing – so attraktiv werden, dass der eigene Wagen zunehmend überflüssig wird. Mit dem Hamburg-Takt gibt der Senat seinen Bürgerinnen ein Versprechen. Im Jahr 2030 sollen sie rund um die Uhr unabhängig vom Wohnort innerhalb von fünf Minuten das Mobilitätsangebot erreichen, das zu ihrer jeweiligen Lebenssituation passt. Das kann ein Car-Sharing-Auto für die Fahrt ins Grüne sein, ein Leihrad oder ein E-Scooter für die Fahrt zur U-Bahnstation oder eine neue Bus- oder Bahnhaltestelle, die zu Fuß in fünf Minuten erreichbar ist. Damit das klappt, wird der ÖPNV in der Hansestadt in den kommenden Jahren drastisch ausgebaut. Der Takt einiger U- und S-Bahn-Linien soll mithilfe der Digitalisierung auf einen 100-Sekunden-Rhythmus erhöht werden, einige Züge und Bahnsteige werden verlängert, damit mehr Menschen in einem Zug Platz finden, und außerdem werden neue Bahnlinien gebaut. Die wichtigste Stellschraube, um den Privatwagen zu ersetzten, soll in dem Mobilitätsmix aber ein komplett neues Angebot auf der letzten Meile werden.

„Autonome Autos müssen besser sein als menschliche Fahrer, bevor sie im Stadtverkehr eingesetzt werden.“

Philipp Kosok, Verkehrsforscher bei der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Berlin.

10.000 autonome Shuttle-Dienste

Die letzte Meile ist der neuralgische Punkt im Hamburg-Takt. Diese Lücke im ÖPNV-Angebot will der Senat bis 2030 mit autonomen On-Demand-Angeboten schließen. 10.000 selbstfahrende Robotaxis und Shuttle-Busse sollen dann im gesamten Stadtgebiet unterwegs sein und den Privatwagen überflüssig machen. Bei Bedarf sollen sie die Kunden abholen und zum gewünschten Ziel bringen. Im Prinzip funktionieren sie wie Sammeltaxis, nur orientieren sie sich preislich eher am ÖPNV.
Der Kopf und Treiber des Projekts der autonomen Shuttle-Dienste ist der Chef der Hochbahn, Henrik Falk. Er ist überzeugt, dass der Ausbau von Bussen und Bahn allein nicht ausreicht für die Mobilitätswende. „Selbst, wenn wir den ÖPNV bis zum Erbrechen ausbauen“, sagte er beim Stadtgespräch der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Hamburg, sei das System zu starr und unflexibel, um Autobesitzerinnen davon zu überzeugen, dass ihr Privatwagen überflüssig ist. Autonome Taxis und die neuen selbstfahrenden Shuttle-Busse hingegen seien flexibel und deutlich komfortabler als Bus oder S-Bahn und damit attraktiver für viele Autofahrerinnen. Sie könnten die Lücke zwischen ÖPNV und Privatwagen schließen.

Mit dem Robotaxi durch San Francisco

Aber ist die Technik fürs autonome Fahren überhaupt schon ausgereift? Aus Falks Sicht ja. Im Sommer war er auf Delegationsreise in San Francisco. Dort sind bereits Robotaxis unterwegs und Falk ist mitgefahren. „Die Technologie ist da“, sagt er. Die Software kutschierte ihn sicher durch den Stadtverkehr, beachtete Ampeln, bog mal nach rechts, mal nach links ab und das alles so sicher, dass sich der Hochbahn-Chef nach wenigen Minuten langweilte. Jetzt gehe es darum, der Technologie die „edge cases“ auszumerzen. Also die Grenzfälle zu finden, die vielen Situationen außerhalb der Norm, die zu Fehlern führen im Alltagsbetrieb. Dass die alles andere als trivial sind, zeigt ebenfalls der Blick nach San Francisco.
Seit Mitte August durften „Cruise“ von General Motors und der Google-Ableger Waymo in der kalifornischen Hafenstadt mit ihren Robotaxis rund um die Uhr einen kostenpflichtigen Taxiservice anbieten, ohne Operator an Bord. Die Entscheidung war umstritten. Den Vertreterinnen der Stadtregierung, den Rettungskräften und den Mitarbeiterinnen der Verkehrsbetriebe war das zu früh. Immer wieder hatten sie erlebt, dass technische Probleme die Fahrzeuge lahmlegten und den Verkehr blockierten. Wenige Tage nach der Einführung blieben dann auch gleich mehrere Cruise-Fahrzeuge liegen. Ein großes Musikfestival hatte das Mobilfunknetz in dem Stadtteil überlastet, weshalb die Fahrzeuge nicht per Funk umgeleitet werden konnten. Sie blieben stehen und blockierten die Straßen, ein weiteres Fahrzeug blieb im nassen Beton stecken.

Ein fahrerloses Auto der Robotaxi-Firma Cruise fährt im August durch die Straßen von San Francisco. Damit ist es vorerst vorbei.

Fehlerhafte Technik hat schwerwiegende Folgen

Das klingt noch nach Kinderkrankheiten. Doch im Oktober verletzte allerdings ein Cruise-Fahrzeug eine Frau schwer. Dem Unfallbericht zufolge wurde die Fußgängerin zunächst von einem von Menschen gesteuerten Fahrzeug angefahren und vor das selbstfahrende Auto geschleudert. Das Robotaxi blieb zwar sofort stehen, versuchte dann aber, an den Straßenrand zu fahren. Dabei sei die Frau einige Meter mitgeschleppt worden. Die kalifornische Verkehrsbehörde DMV hat der General-Motors-Tochter umgehend verboten, fahrerlose Taxis durch die Stadt zu schicken. Seitdem muss in den Fahrzeugen wieder ein Mensch am Steuer sitzen, der im Notfall eingreifen kann. Die Waymo-Fahrzeuge dürfen weiter fahrerlos durch San Francisco fahren.
„Autonome Autos müssen besser sein als menschliche Fahrer, bevor sie im Stadtverkehr eingesetzt werden und bevor die Gesellschaft die Technik akzeptiert“, sagt Philipp Kosok, Verkehrsforscher bei der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Berlin. Aktuell sei die Technik noch in der Entwicklungsphase, sie funktioniere nicht fehlerfrei. In der jetzigen Phase müssten die Fahrzeuge jede einzelne Sondersituation erlernen. Das heißt: Sie muss programmiert werden. „In der Regel überschätzen die selbstfahrenden Autos die Gefahren. Sie sind übervorsichtig, bleiben stehen, wenn eine Plastiktüte über die Straße weht, und blockieren den Verkehr“, sagt Kosok.

„Wir brauchen Radwege für eine Fahrradstadt.“

Anjes Tjarks
Senator für Verkehr und Mobilitätswende

Shuttlebusse auf festgelegten Routen

Er rechnet damit, dass die ersten selbstfahrenden Fahrzeuge in vier bis fünf Jahren in Deutschland zugelassen werden. „Aktuell gibt es noch kein Fahrzeug, das eine uneingeschränkte Zulassung fürs autonome Fahren auf deutschen Straßen hat“, sagt der Verkehrsforscher. Die rechtliche Grundlage sei aber bereits vorhanden. Im Jahr 2021 hat die Bundesregierung autonomes Fahren auf Level-4-Niveau erlaubt. Das heißt, dass kleine autonome Shuttle-Busse auf genau festgelegten Strecken oder in vorgegebenen Betriebsbereichen unterwegs sein dürfen.
Erste Versuchsfahrzeuge für Level 4 sind seit einigen Jahren mit einer Begleitperson an Bord in verschiedenen Kommunen in Deutschland unterwegs. Ein Sechssitzer pendelt beispielsweise seit dem Jahr 2017 im bayerischen Bad Birnbach im Halbstundentakt durch die Innenstadt. Zunächst nur mit acht Kilometern pro Stunde auf einem 700 Meter langen Streckenabschnitt. Mittlerweile ist er mit Tempo 17 unterwegs und fährt 2000 Meter zum Bahnhof. Seitdem hat sich die Zahl der Fahrgäste schlagartig verdoppelt.

Eine echte Alternative für ländliche Regionen

„Der Einsatz von autonomen Shuttles in ländlichen Gemeinden oder am Stadtrand ist ideal“, sagt Kosok. Wer dort wohnt, braucht rund um die Uhr einen verlässlichen Transport zum Bahnhof. Sei der gewährleistet, sei das Tempo des Fahrzeugs zweitrangig. „Es geht darum, den Menschen überhaupt einmal ein Angebot zu machen“, erklärt er. Und in dem Geschwindigkeitsbereich 15 bis 20 Kilometer pro Stunde könnten die autonomen Shuttle-Busse auf bekannten Routen inzwischen gut und zuverlässig agieren.
Wenn alles nach dem Plan der Senatsverwaltung geht, kurven 2024 die ersten selbstfahrenden Fahrzeuge mit einem Operator an Bord durch die Hansestadt. Die Hochbahn entwickelt mit ihren Projektpartnern, dem Unternehmen Holon und Volkswagen Nutzfahrzeuge (VWN), zwei eigene Fahrzeuge. Das Holon-Shuttle kann dem aktuellen Prototyp zufolge bis zu 15 Passagiere mitnehmen und über eine automatisierte Rampe auch Rollstuhlfahrer. Der Bund fördert das Projekt mit dem Namen ALIKE mit 26 Millionen Euro.
Ein Teil des Geldes soll auch dazu verwandt werden, die Akzeptanz der Bevölkerung für die neue Technik zu stärken. Das Thema polarisiert. Laut einer Statista-Erhebung fehlt 42 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger das Vertrauen in autonom fahrende Fahrzeuge. Sie sind skeptisch und wollen die Verantwortung beim Fahren nicht komplett an ein elektronisches System abgeben.

Die Mobilitätswende in Hamburg soll unter anderem mithilfe von Tausenden autonom fahrenden Kleinbussen gelingen. Dazu gehört auch der Sammeltaxidienst Moia.

Shuttle-Dienste können nur autonom fahren

Hier hat Hamburg noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Denn der Erfolg des Hamburg-Takts ist eng verknüpft mit dem Erfolg der selbstfahrenden Robotaxis und Shuttle-Dienste. Fest steht bereits heute: Mit Personal wird Hamburg die Fahrzeuge nicht auf die Straße schicken können. Das wäre zu teuer und außerdem fehlen die Fahrer.
Bewähren sich die autonomen Shuttles jedoch im Praxistest, bekommt der ÖPNV mit den On-Demand-Angeboten eine zusätzliche Säule und obendrein eine ganz neue Qualität. Die Dienste könnten nicht nur in den dünn besiedelten Randgebieten Autofahrten ersetzen, sondern auch im Stadtgebiet. In vielen Städten gibt es Lücken im ÖPNV-Netz. In Hamburg funktionieren die Querverbindungen zwischen manchen Stadtteilen nicht gut. Dort könnten die selbstfahrenden On-Demand-Angebote den Anwohner*innen lange Umwege mit dem ÖPNV ersparen. „Damit rückt der Service bei der Fahrtzeit und der Flexibilität deutlich näher an den privaten Pkw heran. Das autonome Shuttle kann also zu einem echten Gamechanger werden“, sagt Kosok.
Die kommenden Jahre werden zeigen, ob der Hamburg-Takt funktioniert und die autonomem On-Demand-Dienste tatsächlich die Pkw-Flotte reduzieren. Der Platz, den sie freiräumen könnten, wird in Hamburg dringend für die Verkehrswende gebraucht. Beispielsweise für mehr Grün, um Extremwetter abzupuffern, für mehr Fußverkehr, aber auch, um den Radverkehr zu steigern. Hamburgs Senator für Verkehr und Mobilitätswende Anjes Tjarks bringt es auf den Punkt: „Wir brauchen Radwege für eine Fahrradstadt“, sagte er beim Stadtgespräch der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Hamburg. Nach den aktuellen Regelwerken könnten bestenfalls Radwege für eine weiterhin autozentrierte Stadt gebaut werden. Mit solchen Radwegen wird die Hansestadt ihr Ziel von einem Radverkehrsanteil von bis zu 30 Prozent womöglich nur schwer erreichen.


Bilder: Holan, Moia, Cruise, Daniel Reinhardt

Wer Verkehrswendeprojekte kommunikativ gestalten will, muss lokale Akteure und ihre Themen kennen. Um Konflikten vorzubeugen, sollten Bürger*innen rechtzeitig beteiligt werden. Die lauten ebenso wie die leisen Stimmen gehören dazu. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Konflikte zwischen Verkehrsplanung und Bürger*innen können laut und spektakulär werden. Mitunter werden Maßnahmen der Politik oder der Verkehrsplanung dann von Gerichten kassiert. So geschehen bei dem bekannten Beispiel Friedrichstraße, wo das Berliner Verwaltungsgericht die Sperrung des Kfz-Verkehrs für rechtswidrig erklärte. Geklagt hatte eine Geschäftsfrau vom Aktionsbündnis „Rettet die Friedrichstraße“. Umgekehrt gelten jene Beteiligungsverfahren als gelungen, von denen man seltener hört. „Die erfolgreichen Projekte sind die leisen“, sagt Christian Klasen von DialogWerke. Das Beratungsbüro konzipiert und moderiert Prozesse um nachhaltige Mobilität. Klasen begleitete erfolgreiche Bürgerbeteiligungen unter anderem in Freiburg, Köln und Dresden.

Am Anfang eines Verfahrens besteht oft geringes Interesse seitens der Bevölkerung, Einfluss zu nehmen. Im Zeitverlauf steigt der Wunsch nach Mitsprache. Zugleich sinkt die Möglichkeit einer wesentlichen Einflussnahme.

Das Beteiligungsparadoxon im Blick

„Die Beteiligung ist eine Art Versicherung“, sagt der Experte. „Macht man sie nicht, kann es richtig laut, teuer, zeitintensiv werden.“ Im Blick haben sollte man das Verhältnis von Interesse zu den Möglichkeiten der Einflussnahme im Zeitverlauf eines Verfahrens. Es wird im Beteiligungsparadoxon ausgedrückt. Demnach ist das Interesse von Bürger*innen am Anfang eines Projekts gering. Die Möglichkeiten auf Planungen Einfluss zu nehmen ist zu diesem Zeitpunkt jedoch hoch. Im Verlauf des Prozesses nimmt das Engagement der Bevölkerung zu. In der Umsetzungsphase erreicht es seinen Höhepunkt. Gleichzeitig nimmt die Möglichkeit der Einflussnahme dann ab. Wenn die Betroffenen das größte Interesse am Beteiligungsverfahren zeigen, besitzen sie nur noch geringe Einflussmöglichkeiten. Klasen: „In einem Koordinatenkreuz dargestellt, treffen sich irgendwann beide Linien. Spätestens dann müssen wir die Leute eingebunden haben.“

Positive Narrative versus Verlustängste

Hinter Protesten gegen Maßnahmen stehen oft Verlustängste bei den betroffenen Anrainerinnen. „Mobilität ist eine Gewohnheitssache“, erklärt Klasen. „Das hat mit Rationalität wenig zu tun. Bei der Mobilitätswende geht es darum, den Raum neu aufzuteilen. Egal in welcher Stadt wir arbeiten: Der meiste Ärger dreht sich um den Platz für den ruhenden und fahrenden Kfz-Verkehr.“ Als Konsequenz müssen die Vorteile einer Veränderung klar kommuniziert werden. So vollzog man in Hamburg eine Wende von der „autofreien“, zur „autoarmen“ Stadt. Darauf wies der ehemalige Projektleiter von „freiRaum Ottensen“ , Bastian Hagmaier Anfang dieses Jahres gegenüber der Tageszeitung taz hin: „Angefangen hat es mit dem Verkehrsversuch Ottensen macht Platz 2019/2020, in dem einzelne Straßenzüge als autofreier Raum erprobt worden sind. Auf Basis dessen hat die Bezirkspolitik im Februar 2020 den Beschluss gefasst, dass es eine Verstetigung geben soll, und auch schon den Terminus des autoarmen Quartiers statt wie im Verkehrsversuch den des autofreien genutzt.“ Als weiteres Beispiel nennt Christian Klasen die Vision des Hannoveraner Bürgermeisters Belit Onay. Der betonte, dass es für Menschen, die auf das Auto angewiesen sind, zukünftig leichter sein wird, ihre Ziele zu erreichen. „Er verpackt das in eine Geschichte und erläutert den Mehrwert. Das ist ein Erfolgsfaktor.“ Das alte Narrativ von der alleinerziehenden Nachtschwester, nach der sich die Regeln für alle übrigen Verkehrsteilnehmerinnen orientieren sollen, wird durch eine neue Story ersetzt. Immerhin gewann Onay mit seiner Vision der Verkehrswende den Wahlkampf.

In Freiburg hatten die Teilnehmenden der Auftaktveranstaltung vor Ort und online die Möglichkeit, sich mit ihren Fragen, Wünschen und Anregungen aktiv in den Klimamobilitätsplan einzubringen.

Von der Vorbereitungsphase bis zum Freiburger Gemeinderatsbeschluss wurden in einem zweijährigen Entstehungsprozess die fachliche Bearbeitung und die Öffentlichkeitsbeteiligung eng miteinander verzahnt.

Freiburger Mobilitätsplan vor Ort und im Livestream

Hilfreich ist eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung der Bürgerinnen. Sie beginnt mit der Kommunikation über eine Projektidee. „Man muss den Leuten sagen: Es ist noch eine Idee und noch nicht geplant. Sonst gibt es sofort Protest“, warnt der DialogWerke-Experte. Dazu gehören ein Ansprechkontakt sowie ein brauchbares Format. Ein gutes Beispiel für solche Formate ist der zweijährige Beteiligungsprozess zum Klimamobilitätsplan (KMP) 2023 in Freiburg. Darin geht es um Maßnahmen mit dem Ziel, mindestens 40 Prozent der Treibhausgase bis zum Jahr 2030 einzusparen. Am Anfang standen Interviews mit der Stadtgesellschaft, vom ADFC über die IHK bis hin zu Fridays for Future. Es folgte eine prominent besetzte Auftaktveranstaltung mit Landesverkehrsminister Winfried Hermann und Oberbürgermeister Martin Horn im Konzerthaus Freiburg. Damals unter Pandemie-Auflagen: „Rund 280 Teilnehmende vor Ort und im Livestream waren dabei“, erinnert sich Klasen. „Weil wir die Aufmerksamkeit hatten, folgte noch eine Online-Beteiligung zum Mobilitätsverhalten mit etwa 800 Leuten.“ Darin priorisierten Teilnehmende den Ausbau des Radnetzes, einen sicheren und umweltverträglichen Ausbau des Straßenverkehrs sowie des ÖV. Es folgten zwei Ein-Tages-Foren, auf denen mit Stakeholdern und zufällig ausgewählten Bürgerinnen über den KMP diskutiert wurde. Klasen findet: „Das war konkreter. Wir konnten verschiedene Maßnahmen nebeneinanderlegen und fragen: Was heißt das eigentlich, wenn wir die Parkpreise vervierfachen?“

„Wollen wir dreihundert Leute haben, schreiben wir drei- bis viertausend an. Die Rücklaufquote beträgt weniger als zehn Prozent.“

Christian Klasen, DialogWerke

Die Arbeit mit ausgewählten Zufallsbürgerinnen

Die Arbeit mit Zufallsbürgerinnen fußt auf einem möglichst heterogenen Auswahlfeld nach Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Einkommen, Wohnort oder Mobilitätsverhalten. Klasen: „Wollen wir dreihundert Leute haben, schreiben wir drei- bis viertausend an. Die Rücklaufquote beträgt weniger als zehn Prozent.“ In Freiburg wurden 550 Personen zufällig aus dem Melderegister gezogen und angeschrieben. Auf Basis der Rückmeldungen wurde eine Gruppe ausgewählt, welche die Breite der Stadtgesellschaft widerspiegelt. Im Alter von 23 bis 80 Jahren mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen und einem diversen Mobilitätsverhalten.
Man muss auch wissen: Je mehr Daten abgefragt werden, desto geringer die Rücklaufquote. Klasen sagt sogar: „Am besten wäre, man würde nur sagen: Es geht um die Gestaltung der Zukunft der Stadt.“ Dahinter steckt die Erfahrung, dass die eine Gruppe zum Thema Mobilität abwinkt und sagt: „Ist doch alles gut, ich will keine Veränderung.“ Die Menschen, die eine Veränderung wollen, neigen eher dazu, sich zu beteiligen. Dann wird es unausgewogen.

Um mit Bürger*innen über Mobilität zu reden, die durch herkömmliche Bewerbung nicht erreicht werden können, braucht es die aufsuchende Beteiligung wie hier in Köln.

Beteiligung braucht die richtigen Orte

Unter der Beteiligung der DialogWerke fanden ähnliche Foren in Dresden und Köln statt. Nach Klasens Erfahrung kann dabei ein besonderer Ort dem Thema Wertschätzung verschaffen. So lud die Kölner Oberbürgermeisterin anlässlich des Mobilitätsforums ins historische Rathaus. „Wer nicht gerade heiratet am Wochenende, kommt da nicht unbedingt rein. Das muss natürlich gut beworben werden.“ Geht es nur um eine Straßenraumgestaltung, reicht auch eine Schule oder Turnhalle. Ein Dialogangebot sollte man den Menschen immer machen und dabei etwas zum Anfassen mitbringen. „Am besten Pläne“, sagt Klasen. „Sich mit den Leuten zusammen darüberbeugen, um konkret zu verstehen, worum es geht.“

Laute Stimmen und andere Überraschungen

Für Verzerrung im Meinungsbild sorgen die lautstarken Stimmen. Auch wenn sie in Minderheit sind, lassen sie sich nicht einfach ignorieren. Sie müssen zu Wort kommen. Klasen rät: „Dazu muss man sagen, dass es sie in beide Richtungen gibt. Den einen gehen Maßnahmen nicht schnell genug. Die anderen sagen, jetzt bricht der ganze Wirtschaftsverkehr zusammen. Wichtig ist, gib ihnen einen klaren Rahmen, in dem sie zu Wort kommen können. Schaue aber auch, dass man die breite Mitte mitbekommt.“
Ein Diskussionspapier des Deutschen Instituts für Urbanistik DIfU („Bürgerinnen und Bürger an der Verkehrswende beteiligen“) empfiehlt, lautstarken Stimmen gegenzusteuern, indem Meinungen „vorab bzw. zu Beginn einer Bürgerversammlung z. B. per Punktabfrage erhoben werden, um unterschiedliche Positionen (Pro und Contra) auch quantitativ sichtbar zu machen.“ Auch „Fokusgruppendiskussionen“, eignen sich, um leise Stimmen zu erfassen.
Schließlich gibt es noch andere Überraschungen. Beispiel Hamburg-Bramfeld: Dort wollte die Stadtverwaltung Radwege ausbauen – und dafür alte Bäume fällen. Plötzlich stellten sich diejenigen Bürger*innen dagegen, die sonst für die Verkehrswende sind. „Wenn wir an ein Projekt rangehen, hängen wir eine Akteurs- und Themenlandkarte an die Wand“, erläutert Klasen. „Deswegen der Hinweis an die Planer: Führt gleich am Anfang ein paar Gespräche. Lernt das Thema und die Akteure kennen.“

„Mobilität ist eine Gewohnheitssache. Das hat mit Rationalität wenig zu tun. Bei der Mobilitätswende geht es darum, den Raum neu aufzuteilen.“

Christian Klasen, DialogWerke

Das Kölner Mobilitätsforum fand im historischen Rathaus in der Altstadt auf Einladung von Oberbürgermeisterin Henriette Reker statt. Ein angemessener Ort kann förderlich sein.

Erfolgreich trotz Push-Maßnahmen

In Freiburg stand am Ende des Beteiligungsprozesses die Verabschiedung des Klimamobilitätsplans. Er enthält 17 Maßnahmen, die sukzessive bis 2030 umgesetzt werden sollen. Darunter der geforderte Ausbau des Radnetzes und des ÖPNV. Aber auch Maßnahmen, die sonst viel Konfliktpotenzial mitbringen: Klasen sagt: „Da sprechen wir nicht nur von Pull-Maßnahmen: Wir machen alles schöner und laden die Leute ein, mehr Fahrrad zu fahren. Sondern über Push-Maßnahmen. Das heißt, wir drücken Fahrzeuge raus aus der Stadt.“ Obwohl der KMP ein massives Verteuern des Parkens, die Reduktion des Parkraums mit Schlüsselvorgaben für neue Siedlungen vorsieht, wurde er zum Erfolg. „Das war ein Prozess, der vom Gemeinderat am Ende über alle Parteigrenzen hinweg stark gelobt wurde,“ sagt Klasen.

Politischer Mut gehört dazu

Für den Experten von DialogWerke gehört politischer Mut zum Erfolg von Maßnahmen. Mit Blick auf Reallabore wie in Hamburg Ottensen sei es empfehlenswert, eine Sache einfach mal zu starten, gemäß dem Tenor „Ich hab euch das erklärt. Wir haben eure Bedenken ernst genommen. Wir machen das aber jetzt mal. In einem halben oder einem Jahr evaluieren wir das Ganze.“ Zwar kann es passieren, dass ein Projekt nicht funktioniert. Oder dass es das so noch nicht war. Was von Versuch und Irrtum übrig bleibt, wäre dennoch ein Lerneffekt. Der Haken daran, das weiß Klasen ebenso: „Politisch zu sagen, vielleicht machen wir auch einen Fehler, funktioniert häufig nicht.“
Mut braucht es auch am Ende eines Verfahrens, etwa bei der Frage, wo Kompromisse im Bürgerdialog eigentlich enden sollten. Klasen: „Viele Städte haben sich das Ziel einer Klimaneutralität bis 2035 gesetzt. Das werden wir allein mit Elektrofahrzeugen nicht schaffen. Also braucht es gewisse Maßnahmen in der Stadt. Da gibt es Modellierungen und Verkehrsmodelle. Am Ende, so sind unsere demokratischen Verhältnisse, entscheidet darüber in der Regel der Stadtrat, der Gemeinderat oder ein Verkehrsausschuss. Da sind dann irgendwo die Grenzen der Beteiligung gesetzt.“


Bilder: Stadt Köln – Thomas Banneyer, Grafik: Velobiz, Stadt Freiburg, Stadt Freiburg – Patrick Seeger, DialogWerke

Wer den Verkehrsraum umgestalten und neu verteilen will, begegnet meist großen Widerständen, egal ob durch die Bevölkerung oder das ortsansässige Gewerbe. Albert Herresthal, Herausgeber des Informationsdienstes Fahrradwirtschaft, sprach mit Kirsten Pfaue, Leiterin des Amts Mobilitätswende Straßen in Hamburg, darüber, wie sie in der Hansestadt Akzeptanz für ihre Maßnahmen erzeugt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Verkehrspolitik ist immer ein Konfliktfeld, denn Veränderungen gefallen nicht jedem. Wie gelingt es Ihnen, vor Ort eine möglichst breite Akzeptanz für die Umgestaltungen zu schaffen?
Die Hamburger Radverkehrsförderung haben wir einerseits durch das stadtweite Erheben und Analysieren von Daten untermauert. Wir haben in Hamburg ein dauerhaftes und automatisiertes Radverkehrszählnetz aufgebaut. Die Daten von rund 100 Messquerschnitten mit Wärmebildtechnik sind online abrufbar. Darüber können wir Entwicklungen erläutern und konkrete Maßnahmen erklären. Zahlen, Daten, Fakten schaffen Akzeptanz und Verständnis. Denn am Ende bilden sie das Verhalten der Menschen selbst ab und diese gehören als Nutzerinnen und Nutzer in den Mittelpunkt. Außerdem haben wir einen guten Maßnahmen-Mix hinbekommen zwischen Marathon, also lang andauernden Projekten wie dem Netzausbau und Sprints, also schnell umzusetzenden Maßnahmen wie der Roteinfärbung von Kreuzungsbereichen, der Umsetzung von Pop-up-Bikelanes und der Schaffung von mehr Protektion. Letztlich ist es so, dass Maßnahmen Akzeptanz haben, wenn die Menschen merken, dass sie ihre tägliche Mobilität verbessern. Durch mehr Komfort und mehr Sicherheit.

Setzen Sie Planungen auch gegen Widerstände durch oder ist die Akzeptanz der unmittelbar Betroffenen für Sie eine Voraussetzung für die Umsetzung?
Mit dem Kopf durch die Wand ist keine gute Grundhaltung und sicher nicht meine. Ich bin überzeugt davon, dass in jeder Kritik auch eine Botschaft und eine Chance stecken. Deshalb gilt es, in einem ersten Schritt ernsthaft zuzuhören, die Belange in den Prozess einzubauen und dann abzuwägen.

„Mit dem Kopf durch die Wand ist keine gute Grundhaltung.“

Kirsten Pfaue, Leiterin des Amts Mobilitätswende Straßen in Hamburg

Vielerorts kämpfen ansässige Einzelhändler um jeden Parkplatz und eine optimale Anbindung mit dem Auto. Erleben Sie das in Hamburg auch so? Welchen Weg haben Sie im Gespräch mit den Händlern gefunden, Verständnis für Ihre Planungen zu erreichen?
Wir haben uns in unserem „Hamburger Bündnis für den Rad- und Fußverkehr“ einen Grundsatz gegeben und zwischen allen Partnern abgestimmt, der heißt, dass alle Beteiligten der Information von Bürgerinnen und Bürgern, Betroffenen, Politik und Interessenverbänden in ihren Zuständigkeiten einen hohen Stellenwert einräumen. Dies insbesondere dort, wo bereits artikuliertes öffentliches Interesse, eine Verknüpfung mit anderen Planungsprozessen im Stadtteil, hoher Einzelhandels- und Gewerbebesatz, Parkplatzmangel oder viele Straßenbäume in engem Straßenraum Konflikte möglich erscheinen lassen. Hier soll stets eine Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden. Unser Ziel in Hamburg ist es, ins Gespräch zu kommen und zu verdeutlichen, welche Chancen auch für Händlerinnen und Händler durch eine bessere Radverkehrsanbindung bestehen – vor allem in Kombination mit dem ÖPNV.

Gibt es Projekte, die am Widerstand gescheitert sind, und wie gehen Sie damit um?
Natürlich ist es auch schon vorgekommen, dass wir Projekte „on hold gestellt“ oder umgeplant haben, weil es Rückmeldungen und Diskurse gab, die uns veranlasst haben, Dinge zu überdenken. Wichtig ist, sich dann nicht festzubeißen, sondern die Dinge in Ruhe mit allen Stakeholdern zu erörtern.

Welche Rolle spielen Presse und Medien für Ihre Arbeit und wie gelingt es, dass sie eine konstruktive Rolle einnehmen?
Der gesellschaftliche Konsens, dass wir eine Mobilitätswende brauchen, der ist in Hamburg da, und die Zahlen zeigen dies auch eindrucksvoll. In 2022 wurden 68 Prozent aller Wege der Bevölkerung Hamburgs mit Verkehrsmitteln des Umweltverbunds, also im ÖPNV, mit dem Fahrrad und zu Fuß, zurückgelegt. Im Vergleich zu 2017 ist dieser Anteil um 4 Prozentpunkte gestiegen. Den größten Zuwachs erreichte dabei das Fahrrad, dessen Anteil in 2022 gegenüber 2017 um sieben Prozentpunkte auf 22 Prozent angestiegen ist. Das ist enorm! Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs sank von 36 Prozent in 2017 auf 32 Prozent in 2022. Dies gibt meiner Arbeit natürlich viel Rückenwind und letztlich wissen wir doch alle, auch Presse und Medien, dass ein „einfach weiter so“ nicht geht. Auch gegenüber den Medien ist es deshalb wichtig, und dies ist unser Bestreben, transparent und klar zu erläutern, was wir warum tun. Dies hilft enorm.

Zur Person

Kirsten Pfaue hat mit dem Thema Fahrrad eine erstaunliche Karriere gemacht: Von 2010 bis 2014 war sie Landesvorsitzende des ADFC Hamburg, 2015 wurde sie Radverkehrskoordinatorin der Freien und Hansestadt Hamburg und heute leitet sie das Amt „Mobilitätswende Straßen“. Doch auch bundesweit ist Kirsten Pfaue gefragt. So wurde sie 2022 zur Vorsitzenden des Beirats Radverkehr im Bundesverkehrsministerium gewählt.
Doch Posten sind nur das eine, spannender sind die tatsächlichen Ergebnisse auf der Straße. Und hier hat Hamburg in den letzten zehn Jahren große Fortschritte gemacht, wenn auch beginnend auf sehr niedrigem Niveau (Bewertung Fahrradklimatest 2012: Schulnote 4,4). Heute findet man Velorouten und Fahrradstraßen, gerade auch an sehr prominenten Stellen, etwa entlang der Außenalster. Zwar ist Hamburg von durchgängigen Netzen für den Radverkehr noch weit entfernt, aber es ist eine konsequente Strategie erkennbar, deren Umsetzung im Vergleich zu vielen anderen Städten relativ geräuscharm erfolgt.


Bild: bvm.hamburg

Das Jahrhunderthochwasser hat vor zwei Jahren weite Teile der Stadt Stolberg bei Aachen zerstört. Beim Wiederaufbau will die Stadtregierung nun die Mobilität in der zerstörten Region neu ordnen. Stolberg soll zur Stadt der kurzen Wege werden. Ein Ortsbesuch. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Der Baulärm ist in Stolberg allgegenwärtig. Am Mühlener Bahnhof im Stadtzentrum sanieren Bauarbeiter den Parkplatz und rütteln Pflastersteine ins Sandbett. In der nahe gelegenen Geschäftsstraße wird hinter vielen der verbarrikadierten Fensterfronten gebohrt und gesägt, und in der angrenzenden Fußgängerzone reißen Bagger die Straße auf, um neue Leitungen für Strom, Gas und Wasser im Erdreich zu verlegen.
Seit zwei Jahren leben die Menschen in Stolberg, rund 15 Kilometer westlich von Aachen gelegen, auf einer riesigen Baustelle. Wann sämtliche Schäden behoben sind, ist nicht absehbar. Im Sommer 2021 hatte das Jahrhunderthochwasser die Talachse der Kupferstadt mit voller Wucht getroffen. Im Süden überschwemmte die braune Brühe zunächst die Produktionsmaschinen in den Industriebetrieben. Weiter flussabwärts walzte sie mit jeder Menge Unrat durch die frisch renovierte Fußgängerzone, setzte dort das Rathaus unter Wasser und breitete sich Stunde um Stunde in den umliegenden Straßen aus. Bis auf drei Meter Höhe türmte sich die Wassermasse an den Hausfassaden und riss alles mit, was sich ihr in den Weg stellte. Sie unterspülte die Asphaltdecke und verdrehte sie wie einen Hefezopf. Sie zerstörte Brückenpfeiler und riss Krater in Schwimmbadgröße in die Straßen. Nahezu alle Wohnungen und Geschäfte im Erdgeschoss der Talachse, dem Herzstück der Stadt, wurden geflutet.
„Das Ausmaß der Zerstörung war unglaublich“, sagt Bürgermeister Patrick Haas. Als er jedoch inmitten der Trümmer mit den Rettungskräften und den Anwohnern sprach, stand schnell für ihn fest: Ein Wiederaufbau allein reicht nicht aus. „Wir müssen die Katastrophe als Chance nutzen“, sagt er. Die Menschen brauchen eine Perspektive, um in Stolberg zu bleiben. Die will er ihnen geben, indem er in seiner Stadt so viel Klimaschutz, Klimaanpassung und nachhaltige Mobilität umsetzt wie möglich. Stolberg soll zu einer Stadt der kurzen Wege werden. Der Arbeitsaufwand dafür ist immens. Statt nur die alte Infrastruktur wiederherzustellen, arbeitet das Team um den Mobilitätsmanager der Stadt, Georg Trocha, mit Hochdruck daran, die öffentlichen Flächen in der Talachse, der Hauptschlagader der Kernstadt, neu aufzuteilen. Sie legen im „Verkehrskonzept Talachse“ für jeden Streckenabschnitt fest, welche primären Ziele sie erfüllen soll, also ob der Bus-, Rad-, Fuß- oder Autoverkehr dort bevorzugt wird. Außerdem kooperieren sie mit den Unternehmen in den Gewerbegebieten, um den Mitarbeiterinnen fürs Pendeln eine Alternative zum Privatwagen anzubieten.

In der Fußgängerzone werden noch neue Versorgungsleitungen verlegt. Aber der Neuanfang ist gemacht: Die Goldschmiede ist geöffnet.

Vorgeschichte ohne Katastrophe

Der Entschluss des Bürgermeisters, die Mobilität in der Talachse neu zu ordnen, hat eine Vorgeschichte, die schon vor der Flutkatastrophe beginnt. Auf seine Initiative hin hatte die Stadtregierung bereits 2018 das „Klimafreundliche Mobilitätskonzept“ beschlossen. Stolberg brauchte damals dringend eine Alternative zum Auto im Alltag. Etwa ein Drittel der Treibhausemissionen, die vor Ort produziert werden, verursacht der Autoverkehr. Das ist ein typischer Wert für ländliche Regionen, aber viel im Bundesdurchschnitt, wo der Wert mit rund 20 Prozent deutlich niedriger liegt. In Stolberg war zu diesem Zeitpunkt ein umweltgerechter Umbau nicht möglich, weil der Stadtrat bereits 2015 die Pläne für den Umbau der Talachse beschlossen hatte. Diese wurden 2019 umgesetzt. Nach der Flut gab das Mobilitätskonzept Haas den notwendigen Rückenwind, um in der Talachse den Rad- und Busverkehr zu stärken.
Die Rahmenbedingungen für den Umstieg auf den Umweltverbund sind gut. Die 60.000-Einwohner-Stadt ist an ein attraktives Schienennetz angebunden. Vom Hauptbahnhof am Stadtrand fährt bis zu viermal pro Stunde ein Regionalexpress Richtung Aachen oder Köln. Die Euregio-Bahn verbindet die Stadt zudem mit dem Umland und den Niederlanden und hält viermal im Stadtgebiet. Was den Pendlerinnen und Stadtbewohnerinnen bislang fehlte, war ein attraktives Stadtbussystem sowie eine Radinfrastruktur, auf der die Menschen sicher und bequem durch die Stadt oder zu den Bus- und Bahnhaltestellen radeln können.
Der Platz für mehr Radwege und neue Buslinien, die die Wohngebiete passieren, soll von den bisherigen Flächen für den Autoverkehr kommen. Damit das klappt, muss insbesondere das Parken neu geordnet werden. „Die Autos sollen in der Kernstadt nicht mehr überall am Fahrbahnrand abgestellt werden, sondern nur noch dezentral in Parkhäusern, Park&Ride-Stellplätzen oder auf neuen Sammelparkplätzen, die wir bauen werden“, sagt Haas. Die Idee ist, dass alle Autofahrenden in der Talachse dennoch im Umkreis von 150 bis 200 Meter einen Parkplatz finden. Sind die Wohnstraßen erst mal von geparkten Autos am Fahrbahnrand befreit, könnten dort neue Stadtbuslinien verkehren. Bislang scheiterten diese aufgrund des ruhenden Verkehrs an zu schmalen Fahrspuren und zu engen Kurven.

„Mir ist es lieber, nur drei Routen in Gänze zu bauen, als einen Flickenteppich zu produzieren.“

Georg Trocha
Mobilitätsmanager der Stadt Stolberg

Durchgehende Radroute statt Flickenteppich

Der gewonnene Platz soll auch für breitere Gehwege und neue Radwege genutzt werden. Radstreifen, separate Radwege oder Fahrradstraßen sind in Stolberg bislang die seltene Ausnahme. Das spiegelt auch das Mobilitätsverhalten der Anwohnenden wider. Nur magere drei Prozent der Wege wurden laut letzter Mobilitätsbefragung 2016 mit dem Rad zurückgelegt. „Mittlerweile sind es zwar deutlich mehr, aber wir stehen beim Ausbau des Radverkehrs noch am Anfang“, sagt Trocha.
Vor drei Jahren wurde ein Radverkehrsplaner eingestellt, der das bereits 2018 skizzierte gesamtstädtische Routennetz mit 18 Hauptrouten schrittweise umsetzen soll. „Das sind die wichtigsten Verbindungen für Radfahrer, um durch die Stadt zu kommen“, sagt Trocha. Sein Anspruch ist, jede dieser Routen stets komplett fertigzustellen. „Mir ist es lieber, nur drei Routen in Gänze zu bauen, als einen Flickenteppich zu produzieren. Schließlich wollen wir die Menschen aufs Rad bringen“, sagt er.
Eine der wichtigsten Verbindungen ist die Radroute, die in der Talachse parallel zum Fluss Vicht verläuft. Über eine Länge von rund sieben Kilometer verbindet sie die Industriestandorte am Stadtrand mit der Altstadt, den Geschäftsstraßen und dem Mühlener Bahnhof im Zentrum der Kupferstadt und führt dann weiter bis zum Hauptbahnhof am anderen Ende der Stadt. Diese Route ist für die Pendlerinnen, Anwohnerinnen attraktiv und sogar für Tourist*innen. Denn sie führt mitten durch die Fußgängerzone. Von dort sind es nur wenige Schritte hoch in die Altstadt mit ihren pittoresken Gässchen bis zur mittelalterlichen Burg.

Wenn alles nach Plan geht, wird in den kommenden Wochen der Gehweg um einen zweieinhalb Meter breiten Radweg erweitert.

Zweirichtungsradweg für die Talachse

In der Fußgängerzone unterhalb der Burg hat die Flut besonders gewütet. Als das Wasser abfloss, türmten sich dort bis auf Brusthöhe Tische, Stühle, Bretter und sonstiges Treibgut aus Holz, Metall und Plastik. Heute ist davon zwischen Geschenkladen und Goldschmiede nichts mehr zu sehen. Bunte Windspiele, Blumenkübel und kleinen Aufsteller locken die Pas-santinnen in die Läden. Aber weiterhin sind viele der umliegenden Ladenlokale verwaist. Ihre Schaufenster sind verbarrikadiert und dokumentieren mit frontfüllenden Fotos die Flutschäden. Dieser Teil der Talachse ist ein Lichtblick für die Stadtbewohn-erinnen. Seit dem Frühling verlegen hier Bauarbeiter Versorgungsleitungen im Erdreich. „Wenn die Fußgängerzone im Anschluss neu gepflastert wird, bekommt sie in der Mitte einen drei Meter breiten Zweirichtungsradweg“, sagt Haas und schiebt sein Gravelbike an Bagger und Baustellenbaken vorbei. Wenn alles nach Plan geht, wird das Teilstück der Radroute gegen Ende des Sommers fertig sein.
Im weiteren Verlauf des Tals wird die Fortsetzung des Zweirichtungsradwegs derzeit geplant. In der angrenzenden Rathausstraße gilt zwar bereits Tempo 30. Allerdings animiert die schnurgerade Straße Autofahrende dazu, deutlich schneller zu fahren. Zwischen den abgestellten Pkw am Fahrbahnrand und drängelnden Fahrzeugen am Hinterrad ist Radfahren dort momentan nur für hart gesottene Fahrradfahrende alltagstauglich. Wie die Flächen dort künftig verteilt werden sollen, diskutieren die Ratsmitglieder in den kommenden Wochen.
Auf dem letzten Drittel der Strecke Richtung Bahnhof ist die Planung schon deutlich weiter vorangeschritten. Noch in diesem Jahr soll der vorhandene Gehweg um einen rund zweieinhalb Meter breiten Zweirichtungsradweg erweitert werden. „Für die Radfahrer ist das ein echter Gewinn“, sagt Trocha. Vor der Flut mussten sie sich hier ebenfalls mit den Autofahrenden die Fahrspur teilen.
Der Zeitdruck für die Feinplanung der Teilabschnitte, der übrigen Routen und ihre Umsetzung ist immens. „Wir müssen viele große Projekte in kurzer Zeit planen und fertigstellen“, sagt Trocha. Für das kleine Team ist das ein Kraftakt, aber zugleich die einmalige Gelegenheit, die Alltagsmobilität in Stolberg in kurzer Zeit spürbar zu verändern. In der Regel können Planer*innen in ihrem Arbeitsleben stets nur einzelne Bereiche eines Stadtteils umplanen. „Wir dagegen bauen die gesamte Talachse um“, sagt der Mobilitätsmanager. Hilfreich ist, dass der Ausbau des Radverkehrs schon seit Jahren vorbereitet wurde.

Ein Fahrradparkhaus am Hauptbahnhof

Auf dem Bahnhofsvorplatz zeigt sich, wie Bürgermeister und Mobilitätsmanager den Radverkehr schon lange auf Zuwachs planen. Eine große Zahl überdachter Stellplätze und 36 abschließbare Fahrradboxen stehen hier zwischen Parkplatz und Bahnsteig. „Sämtliche Boxen sind vermietet und rund zwei Dutzend Radfahrer stehen auf der Warteliste“, sagt Trocha. Mit diesem Bedarf hatte bei der Fertigstellung 2016 noch niemand gerechnet. „Damals standen gerade mal zehn Räder am Bahnhof.“ Trotzdem ließ die Stadt im Rahmen eines Förderprojekts 16 Fahrradboxen neben den Gleisen aufstellen. Als die Nachfrage hoch blieb, sorgten weitere Förderprogramme für Nachschub. Der stetig steigende Bedarf an sicheren Abstellplätzen ist für Trocha ein wichtiges Signal Richtung Stadtrat: „Diese Entwicklung beweist, dass die Infrastruktur, die wir bauen, immer auch eine Nachfrage erzeugt“, sagt er. Der nächste Schritt ist bereits gemacht. Im kommenden Jahr soll am Bahnhof ein Fahrradparkhaus mit 100 Stellplätzen entstehen.
Viele ihrer Mobilitätsideen setzen Patrick Haas und Georg Trocha selbst auch im eigenen Alltag um. „Ich habe drei Kinder, trotzdem haben meine Frau und ich ‚nur‘ ein Auto, das ist selten in unserer Region“, sagt Bürgermeister Haas. Er nutzt den Wagen werktags kaum, sondern fährt mit seinem Gravelbike ins Büro und zu all seinen Terminen. Obwohl die Region bergig ist und die Anstiege mit bis zu zehn Prozent Steigung immer wieder knackig. Trocha nimmt für seine Termine lieber ein E-Bike aus der Dienstfahrzeug-Flotte. „Mit Motorunterstützung ist Radfahren selbst in Stolberg fast für jedermann möglich“, sagt er.

Sichere Radabstellanlagen gibt es in Stolberg sowohl am Mühlener Bahnhof in der Stadt (links) als auch am Hauptbahnhof am Stadtrand (rechts)

Mit Unternehmen autoarme Mobilität fördern

Dass Stolberg Alternativen zum Privatwagen für die Alltagswege braucht, finden mittlerweile auch einige der lokalen Unternehmen. „Junge Ingenieure aus Aachen oder Düren fragen deutlich seltener nach einem Dienstwagen als noch vor zehn Jahren“, sagt Trocha. Vielmehr wollen sie diese Strecken per Bus, Bahn und Rad zurücklegen. Das berichten ihm ortsansässige Arbeitgeber. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, brauchen sie Alternativen zum Auto. Trocha reagiert darauf. Im kommenden Jahr startet er mit 16 Arbeitgebern aus Stolberg ein Projekt im Rahmen von „ways2work“.
Diesen Wettbewerb hat die Landesregierung Nordrhein-Westfalen initiiert. Die Aufgabe ist, autoarme Mobilität auch in ländlichen abgelegenen Gewerbegebieten umzusetzen. Stolberg ist eine von 15 Kommunen, deren Projektidee gefördert wird. Diese sieht vor, dass ab 2024 eine neue Stadtbuslinie nebst Rufbusverkehr vier Gewerbegebiete ans ÖPNV-Netz anbindet. Außerdem werden an den Unternehmensstandorten und im Stadtgebiet Sharing-Stationen für E-Bikes installiert. An der Umsetzung ist neben der Stadt Stolberg das regionale Verkehrsunternehmen ASEAG beteiligt und der Bike-Sharing-Anbieter Velocity Aachen.
Für die Arbeitgeber ist das Risiko gering. „Die Unternehmen zahlen für die Station mit sechs E-Bikes an ihrem Standort einen Eigenanteil von 8000 Euro“, sagt Trocha. Bei Bedarf kann die Flotte auch auf 12 oder 18 Räder erweitert werden. Die Resonanz bei den Unternehmen ist hoch. Anfang August waren 16 Arbeitgeber mit rund 1900 Mitarbeitern in Stolberg bei „ways2work“ dabei, Tendenz weiterhin steigend.

„Die Autos sollen in der Kernstadt nicht mehr überall am Fahrbahnrand abgestellt werden, sondern nur noch dezentral.“

Patrick Haas
Bürgermeister der Stadt Stolberg

Stadtbus im 15-Minuten-Takt

Die Mobilitätsstationen, die neue Buslinie und das Rufbussystem sind ein Vorgeschmack auf das neue Stadtbussystem, das die Stadtregierung in ein paar Jahren in der Kernstadt ausrollen will. Die neuen Linien sollen nicht mehr ausschließlich auf den Hauptstraßen unterwegs sein, sondern in die Wohnstraßen hineinfahren und dort in kurzen Abständen halten. Der Fußweg zur nächsten Haltestelle soll maximal 150 Meter betragen. „Momentan sind die Haltestellen oft 400, 600 oder 800 Meter entfernt und haben eine Steigung von zehn Prozent, das ist unattraktiv“, sagt Trocha. Acht Stadtbuslinien soll es geben, die im 15-Minuten-Takt zwischen 5 und 23 Uhr die einzelnen Haltestellen ansteuern. „Das Wichtigste ist der Takt, Takt, Takt!“, sagt Haas. Nur wenn die Menschen keinen Fahrplan benötigten und sich auf kurze Wartezeiten verlassen könnten, steigen sie um, sagt er. „Entscheidend ist, dass alle Busse gleichzeitig am Stadtbahnhof, dem Mühlener Bahnhof, ankommen und die Busse auch gleichzeitig abfahren“, sagt Trocha. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass jeder Fahrgast jeden Bus erreicht.

Bus und Bahn als Rückgrat für Alltagsmobilität

„Für uns sind der Bus und die Regionalbahn das Rückgrat der Alltagsmobilität“, sagt Trocha. Deshalb haben sie künftig Vorfahrt, vor dem Radverkehr und dem Autoverkehr. „Damit die Busse in die Wohngebiete überhaupt hineinfahren können, muss das Parken am Fahrbahnrand in den engen Straßen teilweise jedoch neu strukturiert werden“, sagt er. Im Frühjahr wurden in Stolberg bereits die potenziellen Routen abgefahren und angepasst. In den kommenden Wochen entscheidet der Stadtrat über die Pläne.
Der Ausbau des Stadtbussystems ist wie der Ausbau des Radverkehrs ein Projekt für die nächsten Jahrzehnte. Läuft alles nach Zeitplan, könnten laut Trocha zwei Buslinien im Jahr 2025 starten, sofern die Landesregierung die Finanzierung übernimmt.
Die Aufgaben in Stolberg sind riesig, der Kraft- und Arbeitsaufwand immens. Sämtliche Ratsmitglieder arbeiten ehrenamtlich. In den kommenden Monaten stellen sie die Weichen, wie sie und ihre Enkel zukünftig mobil sein werden. Wenn sie ihre aktuellen Vorhaben umsetzen, kann Stolberg in den kommenden Jahren zum Vorreiter werden und zeigen, wie eine nachhaltige Alltagsmobilität in ländlichen Kommunen aussehen kann. Bei allen Vorhaben sitzt dem Team um Haas und Trocha die Zeit im Nacken. Der Wiederaufbaufonds der Landesregierung und des Bundes ist momentan bis 2030 begrenzt.
Der Umbau der Mobilität ist dabei längst nicht die einzige Herausforderung. Gegen eine weitere Jahrhundertflut werden all die neuen Maßnahmen nichts ausrichten können. Das weiß Haas genau. „Das Wasser muss zukünftig weit vor unserer Stadt aufgehalten werden“, sagt der Bürgermeister. Ideen für große Rückhaltebecken inmitten grüner Wiesen weit vor der Stadt existieren bereits, die Pläne dafür sind noch nicht verabschiedet.


Bilder: Stadt Stolberg, Georg Trocha, Andrea Reidl

Berlin hat eine neue Regierung. Die ersten Amtshandlungen der neuen Verkehrssenatorin brachten Radaktivist*innen in Aufruhr. Was steckt dahinter – und was ist zu erwarten? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Die Aufregung in der Hauptstadt vor den Sommerferien war enorm. „Die neue Senatorin entpuppt sich als Autoverkehrssenatorin, die zwar ‚Miteinander‘ propagiert, während ihr Herz aber eindeutig für die autogerechte Stadt schlägt“, kommentierte Ragnhild Sørensen die Aktivitäten der neuen Berliner Senatsverwaltung. Nicht nur die Sprecherin vom Verein Changing Cities, der seinerzeit den Volksentscheid zum Fahrradverkehr vorangetrieben hatte, Tausende waren in Berlin innerhalb weniger Tage mobilisiert worden und protestierten gegen den vermeintlichen Autopopulismus des neuen schwarz-roten Senats. Ende Juni feuerte Changing Cities aus vollem Rohr: „Verkehrssenatorin wickelt das Mobilitätsgesetz ab“, stand über einer Pressemitteilung. Die Medien der Hauptstadt berichteten über „mögliche Kürzungen beim Radverkehr“.

Neue Senatorin lässt Maßnahmen ruhen

Der konkrete Anlass für den Aufruhr war ein Verwaltungsvorgang, den selbst politische Widersacher der neuen Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) für eine legitime Maßnahme halten. Die Politikerin hatte am 16. Juni angekündigt, dass alle von der rot-grün-roten Vorgängerregierung beschlossenen Radwege-Bauprojekte überprüft würden. Während Schreiner von vornherein von einem „Ruhen“ der Maßnahmen und einer „Priorisierung“ mit dem Ziel eines funktionierenden Verkehrsmixes sprach, wähnten Vertreterinnen des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) ebenso wie grüne Politikerinnen in den Berliner Bezirken einen möglichen „Stopp“ des Radwege-Ausbaus. Der ADFC sah die Gefahr, dass „bewusst Politik gegen die Radfahrer“ gemacht werde.

Freigabe nach Check durch die „Task Force“

Faktisch war Folgendes geschehen: Senatorin Schreiner hatte mit ihrer Verwaltung 19 Radwege-Baumaßnahmen überprüft, die noch von der alten Regierung beschlossen worden und in den folgenden drei Monaten für die Umsetzung vorgesehen waren. Eine „Task Force“ im Verkehrssenat hatte die Aufgabe, diese Projekte zu prüfen. Wer genau sich hinter dieser „Task Force“ verbarg, beantwortet die Pressestelle des Verkehrssenats wie folgt: „Die Task Force ist eine kleine agile Einheit, die sich aus Expertinnen und Experten der Radwegeverkehrsplanung zusammensetzt. Die Gruppe prüft und plant ideologiefrei Radwege in der ganzen Stadt. Sie wird dies auch weiterhin machen.“ Die Ergebnisse kamen in den folgenden Wochen Stück für Stück an die Öffentlichkeit, in der längst eine Negativberichterstattung hohe Wellen schlug. Mit drei Ausnahmen gab die Senatorin schließlich die geplanten Vorhaben und die Finanzmittelzusagen wieder frei. Viel Lärm um nichts also? Stefan Gelbhaar, direkt gewähltes Bundestagsmitglied für Bündnis 90/Die Grünen im Bezirk Berlin-Pankow und Radpolitik-Vordenker, ordnet das Handwerk ein: „Wie das kommunikativ in die Wege geleitet wurde, wie an die Bezirke gegangen wurde, was die Bezirke teilweise daraus gemacht haben, das war jetzt nicht nur kommunikativ, sondern auch politisch: einfach sehr schlechte Governance.“

„Die Verkehrswende will keiner stoppen, auch nicht die Senatorin.“

Andreas Knie
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wahlkampfthema: „Politik gegen Autofahrer“

Die jüngste Eskalation zwischen Verkehrsaktivistinnen, Vertreterinnen der Bündnis-Grünen und der CDU-Senatsverwaltung geschah vor dem Hintergrund einer verankerten politischen Auseinandersetzung. Ein dankbares Wahlkampfthema für die CDU war die vermeintliche Ideologie, mit der wiederum die Grünen in der alten Regierung Mobilitätspolitik betrieben hätten. Das Motiv der leidenden Autofahrer schwang in Berlin ständig mit. Nach der Wahl sagte der neue Regierende Bürgermeister Kai Wegner, die Mehrheit in seiner Stadt sei es leid gewesen, dass laufend Politik gegen Autofahrer gemacht werde. „Dafür stehe ich nicht zur Verfügung.“ Allerdings kann kaum die Rede davon sein, dass Wegner mit einem harten Autofahrer-Wahlkampf agiert hätte, sagen die politischen Beobachter. „Die Grünen hätten im Mobilitätswahlkampf stärker und überzeugter auftreten können. So musste die CDU nicht einmal einen harten Auto-Wahlkampf machen“, sagt etwa Heinrich Strößenreuther, Radverkehrsaktivist mit CDU-Parteibuch. Auch Andreas Knie, Mobilitätsforscher beim Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, hielt die Aufregung für übertrieben. „Kontroversen werden schon mal gerne künstlich herbeigeschafft“, sagt Knie, „die große Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner weiß um die Situation, weiß um die Probleme mit versiegelten Flächen und dem Verkehr.“ Daher ist der Forscher sicher: „Um es klar zu sagen: Die Verkehrswende kann man gar nicht mehr stoppen und die will auch keiner stoppen, auch nicht die Senatorin.“

Gewachsene Unzufriedenheit trifft neuen Senat

Mit einem etwas distanzierteren Blick auf die Vorgänge des Sommers tritt ein spannendes Muster zutage. Eine neue, eher konservative, Regierung tritt das Erbe jener Politiker an, die wiederum vor einigen Jahren stark vom Erfolg der Radverkehrs-aktivistinnen angetrieben worden waren. Die Baumaßnahmen in der Hauptstadt haben auch überregional Aufsehen erregt. 130 Kilometer hatte die Vorgängerregierung nach Berechnungen von „Changing Citites“ als neue Radwege ausgewiesen, das war deutlich weniger als eigentlich angestrebt. „Außerdem war das sehr großzügig gerechnet und oftmals nicht in der Qualität, wie sie im Berliner Mobilitätsgesetz gefordert wird“, urteilt Strößenreuther. Aus seiner Sicht war der Protest, der sich nun im Sommer gegen die neuen Verant-wortungsträgerinnen entlud, länger schon gewachsen. „Der Boden für den Widerstand gegen die Verkehrssenatorin ist sehr fruchtbar“, sagt Strößenreuther, „denn die Unzufriedenheit hat sich bereits mit der rot-grün-roten Regierung aufgestaut, kann sich aber jetzt eher entladen, da die eigene Klientelpartei nicht mehr in der Regierung ist.“

Auch nach sechs Jahren rot-grün-rotem Senat gibt es in Berlin beim Radverkehrsausbau noch viel zu tun. Die Berliner Verwaltungsstruktur mit viel Entscheidungskompetenz in den Bezirken macht den Weg dabei nicht einfacher, sagen Beobachter.

„Ideale Voraussetzungen für Aktivisten“

Was das bedeutet, war in Berlin gut zu erkennen in den vergangenen Wochen. Fahrradvertreterinnen und Politikerinnen der Grünen gingen in Alarmismus über. Auch die SPD, Regierungspartnerin der CDU, schloss sich öffentlich dem Widerstand gegen vermeintliche Sparmaßnahmen beim Radverkehr an. So erbte Senatorin Schreiner einerseits den Frust, andererseits hat sie eine besonders aufmerksame Community um sich herum. „Als Aktivist“ sei er erstaunt gewesen, „dass das Mobilitätsgesetz so schnell und so stark auf der Agenda war, wie nur ein kleiner Funke eine verkehrspolitische Explosion entzündet – das sind optimale Voraussetzungen, um miteinander das Thema Verkehrswende voranzutreiben, den sonst bleiben alle in ihren Schützengräben“, sagt Strößenreuther.
Grünen-Abgeordneter Gelbhaar sieht die kritische Masse als wichtige Rahmenbedingung. Anderthalb Wochen nach der Bekanntgabe des Moratoriums für die Radwege habe es einen zwölf Kilometer langen Demonstrationszug von Radfahrenden gegeben. „Das ging sehr schnell“, sagt Gelbhaar: „Das hat CDU und SPD im Senat beeindruckt und richtigerweise aufgeschreckt.“ So lässt sich bislang auch zumindest in den Äußerungen der Politikerin Schreiner keinesfalls eine Abkehr vom Radwegeausbau erkennen. „Der neue Senat hat ein ganz klares Ziel: Mehr Radwegekilometer zu bauen als die Vorgängerregierung“, heißt es aus der Pressestelle des Verkehrssenats.

Was hinterließ der alte Senat?

Mobilitätsforscher Andreas Knie hat sich selbst ein Bild gemacht. Er urteilt positiv: „Die Senatorin will es richtig machen. Und da muss man auch tatsächlich selbstkritisch sagen, dass die bisherige Regierung im Kampf um diese Gebiete, im Kampf um die ersten Meter das eine oder andere Stückwerk hinterlassen hat.“ Am Plan, ist Knie sicher, werde nicht gerüttelt. Tatsache ist, dass die alte Regierung den Prozess zwar vorangetrieben hat, die Maßnahmen aber teilweise sehr schleppend vorankamen. Gelbhaar verteidigt hingegen die Arbeit der Vorgängerregierung. Auf Bezirks-ebene hätten vor sechs Jahren die Straßenbau-Fachleute den Radverkehr „mitgemacht“, auf Landesebene habe es „anderthalb Leute für ganz Berlin“ gegeben. „Das hat sich geändert. In jedem Bezirk gibt es Menschen, die für den Radverkehr zuständig sind. In der Senatsverwaltung ist eine ganze Abteilung aufgebaut worden.“
Heinrich Strößenreuther sieht eine Verwaltungsbeschleunigung als elementar an. Die Lage habe sich schon mit der neuen Staatssekretärin unter der Vorgängerregierung verbessert, nun sei mit Claudia Elif Stutz eine Fachfrau und erfahrene Beamtin aus dem Bundesverkehrsministerium in den Senat gewechselt. Wichtig: Elif Stutz fahre selbst ganzjährig Rad, sagt Strößenreuther. Die von Rot-Grün-Rot geschaffenen personellen Kompetenzen, etwa 80 Personen, reichten zwar eigentlich nicht aus, glaubt Strößenreuther. Aber es sei eben eine Beschleunigung der Verwaltungsarbeit relevant, um das Thema voranzutreiben.

„Für die Verkehrswende muss beständig nachgelegt werden. “

Stefan Gelbhaar
Bündnis 90/Die Grünen

Sorge vor Veröden der Radpolitik

Grünen-Radpolitiker Stefan Gelbhaar hingegen ist in Sorge. Klar könne man jetzt nicht offen gegen die Radverkehrspolitik agieren. „Nach diesen Vorgängen steht im Raum, dass die Abteilung eben politisch abgeschnitten wird, dass sie langsam verödet, relevante Entscheidungen nicht getroffen oder verzögert werden.“ Seine Sorge: Bei den Haushaltsberatungen könnte die neue Regierung eher Budgets für Großprojekte freiräumen, etwa den U-Bahn- und Straßenbau. „Dann fehlen Geld und Personal bei realistischen Projekten in Sachen Straßenbahn und Fahrrad.“ Er befürchtet, dass sich zwar auf dem Papier zunächst nichts ändern werde, aber die Priorität des Radverkehrs nach unten rücke. „Die Frage ist: Kommen weiter viele neue Projekte dazu oder wird das Thema entschleunigt? Derzeit sehen wir nur Projekte, die von der alten Regierung noch auf den Weg gebracht wurden. Für die Verkehrswende muss allerdings beständig nachgelegt werden.“

Senat „will“ Budget auch nutzen

Die neue Regierung kündigt an, dass sie nicht nur Gelder für den Radverkehr im Haushalt einstellen wolle (29,32 Mio. Euro 2024, 29,81 Mio. Euro 2025), sondern anders als die Vorgängerregierung diese Mittel auch tatsächlich ausgeben „will“. Dies ist ein bekanntes Problem ineffizienter, aber ambitionierter Politik. Und hier setzen die Beobachter auf die Kraft der neuen Führung. Für Heinrich Strößenreuther wird es besonders wichtig sein, an die S-Bahn-Stationen auch qualitativ hochwertige Bike-and-Ride-Anlagen zu bauen und gefährliche Kreuzungen zu entschärfen. Hier stockte der Fortschritt zuletzt. Forscher Andreas Knie weist auf ein spezifisches Thema der Hauptstadt hin: In Berlin kümmern sich abseits der großen Straßen die Bezirke um den Straßenbau. „Es bräuchte ein Landestiefbauamt, wo der Senat nicht nur anordnet, sondern auch baut – oder wo die Bezirke Anträge stellen können.“ Eine Verwaltungsreform wäre seiner Ansicht nach also geboten, um dem Radverkehr nachhaltig Schub zu verleihen.

„Verkehrsbuch ohne Autohass“

Radverkehrs-Aktivist Heinrich Strößenreuther schreibt derzeit gemeinsam mit Michael Bukowski und Justus Hagel ein neues Buch, das die nachhaltige Stadtentwicklung inspirieren soll und dabei das „Gegeneinander“ durch „Miteinander“ ersetzen soll. „Das Verkehrsbuch ohne Autohass – wie wir alle den Kulturkampf um die Straßen gewinnen“ heißt das Projekt, für das seit Anfang August auf der Crowdfunding-Plattform Startnext Geld gesammelt wird. Strößenreuther kündigt gegenüber VELOPLAN an, dass das Buch auf jeden Fall veröffentlicht werde. Mit dem Crowdfunding möchten die Autoren auch Aufmerksamkeit darauf lenken, dass „Verkehrsfrieden“ geschafft werde.

https://www.startnext.com/verkehrsbuch-ohne-autohass/blog/beitrag/crowdfunding-ohneautohass-super-angelaufen-p102201.html


Bilder: stock.adobe.com – Tobias Seeliger, Stefan Gelbhaar, Albert Herresthal, stock.adobe.com – Marco

Will Butler-Adams ist CEO des Faltradherstellers Brompton. Im Interview erklärt er, wie die Firma ihr eigenes Verleihsystem von Fahrrädern aufgebaut hat und welche Rolle die Fahrradindustrie in sich wandelnden Städten einnehmen sollte. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Sie sind seit 21 Jahren bei Brompton. Welche Entwicklungen der Industrie in dieser Zeit sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?
Ich war überall, auf der IFMA, der Eurobike, der Interbike etc. Auf der ganzen Welt habe ich mein Fahrrad auf- und eingefaltet. Für eine Weile hat sich die Industrie selbst verloren, glaube ich, und war auf Mode anstatt auf die Technik fokussiert. Sie war interessiert an sexy Postern und Werbung, kostenlosem Bier, riesigen Ständen und Partys auf der Eurobike. Der Technik-Fokus ist wieder zurückgekommen aufgrund des E-Bikes. Das hat Einnahmen erbracht, Innovationen gefördert und meiner Meinung nach die Branche gerettet.

Und welches derzeitige Branchen-Thema beschäftigt Sie und Ihr Team?
Wir haben eine Klima- und Gesundheitskrise. Es geht nicht um sexy Bilder, sondern darum, einige der globalen Probleme zu lösen. Ein großer Teil davon ließe sich durch das Fahrrad lösen. Wenn wir als Industrie Lobbyarbeit betreiben und zusammenarbeiten mit Stadtplanern, Bürgermeistern, Politikern, dann können wir diese Schande beenden, dass zwei Tonnen schwere Fahrzeuge für drei oder vier Meilen durch unsere Städte rollen. Wir müssen lauter und animierender sein und einen besseren Job dabei machen, die Politik zu verändern. Das muss passieren.

Wie sollten Unternehmen agieren in dieser Forderung nach Veränderung?
Wir müssen ehrlicher sein. Manchmal sind die Leute in der Wirtschaft zu höflich. Wir haben eine Klimakrise, weil wir zu viel konsumieren. Konsum führt zu CO2-Emissionen. Ich kann eine 100 Kilogramm schwere Person zehn Kilometer durch Berlin transportieren mit einem zehn Kilogramm schweren Rad. Ich brauche dafür keine über zwei Tonnen schweren Elektrofahrzeuge. Aber auf der Autobahn kann ich keine 120 km/h fahren und einen Unfall überleben. Dafür sind diese Fahrzeuge gemacht.
Auch Güter sollten in der Stadt mit leichten Elektrofahrzeugen transportiert werden, die keinen Überrollkäfig, keine Airbags und Co. brauchen, weil sie nur 25 km/h fahren. Städte müssen zu Inseln werden und die Menschen schützen, die in ihnen leben. Wir sollten uns mit dem öffentlichen und dem aktiven Verkehr fortbewegen. Aber Fahrzeuge, die für 120 km/h auf der Autobahn gebaut sind, sollten nicht in der Stadt erlaubt sein. Die sind dort nicht angemessen.

„Für uns ist es viel einfacher, jemanden von einem Scooter zum Fahrrad zu konvertieren als aus einem Auto oder aus einer Straßenbahn. “

Will Butler-Adams, CEO Brompton

In der 25-km/h-Kategorie sind E-Bikes aktuell besonders beliebt. Welche Rolle spielen die motorisierten Fahrräder für Brompton?
Wir denken immer darüber nach, was unsere Fahrräder für die Kunden und Kundinnen leisten können. E-Bikes sind wichtig, weil wir wollen, dass mehr Leute Fahrrad fahren. Es gibt eine gewisse Anzahl an Leuten, die das nicht tut. Wenn man sie auf ein elektrisch unterstütztes Fahrrad setzt, lächeln sie, sind glücklich und sagen: „Okay, jetzt verstehen wir uns!“ Wir können sie zum Radfahren zurückholen und das Radfahren inklusiv halten.
Für Brompton werden E-Bikes aber nie genauso wichtig sein wie für gewöhnliche Fahrräder. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Fahrrädern tragen wir unsere Räder. Das Gewicht ist wirklich wichtig. In den Märkten, wo wir die elektrischen Räder verkaufen, machen sie rund 30 Prozent aus. Wir verkaufen sie aber nur auf der Hälfte der Märkte. Wir bieten sie nicht an in China, Japan oder Südkorea, was einige unserer größten Märkte sind. An den Gesamtverkäufen machen die E-Bikes ungefähr 15 Prozent aus. Dieser Anteil wird vermutlich nie größer als 30 Prozent werden, weil die Elektronik je nach Einsatzzweck des Fahrrads zu viel wiegen kann.

Welche Märkte wird Brompton als Nächstes erschließen? Ist das Faltrad ein Produkt, das überall funktionieren kann?
Unser größter Markt weltweit ist aktuell China, das Land hat das Vereinigte Königreich überholt. Weitere große Märkte sind Japan, Südkorea, Singapur, Frankreich, Spanien, Benelux, Deutschland und die USA. Sie sind sehr divers, aber funktionieren allesamt. Ihre Gemeinsamkeiten sind größer als ihre Unterschiede, obwohl Städte sehr verschieden sind. Sogar Los Angeles, was ein seltsames flaches Konglomerat ist, hat mehr Gemeinsamkeiten mit New York oder Tokio als Unterschiede. Die Herausforderungen sind dieselben, etwa Gesundheit oder Bevölkerungsdichte. Unsere strategischen Schlüsselmärkte sind China, Deutschland, die USA und das Vereinigte Königreich. In die werden wir am stärksten investieren.

Gibt es Negativbeispiele, also Märkte, in die Sie nicht vordringen konnten?
Nicht wirklich. Als wir angefangen haben, Fahrräder in Indonesien zu verkaufen, erlebten wir aber eine spannende Situation. Niemand von uns war je in Indonesien gewesen, dennoch waren wir dort in drei Geschäften präsent. Die verkauften erst 200, dann 1000, dann 2500 Räder. Wir vermuteten, dass sie die Räder über den grauen Markt nach Japan oder Südkorea weiterverkaufen. Ich besuchte die Städte dort und verbrachte Zeit mit unseren Kunden. Bei einer Frühstücksausfahrt traf ich 750 Bromton-Besitzer und Besitzerinnen. Gerechnet hatte ich mit 20.

Brompton hat immer in London produziert. Andere Firmen arbeiten gerade am Reshoring, also daran, die Produktion nach Europa zurückzubringen. Was wären Ihre Tipps für diesen Schritt?
Um die Kosten lokaler Produktion zu rechtfertigen, braucht man geistiges Eigentum. Wenn ein Unternehmen nur mit Standardrahmen arbeitet, sollte man diese weiterhin aus Asien oder vielleicht aus Portugal beziehen. Der Grund, mit dem wir rechtfertigen, vor Ort zu produzieren, ist, dass der Rahmen voll von geistigem Eigentum steckt. Wir stellen ihn also nicht nur her, sondern schützen unser Knowhow. Wir folgen außerdem nicht der Mode. Die Industrie ändert ihre Rahmen alle zwei Jahre. Wir haben unser Rad und die Art, wie wir es herstellen, 50 Jahre lang optimiert. Wir sind dabei unglaublich effizient und haben sehr wenig Ausschussware. 99,5 Prozent der Räder sind im ersten Anlauf richtig.

Bike Hire ist die Leihradsparte des Londoner Herstellers Brompton. Bereits gezahlte Leihgebühren können Kund*innen sich beim Privatkauf zum Teil gutschreiben lassen.

Ein spezielles Geschäftsfeld Ihres Unternehmens in Großbritannien ist Brompton Bike Hire. Wie wichtig ist dieses Projekt für die Firma?
Bike Hire ist ein zwölf Jahre altes Projekt. Zu der Zeit waren wir eines der ersten Mietradkonzepte. Es war ein Desaster. Aber da das Projekt klein war, konnten wir uns das leisten. So lernt man dabei etwas.

Ist es denn immer noch ein Desaster?
Nein, es ist fantastisch! Wir haben das Projekt entwickelt, weil unser Fahrrad kontraintuitiv ist. Einem Ferrari sieht man an, dass er schnell ist. Wenn man ein Brompton ansieht, denkt man erst mal, dass es ein Rollstuhl ist. Dann glaubt man, dass das Rad kaputt gehen könnte oder die kleinen Räder stören. Man muss es ausprobieren, um es zu verstehen.
Der ganze Grund, warum wir Bike Hire gestartet haben, war, um den Leuten Tests zu geringen Preisen zu ermöglichen und das Fahrrad zu erleben. Dann kann man das Investment rechtfertigen. Wir sind außerdem die einzige Radvermietung der Welt, wo Leute ein Fahrrad von uns kaufen können, wenn sie nach dem Test davon überzeugt sind. Wir sorgen damit also für Einnahmen und haben ein profitables, landesweites Geschäft. Wir sind in 50 Städten in Großbritannien. Die Kosten liegen bei fünf Pfund pro Tag.

Bereits gezahlte Kosten können Mieter über einen Rabatt zurückerhalten, wenn sie sich ein eigenes Brompton kaufen. Wie viele Menschen nutzen dieses Angebot?
Das funktioniert für uns gut. Wir nutzen Bike Hire aber auch für soziale Zwecke. Wir können Communitys, die sich beim Radfahren eigentlich nicht wohlfühlen, die Möglichkeit geben, unser Rad umsonst zu testen. Außerdem können Menschen das Rad leihen, es mit nach Hause nehmen und mit dem Auto in einen Park bringen und es dort fahren. Dort fühlen sich die Leute sicher und können sich wieder mit dem Radfahren vertraut machen.

Gibt es Pläne, das Konzept auch in anderen Ländern einzusetzen?
Es hat elf Jahre gedauert, bis wir dieses Konzept zum Laufen gebracht haben. Wir planen, in den nächsten zwölf Monaten in Singapur an den Start zu gehen. Schöne ist, dass dort niemand etwas stiehlt. Dieses Problem zu lösen, war eine unserer größten Hürden. Jetzt haben wir ein System, dem wir vertrauen, und sind in der Lage, es in anderen Ländern auszurollen.

Multimodaler Transport ist eine der Kernstärken von Falträdern. Wie blicken Sie auf die Konkurrenz aus Leihrädern und Sharing-Scootern?
Ich sehe das eher als Chance, denn als Gefahr. Wir müssen mehr Leute auf Fahrräder aller Art kriegen. Der Haupttreiber ist, dass wir unser Leben in Städten falsch gestalten. Wir als Industrie, egal ob Fahrräder, E-Scooter oder andere elektrische Leichtfahrzeuge, tragen diese Verantwortung gemeinsam. Ich bin ein großer Fan von E-Scootern. Früher war es so, dass Menschen geboren wurden, mit vier Jahren ein Laufrad hatten, Fahrrad fuhren und es mit 13 nicht mehr so cool fanden. Dann nahmen sie lieber den Bus und irgendwann ein Motorrad oder Auto. Jetzt realisieren die Kinder mit Scootern, dass Autos und U-Bahnen langweilig sind. Scooter fahren ist cool und gibt ihnen einen kleinen Adrenalinrausch. Die Menschen verschwinden nicht ins Auto oder in die Straßenbahn, sondern bleiben auf der Straße. Wenn sie dann 25 oder 27 sind, überlegen sie, ob es nicht besser wäre, ein Fahrrad zu nutzen, weil es sicherer ist und sie sich bei der Fortbewegung mehr bewegen können. Für uns ist es viel einfacher, jemanden von einem Scooter zum Fahrrad zu konvertieren als aus einem Auto oder aus einer Straßenbahn. Außerdem erzeugen Scooter-Fahrer mehr Druck auf die Fahrradinfrastruktur und fordern hier Verbesserungen.

Österreich fördert das Mobilitätsmittel Lastenrad in Kombination mit einem ÖV-Abo. Sollten andere Länder solche Maßnahmen adaptieren?
Der wichtigere Punkt ist, dass Regierungen Autobesitz mit Milliarden von Euros subventionieren. Damit sollten sie aufhören und in Radinfrastruktur, die Radverkehrserziehung von Kindern, mehr Parks und bessere Gehwege investieren. Es geht nicht um das Fahrrad, sondern um unser Zusammenleben in Städten. Wir müssen uns unsere Städte zurückholen und zusammenhalten. Wir müssen Städte gemeinsam gestalten, anstatt von der Autoindustrie gespalten zu werden.


Bilder: Brompton