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Mit dem Fahrzeug Ono hat Onomotion ein Segment eta-bliert, das die Vorteile von Autos und E-Bikes vereinen will. Der Berliner Hersteller zeigt sich bis heute visionär und innovativ. Welche Rolle die Fahrzeuge vor allem auf der letzten Meile in einer nachhaltigen Zukunft spielen werden, liegt aber nicht nur in den Händen der Mitarbeiter*innen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


Wenn Beres Seelbach daran denkt, wie er und seine Mitgründer der Onomotion GmbH im Jahr 2018 den ersten Design-Prototypen des heute als Ono bekannten Fahrzeugs vorstellten, erfüllen ihn positive Emotionen. „Damals waren wir im Motion.Lab, einem Coworking-Space für Hardware-Start-ups. Wir haben viele Freunde, teilweise aber auch Geschäftspartner, Gesellschafter, Investoren und Familie eingeladen. Unsere Mitarbeiter aus dem Marketing hatten eine ganz tolle Präsentation vorbereitet und das Fahrzeug kam am Ende mit ein bisschen Rauch auf die Bühne. Es ist, glaube ich, ein paar Stunden vorher fertig geworden.“
Vor diesem Moment lag ein langer Weg. Der Präsentation der ersten Fahrzeuggeneration des Schwerlastenradherstellers gingen an die drei Jahre Produktentwicklung voraus. Ein erster Prototyp, den Onomotion in den Büros in Berlin ausstellt, beweist eindrucksvoll, wie viel in der Entwicklungsphase passiert ist. Das unverkleidete Fahrzeug mutet wie das Projekt eines fähigen Hobbybastlers an. Als Sitz fungiert ein Ikea-Stuhl, dessen Gestell abgeschraubt wurde.
Mit den Fahrzeugen, die Onomotion 2019 in einer Pionier-Ausführung und seit 2020 regulär produziert, hat der erste Prototyp abgesehen von seinen Abmessungen augenscheinlich wenig gemeinsam. Die Firma, die in ihren Anfängen Tretbox hieß, baut ein dreirädriges Schwerlastenrad mit Elektromotor, Wetterschutz und einer Ladefläche mit austauschbaren Container-Modulen. Die Nutzlast beträgt bis zu 200 Kilogramm, das Ladevolumen zwei Kubikmeter.
Geboren wurde das Design für die Ono (das Modell ist eine Sie), weil die Gründer einen Bedarf für eine neue Fahrzeuggattung sahen und diesem nachgingen. „Es hat begonnen mit den Kundenwünschen und den Kundenanforderungen und einem leeren Blatt Papier“, erklärt Geschäftsführer Beres Seelbach.
Die genauen Anforderungen ermittelten er und seine Mitgründer zu Beginn des Entwicklungsprozesses in Gesprächen mit Kurier-, Express- und Paketdiensten (KEP) wie UPS, Hermes und DPD. Für das Start-up war diese Zielgruppe damals unter anderem attraktiv, weil wenig Marketing nötig war, um die Dienstleister für sich zu gewinnen. „Die suchen quasi proaktiv nach einer Lösung“, erklärt Seelbach.

Die Montage findet bei Onomotion auf Hebebühnen statt. Perspektivisch könnte es sinnvoll sein, auf Fließbandmontage umzustellen.

Ist das noch Fahrradbranche?

Die Frage, ob das denn noch ein Fahrrad sei, dürfte den Fahrer*innen, die mit der Ono im Alltag unterwegs sind, nicht selten begegnen. Schon das fehlende Kennzeichen des Fahrzeugs ist ein starkes Indiz, wie diese zu beantworten ist. Noch valider als die Überlegung zur Fahrzeuggattung scheint hingegen die Frage zu sein, wie viel Fahrradbranche im Unternehmen Onomotion steckt. Die Historie der drei Firmengründer zumindest ist stark von der Automobilbranche geprägt. „Man merkt das vor allem am Design-Prozess, der eins zu eins aus der Automobilbranche stammt, also das Handzeichnen und Tapen. Das Einzige, was wir nicht gemacht haben, ist, das Fahrzeug aus Ton zu bauen“, erzählt Beres Seelbach mit Blick auf die gängige Design-Praxis in der Automobilindustrie, neue Modelle in Realgröße aus Ton zu formen.
Seelbach selbst hat gemeinsam mit Mitgründer und Fahrzeugingenieur Philipp Kahle vor der Onomotion-Zeit ein Service- und Vertriebsnetz für Elektrofahrzeuge aufgebaut. Murat Günak, der dritte im Bunde, war langjähriger Chefdesigner bei Mercedes und der Volkswagen-Gruppe. „Durch Murat stand das Thema Design von Anfang an sehr stark im Vordergrund“, so Seelbach. Günak zeichnete die ersten Design-Entwürfe von Hand. Mit Tape wurde der Entwurf auf eine weiße Wand übertragen und im Anschluss in ein Design-Programm übernommen. Parallel begannen die Ingenieure damit, Rahmen und Aufbau der Ono zu konstruieren. Mock-ups aus einfachen Materialien waren der nächste Schritt im Design-Prozess. Seelbach: „Dann haben wir erste Design-Prototypen gebaut, die noch etwas anfällig waren, was die Haltbarkeit angeht. Die haben wir dann auch den Kunden vorgestellt.“ Einmal ausgereift, wurde das grundlegende Design dann festgezurrt, und der Fokus verschob sich darauf, die tatsächlichen Fahrzeuge so haltbar, wartbar und produzierbar wie möglich zu machen.
Mittlerweile stellt das Berliner Unternehmen die Ono bereits in der vierten oder fünften Fahrzeuggeneration und die Container in der dritten Generation her. Beres Seelbach: „Das ist eigentlich für die Fahrenden und für die Kunden gar nicht sichtbar, aber wir bringen mit der Maintenance lauter Updates ein, die technischer Natur sind und vor allem die Zuverlässigkeit erhöhen und dadurch die Kosten senken.“

„Zu sagen, dass sich ein Mikrodepot langfristig rechnen müsse, ist vielleicht ein bisschen zu kurz gedacht.“

Beres Seelbach, Geschäftsführer Onomotion GmbH

Beres Seelbach hat Onomotion gemeinsam mit Philipp Kahle und Murat Günak 2016 gegründet. Die drei vereinen reichlich Expertise, die unter anderem aus der Automobilbranche stammt.

Wartungsintervalle sind entscheidend

Die verschiedenen Fahrzeuggenerationen unterscheiden sich bezüglich der verwendeten Komponenten. Komponenten wie die Shimano-Schaltung Nexus stammen vom Fahrrad. Viele Zulieferer kommen aber auch aus dem Automotive-Bereich. In der jüngeren Vergangenheit wechselte Onomotion zum Beispiel den Bremsenhersteller. Anstatt mit Magura-Fabrikaten rollen die Onos heute mit Bremsanlagen der Firma Fahrwerker aus dem Werk. Die Firma hat sich auf das Segment der Schwerlastenräder spezialisiert, eine Fahrzeuggattung, die neben Onomotion unter anderem Rytle, Mubea oder Citkar als Mitbewerber vorantreiben. Der Grund für den Wechsel der Bremsen liegt darin, dass die Fahrwerker-Modelle eine größere Haltbarkeit und längere Wartungsintervalle bieten. „Ich denke, dass das eine oder andere Fahrradbauteil in Zukunft noch ersetzt wird“, meint Beres Seelbach. „Nicht nur der Markt kommt in die Gänge, sondern auch die Zulieferinfrastruktur. Immer mehr Zulieferer entwickeln Komponenten wie Bremsen, Motoren oder Fahrwerke für diese neue Kategorie.“
Die Wartungsintervalle sind bei den gewerblichen Kunden die Krux, wenn es darum geht, rentabel zu sein. Die Ansprüche sind hoch, wie Seelbach erklärt: „Wir sprechen Kunden an, die normalerweise eher in einem Lieferwagen oder Transporter sitzen. Die sind es gewohnt, maximal einmal im Jahr, alle zehn- oder zwanzigtausend Kilometer zu einer Wartung zu fahren. Da ist bei uns definitiv noch Luft nach oben.“ Erste Kunden sind ihre Onos bereits 20.000 Kilometer gefahren. Das Unternehmen zielt über die Lebensspanne eines Fahrzeugs auf Laufleistungen zwischen 50.000 und 100.000 Kilometer ab.
Zu Beginn musste die Ono alle 600 Kilometer gewartet werden. Mittlerweile ließ sich die fahrbare Strecke zwischen zwei Wartungsterminen auf 2000 Kilometer erweitern. Perspektivisch will das Unternehmen diesen Wert noch um ein Vielfaches nach oben schrauben, um dem „Automobilstandard“ etwas näher zu kommen. Neben noch besseren Bremsen könnte auch der ketten- und ritzellose Antrieb eines seriellen Hybrids ein sinnvoller Schritt sein. „Das ist nicht das perfekte Fahrradfahrgefühl, aber in dieser Produktkategorie erwartet man das, glaube ich, sowieso nicht“, sagt Seelbach. Auch die Verkleidungsteile der Ono sollen noch robuster werden. Über Befragungen, unter anderem direkt auf dem Fahrzeug-Display, prüft der Hersteller, wie zufrieden seine Kundschaft ist. Verbesserungswünsche sammelt Onomotion auf einer Prioritätenliste. Aktuell in Arbeit und bald erhältlich ist eine Federung für die Hinterachse, die den Fahrkomfort gerade an langen Arbeitstagen erhöhen soll.
Auch wenn Onomotion stellenweise noch Aufholbedarf zum „Automobilstandard“ sieht, kombiniert das Schwerlastenrad grundsätzlich die Vorteile von Kfz und Fahrrädern und bietet somit gewissermaßen das Beste aus zwei Welten. Die Ono ist flexibel, platzsparend und hat entnehmbare Akkus. Als E-Bike lässt sie sich ohne Führerschein und auf der Fahrradinfrastruktur fahren und direkt am Zielort abstellen.
Gleichzeitig ist das Cargobike in Sachen Komfort, Design und Qualität eher dem Kfz nahe. Mit Gesamtkosten, die perspektivisch auf wenige Cent pro Kilometer fallen sollen, ist das Konzept auch wirtschaftlich für viele Lieferwagennutzerinnen interessant. Wie sehr diese Vorteile greifen, hängt mitunter stark von externen Bedingungen ab, weiß Seelbach: „Ich glaube, dass du immer diese zwei Faktoren hast. Das eine ist das Produkt, für das man als Unternehmer verantwortlich ist. Das andere sind die Marktbedingungen, für die die Politik und die Gesellschaft verantwortlich sind.“ Spürbar seien die externen Faktoren im Vergleich verschiedener Märkte. Onomotion ist in Deutschland gestartet, mittlerweile ist das Vereinigte Königreich ein mindestens genauso wichtiger Markt. Das liegt laut Seelbach nicht etwa an einer Förderung oder einem besonders hohen intrinsischen Interessen an Lastenrädern. Vielmehr scheint die Situation dort für Lieferwagen erheblich restriktiver zu sein. So wird die Ono als Alternative deutlich attraktiver. Aus demselben Grund findet Onomotion vergleichsweise leicht urbane Kundinnen in Österreich oder Belgien.

„Ich glaube, dass du immer diese zwei Faktoren hast. Das eine ist das Produkt, für das man als Unternehmer verantwortlich ist. Das andere sind die Marktbedingungen, für die die Politik und die Gesellschaft verantwortlich sind.“

Beres Seelbach, Geschäftsführer Onomotion GmbH

Am Standort in Berlin Mitte finden neben der Montage auch die Geschäftsführung, die Entwicklung und der Service für die Fahrzeuge in der Region Platz.

Verlässliche Mikrodepots

Im Kerngeschäft mit den KEP-Diensten steht und fällt der Erfolg vor Ort häufig mit den Mikrodepots, also kleinen, zentral gelegenen Lagern, von denen aus die Lastenräder ihre Routen beginnen können. Es gibt zwar ein paar Pilotprojekte, die als solche Förderung erhalten. Unter Realkosten werden sie nach Ende des Förderzeitraums dann oft nicht weitergenutzt. Wie bei Kaufprämien gilt für Onomotion auch hier, dass eine Förderung, wenn es sie denn gibt, langfristig und planbar sein muss. Vorzeigeprojekte nach dieser Maßgabe fallen Beres Seelbach zum Beispiel in Paris ein. Seitens der Fördergeldgeber wünscht er sich ein Umdenken: „Zu sagen, dass sich ein Mikrodepot langfristig rechnen müsse, ist vielleicht ein bisschen zu kurz gedacht.“ Schließlich verursachen Liefer-Kfz auch ohne Mikrodepots enorme Kosten, indem sie Bordsteine und Straßen abnutzen.
Allgemein ist es nicht leicht, in Innenstädten freie Flächen für Mikrodepots zu finden. Ein kleiner Lichtblick findet sich in Form von Parkhausbetreibern, zum Beispiel dem Unternehmen Apcoa, mit dem Onomotion an mehreren Standorten kooperiert. Dort wo weniger Autos in die Innenstadt fahren, sind Mikrodepots als alternative Nutzung der Parkplätze durchaus willkommen. Doch auch diese Art der Nutzung scheitert in der wirtschaftlich knapp gestrickten KEP-Branche oft am Geld.
Wer die Fahrzeuge von Onomotion nutzen will, muss nicht zwangsläufig auf einen Schlag viel Geld in die Hand nehmen. Die Kundinnen können die Onos direkt kaufen, sie als Vehicle-as-a-Service im Rundum-sorglos-Paket mieten oder wie 80 Prozent der Nutzerinnen über ein Leasing-Angebot des Herstellers finanzieren.
Neben den Paketzustellern adressiert das Berliner Unternehmen auch Handwerksbetriebe, vor allem im Facility-Management, und den Bereich der Werkslogistik. Auch Modelle, um Akkus einer E-Scooter-Flotte zu wechseln oder aktiv gekühlte Lebensmittel zu transportieren, hat Onomotion bereits verkauft. Jenseits der KEP-Logistik haben Schwerlastenräder durchaus noch Erklärungsbedarf. „Die Arbeit lohnt sich aber noch eher, wenn die Produkte noch interessanter für diese Branchen sind“, erklärt Seelbach. Das sei dann der Fall, wenn die Verkaufspreise, die aktuell je nach Ausstattung zwischen 15.000 und 20.000 Euro liegen, eher in Richtung 10.000 Euro gingen. Das will das Team von Onomotion durch günstigere Einkaufsbedingungen, neue Lieferanten und ein Angebot an simpleren Fahrzeugen erreichen. Künftig dürfte die Ono also in einer Light-Version erscheinen, bei der gewisse Komponenten, etwa das Container-System, aufpreispflichtig sind.

„Ich hoffe, dass wir in ein paar Jahren ein richtiger Volumenhersteller sind und mehrere Tausend oder Zehntausend Fahrzeuge in ganz Europa, vielleicht auch in Nordamerika und anderen Ländern vertreiben.“

Beres Seelbach, Geschäftsführer Onomotion GmbH

Der Drang, Städte lebenswerter zu machen

Die Montage am Standort in Berlin Mitte, den Onomotion vor rund zwei Jahren bezogen hat, soll ebenfalls effizienter werden. Aktuell statten die Mitarbeiter*innen die einzelnen Rahmen dort auf Hebebühnen mit den richtigen Komponenten aus. Bei größeren Stückzahlen dürfte ein Umstieg auf Fließbandmontage sinnvoll sein, so Seelbach. Gefertigt werden die einzelnen Bauteile von Zulieferern. Pro Fahrrad sind es rund 400 verschiedene Komponenten und insgesamt 1400 Einzelteile. Die meisten Bauteile, die bis auf einen einstelligen Prozentsatz aus europäischer Produktion stammen, werden verschraubt, die wenigsten verklebt. Für Onomotion ist diese Konstruktion ein wichtiger Schritt, um die Fahrzeuge reparierbar und am Ende ihres Lebenszyklus als Rohstoffe verwertbar zu halten.
Neben der Montagehalle finden mit Geschäftsbereichen wie der Entwicklungsabteilung, der Geschäftsführung oder dem Innendienst knapp 40 Personen in dem Gebäude in der Scheringstraße einen zentral in Berlin gelegenen Arbeitsplatz. Fahrzeuge, die in Berlin unterwegs sind, werden hier gewartet und repariert. Außerhalb Berlins kümmern sich eine Handvoll eigener Mitarbeiter und einige Partnerunternehmen um den Service.
Das Onomotion-Team ist jung und interdisziplinär. „Was uns eint, ist der Drang, die Städte lebenswerter zu machen“, sagt Seelbach, der Onomotion gern scherzhaft ein Umzugsunternehmen nennt. Der Hintergrund sind einige Standortwechsel, welche die Firma bereits hinter sich hat. Obgleich Onomotion laut Seelbach in München oder Stuttgart eventuell besser aufgehoben wäre, ist der Hersteller der Hauptstadt bislang treu geblieben. Die Stadt sei weltoffen und stelle gerne Dinge infrage: „Für mich ist Berlin schon immer eine Stadt der Start-ups gewesen. Ich finde es spannend, hier zu gründen.“ Durch das internationale Publikum in Berlin, das vor Ort die Fahrzeuge wahrnehme, habe Onomotion zudem bereits Anfragen aus der ganzen Welt bekommen.
Seelbach wünscht sich, vielen dieser Anfragen in einigen Jahren nachgehen zu können: „Ich hoffe, dass wir in ein paar Jahren ein richtiger Volumenhersteller sind und mehrere Tausend oder Zehntausend Fahrzeuge in ganz Europa, vielleicht auch in Nordamerika und anderen Ländern vertreiben.“ Die Produktionskapazität beziffert der Co-CEO aktuell auf mehr als 1500 Fahrzeuge im Jahr. Noch wird sie vor allem durch eine ausbaufähige Nachfrage begrenzt.
Die großen Wachstumszahlen im Lastenradmarkt seien in den vergangenen Jahren eher durch normale Cargobikes und vor allem Familien-Cargobikes als durch Schwerlastenräder zustande gekommen, meint Seelbach. „Wir hängen, glaube ich, eher am Zyklus der Gesamtwirtschaft und eigentlich noch wichtiger: am E-Commerce“, erläutert der Geschäftsführer. Der E-Commerce-Bereich ist im letzten Jahr um elf Prozent zurückgegangen. Bei den KEP-Dienstleistern herrsche entsprechend eher Krisenstimmung und wenig Laune für Innovationsprojekte.

400 verschiedene Bauteile und insgesamt rund 1400 Einzelteile sind nötig, um ein Schwerlastenrad von Onomotion zu bauen.

Lösungen von morgen

Vor allem Mischflotten mit Lastenrädern, Lkws und elektrischen Transportern sieht Seelbach trotz des konjunkturellen Dämpfers im E-Commerce als die Zukunft des Lieferverkehrs. Im April erst hat Onomotion deshalb eine Kooperation mit Mercedes Benz Vans vorgestellt. Ein spezieller E-Sprinter soll als mobiles Mikrodepot fungieren und die Onos flexibel für die Letzte Meile beliefern. Der E-Sprinter kommt mit Hebebühne, spezielle Ono-Container sind mit seiner Ladefläche kompatibel.
In einer anderen Kooperation werden Onos für ein Pilotprojekt der Uni Magdeburg mit Technik ausgestattet, die es ihnen ermöglicht, autonom zu fahren. Bis zur Serienlösung wird es allerdings noch dauern. Die autonomen Fahrzeuge sollen die Fahrerinnen eher nicht ersetzen, sondern ihnen den Alltag erleichtern, meint Seelbach: „Die Idee ist nicht, dass die Ono die komplette Lieferroute selber abfährt, sondern sie fährt quasi neben dem Zusteller her, damit der sich auf die Zustellung konzentrieren und schon zur nächsten Haustür vorgehen kann und das Fahrzeug ihm folgt.“ Die Technik könne auch für andere Branchen, etwa die Stadtreinigung von Interesse sein. Sie unterstreicht einmal mehr den Anspruch des Unternehmens, bei den Lösungen von morgen mittendrin zu sein. Als weiteres potenzielles Geschäftsfeld der Zukunft haben Seelbach und seine Kolleginnen bereits zu Gründungszeiten den Personentransport identifiziert. Für Menschen, die kein Auto mehr nutzen wollen, aber das Fahrrad oder E-Bike als etwas zu wenig empfinden, könnte die Zwischenlösung Schwerlastenrad interessant sein. Auch als Taxi-Service wäre es denkbar, so ein Fahrzeug zu nutzen. Den Vorzug erklärt Seelbach: „Wenn man in Berlin am Hauptbahnhof ankommt, nach Berlin Mitte will und sich in ein normales Taxi setzt, ist man wahrscheinlich deutlich länger unterwegs, als wenn man sich in eine komfortable Rikscha setzen würde. Die könnte man dann vielleicht auch über eine App buchen und die Fahrradwege im Regierungsviertel nutzen.“


Bilder: Aleksander Słota

Die nahtlose Vernetzung von Fahrzeugen, Infrastruktur und vulnerablen Gruppen, wie Radfahrenden und zu Zufußgehenden wird von vielen Expert*innen als Gamechanger in der Mobilität gesehen. Mit exponentiell wachsenden Technologien gehen die Entwicklungen unter dem Begriff Vehicle-to-everything (V2X) mit großen Schritten voran. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


Die Zeit ist knapp, die Suche nach einem Parkplatz Stress pur und während man in Gedanken die Tür des Autos öffnet, sieht man neben sich gerade noch einen Schatten: ein Radfahrer – völlig übersehen! Gerade noch gut gegangen. Einige Zeit später, wieder im Auto: Die Sonne blendet extrem. Während man noch hektisch die Blende herunterklappt sieht man etwas schemenhaft vor dem Auto. Eine Frau mit Kinderwagen! Vollbremsung. Die Frau schimpft erschrocken, und ja, da war auch ein Zebrastreifen. Puuh …

Kritische Verkehrssituationen könnten künftig durch moderne Systeme entschärft werden.

Gefährliche Situationen und Unfälle lassen sich vermeiden

Der Mensch ist ebenso leistungsfähig wie durch eine Vielzahl von Faktoren fehleranfällig. Verkehrspsychologen weisen immer wieder darauf hin, wie groß der Einfluss von Wahrnehmungsfehlern, falschen Einschätzungen, zu viel Information, Ablenkung oder emotionalen Zuständen im Straßenverkehr ist. Deutlich verschärft werden die Probleme durch das steigende Verkehrsaufkommen und die damit gewachsenen Anforderungen und vor allem auch durch die stark wachsende Anzahl älterer Verkehrsteilnehmer*innen. Denn mit zunehmendem Alter lassen sowohl die korrekte Wahrnehmung von Entfernungen sowie der tatsächlichen Geschwindigkeit als auch die Reaktions- und Bewegungsfähigkeit deutlich nach. Hier können neue technologische Entwicklungen, wie künstliche Intelligenz (KI) in Verbindung mit Sensoren sowie Vehicle-to-X-Sendern und Empfängern, ganz neue Möglichkeiten zur Verbesserung der Sicherheit, aber auch der Effizienz und Nachhaltigkeit des Verkehrs bieten.
Mit Blick auf die oben genannten Beispiele, die wohl fast jeder und jede Verkehrsteilnehmende kennt, besteht die Hoffnung, dass es in einer nahtlos vernetzten Verkehrswelt, in der Fahrzeuge selbstständig miteinander kommunizieren oder in einem erweiterten Szenario auch mit den Smartphones von Radfahrenden und Zufußgehenden, gar nicht zu solchen gefährlichen Situationen kommen würde. Das Fahrzeug würde den Zebrastreifen ebenso „sehen“ wie die Frau, die ihn benutzt, und auch den Radfahrer, der schräg von hinten kommt, während man gerade die Tür öffnet. Zu Warnungen hinzu kämen auch selbstständige Aktionen, wie eine Gefahrenbremsung oder das kurzfristige Blockieren der Fahrzeugtür.

Einsatzmöglichkeiten von V2X

Kollisionsvermeidung (Fahrzeuge sowie vulnerable Gruppen)
Kollisionen u. a. durch Nicht-Wahrnehmen, z. B. Kreuzungs- und Abbiegeunfälle, Auffahren, Spurwechsel, Tür öffnen (Dooring)

Intelligente Ampeln und Kreuzungen
Anpassung von Ampelphasen basierend auf Echtzeitverkehrsdaten und Priorisierung von Rettungsfahrzeugen und ÖPNV.

Stauvermeidung und Verkehrsmanagement
Echtzeitinformationen über Verkehrsbedingungen

Notfallkommunikation
Schnellere und effizientere Notfallreaktionen

Platooning
Synchronisierte Fahrzeugkolonnen zur Kraftstoff- und Emissionsreduktion

Neue Augen – nur eine von vielen Anwendungen von V2X

Grundsätzlich können mit V2X-Technologien Menschen und Fahrzeuge, aber auch andere sendende Objekte, vergleichbar mit einem Radar, rechtzeitig erkannt werden. Dabei berechnet die KI zusätzlich in Echtzeit die eigene Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit und bewertet die zugelieferten Bewegungsdaten des anderen Objekts. Auf Kollisionskurs? Zeit zu handeln! Angesichts der hohen Zahlen an Unfalltoten und Verletzten sowie den vielen Beinahe-Unfälle ist die Vermeidung von Kollisionen mit Blick auf das Ziel Vision Zero, also möglichst keine Unfalltoten oder Schwerverletzten im Straßenverkehr, enorm wichtig. Dies gilt ebenso für die weiterhin dringend notwendige Mobilitätswende, für die sowohl die objektive als auch die subjektive Sicherheit entscheidend sind. Laut einer Studie des Deutschen Verkehrssicherheitsrates haben beispielsweise etwa 45 Prozent der befragten Radfahrenden in Deutschland angegeben, beinahe in einen Dooring-Unfall verwickelt worden zu sein.
Über den Bereich Verkehrssicherheit hinaus gibt es viele weitere Anwendungsmöglichkeiten, bei denen es in erster Linie um mehr Effizienz und weniger Belastungen geht. Von großem Interesse für Städte dürften auch die anonymisierten Daten sein, die hier potenziell mitgenommen und in Realtime in die Computer und Lenkungssysteme eingespeist und mit weiteren Systemen verknüpft werden könnten.

Herausforderungen und Nutzen von V2X

Die bisherigen Entwicklungen, Erfahrungen und Einsatzmöglichkeiten deuten darauf hin, dass V2X künftig eine zentrale Rolle in der Unfallprävention und im Verkehrsmanagement spielen wird. Aber es gibt auch Herausforderungen zu bewältigen:

Interoperabilität:
Es muss sichergestellt werden, dass verschiedene V2X-Systeme nahtlos miteinander kommunizieren können.

Datenschutz:
Da große Mengen sensibler Daten gewonnen und übermittelt werden, ist der Schutz vor Missbrauch und unbefugtem Zugriff von höchster Bedeutung.

Akzeptanz:
Die breite Akzeptanz und Nutzung von V2X-Technologien hängt von der Bereitschaft der Hersteller, Entscheider und Nutzer ab, entsprechende Technologien und Geräte zu installieren und zu verwenden.

Erprobte Technologie und rasante Fortschritte

Was noch für viele Unternehmen, Entscheidernnen und Anwenderin-nen wie Zukunftsmusik klingt, wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten von Regierungsbehörden und privaten Organisationen vor allem in Nordamerika mit dem DSRC-Standard, der ohne Mobilfunktechnik funktioniert, in verschiedenen Szenarien ausführlich getestet. Diese V2X-Technologie sei ausgereift und die Kommunikationsstandards seien klar, so das allgemeine Credo. Die volle Wirkung entfalten kann V2X allerdings wohl erst mit dem technologischen Nachfolger Cellular V2X (C-V2X). Der zellulare, also um Mobilfunktechnik erweiterte Standard ermöglicht grundsätzlich die direkte Kommunikation mit jedem Smartphone selbst über größere Entfernungen. „Schon in wenigen Jahren werden die Fahrzeuge in ständigem Kontakt miteinander und ihrer Umgebung stehen und dann in der Lage sein, Informationen mit den Smartphones von Fußgängern oder mit einer Ampelanlage auszutauschen“, heißt es dazu beispielsweise von Porsche. Die Vehicle-to-X-Kommunikation macht rasante Fortschritte und die Namen der an der Entwicklung beteiligten Unternehmen lesen sich wie ein Who‘s who der Chip-, Telekom- und Automobilindustrie. Zusammen mit den sich exponentiell entwickelnden Basistechnologien und Bandbreiten in der Übertragung könnte V2X tatsächlich bereits in Kürze schrittweise ausgerollt werden.
Bei Audi schätzt man, dass sich allein in den USA mithilfe von C-V2X bis zum Jahr 2025 rund 5,3 Millionen Fahrzeuge, Verkehrsbaustellen, Bahnübergänge, Fahrräder und andere Einrichtungen und Fahrzeuge beziehungsweise Geräte vernetzen lassen. Bis zum Jahr 2030 könnte diese Zahl auf 61 Millionen anwachsen, darunter 20.000 Fußgängerüberwege, 60.000 Schulzonen, 216.000 Schulbusse und 45 Millionen Smartphones. „Die Roadmap zur Rettung von Menschenleben ist klar, und dass sich Audi zum Einsatz von C-V2X-Konnektivität verpflichtet, ist eine Investition in die Zukunft unseres Verkehrs-Ökosystems”, sagt Brad Stertz, Director of Audi Government Affairs.

„Damit V2X beziehungsweise Bicycle-to-X wirksam werden kann, bedarf es des Beitrags sämtlicher relevanter Akteure – nur das Bündeln aller Kompetenzen führt zum Ziel. Daher wollen wir eine breite Basis in Industrie, Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit schaffen, um gemeinsam das Thema voranzutreiben.“

Claus Fleischer, Geschäftsleiter Bosch eBike Systems

Die Kommunikation der verschiedenen Verkehrsteilnehmenden ist sehr komplex. V2X-Systeme sollen in nicht so ferner Zukunft dabei unterstützen.

Fahrradwirtschaft bringt sich aktiv bei V2X ein

Im Herbst letzten Jahres sorgte eine Pressemitteilung für Aufsehen, die die Gründung einer „Coalition for Cyclist Safety“ in Nordamerika thematisierte. 19 führende Unternehmen aus der Automobil-, Fahrrad- und Technologiebranche hatten sich in einer Initiative zusammengeschlossen, um die Sicherheit von Fahrradfahrerin-nen durch die Entwicklung und den Ausbau eines umfassenden V2X-Ökosystems auf C-V2X-Basis zu verbessern und die Zahl der jährlich mehr als 130.000 Verletzungsfälle bei Radfahrenden auf den Straßen der USA zu verringern. Hintergrund ist, dass das US-Verkehrsministerium seit 2022 dabei ist, Strategien zu entwickeln, um ein vernetztes V2X-Ökosystem zum Verbessern der Verkehrssicherheit Wirklichkeit werden zu lassen. Zu den Gründungsmitgliedern gehören aus der Fahrradindustrie die Accell-Gruppe, AT-Zweirad, BMC, Bosch eBike Systems, Koninklijke Gazelle, Shimano sowie Trek Bicycle Corp. Als neues Mitglied dazugekommen ist inzwischen auch Stromer. Auch wenn es bei der Koalition erst einmal „nur“ um die USA geht – die Entwicklung der Technologien und Standards reicht weit über Nordamerika hinaus und bedeutet einen Kick-off für die Player und Stakeholder in Europa. „Wenn wir uns den wachsenden Bereich der Machine-to-Machine- oder Vehicle-to-X-Kommunikation, also den automatisierten Informationsaustausch zwischen Endgeräten sowie Fahrzeugen anschauen, sehen wir sofort den Bedarf, weltweit gültige Standards zu entwickeln, von denen dann alle profitieren, zum Beispiel in der Verkehrssicherheit“, betont Tim Salatzki, Leiter Technik und Normung beim deutschen Verband ZIV – Die Fahrradindustrie. Ganz vorn beim Thema V2X dabei ist auch die Bosch-Gruppe, die als technologischer Schrittmacher fungiert. Viele Hersteller aus der Fahrradbranche, auch die kleineren, haben die Bedeutung der Technologie inzwischen erkannt: „V2X-Technologie ist essenziell für E-Bikes und Fahrräder, besonders um die Sicherheit der Radfahrerinnen zu erhöhen“, heißt es zum Beispiel von AT Zweirad mit der Marke Velo de Ville. „Die Technologie kann in neue E-Bikes direkt integriert oder bei älteren Modellen nachgerüstet werden, um die Kommunikation mit Fahrzeugen zu ermöglichen.“ Franz Raindl, Head of R&D bei Stromer, betont, dass es bei den Produkten des E-Bike- und S-Pedelec-Spezialisten aus der Schweiz stets darum ginge, diese noch sicherer zu machen. Ein Risikofaktor blieben allerdings die anderen Verkehrsteilnehmer. „Es ist daher wichtig, dass Fahrräder vor allem im städtischen Verkehr besser sichtbar und erkennbar sind.“ Die Kommunikation zwischen Fahrrädern, E-Bikes und anderen Fahrzeugen werde immer wichtiger und berge ein großes Potenzial, die Sicherheit durch Früherkennung zu erhöhen. „Wir arbeiten bereits an der V2X-Technologie für unsere Bikes, eine konkrete Aussage zum Timing der Markteinführung ist zum jetzigen Zeitpunkt aber noch nicht möglich.“
„Die technologischen Entwicklungen im Bereich der V2X-Kommunikation sind vielversprechend“, betont auch Claus Fleischer, Geschäftsleiter von Bosch eBike Systems. „Wir sind überzeugt, durch gemeinsame Anstrengungen das Fahrrad und E-Bike als integralen Bestandteil des V2X-Ökosystems etablieren zu können. Schließlich geht es nicht nur um Technologie. Es geht um sichere, effiziente und nachhaltige Mobilitätslösungen, die das Leben der Menschen verbessern. Es geht um die Gestaltung von Städten, in denen Menschen gerne leben und sich bewegen. Und es geht darum, einen Beitrag zur Bewältigung der globalen Herausforderungen unserer Zeit zu leisten.“
Das Bewusstsein und das Engagement für die Weiterentwicklung und breite Einführung von V2X ist also da, auch wenn man den Eindruck gewinnen kann, dass die Kommunikation dazu in Deutschland und Europa noch Luft nach oben hat. Vorbildcharakter könnte die „Coalition for Cyclist Safety“ sein, die sich auf die Vereinigten Staaten und Kanada konzentriert. Davon ausgehend werde sie „nach Wegen suchen, um gemeinsame Industrieansätze auch nach Europa und in andere Regionen der Welt zu bringen“. Damit Europa nicht ins Hintertreffen gerät, ist demnach wohl eine breite europäische Initiative gefragt.


Illustrationen: Volkswagen AG, bosch-ebike-coalition-for-cyclist-safety, Ettifos

Die niederländische Greentech-Investmentgruppe EIT Innoenergy hat untersucht, welche Auswirkungen gemischte Elektroflotten auf die Kosten und die Nachhaltigkeit von Logistikunternehmen haben könnten. Das Ergebnis beschreibt eine Win-Win-Win-Situation für Unternehmen, Städte und Umwelt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


„Logistikbetreiber stehen vor einer gewaltigen Aufgabe: der Dekarbonisierung ihrer Lieferung auf der letzten Meile, während sie sich gleichzeitig auseinandersetzen müssen mit Preiswettbewerb, schrumpfenden Margen sowie komplexen Vorschriften, begrenztem Stadtraum und unvorhersehbaren Nachfrageschüben“, schreiben die Autoren einer Studie der Greentech-Investmentgruppe EIT Innoenergy. Gleichzeitig nehme der Druck, auf diese Herausforderungen Antworten zu finden, ständig zu. Jedes Jahr wachse das Paketaufkommen in den der EU um 8 bis 14 Prozent. Bereits jetzt werden vielerorts Pilotprojekte gestartet, wie den wachsenden Herausforderungen, aber auch den berechtigten Interessen von Städten und Kommunen, begegnet werden kann. Im Zuge des Umstiegs auf E-Antriebe in der Paketlogistik erfahren auch Cargobikes ein großes Interesse von DHL, UPS & Co. „Es ist jedoch nicht einfach, Lieferflotten von Transportern mit Verbrennungsmotor durch eine gemischte Flotte aus E-Transportern und E-Lastenrädern zu ersetzen“, heißt es von EIT Innoenergy. Vor allem offene Fragen zur Kosteneffizienz der Verbrenneralternativen stünden einem Umstieg oft noch im Wege. Zusammen mit Logistikunternehmen hat der niederländische Greentech-Investor nun eine detaillierte Analyse erstellt, die die versteckten Kosten und Komplexitäten aufdecken und damit bewerten soll, wie gemischte Flotten aus E-Vans und Cargobikes Kosten- und Emissionseinsparungen erzielen können. Untersucht wurden drei Modelle: eine Lieferflotte, die ausschließlich mit Verbrennermotoren betrieben wird, eine rein elektrisch betriebene Flotte mit Kleintransportern sowie als dritte Variante gemischte Flotten aus elektrischen Kleintransportern und Cargobikes.
Nicht nur die geringsten Emissionen, sondern auch die geringsten Kosten haben die Studienmacher bei den gemischten Flotten ermittelt. Je nach Anteil der Lieferungen mit einem Cargobike könne ein durchschnittlicher Paketdienstleister mit rund zwei Milliarden Paketen im Jahr aktuell zwischen 95 und 156 Mio. EUR im Jahr sparen. Tendenz steigend: Für das Jahr 2030 prognostizieren die Autoren sogar eine Kostenersparnis von 554 Mio. EUR im Jahr. Das entspreche einer Kostensenkung je Paket um rund 17 Prozent. Als wesentliche Kostensenker wurden nicht nur die geringeren (und weiter sinkenden) Anschaffungskosten für Cargobikes im Vergleich zu Kleinlastern identifiziert, sondern vor allem auch die vergleichsweise kostengünstige Ladeinfrastruktur sowie die geringeren Energiekosten.
Vielleicht noch eindrucksvoller als die Kosteneffekte sind die potenziellen Vorteile für Umwelt und Gesellschaft. Bis 2030, so schätzen verschiedene Beobachter des Logistikmarktes, werde sich das Paketaufkommen in Europa noch verdoppeln. Das wird in Fachkreisen nicht mehr als mögliches Szenario, sondern längst als Gewissheit betrachtet. Umgelegt auf den gegenwärtigen Fahrzeugmix würden in Folge bis zu 40.000 neue Kleinlaster auf die Straßen europäischer Städte kommen – zusätzlich zu den 230.000 Sprintern, Ducatos & Co., die jetzt schon Pakete von A nach B fahren.

Lastenräder & Co sind in Anschaffung und Unterhalt deutlich günstiger als Sprinter & Co. Das macht sich in den Gesamtkosten für die Paketzustellung deutlich bemerkbar.

Lastenräder sind wettbewerbsfähige Lösung

„Die Studie zeigt, dass E-Lastenräder nicht nur eine nachhaltige Lösung sind, um die Herausforderungen zu bewältigen, sondern auch eine wettbewerbsfähige und profitable Option für große Logistikunternehmen – schon heute und erst recht bis 2030“, sagt Jennifer Dungs, Global Head of Mobility bei EIT Innoenergy. Sie fügt hinzu: „Städte und Logistikanbieter sollten ein großes beidseitiges Interesse daran haben, die Potenziale gemischter E-Lieferflotten voll auszuschöpfen, beispielsweise im Rahmen von öffentlich-privaten Partnerschaften. Diese Studie soll den Entscheidungsträgern in Europa eine wichtige Orientierungshilfe zu einer effizienteren und nachhaltigeren Gestaltung der Logistik der letzten Meile geben.“


Wer sich mit den Details der Studie befassen möchte, kann sie hier herunterladen:
https://www.innoenergy.com/discover-innovative-solutions/reports/hidden-costs-benefits-mixed-electric-fleets-last-mile-logistics/

Bilder: stock.adobe.com – jordi2r, stock.adobe.com – Mickis Fotowelt

Die Mitarbeiter in den Verwaltungen gestalten die Straßen der Zukunft. Damit die Planer ihren Job überhaupt machen können, müssen die Abläufe neu strukturiert werden. Ein neues Difu-Projekt zeigt Probleme, Potenziale und Lösungen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


Manchmal braucht es wenig, um Radfahren sicherer zu machen. In Frankfurt waren es neue Markierungen, eine Handvoll Poller, ein Sicherheitsstreifen und ein paar Trennelemente, die rund um die Messe die Radfahrenden vor dem Autoverkehr und Dooring-Unfällen schützen. Der Umbau brauchte gerade mal sechs Monate. Das Radfahrbüro hat ihn geplant und das Amt für Straßenbau und Erschließung alles umgesetzt.
„Bei den bestandsnahen Maßnahmen wie Modalfilter oder Markierungen sind wir sehr schnell“, sagt Stefan Lüdecke, Frankfurts Radverkehrskoordinator. Das liegt an der Struktur in der Verwaltung. Das Radfahrbüro gehört zum Straßenverkehrsamt. Deshalb können seine Kolleginnen und Kollegen die Radinfrastruktur planen und auch selbst anordnen. Seit Januar leitet Lüdecke zudem die neue Stabsstelle Radverkehr in Frankfurt, inklusive Verfügung des Oberbürgermeisters. Damit wird der Ausbau des Radverkehrs in Frankfurt zur Chefsache.
Von so viel Rückenwind für die Verkehrswende träumen viele Radverkehrsplanerinnen. In der Regel wandern ihre Pläne über etliche Schreibtische in unterschiedlichen Ämtern, was Zeit kostet und zu Reibungsverlusten führt. Viele Kommunen wollen deshalb ihre Abläufe umstrukturieren, um den Ausbau des Radverkehrs zu beschleunigen. Hilfestellung bekommen sie dabei vom Deutschen Institut für Urbanistik. Die Mobilitätsexpertinnen aus Berlin haben in den vergangenen drei Jahren mit Kommunen und Kommunikationsexpertinnen bundesweit dazu ein Projekt durchgeführt. Es trägt den sperrigen Titel „Beseitigung von Umsetzungshemmnissen in der kommunalen Radverkehrsplanung – soziotechnische Innovationen und kommunale Steuerungsmöglichkeiten“ (KoRa). In über drei Dutzend Interviews spürten die Mobilitätsexpertinnen Stolpersteine in den Kommunen auf, identifizierten „Good Practices“ und entwickelten in verschiedenen Workshops mit den Mitarbeiter*innen der Kommunen unter anderem passgenaue Organisationsformen für ihre Planungsprozesse.
Für viele Verwaltungen ist das ein Umbruch in der Arbeitsweise. „Traditionell sind Verwaltungen eher hierarchisch organisiert“, sagt Martina Hertel, Mobilitätsexpertin am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu). Mobilität sei aber eine Querschnittsaufgabe, für die Experten verschiedener Fachbereiche und Hierarchieebenen zusammenarbeiten müssen. Diese Zusammenarbeit zu organisieren und zu strukturieren, sei deshalb mancherorts eine Herkulesaufgabe.
Für den Wandel lohnt sich bei einigen Aspekten der Blick in die freie Wirtschaft. „Auf vielen Ebenen funktionieren Verwaltungen wie große Unternehmen etwa beim agilen Management“, sagt Jessica Le Bris vom Beratungsunternehmen „Experience“, die mit ihren Kolleginnen und Kollegen viele der Projekt-Workshops durchgeführt hat.
Der Bau eines Radwegs sei auf verschiedenen Ebenen mit der Herstellung eines Produkts vergleichbar. Um ein neues Produkt zu entwickeln, arbeiten in Unternehmen Experten aus verschiedenen Fachbereichen in wechselnden Teams zusammen – etwa aus der Entwicklung, der Fertigung, der Marktforschung, dem Produktdesign, der Buchhaltung oder dem Verkauf. Dabei folgen alle Beteiligten einem genau strukturierten Prozess und arbeiten klar umrissene Aufgabenpakete ab. Der aktuelle Stand des Projekts und die anstehenden Schritte sind für alle jederzeit digital einsehbar. Jedes Projekt wird von einem Projektmanager betreut.
„Ähnliche Strukturen benötigen die Verwaltungen“, sagt Jessica Le Bris. Die Beteiligten müssen Arbeitsprozesse umstrukturieren und eine neue Teamkultur entwickeln. Momentan entstehen in den Kommunen an vielen Stellen Reibungsverluste, weil etwa Checklisten für die einzelnen Planungsschritte fehlen oder die Fachbereiche nicht ausreichend eingebunden werden. „Immer wieder werden weit fortgeschrittene Radverkehrsplanungen gestoppt, weil der Denkmalschutz, der Naturschutz oder das Amt für Inneres ein Veto einlegen“, sagt Le Bris. Wenn mit Planungsbeginn alle beteiligten Personen einbezogen und integriert werden, kann das verhindert werden.

„Ein gutes Projektmanagement hilft dabei, einen Zuständigkeitsatlas zu etablieren und das Netzwerken der Mitarbeitenden zu fördern“

Jessica Le Bris, Beratungsunternehmen Experience

Alle Experten an Bord?

In Vorreiterstädten wie Hamburg ist das seit Jahren üblich. Als Kirsten Pfaue dort 2015 Radverkehrskoordinatorin wurde, hat sie das Bündnis für den Radverkehr initiiert. Alle, die in der Hansestadt für den Bau von Radinfrastruktur wichtig sind, machen mit: neben verschiedenen Senatsbehörden etwa auch die Bezirksämter, der Landesbetrieb für Straßen, Brücken und Gewässer, die Hamburger Hafenverwaltung und die HafenCity Hamburg GmbH. Mit ihnen hat Kirsten Pfaue damals einen ausführlichen Maßnahmenkatalog erarbeitet, um das Radnetz und die nötige Infrastruktur aufzubauen. In den vergangenen Jahren ist das Bündnis von 19 auf 28 Projektpartner angewachsen.
Das Bündnis schafft die notwendige Struktur, indem es die Fachgebiete mit den jeweiligen Ansprechpartnern definiert. Das ist hilfreich, wenn im Zuge von Politikwechseln die Zuständigkeit umstrukturiert wird. „Ein gutes Projektmanagement hilft dabei, einen Zuständigkeitsatlas zu etablieren und das Netzwerken der Mitarbeitenden zu fördern“, sagt Le Bris.

Effizienz steigern, Ingenieurinnen entlasten Ein Zuständigkeitsatlas kann dabei helfen, die anfallenden Aufgaben bei der Radverkehrsplanung fachspezifisch zu verteilen. Der Bedarf ist da. Eine Analyse der Denkfabrik Agora hat 2023 gezeigt, dass Radver-kehrsplanerinnen gerade mal 25 bis 45 Prozent ihrer Arbeitszeit mit dem Planen von Radinfrastruktur verbringen. In der übrigen Zeit beantworten sie Presseanfragen, Anfragen aus der Politik und der Bürgerschaft oder sie organisieren Bürgerbeteiligungen. „In vielen Kommunen ist es selbstverständlich, dass der Radverkehrsplaner die Räume für Bürgerbeteiligungsverfahren mietet und falls nötig auch das Catering organisiert“, sagt Martina Hertel. In Zeiten von Fachkräftemangel verschwenden die Kommunen auf diese Weise wertvolle Ressourcen. Dabei existieren bereits Lösungen.
„In Heidelberg beispielsweise managt ein Team die Öffentlichkeitsarbeit und organisiert die Bürgerbeteiligungsverfahren für die gesamte Verwaltung“, sagt die Difu-Expertin. Die Teammitglieder beraten die Planerinnen, übernehmen die Kommunikation, die organisatorischen Aufgaben und moderieren gegebenenfalls die Veranstaltung. „Für den Inhalt sind weiterhin die Planer zuständig, alles andere erledigen die Kommunikationsexperten“,sagt Martina Hertel. Das sichert die Qualität der Bürgerbeteiligungsverfahren und verschafft den Ingenieurinnen mehr Zeit zum Planen.

Farbe, Trennelement und Plastikpoller schützen die Radfahrenden in der Osloer Straße nahe der Messe vor dem Autoverkehr.

Stockt der Ausbau, hakt der BWLer nach

Die Hansestadt Hamburg ist bereits eine Stufe weiter. Dort werden die verschiedenen Radverkehrsprojekte per Controlling optimiert. „Betriebswissenschaftler kontrollieren, ob die verschiedenen Projekte umgesetzt und die Zeitpläne eingehalten werden“, sagt Martina Hertel. Verspäte sich ein Ausbauschritt, haken die BWLer nach, informieren die Beteiligten und bringen den Prozess wieder ans Laufen, sagt sie. Die Voraussetzung für diese effiziente Vorgehensweise sei eine gemeinsame Datenbasis und damit die Digitalisierung der Kommune.

„Die Radverkehrsplaner brauchen digital und organisatorisch geeignete Strukturen, um schnell ins Handeln zu kommen“

Martina Hertel, Mobilitätsexpertin am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu)

Digitalisierung wird verzögert

In vielen Verwaltungen ist die Digitalisierung bislang nicht angekommen. Im Gegenteil, vielerorts werden laut Martina Hertel weiterhin PDFs oder Excel-Tabellen in Aktenmappen weitergereicht. „Die Zahlen sind mit dem Ausdruck schon fast wieder veraltet“, sagt sie. In Zeiten von klammen Kassen scheitert die Umstellung jedoch häufig am Geld, am Personal und am Wissen. Manchmal fehle aber auch die grundlegende Erkenntnis, dass die Digitalisierung notwendig sei für eine moderne Verwaltung.
Damit die Verkehrswende in den Kommunen gelingt, müssen die Vorhaben und Maßnahmen deutlich schneller umgesetzt werden als bisher. „Die Radverkehrsplaner brauchen digital und organisatorisch geeignete Strukturen, um schnell ins Handeln zu kommen“, sagt Martina Hertel. Das ist auch relevant, um die Bevölkerung in die Verkehrswende besser einzubinden und Konflikte beim Umbau gegebenenfalls schnell abwenden zu können. Das zeigt ein Beispiel aus Frankfurt.

Oeder Weg in Frankfurt: Weniger Autos, mehr Fahrräder und Fußgänger: Die Umwandlung des Oeder Wegs in Frankfurt zu einer fahrradfreundlichen Straße hat positive Auswirkungen auf die Verkehrsbelastung.

Zunächst sind viele Autofahrer auf Seitenstraßen ausgewichen. Um das zu ändern, wurden sogenannte Diagonalfilter installiert, die nur Fahrradfahrende und Fußgänger*innen durchlassen.

Konflikte schnell lösen können

Dort wurde im Jahr 2021 die Nebenstraße Oeder Weg temporär in eine 1,3 Kilometer lange Fahrradstraße umgebaut. Vor dem Umbau waren dort 9.000 Autos unterwegs. „Mit dem Umbau hat sich die Zahl der Pkw halbiert und die Zahl der Radfahrenden verdoppelt“, sagt Radverkehrskoordinator Stefan Lüdecke. Allerdings sind die Autofahrerinnen nicht auf die Hauptstraßen ausgewichen, sondern in die angrenzenden Nebenstraßen. Die Anwohnerinnen beschwerten sich über Lärm und Verkehr bei den Radverkehrsplanerin-nen. Damit der Konflikt nicht weiter eskaliert, diskutierten Lüdecke und sein Team zeitnah mit dem Ortsbeirat und den Bürgerinnen. „Wir haben angeboten, mit Modalfiltern ein Blockkonzept zu testen“, sagt Lüdecke. Nach einer weiteren Anhörung und der Abstimmung mit der Brandschutzbehörde wurden rund vier Monate später Poller und Schilder installiert. Laut den Wissenschaftlern der Frankfurt University of Applied Sciences, die den Umbau begleiteten, hat sich der Autoverkehr seitdem auf die Hauptstraßen verlagert. Im gesamten Quartier sind nun deutlich weniger Fahrzeuge unterwegs als zuvor und die Zahl der Unfälle hat sich ebenfalls halbiert.
In Frankfurt wurden die wichtigsten Voraussetzungen für den schnellen Ausbau des Radverkehrs in der Verwaltung bereits geschaffen. Aber weiterhin werden die Prozesse stetig angepasst und verbessert. „Der Ausbau des Radverkehrs ist eine Querschnittsaufgabe“, sagt Stefan Lüdecke. Nicht jede Kommune brauche einen Radverkehrskoordinator, aber sie brauche einen Verantwortlichen, einen Kümmerer, der dafür sorgt, dass der Ausbau des Radverkehrs in allen Ämtern gelebt wird. „Die Verkehrswende, der Umbau Frankfurts zur Fahrradstadt, ist politisch beschlossen“, sagt Lüdecke. Demnach müssen alle Ämter das politische Ziel vorantreiben.
Frankfurt gehört zu einem der drei Best-Practice-Beispiele, die das Difu auf seiner KoRa-Webseite in einem Kurzvideo vorstellt. Dort können interessierte Kommunen zudem anhand eines Schnelltests den Ist-Zustand der Radverkehrsplanung in
ihrer Kommune reflektieren und bewerten. Fest steht: Jede Kommune ist anders und muss eine Struktur entwickeln, die zu ihren Bedürfnissen passt. Allerdings gibt es Leitlinien, die die Kommunen dabei unterstützen, ihre Struktur an die neuen Herausforderungen anzupassen. Dazu wird das Difu in den kommenden Monaten einen Leitfaden veröffentlichen.


Bilder: Mobilitätsdezernat der Stadt Frankfurt

Von den etwa 39 Millionen Radfahrenden in Deutschland sind 230.000 Mitglied im ADFC. Der Fahrradclub ist damit die größte Interessenvertretung der Radfahrenden hierzulande. Seit Kurzem hat nun Dr. Caroline Lodemann als Geschäftsführerin die Leitung des Bundesverbands übernommen. Im Interview erklärt sie, wie der ADFC mit „Sachlichkeit und Expertise“ den Ausbau des Radverkehrs künftig weiter vorantreiben und verkrustete Strukturen aufbrechen soll. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2024, Juni 2024)


Sie waren bisher vor allem im Umfeld von Bildung und Forschung aktiv. Was hat Sie nun an der neuen Aufgabe beim ADFC gereizt?
Wir leben in einer Zeit großer Transformationen, wie der Energiewende oder der Verkehrswende. Aus meiner Tätigkeit im Forschungsmanagement kenne ich das Motiv unserer Welt in Bewegung, wie Menschen, Ideen, Dinge sich fortbewegen und warum. Beim ADFC kann ich nun diesen gesellschaftlichen Prozess des Wandels mitgestalten. Die Verkehrswende ist für mich zudem ein sehr persönliches Thema. Ich bin Sportlerin, ich fahre gerne Rad und bin damit in Berlin auch fast täglich unterwegs. Für mich funktioniert Radfahren an vielen Ecken in der Stadt inzwischen gut, an anderen wiederum überhaupt nicht. Das spüre ich besonders, wenn ich mit meinen Kindern unterwegs bin. Es gibt also noch viel zu tun. Außerdem fasziniert mich das Fahrrad an sich. Das Fahrrad ist ganzheitlich gut. Selbst für die, die es nicht nutzen, verbessert es sofort ihren Alltag, weil es Platz spart, keine Emissionen verursacht und die Radfahrenden fit hält. Das Fahrrad ist gut für die Gesellschaft.

Dennoch sind die Zeiten momentan schlecht für den Ausbau des Radverkehrs. Das Bundesverkehrsministerium hat das Budget gekürzt und die wichtige Reform des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) ist im Bundesrat gescheitert und damit auch die Reform der Straßenverkehrsordnung (StVO). Was sehen Sie vor diesem Hintergrund momentan als Ihre wichtigste Aufgabe?
Wir befinden uns in der Tat gerade in einer schwierigen Lage. Die StVG-Reform ist nach wie vor unser zentrales Thema. Sie ist die Basis für den Ausbau des Radverkehrs, das bekommen wir auch aus den Bundesländern gespiegelt. Deshalb führen wir seit Monaten viele Gespräche auf allen erdenklichen Ebenen. Wir brauchen mehr nachhaltige Mobilität in den Städten. Dafür ist das gemeinsame Auftreten mit vielen, die am selben Strang ziehen, wichtig, um unseren Argumenten mehr Gewicht zu verleihen.
Das zweite Thema ist die Finanzierung. In Zeiten schwieriger Haushalte ist das ein dickes Brett. Wir wollen erreichen, dass die Finanzierung des Radwegausbaus dauerhaft mit der notwendigen Fahrradmilliarde vom Bund gesichert wird. Nur dann erhalten die Kommunen die notwendige Planungssicherheit und können auch die Fördermittel abrufen. Ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen. Wir haben die Vernunft auf unserer Seite. Wir können mit dem Radverkehr an ganz vielen Stellen Lösungen anbieten.

Was meinen Sie damit? In welchen Bereichen kann der ADFC der Bundesregierung helfen, ihre Ziele zu erreichen?
Etwa beim Klimaschutz. Das Klimaschutzpotenzial des Radverkehrs ist groß. Wir haben gerade mit Unterstützung vom Fraunhofer ISI das enorme Einsparpotenzial berechnet, das entsteht, wenn durch gute Infrastrukturangebote Verkehr vom Auto auf das Rad verlagert wird. Wir brauchen diese wissenschaftlich basierten Fakten, um die Vorteile des Radverkehrs noch stärker aufzuzeigen. Weiteres Potenzial sehe ich in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Laut einer WHO-Studie von 2020 leiden mittlerweile 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen weltweit an Bewegungsmangel. Das kann zu Übergewicht führen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Gelenkproblemen oder auch zu motorischen Einschränkungen. Die Kinder nehmen die Bewegungsarmut und ihre Folgen mit in ihr Erwachsenenleben. Deshalb lohnt es sich bereits heute für Arbeitgeber, selbstständige Kindermobilität zu fördern. An dieser Stelle kann der ADFC neue Partner finden. Wenn die Kinder mit dem Rad zur Schule oder zu Freunden radeln, kommen sie in Bewegung.

Momentan scheitern viele Verbesserungen für den Radverkehr an der Bundespolitik. Was ist in dieser Legislaturperiode für den Ausbau des Radverkehrs überhaupt noch drin?
Ich komme aus der Wissenschaft. Meine Politikarbeit war Lobbyarbeit und Politikberatung. Ich bin überzeugt, dass wir als Verband mit unseren Inhalten in die Politik wirken, wenn wir gute Argumente haben und diese zur Verfügung stellen. Dazu gehört, dass wir intensive Gespräche führen, um einseitige Positionen in der Gesellschaft aufzubrechen. Ich bin überzeugt, dass man den Ausbau des Radverkehrs nicht gegen etwas anderes durchsetzen kann. Im Gegenteil, wir müssen den Ausbau des Radverkehrs mit anderen Dingen und Verkehren zusammen denken.

Den Klimaschutz hatten Sie bereits erwähnt, aber wie kann man den Radverkehr mit anderen Verkehren zusammen denken?
Unser verkehrspolitisches Programm zeigt dafür verschiedene Beispiele. Etwa Tempo 30 als Standard in Ortschaften – und Verkehrsberuhigung in Wohngebieten. Wenn das Verkehrstempo gering ist, vertragen sich die Verkehrsarten viel besser – und fühlen sich auch angenehmer und sicherer an. Im Grunde geht es aber immer auch um eine gemeinsame neue Organisation des öffentlichen Raumes.

Auf Bundesebene ignoriert Verkehrsminister Volker Wissing jedoch die wissenschaftliche
Erkenntnis, dass ein geringeres Tempo wie etwa 30 in Städten das Unterwegssein für alle Verkehrsteilnehmer sicherer macht. Was tun, wenn Fakten ignoriert werden?
Man darf sich von den Fakten und der Vernunft nicht abbringen lassen. Der ADFC hält an der sachlichen Diskussion und seiner klaren Haltung fest. Es ist wichtig, die Argumente zu wiederholen, die vernünftig sind, um den Radverkehr auszubauen.

Als ausgebildete Mediatorin helfen Sie zerstrittenen Parteien, ihre Konflikte konstruktiv beizulegen. Benötigt die Verkehrswende eine andere Kommunikationsstruktur?
Auf jeden Fall. Die Verkehrswende ist eine große gesellschaftliche Veränderung. Um sie gut zu gestalten, brauchen wir kreative Lösungen. Dafür müssen viele Beteiligte gehört werden; wir müssen respektvoll miteinander kommunizieren, um neue Lösungen zu finden. Es geht in der Mediation nie darum, dass eine Partei recht bekommt, sondern dass man im Laufe des Prozesses einen dritten oder vierten Vorschlag findet, auf den sich alle einigen können.

Andere NGOs, wie Changing Cities, haben in den vergangenen Jahren über die Radentscheide den Ausbau der Radinfrastruktur eingefordert und massiv vorangebracht. Diese NGOs treten in ihrer Kommunikation oft eher aggressiv auf, greifen politisch Verantwortliche mit harscher Kritik direkt an, wenn ihre Forderungen nicht umgesetzt werden. Ist der ADFC vielleicht etwas zu brav?
Interessanter Gedanke. Aus meiner Sicht tut der ADFC gut daran, sich seine fachliche Tiefe zu erhalten. Mich beeindrucken unsere Aktiven, die ein wahnsinnig umfangreiches Fachwissen mitbringen und das vor Ort politisch einbringen. Damit bringen sie den Ausbau der Radinfrastruktur in den Kommunen voran. Diese Sachlichkeit und Expertise sind unser Markenzeichen und mir wichtig.

Also lieber auf der Fahrraddemo mitfahren, als sie selbst zu organisieren?
Nein, die großen Sternfahrten organisieren wir schon gerne selbst, in diesem Sommer beispielsweise in München, Berlin, Düsseldorf, Dresden, Hamburg, Köln und Frankfurt.

Seit ein paar Jahren hat der ADFC eine weibliche Doppelspitze.Warum?
Wichtig sind vor allem unsere Gremien. Sie werden gendergerecht besetzt, weil wir wollen, dass möglichst alle Perspektiven gehört und auch eingebracht werden. Nur wenn das der Fall ist, wird sicheres Radfahren für alle möglich. Wir stärken den Radverkehr, indem wir viele unterschiedliche Menschen aufs Fahrrad bringen. In den Bereichen Gender und der Altersstruktur sind wir bereits relativ gut. Aber wir müssen noch diverser werden und auch Aspekte wie „Herkunft“ stärker beachten. Wenn wir Menschen jeden Alters und unterschiedlicher Herkunft aufs Fahrrad bringen wollen, brauchen wir unter anderem ausreichend Fahrradkurse für Migrantinnen und eine Infrastruktur, auf der alle, langsame und schnelle Radfahrende, sicher gemeinsam unterwegs sind. Wir haben auf diesem Gebiet tatsächlich noch einiges zu tun.

Viele Städte haben in den vergangenen Jahren den Ausbau des Radverkehrs massiv vorangetrieben, um ihre Klimaziele zu erreichen. Berlin war lange Vorreiter, seit dem Regierungswechsel im Sommer 2023 hat die CDU-Regierung den Ausbau des Radverkehrs jedoch massiv gebremst. Kann der Umbau des Verkehrs zu mehr nachhaltiger Mobilität noch
gestoppt werden?

Ich glaube nicht – die Argumente sind einfach zu bestechend. Das wäre auch überaus kontraproduktiv im Umgang mit all den Ressourcen, die investiert wurden in Wissen, Geld und auch dem Potenzial für den Klimaschutz. Ich bin davon überzeugt, dass die Verkehrswende von der Gesellschaft grundsätzlich gewollt ist. Aber die Umsetzung braucht Zeit und vor allem gute Beispiele in den Kommunen.
Ich war kürzlich in Köln und bin dort am frühen Samstagmorgen mit dem Rad über die Ringe gefahren; das war schon relativ komfortabel. Bislang nicht auf der gesamten Strecke, aber über weite Abschnitte. Auf den Ringen spürt man beim Radfahren, dass die Verkehrswende begonnen hat. Ich bin davon überzeugt, je besser das Radnetz wird, umso mehr wächst auch die Akzeptanz der Menschen für den weiteren Ausbau des Radverkehrs. Wenn sich die Menschen beim Radfahren sicher fühlen, werden sie das Rad häufiger nutzen. Und das ist ein Gewinn für alle.


Bilder:

Im Dezember 2023 war die Regierung aus SPD, FDP und Grünen zwei Jahre im Amt. Wie sieht ihre bisherige verkehrspolitische Halbzeitbilanz aus Sicht der Fahrradbranche aus? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Es sollte eine „Fortschrittskoalition“ werden. Das neue Bündnis hatte sich viel vorgenommen. Im 177-seitigen Koalitionsvertrag von 2021 findet sich 72-mal das Wort „Zukunft“, 11-mal ist von „Aufbruch“ die Rede. Doch neben blumigen Worten gibt es kaum etwas zum Thema Mobilität und Verkehrswende. Ein Lichtblick: Die Ampel-Koalitionäre formulierten ihre Absicht, Straßenverkehrsgesetz und StVO so anzupassen, „dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen“.
Der Fahrradbranche fiel ansonsten auf, dass der Begriff „Verkehrswende“ im Koalitionsvertrag überhaupt nicht vorkam. Dem Thema Radverkehr waren ganze vier Zeilen gewidmet, zum Beispiel: „Wir werden den Nationalen Radverkehrsplan umsetzen und fortschreiben, den Ausbau und die Modernisierung des Radwegenetzes sowie die Förderung kommunaler Radverkehrsinfrastruktur vorantreiben.“ Allgemeinplätze.
Für den Radverkehr war der Koalitionsvertrag 2021 daher eine Enttäuschung. Hinzu kam – neutral gesagt – die Überraschung, dass ein FDP-Minister das Ministerium führen sollte. Viele waren davon ausgegangen, dass der Grüne Cem Özdemir Verkehrsminister werden würde. Dessen Haltung zur Verkehrswende war bekannt, Volker Wissing hingegen hier eher ein unbeschriebenes Blatt. In seiner Zeit als Landesminister für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau in Rheinland-Pfalz war er nicht durch eine besonders fortschrittliche Verkehrspolitik aufgefallen.

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Verkehrspolitische Zwischenbilanz

Nach gut zwei Jahren Regierungszeit lässt sich nun eine Zwischenbilanz ziehen. Welche verkehrspolitischen Akzente hat Volker Wissing als Bundesverkehrsminister gesetzt? Hat er die Verkehrswende vorangebracht? In welcher Weise hat er etwas für die Fahrradbranche bewegt?
In den ersten Monaten seiner Amtszeit war auffällig, wie sehr sich Volker Wissing öffentlich bemühte, jede Erwartung zu zerstreuen, er könnte die Rahmenbedingungen für den motorisierten Verkehr verschlechtern oder das Autofahren teurer machen. Die Ablehnung von Tempolimits war sogar im Koalitionsvertrag bereits festgeschrieben worden. Allerdings war nach dem Bundesklimaschutzgesetz (KSG) 2019, das zwei Jahre später als Konsequenz eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts nochmals verschärft wurde, eine klar definierte CO2-Reduktion auch für das Verkehrsressort gesetzlich verpflichtend. Daher stand der Minister unter Druck, hier auch zu liefern.
Doch Volker Wissing schien das KSG nicht weiter zu interessieren. Bisher wurde in jedem Jahr seiner Amtszeit festgestellt, dass der Verkehrssektor die gesetzlichen Vorgaben nicht eingehalten hat und die Reduktionsziele deutlich verfehlt wurden. Für den Minister war dies allerdings kein Anlass, seinen Kurs zu ändern. Stattdessen wurde die Verantwortung weitergeschoben: Nicht Volker Wissing würde die Klimaschutzziele reißen. Es wären die Bürgerinnen und Bürger, die eben mobil sein wollten – so lautete die Begründung seines Parteichefs Christian Lindner. Der Spiegel nannte diese Haltung eine „Verweigerung des Klimaschutzes“ und „Nichtstun als Methode“.

Dass die Radinfrastruktur noch nicht gerade perfekt ist, ist offensichtlich, aktuell wird aber das Bemühen, daran etwas zu ändern, ausgebremst.

Was kümmert mich das Klimaschutzgesetz?

Mit seinem offensichtlich gesetzeswidrigen Verhalten ist Volker Wissing natürlich ein nicht unerhebliches Risiko eingegangen. Deshalb haben er und seine Partei mit dafür gesorgt, dass das KSG in der Weise geändert werden soll, dass es künftig keine separaten Reduktionsziele für den Verkehrssektor mehr gibt, sondern nur noch ein Gesamtpool aller Sektoren betrachtet wird. Das Kabinett hat im Juli 2023 einen entsprechenden Gesetzentwurf verabschiedet, der allerdings noch nicht durch den Bundestag ist (Stand Januar 2024).
Ein Handeln nach dem Motto: „Wenn ich die Vorgaben des Gesetzes nicht einhalten kann, ändere ich einfach das Gesetz“ ist im Hinblick auf das Rechtsempfinden der meisten Bürgerinnen und Bürger und für die politische Moral in Deutschland allerdings verheerend. Es zeigt zudem, wie wichtig der Ampel-Regierung offenbar ein Festhalten am verkehrspolitischen Status quo ist – mit ein bisschen mehr E-Mobilität und verbessertem ÖPNV.
Das temporäre 9-Euro-Ticket sowie nun das 49-Euro-„Deutschlandticket“ für den Nahverkehr ist hingegen ein Punkt, den sich der Verkehrsminister auf der Haben-Seite seiner Bilanz zu Recht ans Revers heften kann.

Planungsbeschleunigung

Ein weiteres wichtiges verkehrspolitisches Thema in den letzten zwei Jahren war die Planungsbeschleunigung für Infrastrukturmaßnahmen. Hier ging es darum, die Genehmigungsverfahren substanziell schneller zu machen. Durch das vom Bundestag im Oktober 2023 verabschiedete Genehmigungsbeschleunigungsgesetz soll sich das ändern, und zwar für alle Bauvorhaben, die im „überragenden öffentlichen Interesse“ liegen. Doch welche sind das? Der Ausbau der Bahn-Infrastruktur war zwischen allen Ampel-Partnern unstrittig. Auch die Einbeziehung von maroden Straßen- und Autobahnbrücken, wodurch lange Staus oder Umleitungen entstehen, waren nachvollziehbar. Ob angesichts der gravierenden Klimaproblematik jedoch auch Autobahnaus- und -neubauten zum „überragenden öffentlichen Interesse“ gehören, darüber wurde lange gerungen. Der Verkehrsminister argumentierte, ohne Straßen gäbe es in Deutschland kein Wachstum und keinen Wohlstand. Schließlich setzte sich die FDP hier durch, die Koalition verständigte sich neben den unstrittigen Themen auf eine Liste von 138 Autobahnvorhaben, bei deren Genehmigung nun unter anderem die Umweltverträglichkeitsprüfung entfällt. Im Sinne der Verkehrswende müsste die Beschleunigung allerdings auch für Radschnellwege und andere bauliche Radwege gelten. Doch was fiel für den Radverkehr ab? Nur der Bau von Radwegen an Bundesstraßen – aber nur dort, weil diese in der Kompetenz des Bundes liegen – soll ebenfalls beschleunigt werden. Tusch!

Standen dem Radverkehr im Jahr 2022 noch 750 Millionen Euro zur Verfügung, so sollen es in diesem Jahr nur noch rund 350 Millionen Euro sein.

Reform des Straßenverkehrsgesetzes

Eine zeitgemäße Reform des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) stand bereits im Koalitionsvertrag. Bisher zielt das Gesetz allein auf die Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs. Klima- und Umweltschutz oder städtebauliche Aspekte spielen keine Rolle. Die Integration dieser Themen ins Gesetz würde den Kommunen mehr Gestaltungsraum vor Ort geben – eigentlich ein klassisches FDP-Anliegen, dass Dinge von denen entschieden werden, die demokratisch legitimiert und unmittelbar betroffen sind: Stichwort Subsidiaritätsprinzip. Nachdem es 2023 endlich einen Regierungsentwurf gab, der von der Fahrradbranche immerhin als „Schritt in die richtige Richtung“ bewertet wurde, scheiterte dieser überraschend im Bundesrat. Also keine Reform, stattdessen gilt das alte Gesetz weiter.

Bis zur Fahrradidylle ist es noch ein weiter Weg. Die Branche und ihre Verbündeten werden kämpfen müssen, um die selbst gesteckten Ziele zu erreichen.

Haushaltsentwicklung

Die Fahrradwirtschaft ist in erheblichem Umfang von der Haushaltskrise des Bundes nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts betroffen. Zunächst wurde im Herbst 2023 durch die Haushaltssperre die gewerbliche E-Lastenrad-Förderung gestoppt, was viele Hersteller von Cargobikes vor massive Probleme stellt. Auch die Bike+Ride-Offensive wurde blockiert. Schließlich beschloss der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages am 18.01.24 Kürzungen in Höhe von 44,6 Mio. Euro bei dem so wichtigen kommunalen Radverkehrs-Infrastrukturprogramm „Stadt und Land“. Fast komplett gestrichen wurde das „Fahrradparken an Bahnhöfen“. Weitere Kürzungen gibt es bei Finanzhilfen zur Unterstützung des Radverkehrs in Ländern und Kommunen und bei der Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans. Die Kritik der Fahrradverbände ist deutlich, zumal beim Haushalt 2024 die Mittel für den Autobahnausbau verschont blieben und zugleich die Mittel für Regionalflughäfen erhöht wurden. Der ZIV spricht in einer Stellungnahme von einem „Schreddern beim Radverkehr und der Verkehrswende“ durch die Ampel-Parteien. Standen dem Radverkehr im Jahr 2022 noch 750 Mio. Euro zur Verfügung, so sollen es in diesem Jahr nur noch rund 350 Mio. Euro sein. Dabei hatte die Verkehrsministerkonferenz der Länder 2023 unterstrichen, dass Deutschland eine Bundesförderung für den Radverkehr von rund 1 Mrd. Euro pro Jahr benötigt, um zum „Fahrradland“ zu werden.
Die EU hat ihren Mitgliedsländern im April als Beitrag zum Klimaschutz erstmals die Möglichkeit gegeben, Fahrräder statt mit dem Standard-Umsatzsteuersatz nur noch mit dem ermäßigten Satz zu belegen. Zum Vergleich: Bus, Bahn und sogar Taxi werden nur mit 7 Prozent MwSt. belegt, das Ausleihen oder der Kauf von Fahrrädern mit 19 Prozent. Die Verbände der Fahrradwirtschaft hatten sich für eine Umsatzsteuersenkung stark gemacht, doch das Finanzministerium entschied anders. Staatssekretär Michael Kellner begründete die Absage auf dem Vivavelo-Kongress im September unter anderem mit einer sehr gut florierenden Fahrradwirtschaft.

Fahrradbeauftragte des BMDV weg

Seit dem 1. Oktober 2023 hat das BMDV keine Radverkehrsbeauftragte mehr. Karola Lambeck wurde auf eine andere Stelle befördert, seitdem ist die Funktion unbesetzt. Frau Lambeck hatte das Amt seit 2018 bekleidet und war auch in der Fahrradbranche durchaus geschätzt. Nun sind personelle Wechsel innerhalb eines Ministeriums nichts Ungewöhnliches. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Position bisher nicht neu besetzt wurde und dass es keine Information darüber gibt, wann beziehungsweise ob es einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin geben wird oder ob das BMDV diese Funktion künftig für entbehrlich hält. Für Letzteres gäbe es angesichts eines personell und strukturell inzwischen deutlich gestärkten Radverkehrsreferats im BMDV sachlich durchaus Argumente. Doch offiziell gibt es keine Erklärungen.Was sagen die
Fahrradverbände?
Mit der radverkehrspolitischen Bilanz der Ampel-Regierung ist in der Fahrradwirtschaft kaum jemand zufrieden. Im Gegenteil: Burkhard Stork, Geschäftsführer des ZIV, kritisiert, dass die Bundesregierung die Orientierung in der Verkehrspolitik verloren habe und appelliert, die Verkehrswende nicht bis zur Bundestagswahl 2025 zu verschleppen: „Wir erwarten, dass schnellstmöglich der Vermittlungsausschuss angerufen wird, um die StVG-Reform zum Abschluss zu bringen.“ Auch der Verband Zukunft Fahrrad sowie der ADFC sind von der bisherigen Regierungsarbeit im Hinblick auf die Verkehrswende enttäuscht und appellieren gemeinsam mit anderen Verbänden der Mobilitätsbranche an die Koalition, „in der verbleibenden Amtszeit ihre Verkehrspolitik stärker an ökologischen und sozialen Kriterien auszurichten“. Hinter den Kulissen fallen die Worte deutlich drastischer aus, aber richtigerweise will man mit der Regierung im Gespräch bleiben. Ein zugespitztes Ampel-Bashing würde zwar gerade gut in den Zeitgeist passen, wäre aber letztlich eher kontraproduktiv. Da ist es klug, sich mit scharfen öffentlichen Statements etwas zurückzuhalten.

Volker Wissing – wes Geistes Kind?

Bundesminister prägen als Person maßgeblich ihr Ressort, und das gilt auch für Volker Wissing und den Verkehrsbereich. Nach gut zwei Jahren zeichnet sich ein klares Bild ab: Sein abgewählter Amtsvorgänger Andreas Scheuer hatte recht, als er den Koalitionsvertrag der Ampel mit den Worten kommentierte: „Schön, dass die Ampel meine Politik der letzten Jahre fortsetzt.“ Allerdings mit einem Unterschied: In der zweiten Hälfte von Scheuers Amtszeit wurde vieles für den Radverkehr bewegt und es wurden höhere Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt. Unter Volker Wissing findet das Gegenteil statt.
Gleich nach seiner Nominierung positionierte sich Wissing massiv als Anwalt der Autofahrer. Das hätte noch taktischer Natur sein können, aber der Minister meint es ernst mit der Überzeugung, dass der Kfz-Verkehr die Grundlage unseres Wohlstands ist. Wie seine Vorgänger ist er zuallererst Autominister, vielleicht mit einer Einschränkung: ÖPNV (Ländersache) und die Bahn scheinen ihm wichtiger zu sein, Stichwort Deutschlandticket. Aber das Fahrrad?
Die Fahrradbranche sah es als positives Signal, dass Volker Wissing höchstpersönlich am 7. April 2022 zum Parlamentarischen Abend während des Vivavelo-Kongresses kam und enthusiastische Worte über das Fahrrad sagte. Aber das war‘s dann auch mit dem Ministerengagement. Zur Eurobike nach Frankfurt kam nur noch sein Staatssekretär. In seiner eigenen, 13-seitigen „Halbzeitbilanz“ nennt das Ministerium den Radverkehr ganz am Ende auf elf Zeilen und zählt als Erfolge die Verstetigung des Förderprogramms „Stadt und Land“ auf, das Erscheinen einer Broschüre mit ergänzenden Fortbildungskursen sowie die Zertifizierung des BMDV als „Fahrradfreundlicher Arbeitgeber“ in Gold. Das war‘s.
Die grundlegende Desillusionierung über Volker Wissing begann aber durch seinen respektlosen Umgang mit dem Bundesklimaschutzgesetz. Nachdem 2022 erstmals festgestellt wurde, dass der Verkehrsbereich die Sektorziele gerissen hat, musste das BMDV ein Sofortprogramm erstellen. Der Expertenrat der Bundesregierung hat dies als inhaltlich unzureichend bezeichnet, was Volker Wissing aber nicht weiter störte. 2023 wurde erneut amtlich das Verfehlen der gesetzlichen Ziele festgestellt. Diesmal verweigerte das BMDV sogar ein Sofortprogramm mit dem Argument, man wolle das Klimaschutzgesetz ohnehin ändern, was aber bis heute (Stand Januar 24) nicht rechtswirksam geschehen ist. Ende November 2023 verurteilte das OLG Brandenburg die Bundesregierung dazu, Paragraf 8 des KSG einzuhalten und Sofortprogramme aufzulegen. Die Bundesregierung legte Revision ein, um weiter Zeit zu gewinnen. Ein derartiger Umgang mit dem wichtigen Gut der Zukunftssicherung durch den Klimaschutz und vor allem auch mit unserem Rechtssystem erschüttert ganz grundsätzlich das Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern in die politische Moral der Regierung. Ein schwerwiegender Vorgang, den Volker Wissing, selbst Rechtsanwalt und Angehöriger einer Partei, die sich die Rechtsstaatlichkeit besonders auf die Fahne geschrieben hat, mitzuverantworten hat. Gleichwohl liegt hier auch eine Verantwortung beim Bundeskanzler und dem gesamten Kabinett.
Wes Geistes Kind Volker Wissing ist, zeigte sich auch beim Gerangel um die Reform des auch für den Radverkehr so wichtigen Straßenverkehrsgesetzes (SVG), das die Verkehrswende ein Stück weit hätte erleichtern können. Zunächst verzögerte das BMDV das Angehen des Themas, dann gab es um jede Formulierung zähe Verhandlungen innerhalb der Ampel-Parteien und schließlich, nach dem Scheitern des Gesetzes im Bundesrat, verzichtete der Minister auf die umgehende Anrufung des Vermittlungsausschusses, um doch noch zu einer Einigung zu gelangen. Es wirkt so, als wäre es kein allzu großer Schmerz für Volker Wissing, wenn nun wieder alles beim Alten bliebe.

Albert Herresthal


Bilder: stock.adobe.com – Kirill Gorlov, stock.adobe.com – A. Rochau, stock.adobe.com – Kara

Ein integrierter Ansatz für nachhaltigere Verkehre verlangt, Raum und Mobilität stärker zusammenzudenken. Dafür sollte der gesetzliche Rahmen reformiert werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Die Gestaltung von Quartiers- und Stadträumen bestimmt maßgeblich mit, ob sich Menschen beispielsweise fürs Fahrrad, den Bus oder das Auto entscheiden. Im Projekt „Integrierte Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung“ will die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) unter anderem die Frage beantworten, wie individuelles Mobilitätsverhalten funktioniert und welche Interventionsmöglichkeiten zur Förderung nachhaltiger Verkehrsmittelentscheidungen es gibt. Als zentraler Hebel für die Schaffung vielfältiger und klimaresilienter Städte wurden dabei die Wechselwirkungen zwischen räumlichen Strukturen und Mobilität identifiziert. Das ist keine grundlegend neue Erkenntnis, jedoch spannt das Projekt der Akademie einen größeren Bogen, indem sie die integrierte Stadtplanung als Kooperation und fachliche Synergien von Politik, Verwaltung, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft skizziert.

Vier räumliche Maßstabsebenen

Aufgezeigt werden die Wechselwirkungen von Raum und Mobilität an den vier Maßstabsebenen Straße, Stadtquartier, Gesamtstadt sowie Stadtregion. Für jede der Ebenen werden jeweils spezifische Einflussfaktoren beschrieben. So fördert beispielsweise eine hohe Aufenthaltsqualität in Straßen den sozialen Austausch im öffentlichen Raum und die Fortbewegung zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Im Stadtquartier bestimmen Infrastruktur und Erreichbarkeit der Alltagsziele die Mobilitätsoptionen. Entsprechend belebt werden Quartiere durch den Zugang zum öffentlichen Verkehr und durch kürzere Wege. In der Gesamtstadt sollen Standorte verteilt und gut mit dem ÖV oder nicht motorisierten Verkehrsmitteln erreichbar sein. Wichtig für eine Stadtregion ist die Abstimmung von Siedlungsentwicklung, Infrastrukturentwicklung und Verkehrsachsen. Verläuft die Entwicklung beispielsweise entlang von ÖV-Achsen, können im Umfeld von Bahnhöfen und Haltestellen lebendige Zentren entstehen.

Räumliche Maßstabsebenen: Im lebendigen Stadtquartier geht es darum, die Alltagswege zu verkürzen. Für die Gesamtstadt sollen die Standorte im Stadtraum verteilt und mit dem ÖV oder nicht motorisierten Verkehrsmitteln gut erreichbar sein.

Verkehrsmittelwahl nicht immer rational

Ausführlich auf individuelles Verhalten im Kontext von Raum und Mobilität geht der Zwischenbericht ein. Demnach geben zwar, wie zuvor beschrieben, äußere Strukturen oder Angebote den Rahmen vor, Verhaltensentscheidungen sind jedoch nicht unbedingt im ökonomischen Sinn vernünftig. So steht die Wahl von Wohnort und Arbeitsstätte in Wechselwirkung mit der Aktivitätenwahl oder dem individuellen Mobilitätsverhalten. Entscheidungen über Alltags- und Freizeitaktivitäten haben Auswirkungen auf Ziele, Distanz, Frequenz und Abfolge zurückgelegter Wege. Darüber bestimmen sich auch individuelle Mobilitätsoptionen. Das Mobilitätsverhalten ist bestimmt durch Anzahl und Länge täglicher Wege. Bewegungsverhalten beinhaltet beispielsweise schnell oder langsam, zielstrebig oder mäandrierend. Bewegungsverhalten, Aktivitätenwahl und Mobilitätsverhalten beeinflussen sich gegenseitig und haben Auswirkungen auf andere Verkehrsteilnehmende sowie die Wahrnehmung von Raum.

Verhalten nach Budget, Geschlecht und Alter

Wichtig für das Verhalten sind soziodemografische Faktoren. So bedeutet etwa ein höheres Einkommen mehr Freiheit bei der Standortwahl. Die Geburt eines Kindes führt tendenziell zu vermehrter Pkw-Nutzung, ebenso der Fußwege. Je besser der ökonomische Status, desto mehr Wege werden zurückgelegt, während Haushalte mit geringem Budget 28 Prozent mehr Wege zu Fuß gehen. Männer legen fast ein Drittel mehr Wege mit dem Auto zurück als Frauen. Frauen sind um 20 Prozent häufiger zu Fuß unterwegs. Die Hälfte der Frauen fühlt sich unsicher, bei Dunkelheit allein unterwegs zu sein. Mit dem Alter nimmt die Einschränkung der Mobilität zu. Hinzu kommen neuerdings städtische Hitzewellen, bei denen bis zu 65 Prozent ihre Aktivitäten im öffentlichen Raum reduzieren.

Vorstellung in Berlin: Mit den Ergebnissen des Acatech-Projekts wurden auch Handlungsempfehlungen als Orientierungs- und Argumentationshilfe für kommunale Praktikerinnen und Praktiker vorgestellt.

Normen, Werte und Einstellungen

Auch psychologische Aspekte werden beleuchtet. Eine positive Affinität zum Fahrrad etwa hat, wer seit der Kindheit gerne das Rad benutzt hat. In der Jugend wird das Zweirad Mittel zur Selbstständigkeit, die Umgebung auf eigene Faust zu erkunden. Fördert man durch Bildung in Schule und Familie frühzeitig positive Erfahrungen mit aktiver Mobilität, kann dies langfristig ein umweltfreundliches Verkehrsverhalten begünstigen. Und ob jemand in öffentliche Verkehrsmittel einsteigt, ist auch eine Frage des Images. So besitzen Buslinien ein schlechteres Image als schienengebundene Verkehrsmittel. Als Interventionsansatz werden statussensible Angebote und begleitende Kommunikations- und Marketingmaßnahmen empfohlen.

„Die Novellierung des StVG ist eine wichtige Basis für ein Mobilitätsgesetz mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort.“

Helmut Holzapfel, Co-Projektleiter

Wechsel und Krisen als Chancen

Auch eine neue Lebensphase bietet die Chance, mit Routinen und Gewohnheiten zu brechen. Mit Bezug einer Wohnung oder Wechsel des Arbeitsplatzes kann das eigene Mobilitätsverhalten hinterfragt werden. Hilfreich können deshalb Mobilitätsberatungen für Neubürgerinnen und Neubürger oder junge Familien sein. Betriebe können Anreize setzen, wenn sie Mitarbeitenden Abomodelle für Dienstfahrräder oder ein Mobilitätsbudget anbieten. Ebenso bewirken externe Schocks oder unvorhergesehene Ereignisse individuelle Verhaltensänderungen. Als Beispiel wird die Covid-19-Pandemie genannt, in der zahlreiche Personen ihr Standort-, Aktivitäts- und Mobilitätsverhalten hinterfragt haben. Digitale Transformationen haben standortunabhängiges Arbeiten ermöglicht.

Partizipation aller Teilnehmer

„Als einseitiger Top-down-Prozess wird die Transformation der Mobilität jedoch nicht erfolgreich sein. Wichtig ist, dass sich alle gesellschaftlichen Gruppen als Teil dieser Veränderung verstehen, diese für sich als Gewinn betrachten, die Prozesse mitentwickeln und in ihren Alltag integrieren“, heißt es im acatech-Bericht. Konflikte entstehen zum Beispiel bei unterschiedlichen Vorstellungen von Raumnutzung. Deshalb sollte der Austausch zwischen Nutzergruppen ermöglicht werden. Die Akzeptanz neuer Angebote wie temporär verkehrsberuhigte Zonen wird größer durch die Einbindung lokaler Akteurinnen. In Partizipationsprozessen wird das Wissen von Quartieranrainerinnen genutzt und fließt mit in die Planung ein.

Raumebene Stadtregion: Wichtig ist hier die Abstimmung von Siedlungsentwicklung, Infrastruktur und Verkehrsachsen. Rund um Bahnhöfe und Haltestellen können attraktive Zentren entstehen.

Regelwerke reformieren, Zusammenarbeit fördern

Dreh- und Angelpunkt von Interventionen, um auf Verhaltensänderungen einzuwirken, bleibt das Zusammenspiel von Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung. Zu den Bausteinen gehören Umweltzonen, der Ausbau von Fuß- und Radinfrastrukturen, Bike-Sharing-Systeme und Quartiersverbindungen durch den ÖV. Die Empfehlungen der Acatech richten sich auch an die Politik. Co-Projektleiter Helmut Holzapfel sagt: „Es ist ein Dilemma: Kommunen sollen die Mobilitätswende vorantreiben, doch sobald sie Neues ausprobieren, um öffentlichen Raum vielfältiger zu nutzen und etwa Straßen für Fußgängerinnen und Fußgänger zu öffnen, droht schnell der Gang vor Gericht. Die Novellierung des StVG ist eine wichtige Basis für ein Mobilitätsgesetz mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort.“ Kommunen sollten mehr rechtlichen Spielraum erhalten, um integrierte Maßnahmen eigenständig umzusetzen. „Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser“, findet Co-Projektleiter Klaus Beckmann (Interview). Eine entsprechende Reform ist 2023 im Bundesrat jedoch gescheitert.
Patentlösungen für lebenswerte Stadtregionen gibt es nicht. Deshalb sollten Experimentierklauseln erweitert und das temporäre Abweichen von Vorschriften erleichtert werden. So könnten innovative Ansätze und ihre Wirkung rechtssicher ausprobiert werden. „Die Sendlinger Straße in München ist ein gutes Beispiel“, sagt Co-Projektleiter Klaus Beckmann. „Die Straße wurde zunächst versuchsweise zur Fußgängerzone umgewidmet. Seither flanieren die Menschen, sie genießen den neu gewonnenen Freiraum und auch der Einzelhandel profitiert von der höheren Besucherfrequenz. Schon nach einem Jahr war klar: Das soll so bleiben.“
Programme mit angepassten Förderbedingungen sollten einen integrierten Ansatz in Kommunen und Regionen unterstützen für eine langfristige und sichere Planung.

Erfolge in Paris, Freiburg und Hannover

Als Beispiel für einen integrierten Planungsansatz wird unter anderen die französische Hauptstadt Paris genannt mit ihrer Fokussierung auf gute Erreichbarkeit nach dem Konzept der 15-Minuten-Stadt. Dort wurde von 2001 bis 2018 ein deutlicher Rückgang der täglich mit dem Auto zurückgelegten Wege verzeichnet, während sich die zu Fuß zurückgelegten Wege um etwa 50 Prozent erhöht haben. Die Anzahl mit dem Auto zurückgelegter Wege fiel 2018 sogar unter die 6-Millionen-Marke. In Freiburg im Breisgau wiederum verfolgt man seit Ende der 1980er- Jahre das Ziel, Verkehr durch eine abgestimmte Stadtentwicklungs- und Mobilitätspolitik zu vermeiden. Die Wirkung einer integrierten Planung wird deutlich sichtbar. So stieg zwischen 1982 und 2016 der Anteil des Umweltverbunds von 61 auf 79 Prozent, der des motorisierten Individualverkehrs sank von 39 auf 21 Prozent. Nicht zuletzt steht die Region Hannover mit ihrer Regionsversammlung als Beispiel für eine institutionalisierte Form regionaler Zusammenarbeit. Bereits 2011 wurde ein Verkehrsentwicklungsplan für die Region verabschiedet, der auf räumliche Integration abzielte. Im 2023 fortgeschriebenen Verkehrsentwicklungsplan ist eine Senkung des CO2-Ausstoßes von 70 Prozent bis 2035 vorgesehen. Zwischen 2011 und 2017 ging der MIV-Anteil in der Region von 59 auf 55 Prozent zurück, der des Umweltverbunds stieg von 41 auf 45 Prozent.

„Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser“

Interview mit Acatech-Co-Projektleiter Prof. Klaus Beckmann

Was sind Kernanliegen des integrierten Ansatzes?
Es geht um die Frage, welche Effekte auf den Verkehr wir bei der Stadtentwicklung berücksichtigen müssen. Wie können wir die erwünschten Effekte im Verkehr stützen, die unerwünschten bremsen oder umlenken? Das bedeutet, dass ich über die verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen nachdenken muss. Es beginnt im Straßenraum vor der Haustür. Der ist nicht nur Verkehrsfläche, sondern ebenso für Aufenthalt, Kontakte oder Spiel. Ich kann auch Grünflächen zur Verbesserung des Stadtklimas bereitstellen.
Das geht dann ins Quartier hinein. Was ist bereits an Einrichtungen vorhanden? Welche sollte man schaffen, die im Alltagsleben Ziele von Menschen sein können? Von der Schule über den Kindergarten, die Einkaufsgelegenheiten bis hin zu Ärzten. Das muss ich versuchen mitzudenken.
Man könnte jetzt sagen, das ist doch alles fix. Die letzten zwei Jahre haben jedoch gezeigt, dass vieles, von dem wir gemeint haben, es sei fix, nicht so fix ist. Ich erinnere an den für die Innenstädte problematischen Niedergang der Kaufhäuser. Welche Nutzungen ich da reinbringen kann. Ausschließlich Handel ist vielleicht zu monofunktional. Ich muss überlegen, ob nicht auch Wohnungen oder Arbeitsplätze infrage kämen – oder eine Bibliothek. Was wir jahrelang an den Rand der Städte geschoben haben, kann vielleicht wieder in die Stadt rücken. Bei den räumlichen Maßstabs-ebenen bin ich da vom Quartier im Übergang zur Gesamtstadt. Wo liegen die Orte, die Zugänge zu Fußgänger- und Zweiradverkehrsnetzen oder zum ÖPNV bieten? Kann ich die mit der U-Bahn oder Tram erreichbar machen? Hier sind die Botschaften. Wir brauchen Integration. Städtebau auf der einen Seite, Mobilität auf der anderen. Und das über alle Ebenen vom Quartier bis in die Region hinein.

Wie wichtig ist eine selbstständige Planung für die Kommunen?
Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser. Die Politikerinnen und Politiker aus den Gemeinde- und Stadträten müssen letztlich die Wirkungen überprüfen und eventuell nachkorrigieren, also Erfahrungen sammeln. Vor allem die Kritik der Bürgerinnen und Bürger ist aufzunehmen, um sich damit auseinanderzusetzen. Die Verantwortlichkeit ist bei den Kommunen zu sehen. Dieser Weg ist im Augenblick eingeschränkt, beispielsweise durch das bisherige Straßenverkehrsgesetz.
Natürlich gibt es Argumente dafür zu sagen, es wäre nicht förderlich, wenn wir in Kommune A und der Nachbarkommune B völlig gegensätzliche Regelungen hätten. Deswegen bedarf es eines Rahmens wie das Straßenverkehrsgesetz und die Ableitung als StVO. Aber das ist im Augenblick relativ strittig. Es gibt mehr als 1000 Gemeinden, die postuliert haben: Gebt den Städten und Gemeinden mehr Kompetenzen und Verantwortlichkeiten im Bereich der Gestaltung von städtischen Verkehrsräumen. Das betrifft zum Beispiel die Geschwindigkeiten.

Was beeinflusst die individuelle Verkehrsmittelwahl?
Das fängt bei der Wohnungssuche schon mit dem Angebot an. Wo liegt das in der Stadt? Wie erreiche ich von dort meinen Arbeitsplatz und Einkaufsgelegenheiten? Ist das ein gut ausgestattetes Quartier? Was für Mobilitätsoptionen habe ich selbst und bevorzuge ich? Bin ich Fußgänger, Fahrradfahrer, ÖPNV-Nutzer oder passionierter Autofahrer?
Es gibt einige Wohnungsbaugesellschaften, die bereits integrierte Angebote von Wohnungen und Mobilitätsmöglichkeiten machen. Als Nutzer mieten Sie also eine Wohnung und haben vielleicht damit schon einen Mobilitätspool. Dieser kann ein Fahrrad, ein Pedelec, einen Leih-Pkw oder eine ÖPNV-Fahrkarte beinhalten. Gerade im kommunalen Bereich, in Quartieren und Stadtteilen, spielen nicht motorisierte Verkehrsmittel von den Füßen bis zu den Zweirädern eine bedeutende Rolle.

Der integrative Ansatz ist umfangreich: Wer hat den Masterplan, wer fängt an?
Das Schwierige und Interessante daran ist, dass es keine Musterlösung gibt nach dem Motto: Nur so geht´s. Das hängt von den lokalen Rahmenbedingungen ab. Was habe ich für ein Radwegenetz? Wie kann ich das Straßennetz umgestalten? Ich muss bei allem, was die Stadtplanung und die Verkehrsplanung entscheiden, fragen: Was bedeutet das hinsichtlich der städtischen Lebensqualitäten sowie der Mobilitäts- und damit Teilnahmemöglichkeiten? Das sind zentrale Fragen, die man sich ständig stellen muss. Manche Städte haben gute Erfahrungen gemacht, indem sie Masterpläne erstellt und schrittweise in der Verwaltung und Politik umgesetzt haben. Das schließt nicht aus, dass man, wenn Menschen aus dem Quartier sagen: Das ist etwas, was wir für nötig halten, dies berücksichtigen, also davon profitieren sollte.

Ein Leitfaden, der mit dem Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) entwickelt wurde, unterstützt Kommunen bei der Transformation ihrer Governance und zeigt Handlungsbausteine auf für integriertes Arbeiten.

Info: www.acatech.de


Bilder/Grafiken: acatech, David Ausserhofer

Sie haben das Zeug dazu, Autofahrten zu ersetzen. Aber in Deutschland sind S-Pedelecs für die Bundesstraße zu langsam und für den Radweg zu schnell. Nun testen erste Kommunen, wie sie die Räder in den Alltagsverkehr besser integrieren können. Das Ausland ist da schon weiter. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Mit Tempo 70 und schneller ziehen die Autos auf der Bundesstraße an Anja Herz vorbei. Sie schneiden die Radfahrerin, hupen anhaltend und zeigen wild gestikulierend auf den parallel verlaufenden Radweg. Der ist leer, Anja Herz würde gerne auf ihn ausweichen. Aber das verbietet die Rechtslage, denn Anja Herz fährt ein schnelles Pedelec.
Die schnellen Pedelecs, auch Speed-Pedelec oder S-Pedelec genannt, gelten als Kleinkraftrad, weil sie bis zu 45 Kilometer pro Stunde schnell fahren können. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis sind ihre Fahrerinnen und Fahrer eher mit 30 bis 35 Kilometern pro Stunde unterwegs. Trotzdem gelten für sie die gleichen Regeln wie für Autos: Gefahren werden darf nur auf der Fahrbahn.
In Belgien, der Schweiz oder Dänemark ist es umgekehrt. Dort müssen die schnellen Räder zwingend die Radwege nutzen – auch in den Zentren. Ob diese Regelung sinnvoller ist, bezweifeln viele Radverkehrs-expertinnen. Aber auch sie finden: Die Rechtslage in Deutschland sollte angepasst werden. Umfragen und erste Studien zeigen: S-Pedelecs können Autofahrten ersetzen, wenn ihre Nutzerinnen sicher unterwegs sind. Das 2023 gegründete Bündnis „Allianz Zukunft S-Pedelecs“ will dafür die Rahmenbedingungen schaffen. Seit vergangenem Jahr initiieren seine Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verbänden Studien und organisieren regelmäßige Diskussionsrunden mit Experten. Der Blick in die Nachbarländer zeigt, wie Lösungen aussehen könnten. Aber nicht nur jenseits der Grenzen gibt es Vorbilder, auch in Deutschland gibt es erste Versuche, die Nutzung von S-Pedelecs zu liberalisieren.
Die Unistadt Tübingen in Baden-Württemberg gehört dabei zu den Vorreitern. Dort gibt es seit 2019 das erste und bislang einzige S-Pedelec-Netz bundesweit. Auf einer Strecke von rund 80 Kilometer verbindet es sämtliche Ortsteile mit der Kernstadt. Die Idee für die Planung kam aus der Stadtregierung. „Einige Gemeinderäte und der Oberbürgermeister, Boris Palmer, waren damals bereits mit herkömmlichen, aber auch mit schnellen Pedelecs unterwegs“, sagt Daniel Hammer, Verkehrsplaner und zuständig für den Radverkehr in Tübingen. Die baden-württembergische Landesregierung unterstützte das Vorhaben und führte das Zusatzzeichen „S-Pedelec frei“ ein.
Damit begann die Netzplanung. Der Grundsatz war: Das Fahren mit S-Pedelecs im Stadtgebiet muss einfach und intuitiv sein. „Wir haben keine festen Standards definiert“, sagt Hammer. Stattdessen haben sie vor Ort entschieden, auf welcher In-frastruktur die schnellen Rad-fahrerinnen sicher unterwegs sind. Das können Radwege sein, Radfahrstreifen, Fahrradstraßen, verkehrsberuhigte Zonen und Wirtschaftswege. Der Aufwand war groß. Jeder Teil der Route wurde begutachtet. Insbesondere für kritische Stellen mussten sie Lösungen finden. Dazu gehört beispielsweise eine Unterführung im Zentrum. „10.000 Radfahrende sind dort täglich unterwegs und ebenso viele Fußgänger“, sagt Hammer. Die Unterführung ist sechs Meter breit und hat einen getrennten Fuß- und Radweg. Um die schnellen S-Pedelecs zu bremsen, haben sie dort ein Tempolimit von 20 Kilometern pro Stunde für alle Fahrräder eingeführt. Eine spätere Geschwindigkeitsmessung zeigte, dass Rennräder und Pedelecs dort bergab mit 30 bis 35 Kilometern pro Stunde unterwegs sind – ohne andere zu gefährden. Bislang funktioniert das Miteinander der schnellen und langsamen Radfahrerinnen und Radfahrer recht gut. Laut Hammer gab es weder mehr Unfälle noch sonstige Beschwerden. „Wenn sich das ändert, passen wir die Infrastruktur an“, sagt er. Momentan ist das Tübinger Modell nur eine Insellösung. Spätestens am Ortsschild der Nachbarstädte wie Reutlingen oder Rottenburg endet für die schnellen Pendlerinnen das entspannte Fahren. Der Radverkehrsplaner bedauert, „dass S-Pedelecs generell auf die Straße müssen, auch wenn Tempo 100 gilt“. Das schrecke potenzielle Umsteiger ab. Er plädiert für ein landkreisweites S-Pedelec-Netz auf geeigneten Wegen.

Mit maximal 30 Kilometern pro Stunde dürfen die Radfahrer durch den Tunnel fahren. In den Niederlanden sind Tempolimits auf vielen Radwegen üblich. In Deutschland ist Tübingen damit Vorreiter.

Speed-Pedelecs sind mit einer Tretunterstützung bis 45 km/h und einer Motorleistung bis zu 4 kW rechtlich betrachtet kene Fahrräder, sondern Kleinkrafträder der Klasse L1e. Damit sind bisher nicht nur Radwege tabu, sondern auch Feld- und Waldwege, die mit Verbotschildern für Motorfahrzeuge gekennzeichnet sind.

S-Pedelec-Netze für Landkreise

Diese Idee ist besonders für Radregionen interessant, wie etwa den Bodensee. Viele Berufstätige fahren dort täglich 20 oder auch 30 Kilometer zur Arbeit. Von Singen und Radolfzell etwa nach Konstanz oder auch in die Schweiz. „Das ist eine ideale Distanz für S-Pedelecs“, sagt der Radverkehrsplaner der Stadt Kon-stanz, Georg Gaffga. Bislang müssen die schnellen Radfahrerinnen an einigen Stellen die Bundesstraße nutzen. Die wird gerade auf vier Fahrspuren ausgebaut und führt zudem durch einen Tunnel. „Selbst für versierte Radfahrende kommt ein Fahren dort nicht infrage“, sagt Gaffga. Für diese Streckenabschnitte braucht es Ausweichrouten. Mit seinen Kolleginnen plant Gaffga seit vergangenem Jahr das neue Radwegenetz der Stadt. Die S-Pedelecs haben sie dabei stets im Blick. „Wir suchen auf den Hauptachsen ins Umland die Lücken im Netz“, sagt Gaffga. Wo das Fahren auf den Straßen für die schnellen Radfahrer zu gefährlich ist, sollen sie auf Radwege neben der Fahrbahn ausweichen können. Vorausgesetzt, sie sind breit genug und es sind dort nur wenige Fußgänger und Radfahrende unterwegs.

„Unsere Mobilitätsstrategie ist der autofreie Haushalt“

Georg Gaffga, Stadt Konstanz

S-Pedelec: Ein Baustein zum autofreien Haushalt

Innerorts sieht der Radverkehrsplaner Gaffga nahezu keinen Handlungsbedarf in seiner Stadt. In Konstanz’ Zentrum könnten die schnellen Radler bei Tempo 30 oder 50 auf der Fahrbahn mitrollen. Aber es gibt auch Ausnahmen. Im vergangenen Jahr hat er eine Anliegerstraße, die auch Fahrradstraße ist, für S-Pedelecs freigegeben. „Die Straße hat den Charakter einer Außerortsstraße, sie führt durch ein Waldgebiet geradewegs zum Fähranleger Richtung Meersburg“, sagt er, eine wichtige Pendelroute. Auch dort funktioniert das Miteinander. Bislang gab es keine Beschwerden.
Angesichts der geringen Zahl an S-Pedelecs im Straßenverkehr erscheint der hohe Aufwand, den Gaffga mit seinem Team betreibt, unverhältnismäßig hoch. Insbesondere weil sie kein konkretes S-Pedelec-Netz planen, sondern vorerst nur die Möglichkeiten ausloten, potenzielle Lücken im Netz zu schließen. Gaffga hält dagegen: „Unsere Mobilitätsstrategie ist der autofreie Haushalt“, sagt er. Das S-Pedelec ergänze das aktuelle Angebot an Sharing und öffentlichem Verkehr. Deshalb wollen sie die junge Fahrzeuggattung fördern. Das funktioniere allerdings nur, wenn die Fahrer*innenr sich wohlfühlen und sicher unterwegs sind. Die benachbarte Schweiz zeige zudem, dass bei attraktiven Bedingungen die Verkaufszahlen von S-Pedelecs steigen und ihr Anteil am Gesamtverkehr zunimmt.

S-Pedelecs ersetzen das Auto

Hierzulande ist die Fahrzeuggattung bislang nur eine Randerscheinung. Gerade mal 11.000 Stück wurden im Jahr 2022 verkauft. In Belgien, den Niederlanden oder der Schweiz sind S-Pedelecs deutlich populärer. Allein in der Schweiz mit ihren knapp neun Millionen Einwohnerinnen wurden im Jahr 2022 rund 23.000 der S-Pedelecs aus den Läden geschoben. Expertinnen führen das auf die Rechtslage zurück: Schließlich dürfen sie dort die Radinfrastruktur nutzen. Das hat zur Folge, dass 75 Prozent der Strecken, die dort mit schnellen E-Bikes zurückgelegt wurden, Arbeitswege waren. Im niederländischen Rotterdam waren es 2021 rund 60 Prozent.
Für Anke Schäffner vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) sind die Zahlen ein Indiz für das große Potenzial der S-Pedelecs für die Verkehrswende. Sie hat Ende vergangenen Jahres die ZIV-Studie „Wo fahren S-Pedelecs?“ vorgestellt. Die beschreibt, wie die Nachbarländer die Elektroräder in den Verkehr integrieren und wie sich das unter anderem auf die Verkaufszahlen auswirkt.
In Belgien etwa können die Fahrerinnen zwar innerorts wählen, ob sie die Radinfrastruktur oder die Fahrbahn nutzen, dagegen ist außerorts für sie die Radwegbenutzung ab Tempo 50 Pflicht. Diese Regelung kommt in der Bevölkerung anscheinend gut an. Von 2017 bis 2021 sind die Zulassungszahlen der S-Pedelecs von rund 5.300 auf 51.000 gestiegen. In den Niederlanden gelten für die schnellen Elektroräder die gleichen Bestimmungen wie für Mopeds. Ihre Fahrerinnen dürfen Radwege benutzen, die für Mopeds freigegeben sind. Innerorts ist das fast jeder Radweg in einer Tempo-50-Zone. Allerdings gilt dort für sie ein Tempolimit von 30 Stundenkilometern.

Die Fahrradstraße ist für Radpendler*innen von großer Bedeutung. Sie ist die schnellste Verbindung von Konstanz zum Fähranleger Richtung Meersburg.

Ausnahmegenehmigungen für Radwege

Auch beim S-Pedelec zeigt sich: Die Niederlande sind Fahrradland. Seit Jahren testen die verschiedenen Regionen, wie sie die Räder in den Alltagsverkehr integrieren können. Die Provinz Gelderland hat bereits 2018 im Rahmen einer Studie 16 Radwege im Stadtgebiet erst temporär und dann dauerhaft freigegeben. Andere Provinzen wie Groningen und Overijssel folgten dem Beispiel. In Rotterdam, Amersfoort und Utrecht können S-Pedelec-Fahrerinnen mittlerweile Ausnahmegenehmigungen beantragen, wenn sie die Radwege nutzen möchten. Allein in Rotterdam wurden im Jahr 2020 für die 384 angemeldeten Räder 275 Genehmigungen beantragt. Für Tobias Klein vom Team „Nahmobilität“ beim Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) ist das Vorgehen zeitgemäß. „Die Niederlande und auch Dänemark testen seit Jahren, wie sie die Alternativen zum Autoverkehr in ihre Verkehrsinfrastruktur integrieren können“, sagt er. Vor vielen Jahren bauten sie die ersten Radschnellwege, heute geben sie Radwege frei, damit die S-Pedelec-Nutzerinnen sicher unterwegs sind. „Ihre Lösungen sind nicht sofort perfekt, aber sie entwickeln die Systeme weiter und passen sie an“, sagt er. Deutschland hingegen sei bei Neuerungen im Verkehr eher darauf bedacht, nichts falsch zu machen, und bremse damit neue Entwicklungen. Das gelte für die Radinfrastruktur ebenso wie für die Integration neuer Verkehrsmittel wie S-Pedelecs.
Insbesondere außerorts sieht der Mobilitätsexperte verschiedene Möglichkeiten, Radinfrastruktur wie Wirtschaftswege oder auch Radschnellwege für sie freizugeben. „Die Radschnellverbindungen sind darauf ausgelegt, dass die Menschen dort mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs sein können“, sagt er. Die Freigabe per Zusatzschild sei nie ein Freifahrtschein zum Rasen. Im Gegenteil. „Die S-Pedelec-Fahrer müssen ihre Geschwindigkeit auf den Radschnellwegen anpassen, wenn dort viel Verkehr ist“, sagt er. Der Mobilitätsexperte ist zuversichtlich, dass das funktioniert.

Fahrzeiten: Pedelec versus S-Pedelec

Aber lohnt es sich überhaupt, vom normalen, dem Fahrrad rechtlich gleichgestellten E-Bike auf ein Speed-Pedelec umzusteigen? Das Kuratorium für Verkehrssicherheit (KFV) in Österreich, eine der führenden Institutionen der Unfallprävention, wollte es genau wissen und hat im Jahr 2021 die Studie durchgeführt „Potenzial von S-Pedelecs für den Arbeitsweg“.
Fünf Wochen dauerte der Feldversuch. 98 Berufstätige nahmen teil und zeichneten auf, wie viel Zeit sie für ihren Arbeitsweg mit den verschiedenen Fahrzeugen brauchten. Ab einer Strecke von fünf Kilometern kamen die Speed-Pedelecs stets schneller ans Ziel als ihr langsameres Pendant. Konkret benötigten die Berufstätigen für eine Strecke von 15 bis 20 Kilometer mit dem Auto durchschnittlich etwa 23 Minuten, mit dem S-Pedelec 34 Minuten und mit dem Pedelec rund 45 Minuten. Das herkömmliche Pedelec war demnach fast doppelt so lange unterwegs wie das Auto. Für die Forscherinnen ist dieser Zeitunterschied entscheidend. Eine Verdoppelung der Fahrtzeit zur Arbeit ist aus ihrer Sicht unattraktiv. Das S-Pedelec kann diese Differenz aber auf allen Strecken bis etwa 25 Kilometer in etwa halbieren. Damit ist das S-Pedelec für die Wissenschaftlerinnen eine echte Alternative zum Auto. Insbesondere auf langen kreuzungsfreien Strecken wie Radschnellwegen.
Allerdings wird die Freigabe von Radschnellwegen für S-Pedelecs seit Jahren kontrovers diskutiert. Vornehmlich die Vertreter*innen des ADFC waren strikt dagegen. Inzwischen weichen sie von dieser starren Haltung ein wenig ab. Inzwischen befürwortet der Fahrradclub die Freigabe der Radinfrastruktur in Einzelfällen – etwa außerorts, auf breiten, wenig frequentierten Radwegen. Damit sind viele geplante Radschnellwege bereits aus dem Rennen.

„Nur weil mein S-Pedelec 45 km/h fahren kann, fahre ich die Menschen nicht über den Haufen.“

Anja Herz

Klimafreundliche Fahrzeuge dürfen passieren, dazu gehören Busse, Taxen, Fahrräder und S-Pedelecs.

Zentrale Verbindungen in Tübingen wie diese Fahrradbrücke haben die Verkehrsplaner*innen ebenfalls für die Speed-Pedelec-Fahrer freigemacht.

Geschwindigkeit anpassen möglich?

Für die S-Pedelec-Fahrerin Anja Herz ist die ADFC-Haltung nur schwer nachzuvollziehen. Sie lebt außerhalb Münchens. Das S-Pedelec nutzt sie für fast jede Gelegenheit. Mit einer Freundin hat sie damit die Alpen überquert. 400 Kilometer sind die beiden von Garmisch bis zum Gardasee gefahren, die meiste Zeit auf Radwegen. Probleme mit den anderen Radfahrerinnen gab es aus ihrer Sicht keine. „Ich passe meine Geschwindigkeit immer den Gegebenheiten an“, sagt sie. Auf den Radwegen, aber auch, wenn sie beispielsweise an einer Fahrradsternfahrt teilnehmen. „Nur weil mein S-Pedelec 45 km/h fahren kann, fahre ich die Menschen nicht über den Haufen“, sagt sie. Sie bedauert, dass ausgerechnet der Fahrradverband ihr und vielen anderen S-Pedelec-Fahrerinnen die Bereitschaft und Fähigkeit abspricht, ihr Tempo anzupassen.

„Porschefahrenden traut man zu, in einer Tempo-30-Zone 30 km/h zu fahren, S-Pedelec-Fahrern nicht.“

Martina Lohmeier, Hochschule RheinMain Wiesbaden

Fehlende Erfahrungen schüren Vorurteile

Die Vorurteile gegenüber Pedelec-Fahrern kennt Martina Lohmeier, Professorin an der Wiesbadener Hochschule RheinMain. „Mit S-Pedelecs verbinden viele Menschen Überholvorgänge“, sagt sie. Konventionelle Radfahrende fürchten, von ihnen an den Bordstein gedrängt zu werden oder dass sie sich erschrecken, wenn die schnellen Radler*innen an ihnen vorbeijagen. Eltern sorgen sich zudem um ihre Kinder, wenn Schulstraßen oder Tempo-30-Zonen für S-Pedelecs freigegeben werden.
Die Ursache für all diese Bedenken sind laut der Professorin fehlende Erfahrungen. „S-Pedelecs sind noch eine sehr junge Fahrzeuggattung“, sagt sie und anders als die herkömmlichen Pedelecs sind sie in Deutschland immer noch eine Seltenheit. Allein die mögliche Spitzengeschwindigkeit von 45 km/h schüre Ängste. Sie lacht und sagt: „Es ist paradox, dass man Porschefahrenden zutraut, in einer Tempo-30-Zone 30 km/h zu fahren, S-Pedelec-Fahrern aber nicht.“
Im Rahmen eines Feldversuchs erforscht die Radprofessorin mit Kolleginnen und Kollegen der Hochschule Darmstadt und RheinMain, ob diese Sorgen berechtigt sind. Sie untersuchen, wie schnell die S-Pedelecs tatsächlich unterwegs sind, ob Konflikte auf dem Radweg entstehen und wenn ja, welche. Im Winter 2023 starteten die ersten elf Teilnehmerinnen und Teilnehmer den ersten Testlauf. Der dauert für sie und alle weiteren Gruppen jeweils sechs Wochen. Die Wissenschaftler tracken die GPS-Daten und die gefahrenen Geschwindigkeiten. Nach dem Praxisteil befragen sie die Teilnehmenden dann zum Radwegenetz und zu ihren Erfahrungen mit dem Elektrorad als Pendelfahrzeug.
Die Ergebnisse sollen laut Martina Lohmeier interessierten Kommunen dabei helfen, einen Leitfaden für die Integration von S-Pedelecs in den Alltagsverkehr zu entwickeln. Dazu gehört auch, Kriterien für die Freigabe von Radinfrastruktur für S-Pedelecs zu definieren. Der Leitfaden kommt genau zur richtigen Zeit. Seit vergangenem Sommer dürfen Kommunen in Nordrhein-Westfalen ebenfalls ihre Radinfrastruktur für schnelle Elektroräder freigeben. Das Potenzial ist riesig. Dort wird der Radschnellweg RS1 gebaut. Er soll 100 Kilometer lang werden.


Bilder: www.haibike.de – pd-f, Universitätsstadt Tübingen, www.flyer-bikes.com – pd-f, Stadt Konstanz – Gregor Gaffga

Christian Rudolph verantwortet als Professor das Masterstudium Radverkehr an der TH Wildau. Im Interview mit Veloplan spricht er über den Fachkräftemangel, den Austausch mit Unternehmen und dem Ausland und Sicherheit als höchstes Gut des Radverkehrs. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


In Städten und Gemeinden wird der Radverkehr vielfach vom Fachkräftemangel gebremst. Worauf ist der eigentlich zurückzuführen?
Wir haben in den letzten Jahren viel zu wenige Studierende im Bereich Verkehr und Mobilität zu verzeichnen. Was ich wiederum gar nicht verstehen kann, bewegen wir uns doch alle statistisch jeden Tag im Schnitt rund eine Stunde im Verkehr. Bei den aktuellen Staus und Verspätungen, müsste doch jeder das Bedürfnis haben, das System zu verbessern. Ich denke, besonders problematisch ist, dass das Thema Verkehr in den letzten Jahren politisch so aufgeheizt ist, da will sich niemand die Finger verbrennen. Zudem machen sich die geburtenschwachen Jahrgänge nun bemerkbar, was allgemein die niedrige Absolventenzahl betrifft.
Was wir aber auf jeden Fall sagen können: Radverkehrsplanerinnen und -planer werden deutschlandweit händeringend gesucht! Sowohl die öffentliche Hand als auch private Planungsbüros bekommen ihre offenen Stellen in diesem Bereich nicht besetzt. Hier haben unsere Absolventinnen und Absolventen tolle Chancen, einen attraktiven Beruf zu bekommen. Im Rahmen des Studiums geben wir unterschiedlichsten Institutionen die Möglichkeit, von ihren Projekten und aktuellen Fragestellungen zu berichten und den Studierenden Einblicke in das jeweilige Berufsbild zu geben. So bauen die Studierenden schon während des Studiums ein breites Netzwerk auf, das ihnen nach dem Studium zur Verfügung steht.

„Der Austausch mit dem Ausland ist immens wichtig, um überhaupt mal andere Planungsphilosophien mitzukriegen.“

In den letzten Jahren hat das Thema Radverkehr schon durch die sieben Stiftungsprofessuren mehr Präsenz in der deutschen Hochschullandschaft bekommen. Wie ist Deutschland denn insgesamt akademisch aufgestellt für diesen Schwerpunkt?
Durch die Verbindungen, die die Stiftungsprofessuren auch zum Ausland aufgenommen haben, vor allem nach Dänemark und in die Niederlande, ist der internationale Austausch mit Best Practices da. Aber der Bekanntheitsgrad, also dass Radverkehr ein eigenes Studienfach ist, ist leider noch zu gering. An 7 von über 400 Hochschulen gibt es nun die Professuren Radverkehr. Das fühlt sich an wie der bekannte Tropfen auf den heißen Stein.
Dennoch ist das Wissen um gute Radverkehrsplanung an den deutschen Hochschulen grundsätzlich vorhanden. Aber fehlendes Personal und langwierige Planungsprozesse bremsen die Mobilitätswende förmlich aus. Wenn wir die Verkehrswende wollen, können Planfeststellungsverfahren für Radschnellwege nicht 15 Jahre dauern, sondern es muss deutlich zügiger gehen. Daher ist es ganz wichtig, dass die Mobilitätswende stärkeren politischen Rückwind bekommt – und zwar auf allen Ebenen!

Christian Rudolph ist Professor an der TH Wildau in Brandenburg. In der Lehre greift er auf ein Netzwerk an Kontakten zurück, das seine Mitarbeiter*innen und er in vielen Jahren der Mobilitätsforschung aufgebaut haben.
Das Studium bei Christian Rudolph findet nicht nur im Hörsaal statt. Exkursionen ins Ausland spielen im Radverkehrsmaster an der TH Wildau eine wichtige Rolle. Dort lassen sich andere Planungsphilosphien hautnah erleben.

Was sind die typischen Bachelor-Studiengänge, auf deren Grundlage die Studierenden in den Radverkehrsmaster starten und in denen der Radverkehr vielleicht noch mehr Gewicht braucht?
Zunächst natürlich alle Studiengänge, die sich mit dem Verkehrs- und Transportwesen auseinandersetzen. Und natürlich Stadt- und Raumplanungsstudiengänge. Zudem bieten Studiengänge wie Verkehrsgeogeografie, Bauingenieurwesen, Geoinformatik und Logistik ein gutes Fundament für unser Masterstudium Radverkehr. Diese Studiengänge erfüllen die Zulassungsvoraussetzungen, alles andere muss man prüfen.

Wie genau wissen Sie denn, wie die Studierenden auf den Master-Studiengang gestoßen sind?
Das ist dann so divers wie die Kanäle, auf denen wir dafür werben. Ich habe mal ein Interview mit Mario Barth morgens im RBB gehabt, das hatte der Bruder eines unserer Studierenden gehört. Eine Woche später saß der bei uns in der Vorlesung. Andere kommen auch über Info-Webseiten und Webportale, Mundpropaganda, unsere Projekte oder meinen Instagram-Kanal zu uns. Tatsächlich ist es eine Blackbox für uns, welche Kanäle wir bespielen müssen, um junge Leute mit unseren Themen zu erreichen.

Radverkehr ist eingebettet in ein diverses Verkehrssystem und kann nicht einzeln betrachtet werden. Der Schwerpunkt des Masterstudiums Radverkehr an der TH Wildau liegt daher auf intermodalen Verkehrsnetzen.

Sie haben viele externe Unternehmen und Institutionen in Ihren Lehrveranstaltungen zu Gast. Wie kommen diese Kooperationen zustande?
Das basiert im Großen und Ganzen auf den Netzwerken, die ich und meine Mitarbeitenden in den letzten Jahren aufgebaut haben. Ich bin nun schon über 13 Jahren in der Mobilitätsforschung und konnte mir ein breites Netzwerk aufbauen. Die Zusammenarbeit ist super bereichernd, macht viel Spaß und bereichert die Seminare extrem. Wenn wir zu einem Thema niemanden aus unseren Netzwerken kennen, dann wird kurzerhand die Suchmaschine angeschmissen und zum Hörer gegriffen.
So ist auch der Kontakt zu Ecocounter entstanden, einem Hersteller für Zählgeräte, die den Radverkehr erfassen können. Mittlerweile war die Firma schon zweimal zum Semesterstart mit einer mobilen Zähleinheit bei uns auf dem Campus. Die Studierenden lernen, wie man das Zählgerät in Betrieb nimmt und wie die Funktionsweise ist. Sie sollen dann selbst das pneumatische System auf dem Boden befestigen. Und dann wird das System getestet. Das ist ein cooles Gimmick.
Die Zusammenarbeit mit der FH Amsterdam lief umgekehrt. Hier hat mich der Dozent angeschrieben, ob wir Lust auf eine Kooperation hätten. Wir waren nun schon zweimal mit unseren Studierenden in Amsterdam und Utrecht und die Niederländer haben uns auch schon zweimal besucht. Die Exkursion zum weltgrößten Fahrradparkhaus gehört mittlerweile fest zum Studium dazu.

Würden Sie Unternehmen generell empfehlen, vermehrt auf die Unis zuzugehen, um Partnerschaften einzugehen oder sich präsent zu zeigen?
Warum nicht? Das obliegt dann immer dem jeweiligen Studiengangssprecher oder Modulverantwortlichen, ob er dem dann auch Raum geben will. Fachhochschulen sind ja grundsätzlich anwendungs- und praxisorientiert. Auch bei den Masterarbeiten liegt die Priorität darauf, dass die Studierenden in einem Unternehmen ihre Abschlussarbeit schreiben. So können sie meist ein reales Problem bearbeiten und schon etwas Praxisluft schnuppern. Also klar, ich würde jedem Unternehmen empfehlen, auf die Hochschulen zuzugehen, sich zu präsentieren oder gemeinsame Projekte zu initiieren, semesterbegleitend oder als Abschlussarbeit.

„Planerinnen und Planer müssen lernen, Angsträume zu vermeiden, also dunkle, nicht einsehbare Ecken in Fahrradabstellanlagen und Parkhäusern zum Beispiel.“

Die Exkursionen scheinen ein Highlight des Studiums zu sein. Wie wichtig ist dieser Austausch, um den Radverkehr voranzubringen, und wie übertragbar sind die Dinge, die man in anderen Ländern lernen kann?
Aus meiner Sicht ist es extrem wichtig, die Menschen – gerade auch Entscheidungsträger – einmal in diesen Kontext zu bringen, um ihnen zu zeigen, wie sich eine Welt anfühlen kann, in der der Radverkehr ein gutes Ökosystem hat. Niederländische Städte wie Utrecht, Zwolle, Den Haag und Amsterdam eignen sich besonders gut. Hier kann man direkt erleben, wie es sich anfühlt, eine ausreichende Infrastruktur zu haben, sodass man bequem nebeneinander fahren und sich dabei unterhalten kann. Solche Erfahrungen können zu einem Sinneswandel beitragen. Wenn man in das Fahrradparkhaus in Utrecht einfährt und an 12.000 Fahrrädern vorbeifährt, das hat schon Impact. Von daher ist dieser Austausch immens wichtig, auch um überhaupt mal andere Planungsphilosophien mitzukriegen: Hier wird zuerst für den Fuß- und den Radverkehr geplant, dann für das Kfz. Das ist eine ganz andere Herangehensweise, die sich in den letzten 50 Jahren in den Niederlanden entwickelt hat. Vorher war da ja auch alles autoorientiert.

Sicherheit ist für Christian Rudolph das höchste Gut des Radverkehrs. Deshalb bekommt dieses Thema auch im von ihm verantworteten Master viel Aufmerksamkeit. Die zukünftigen Expert*innen, die Radverkehr studieren, werden auf dem Arbeitsmarkt händeringend gesucht.

Am meisten Austausch besteht also mit den Niederlanden. Welche Länder sind sonst noch wichtig?
Im Sommer hatten wir eine Roadshow, das ist ein Format, bei der sich die sieben Stiftungsprofessuren mit ihren Themen der Öffentlichkeit präsentieren können. Das findet online statt, ca. ein bis zwei Stunden in der Mittagspause. Neulich hatten wir Oboi Reed aus Chicago zu Gast, der zum Thema Inklusion und Alltagsrassismus einen Vortrag gehalten hat. Das ist auch ein Thema, das uns sehr umtreibt, also der diskriminierungs- und barrierefreie Zugang zu Mobilität für alle.
In Dänemark sind wir noch auf der Suche nach Partnern, gerade die Metropole Kopenhagen mit dem größten Radschnellwegenetz der Welt ist eine äußerst spannende Region.

Worum geht es bei dem Thema Diskriminierungs- und Barrierefreiheit im Detail?
Auf der einen Seite geht es darum, dass der öffentliche Raum für alle da ist und sich alle sicher fühlen müssen. Jeder Mensch nimmt den öffentlichen Raum anders wahr und fühlt sich unterschiedlich sicher beziehungsweise bedroht. Ein Mann nimmt ihn anders wahr als eine Frau, ein Kind anders als ein Erwachsener und je nach kulturellem Background werden Situationen anders eingeschätzt beziehungsweise wahrgenommen.
Auf der anderen Seite müssen Planerinnen und Planer lernen, Angsträume zu vermeiden, also dunkle, nicht einsehbare Ecken in Fahrradabstellanlagen und Parkhäusern zum Beispiel. In Deutschland ist es im Winter nun mal ab 16 Uhr dunkel.
Wir wollen die Studierenden dafür sensibilisieren, dass der Radverkehr immer diverser wird: Fatbikes, Lastenräder, Fahrräder mit Anhängern, Elektroräder, E-Scooter usw. weisen sehr unterschiedliche Geschwindigkeitsniveaus auf. Mit Elektrofahrrädern beziehungsweise Dreirädern können auch ältere Leute noch lange mobil sein und so ein weitestgehend von Dritten unabhängiges Leben führen. Dies führt zu Herausforderungen bei der Planung. Für ältere Menschen mit schwerem Fahrrad stellen hohe Bordsteine schnell mal ein unüberwindbares Hindernis dar. Wir sensibilisieren die Studierenden für die unterschiedlichen Nutzungsansprüche.

„Fühlen die Menschen sich subjektiv nicht sicher, nutzen sie das Fahrrad nicht als Alltagsfahrzeug, und sind sie objektiv nicht sicher, dann ist ihr Leben faktisch gefährdet.“

Welcher der Themenschwerpunkte im Master liegt Ihnen als Professor besonders am Herzen?
Das ist eigentlich schon die Sicherheit. Fühlen die Menschen sich subjektiv nicht sicher, nutzen sie das Fahrrad nicht als Alltagsfahrzeug, und sind sie objektiv nicht sicher, dann ist ihr Leben faktisch gefährdet. Von daher ist die Sicherheit das höchste Gut der Radfahrenden und das Thema, das alles überspannt. Und es betrifft natürlich alle, aber besonders Kinder, die sich noch nicht so gut konzentrieren können und auch mal einen Fahrfehler machen, und ältere Menschen, die vielleicht nicht mehr so gut die Balance halten können. Deshalb brauchen wir sichere, baulich separierte Infrastrukturen und eine Geschwindigkeitsharmonisierung unter den verschiedenen Verkehrsteilnehmenden.
Das wäre ein großer Gewinn für alle. Bei hohem Verkehrsaufkommen und hohen Geschwindigkeiten sind Infrastrukturen anzuwenden, die diese Verkehre trennen. Bei Protektionselementen besteht die große Herausforderung, wie sich diese städtebaulich verträglich einbinden lassen. Zu diesem Thema läuft gerade eine Masterarbeit bei uns im Studiengang. Der Student setzt sich mit den Anforderungen der Träger öffentlicher Belange, also Müllabfuhr, Feuerwehr, Rettungsdienst, Polizei, Reinigungsdienste etc. auseinander. Ich denke, die Arbeit wird spannende Erkenntnisse hierzu hervorbringen.

Der Master an der TH Wildau hat den Schwerpunkt „Radverkehr in intermodalen Verkehrsnetzen“. Wie kam dieser Fokus zustande?
Meine Kollegen haben die Grundstruktur des Masterstudiums kreiert. Sie hatten die Idee, den Radverkehr nicht singulär zu betrachten, sondern integriert in das Gesamtverkehrssystem, um die Stärken des jeweiligen Verkehrssystems bestmöglich ausnutzen zu können. Über intelligente Verknüpfungen kann die Kombination Fahrrad-ÖPNV eine attraktive Alternative zum Kfz-Verkehr darstellen.
Um den Umweltverbund – also Fußverkehr, Radverkehr und ÖPNV – zu stärken, braucht es Schnittstellen auf der technologischen, aber auch auf der informatorischen Seite. Den Reisenden müssen alle Informationen zu den bestehenden Mobilitätsangeboten zur Verfügung gestellt werden. Da geht es dann auch um nahtlose Abrechnungsmodelle, zum Beispiel bei der Integration von Sharing-Angeboten.

Wie bewerten Sie das Thema Fahrradmitnahme im Zug als Kombination von ÖPNV und Radverkehr?
Das ist in der Tat ein komplexes Thema und es gibt keine allgemeingültige Antwort. Wir wollen natürlich nicht, dass alle Berufspendler ihr Fahrrad morgens in der Rush-Hour mit in die U-Bahn nehmen. Hier sind gute Abstellmöglichkeiten am Bahnhof auf der ersten Meile und Sharing-Angebote auf der letzten Meile gefragt. Auf der anderen Seite macht es natürlich Spaß, mit seinem eigenen Fahrrad am Wochenende mit dem Zug raus aus der Stadt zu fahren, um dort gleich im Grünen die Radtour beginnen zu können. An warmen langen Wochenenden stellt die Fahrradmitnahme für die Betreiber eine große Herausforderung dar. Da muss man schauen, wie man in diesen Zeiten Züge mit ausreichend Kapazitäten zur Mitnahme zur Verfügung stellen kann.


Bilder: TH Wildau – Mareike Rammelt, Christian Rudolph, TH Wildau, Uwe Voelkner – Fotoagentur FOX

Damit die Verkehrswende Fahrt aufnehmen kann, braucht nicht nur der Radverkehr deutlich mehr Platz auf der Straße. Hamburg will künftig mit 10.000 selbstfahrenden Shuttle-Diensten den privaten Autobesitz überflüssig machen. Aber noch ist das autonome Fahren längst nicht alltagstauglich. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Der Holon Mover (oben) soll in einigen Jahren als autonom fahrendes Shuttle durch die Straßen Hamburgs fahren. Den Fahrgästen wird mehr Komfort versprochen. Etwa mit besseren Sitzen wie im Moia-Taxi (unten).

Die Zahlen der neuesten Mobilitätserhebung klingen vielversprechend: In Hamburg fahren die Menschen weniger Auto. Im Jahr 2022 wurden 5 Millionen weniger Pkw-Kilometer gezählt als noch 2017. Im selben Zeitraum wuchs der Radverkehr: Rund 2 Millionen mehr Kilometer ist Hamburgs Bevölkerung im selben Vergleichszeitraum geradelt. Das hört sich nach viel an, jedoch ist im Stadtverkehr davon bislang kaum etwas zu spüren. Auf den Hauptrouten und an den Verkehrsknotenpunkten sind zwar mehr Radfahrerinnen unterwegs, aber auch dort bestimmen die Kraftfahrzeuge weiterhin das Stadtbild. Zum Beispiel am Dammtorbahnhof. Hier rauschen die Pkw permanent an den Radelnden vorbei, während die neuen Radwege und Aufstellflächen, kaum gebaut, schon wieder zu schmal sind für die vielen Fahrradfahrenden. Szenen wie am Dammtorbahnhof gibt es überall in Hamburg. Bis 2030 will der Hamburger Senat das Kräfteverhältnis auf den Straßen ändern. Dann sollen nur noch 20 Prozent der Wege mit dem Auto zurückgelegt werden, 12 Prozent weniger als zurzeit, und der Anteil des Radverkehrs soll im besten Fall auf 30 Prozent steigen. Die Ziele sind ehrgeizig. Um sie zu erreichen, setzt Hamburg auf ein neues Verkehrskonzept, den Hamburg-Takt. Damit soll der Umweltverbund – also der Bus-, Bahn- Rad- und Fußverkehr sowie das Sharing – so attraktiv werden, dass der eigene Wagen zunehmend überflüssig wird. Mit dem Hamburg-Takt gibt der Senat seinen Bürgerinnen ein Versprechen. Im Jahr 2030 sollen sie rund um die Uhr unabhängig vom Wohnort innerhalb von fünf Minuten das Mobilitätsangebot erreichen, das zu ihrer jeweiligen Lebenssituation passt. Das kann ein Car-Sharing-Auto für die Fahrt ins Grüne sein, ein Leihrad oder ein E-Scooter für die Fahrt zur U-Bahnstation oder eine neue Bus- oder Bahnhaltestelle, die zu Fuß in fünf Minuten erreichbar ist. Damit das klappt, wird der ÖPNV in der Hansestadt in den kommenden Jahren drastisch ausgebaut. Der Takt einiger U- und S-Bahn-Linien soll mithilfe der Digitalisierung auf einen 100-Sekunden-Rhythmus erhöht werden, einige Züge und Bahnsteige werden verlängert, damit mehr Menschen in einem Zug Platz finden, und außerdem werden neue Bahnlinien gebaut. Die wichtigste Stellschraube, um den Privatwagen zu ersetzten, soll in dem Mobilitätsmix aber ein komplett neues Angebot auf der letzten Meile werden.

„Autonome Autos müssen besser sein als menschliche Fahrer, bevor sie im Stadtverkehr eingesetzt werden.“

Philipp Kosok, Verkehrsforscher bei der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Berlin.

10.000 autonome Shuttle-Dienste

Die letzte Meile ist der neuralgische Punkt im Hamburg-Takt. Diese Lücke im ÖPNV-Angebot will der Senat bis 2030 mit autonomen On-Demand-Angeboten schließen. 10.000 selbstfahrende Robotaxis und Shuttle-Busse sollen dann im gesamten Stadtgebiet unterwegs sein und den Privatwagen überflüssig machen. Bei Bedarf sollen sie die Kunden abholen und zum gewünschten Ziel bringen. Im Prinzip funktionieren sie wie Sammeltaxis, nur orientieren sie sich preislich eher am ÖPNV.
Der Kopf und Treiber des Projekts der autonomen Shuttle-Dienste ist der Chef der Hochbahn, Henrik Falk. Er ist überzeugt, dass der Ausbau von Bussen und Bahn allein nicht ausreicht für die Mobilitätswende. „Selbst, wenn wir den ÖPNV bis zum Erbrechen ausbauen“, sagte er beim Stadtgespräch der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Hamburg, sei das System zu starr und unflexibel, um Autobesitzerinnen davon zu überzeugen, dass ihr Privatwagen überflüssig ist. Autonome Taxis und die neuen selbstfahrenden Shuttle-Busse hingegen seien flexibel und deutlich komfortabler als Bus oder S-Bahn und damit attraktiver für viele Autofahrerinnen. Sie könnten die Lücke zwischen ÖPNV und Privatwagen schließen.

Mit dem Robotaxi durch San Francisco

Aber ist die Technik fürs autonome Fahren überhaupt schon ausgereift? Aus Falks Sicht ja. Im Sommer war er auf Delegationsreise in San Francisco. Dort sind bereits Robotaxis unterwegs und Falk ist mitgefahren. „Die Technologie ist da“, sagt er. Die Software kutschierte ihn sicher durch den Stadtverkehr, beachtete Ampeln, bog mal nach rechts, mal nach links ab und das alles so sicher, dass sich der Hochbahn-Chef nach wenigen Minuten langweilte. Jetzt gehe es darum, der Technologie die „edge cases“ auszumerzen. Also die Grenzfälle zu finden, die vielen Situationen außerhalb der Norm, die zu Fehlern führen im Alltagsbetrieb. Dass die alles andere als trivial sind, zeigt ebenfalls der Blick nach San Francisco.
Seit Mitte August durften „Cruise“ von General Motors und der Google-Ableger Waymo in der kalifornischen Hafenstadt mit ihren Robotaxis rund um die Uhr einen kostenpflichtigen Taxiservice anbieten, ohne Operator an Bord. Die Entscheidung war umstritten. Den Vertreterinnen der Stadtregierung, den Rettungskräften und den Mitarbeiterinnen der Verkehrsbetriebe war das zu früh. Immer wieder hatten sie erlebt, dass technische Probleme die Fahrzeuge lahmlegten und den Verkehr blockierten. Wenige Tage nach der Einführung blieben dann auch gleich mehrere Cruise-Fahrzeuge liegen. Ein großes Musikfestival hatte das Mobilfunknetz in dem Stadtteil überlastet, weshalb die Fahrzeuge nicht per Funk umgeleitet werden konnten. Sie blieben stehen und blockierten die Straßen, ein weiteres Fahrzeug blieb im nassen Beton stecken.

Ein fahrerloses Auto der Robotaxi-Firma Cruise fährt im August durch die Straßen von San Francisco. Damit ist es vorerst vorbei.

Fehlerhafte Technik hat schwerwiegende Folgen

Das klingt noch nach Kinderkrankheiten. Doch im Oktober verletzte allerdings ein Cruise-Fahrzeug eine Frau schwer. Dem Unfallbericht zufolge wurde die Fußgängerin zunächst von einem von Menschen gesteuerten Fahrzeug angefahren und vor das selbstfahrende Auto geschleudert. Das Robotaxi blieb zwar sofort stehen, versuchte dann aber, an den Straßenrand zu fahren. Dabei sei die Frau einige Meter mitgeschleppt worden. Die kalifornische Verkehrsbehörde DMV hat der General-Motors-Tochter umgehend verboten, fahrerlose Taxis durch die Stadt zu schicken. Seitdem muss in den Fahrzeugen wieder ein Mensch am Steuer sitzen, der im Notfall eingreifen kann. Die Waymo-Fahrzeuge dürfen weiter fahrerlos durch San Francisco fahren.
„Autonome Autos müssen besser sein als menschliche Fahrer, bevor sie im Stadtverkehr eingesetzt werden und bevor die Gesellschaft die Technik akzeptiert“, sagt Philipp Kosok, Verkehrsforscher bei der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Berlin. Aktuell sei die Technik noch in der Entwicklungsphase, sie funktioniere nicht fehlerfrei. In der jetzigen Phase müssten die Fahrzeuge jede einzelne Sondersituation erlernen. Das heißt: Sie muss programmiert werden. „In der Regel überschätzen die selbstfahrenden Autos die Gefahren. Sie sind übervorsichtig, bleiben stehen, wenn eine Plastiktüte über die Straße weht, und blockieren den Verkehr“, sagt Kosok.

„Wir brauchen Radwege für eine Fahrradstadt.“

Anjes Tjarks
Senator für Verkehr und Mobilitätswende

Shuttlebusse auf festgelegten Routen

Er rechnet damit, dass die ersten selbstfahrenden Fahrzeuge in vier bis fünf Jahren in Deutschland zugelassen werden. „Aktuell gibt es noch kein Fahrzeug, das eine uneingeschränkte Zulassung fürs autonome Fahren auf deutschen Straßen hat“, sagt der Verkehrsforscher. Die rechtliche Grundlage sei aber bereits vorhanden. Im Jahr 2021 hat die Bundesregierung autonomes Fahren auf Level-4-Niveau erlaubt. Das heißt, dass kleine autonome Shuttle-Busse auf genau festgelegten Strecken oder in vorgegebenen Betriebsbereichen unterwegs sein dürfen.
Erste Versuchsfahrzeuge für Level 4 sind seit einigen Jahren mit einer Begleitperson an Bord in verschiedenen Kommunen in Deutschland unterwegs. Ein Sechssitzer pendelt beispielsweise seit dem Jahr 2017 im bayerischen Bad Birnbach im Halbstundentakt durch die Innenstadt. Zunächst nur mit acht Kilometern pro Stunde auf einem 700 Meter langen Streckenabschnitt. Mittlerweile ist er mit Tempo 17 unterwegs und fährt 2000 Meter zum Bahnhof. Seitdem hat sich die Zahl der Fahrgäste schlagartig verdoppelt.

Eine echte Alternative für ländliche Regionen

„Der Einsatz von autonomen Shuttles in ländlichen Gemeinden oder am Stadtrand ist ideal“, sagt Kosok. Wer dort wohnt, braucht rund um die Uhr einen verlässlichen Transport zum Bahnhof. Sei der gewährleistet, sei das Tempo des Fahrzeugs zweitrangig. „Es geht darum, den Menschen überhaupt einmal ein Angebot zu machen“, erklärt er. Und in dem Geschwindigkeitsbereich 15 bis 20 Kilometer pro Stunde könnten die autonomen Shuttle-Busse auf bekannten Routen inzwischen gut und zuverlässig agieren.
Wenn alles nach dem Plan der Senatsverwaltung geht, kurven 2024 die ersten selbstfahrenden Fahrzeuge mit einem Operator an Bord durch die Hansestadt. Die Hochbahn entwickelt mit ihren Projektpartnern, dem Unternehmen Holon und Volkswagen Nutzfahrzeuge (VWN), zwei eigene Fahrzeuge. Das Holon-Shuttle kann dem aktuellen Prototyp zufolge bis zu 15 Passagiere mitnehmen und über eine automatisierte Rampe auch Rollstuhlfahrer. Der Bund fördert das Projekt mit dem Namen ALIKE mit 26 Millionen Euro.
Ein Teil des Geldes soll auch dazu verwandt werden, die Akzeptanz der Bevölkerung für die neue Technik zu stärken. Das Thema polarisiert. Laut einer Statista-Erhebung fehlt 42 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger das Vertrauen in autonom fahrende Fahrzeuge. Sie sind skeptisch und wollen die Verantwortung beim Fahren nicht komplett an ein elektronisches System abgeben.

Die Mobilitätswende in Hamburg soll unter anderem mithilfe von Tausenden autonom fahrenden Kleinbussen gelingen. Dazu gehört auch der Sammeltaxidienst Moia.

Shuttle-Dienste können nur autonom fahren

Hier hat Hamburg noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Denn der Erfolg des Hamburg-Takts ist eng verknüpft mit dem Erfolg der selbstfahrenden Robotaxis und Shuttle-Dienste. Fest steht bereits heute: Mit Personal wird Hamburg die Fahrzeuge nicht auf die Straße schicken können. Das wäre zu teuer und außerdem fehlen die Fahrer.
Bewähren sich die autonomen Shuttles jedoch im Praxistest, bekommt der ÖPNV mit den On-Demand-Angeboten eine zusätzliche Säule und obendrein eine ganz neue Qualität. Die Dienste könnten nicht nur in den dünn besiedelten Randgebieten Autofahrten ersetzen, sondern auch im Stadtgebiet. In vielen Städten gibt es Lücken im ÖPNV-Netz. In Hamburg funktionieren die Querverbindungen zwischen manchen Stadtteilen nicht gut. Dort könnten die selbstfahrenden On-Demand-Angebote den Anwohner*innen lange Umwege mit dem ÖPNV ersparen. „Damit rückt der Service bei der Fahrtzeit und der Flexibilität deutlich näher an den privaten Pkw heran. Das autonome Shuttle kann also zu einem echten Gamechanger werden“, sagt Kosok.
Die kommenden Jahre werden zeigen, ob der Hamburg-Takt funktioniert und die autonomem On-Demand-Dienste tatsächlich die Pkw-Flotte reduzieren. Der Platz, den sie freiräumen könnten, wird in Hamburg dringend für die Verkehrswende gebraucht. Beispielsweise für mehr Grün, um Extremwetter abzupuffern, für mehr Fußverkehr, aber auch, um den Radverkehr zu steigern. Hamburgs Senator für Verkehr und Mobilitätswende Anjes Tjarks bringt es auf den Punkt: „Wir brauchen Radwege für eine Fahrradstadt“, sagte er beim Stadtgespräch der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Hamburg. Nach den aktuellen Regelwerken könnten bestenfalls Radwege für eine weiterhin autozentrierte Stadt gebaut werden. Mit solchen Radwegen wird die Hansestadt ihr Ziel von einem Radverkehrsanteil von bis zu 30 Prozent womöglich nur schwer erreichen.


Bilder: Holan, Moia, Cruise, Daniel Reinhardt