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Aus Autostraßen werden „Healthy Streets“

Mehr Raum in den Städten und Kommunen für Bewegung, Menschen und ein gutes Leben. Wie soll das gehen? Die Stadt London hat dazu das Konzept Healthy Streets zusammen mit der inzwischen weltweit tätigen Beraterin Lucy Saunders entwickelt und in die Planung implementiert. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Der Ansatz, aktuelle Entwicklungen sorgfältig zu analysieren, in die Zukunft zu denken und langfristig gesellschaftlich wünschenswerte Richtungen vorzugeben, hört sich nach einem sinnvollen Plan an. London hat genau das gemacht und dafür zusammen mit Lucy Saunders, einer Spezialistin für öffentliche Gesundheit und Verkehr, eine neue Leitlinie entwickelt, die sich an der Gesundheit der Bewohner und nicht mehr nur an der Leistungsfähigkeit des Verkehrs orientiert. Im Jahr 2014 wurde der sogenannte Healthy Streets Approach in den ersten Gesundheitsaktionsplan der Organisation Transport for London (TfL) aufgenommen, die sich in der Stadt um alle Belange des Verkehrswesens kümmert – inklusive denen der Radfahrer und Fußgänger.

Unterschätzt: Verkehr und Gesundheit

Um den Sinn des Ansatzes verständlich zu machen, geht Lucy Saunders in ihren Vorträgen zuerst auf fünf große Faktoren ein, die im Bereich Verkehr unser Umfeld und unsere Gesundheit beeinflussen: Physische Aktivität, Verletzungen, Luftqualität, Lärm und Trennungen/Abschneiden des direkten Zugangs. Alle fünf Faktoren würden uns im Hinblick auf unseren Lebensstil, unser Wohlbefinden, unsere Leistungsfähigkeit und körperliche und seelische Erkrankungen stark beeinflussen. Dazu kommen vielfältige Wirkzusammenhänge: Ein Beispiel ist die Verletzung durch Verkehrsunfälle, die nicht nur die physische Gesundheit betrifft, sondern auch das Umfeld traumatisiert und darüber hinaus allgemeine Ängste auslöst und damit unser Verhalten mitbestimmt. Ängste seien ein wesentliches Entscheidungskriterium für die bevorzugte Art der Fortbewegung. Ein anderer im Hinblick auf die Gesundheit zentraler und trotzdem stetig unterschätzter Faktor sei der grundlegende Mangel an Bewegung. Er tauche in der Statistik zwar nachgeordnet als Ursache für Erkrankungen und vorzeitige Todesfälle auf, sei aber ursächlich mitverantwortlich für viele schwere Erkrankungen wie Fettleibigkeit, Herzkrankheiten, Schlaganfälle, hoher Blutdruck, Diabetes oder auch Depressionen. Der Mangel an körperlicher Aktivität sei derzeit die größte Bedrohung für die Gesundheit der Londoner, heißt es dazu bei Transport for London.

Britische Langzeitstudie mit 300.000 Pendlern vorgestellt

Eine kürzlich veröffentlichte, groß angelegte Langzeitstudie, die mehr als 300.000 Pendlern in England und Wales im Zeitraum von 1991 bis 2016 untersuchte, hat ergeben, dass ein aktiver Lebensstil das Risiko, schwer zu erkranken oder frühzeitig zu sterben, deutlich senken kann. Grundlage für die Untersuchungen der Wissenschaftler der Cambridge University und des Imperial College London war die Begleitung verschiedene Pendler über einen Zeitraum von 25 Jahren: 66 Prozent fuhren mit dem Auto zur Arbeit, 19 Prozent nutzten öffentliche Verkehrsmittel, 12 Prozent gingen zu Fuß und nur 3 Prozent fuhren mit dem Fahrrad. Nach den Machern der Studie ergänzen die Ergebnisse vorhandene Erkenntnisse über die positiven gesundheitlichen Auswirkungen von körperlich aktiven Pendelverkehrsmitteln, insbesondere Radfahren und Zugfahren, und legen nahe, dass alle sozioökonomischen Gruppen davon profitieren könnten. Festgestellt wurde unter anderem, dass diejenigen, die mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhren, eine um 20 Prozent geringere Rate vorzeitiger Todesfälle aufwiesen. Zudem sahen die Forscher eine um 24 Prozent reduzierte Sterblichkeitsrate bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zu denen Herzinfarkt und Schlaganfall gehören, sowie eine um 16 Prozent reduzierte Sterblichkeitsrate bei Krebs und eine um 11 Prozent reduzierte Rate bei der Krebsdiagnose. Weniger positive Auswirkungen gab es bei den Fußgängern. Die Krebsdiagnosen lagen hier aber immer noch um 7 Prozent niedriger als bei den ÖPNV- oder Autopendlern.

Mehr Informationen thelancet.com

Von der Erkenntnis zum Konzept

Wie soll man diese komplexen Probleme lösen? „Nicht mit einfachen Antworten“, so Lucy Saunders. Der Healthy Streets-Ansatz sei ein komplexes System von politischen Entscheidungen und Strategien zur Schaffung einer gesünderen, integrativeren Stadt, in der die Menschen zu Fuß gehen, Rad fahren und öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Im Wesentlichen gehe es dabei nicht nur darum, Menschen Mobilität zu ermöglichen, sondern sie einzuladen und Anreize zu schaffen für einen anderen Lebensstil. Was hierzulande zwar oft diskutiert, bislang aber nur in einem geringen Maß als Leitlinie festgeschrieben oder umgesetzt wird, ist in London längst ein von Bürgermeister und Verwaltung beschlossenes Konzept, das die Zielrichtung bis zum Jahr 2030 vorgibt. So heißt es in der Strategie von Transport for London: „Unser Zweck als integrierte Verkehrsbehörde ist es, London mobil zu halten, zu wachsen und das Leben vor Ort zu verbessern.“ Die Qualität der Gesundheit sei untrennbar verbunden mit der Form der Mobilität und den Anreizen, Wahlmöglichkeiten und Angeboten für die Art und Weise der Fortbewegung.

Zehn Indikatoren für eine gesündere Stadt

Immer wieder betont Lucy Saunders, dass Healthy Streets keine idealisierte Vision für Modellstraßen sei. Beim Konzept ginge es vielmehr um einen langfristigen Plan, um die Wahrnehmung der Bevölkerung und der Besucher zu verbessern und allen dabei zu helfen, aktiver zu sein und von den gesundheitlichen Vorteilen zu profitieren. Da 80 Prozent des Verkehrs in London auf den Straßen stattfänden, sei es wichtig Straßen zu schaffen, die angenehm, sicher und attraktiv sind. Auf der anderen Seite dürften Faktoren wie Lärm, Luftverschmutzung, schlechte Zugänglichkeit, fehlende Sitzgelegenheiten oder mangelnder Wetterschutz keine Barrieren aufbauen für Menschen und hier insbesondere die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. Um die Qualität messbar zu verbessern, hat die Expertin in ihrem Konzept zehn evidenzbasierte Indikatoren dafür entwickelt, was Straßen zu attraktiven, gesunden und integrativen Orten macht. Die Arbeit in Bezug auf diese Indikatoren trage dazu bei, eine gesündere Stadt zu schaffen, in der alle Menschen einbezogen seien, gut leben könnten und in der Ungleichheiten abgebaut würden.

Milliarden-Investitionen und hoher Nutzen

Mobilitätswende in Zeiten von Corona? Wir haben Lucy Saunders, die Erfinderin des Healthy-Streets-Konzepts zu ihrer Einschätzung und Notwendigkeiten für die Zukunft befragt.

Frau Saunders, Sie sind mit Experten auf der ganzen Welt vernetzt und beobachten die Situation nicht nur in London sehr genau. Was verändert sich gerade?
Wir haben aktuell sehr viele unerfahrene und unsichere Radfahrer, die für lange Zeit nicht Rad gefahren sind, oder die jetzt damit anfangen wollen. Was jetzt in vielen Ländern dringend nötig wäre, ist, dass wirklich große Anstrengungen unternommen werden, um den Menschen genug sicheren Raum zu geben.

Vielerorts werden ja neue Räume für Radfahrer freigemacht, Stichwort Protected Bikelanes.
Was wir aktuell sehen, das sind viele kleine Lösungen in verschiedenen Städten mit ganz viel Publicity drum herum. Aber wenn wir genau hinschauen, dann sehen wir, dass es wirklich nur sehr kleine Teile der In­frastruktur sind, die jetzt für das Fahrrad freigemacht werden. Es wird bislang nicht realisiert, dass Radfahrer überall und auf jeder Straße sichere Räume brauchen. Ich sehe selbst jetzt nicht, dass das passiert. Zudem bin ich auch besorgt, dass die Menschen nach der Corona-Krise sagen, okay ihr habt doch jetzt eure Fahrrad-Infrastruktur, also seid jetzt einfach still und hört auf, immer weiter über Radfahren zu reden. Wir wollen doch jetzt zurück zum Business-as-usual.

Sehen Sie die aktuellen Entwicklungen trotzdem positiv oder gibt es hier Risiken?
Wir haben ein großes Risiko von viel mehr Autos auf den Straßen, weil den Menschen empfohlen wird, keine öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen, und sie meinen, dass sie keine andere Option haben. Auf den Fußwegen ist viel zu wenig Platz und der Umstieg aufs Rad sieht für sie nicht leicht aus. Sie wissen nicht, was für ein Fahrrad sie kaufen oder welche Kleidung sie tragen sollen. Dazu brauchen sie unterstützende Informationen und vielfach auch Trainings, damit sie lernen, dass Radfahren wirklich eine Option ist als echtes Verkehrsmittel.

Was ist ihre Empfehlung in Bezug auf eine bessere Gesundheit?
In allen Ländern kann man sehen, dass nur ein Bruchteil der empfohlenen physischen Aktivität erreicht wird. Da, wo Menschen ihre Bewegung durch Sport bekommen, sehen wir einen großen Einbruch im Alter von Anfang 30, also dann, wenn andere Dinge wichtiger und zeitraubend werden, wie die Familie und der Job. Auf der anderen Seite wissen wir, dass Menschen ihren Lebensstil anpassen, wenn sie in einer bewegungsfördernden Umgebung leben, wo das Radfahren und Zufußgehen zur täglichen Routine gehört und das dann auch für ihr Leben beibehalten. Wenn wir also mehr Bewegung über das ganze Leben bis ins Alter haben wollen, dann müssen wir auf Zufußgehen und Radfahren als tägliche Aktivität setzen.

Erläuterungen zu den zehn Indikatoren für Healthy Streets

Everyone feels welcome
Straßen müssen ein einladender Ort sein, an dem jeder gehen, Zeit verbringen und sich mit anderen Menschen austauschen kann. Der beste Test dafür ist, ob die gesamte Gemeinschaft, insbesondere Kinder, ältere Menschen und Behinderte, diesen Raum gerne nutzen.

People choose to walk and cycle
Die Menschen werden zu Fuß gehen und Rad fahren, wenn dies für sie die attraktivsten Optionen sind. Das bedeutet, dass Gehen und Radfahren sowie öffentliche Verkehrsmittel bequemer, angenehmer und attraktiver sein müssen als die Nutzung des privaten Autos.

People feel relaxed
Die Straßenumgebung kann uns beunruhigen – wenn sie schmutzig und laut ist, wenn sie sich unsicher anfühlt, wir nicht genug Platz haben, oder wenn wir nicht leicht dorthin gelangen können, wo wir hinwollen. All diese Faktoren sind wichtig, um unsere Straßen einladend und attraktiv zu machen.

Easy to cross
Unsere Straßen müssen für alle leicht zu überqueren sein. Das ist wichtig, weil die Menschen es vorziehen, direkt und schnell dorthin zu gelangen, wo sie hinwollen. Wenn wir ihnen das schwermachen, werden sie frustriert aufgeben. Das hat Auswirkungen auf unsere Gesundheit, auf unsere Städte und Kommunen und lokale Unternehmen.

Clean air
Die Luftqualität wirkt sich auf die Gesundheit eines jeden Menschen aus, besonders aber auf einige der verletzlichsten und am stärksten benachteiligten Menschen – Kinder und Menschen mit gesundheitlichen Problemen.

Not too noisy
Straßenverkehrslärm beeinträchtigt unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden in vielerlei Hinsicht. Die Verringerung des Lärms schafft ein Umfeld, in dem die Menschen bereit sind, sich Zeit zu nehmen und miteinander zu interagieren.

Places to stop and rest
Regelmäßige Möglichkeiten zum Anhalten und Ausruhen und Sitzgelegenheiten sind unerlässlich, um Umgebungen zu schaffen, die für alle Menschen integrativ sind, und um Straßen zu einladenden Aufenthaltsorten zu machen.

People feel safe
Der motorisierte Straßenverkehr kann dazu führen, dass sich Menschen zu Fuß oder mit dem Fahrrad unsicher fühlen. Die Menschen müssen sich aber auch vor unsozialem Verhalten, unerwünschter Aufmerksamkeit, Gewalt und Einschüchterung sicher fühlen.

Things to see and do
Straßenumgebungen müssen für Menschen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind, visuell ansprechend sein, sie müssen den Menschen Gründe bieten, sie zu nutzen – lokale Geschäfte und Dienstleistungen, Möglichkeiten zur Interaktion mit Kunst, Natur und anderen Menschen.

Shade and shelter
Schatten und Schutz kann es in vielen Formen geben – Bäume, Markisen, Kolonnaden – und sie sind notwendig, um sicherzustellen, dass jeder bei jedem Wetter die Straße benutzen kann. Bei heißem Wetter benötigen Menschen genauso Schutz wie bei Regen und Wind.

Lucy Saunders

ist Spezialistin für öffentliche Gesundheit, Urbanistin und Verkehrsplanerin. Sie schuf den Healthy Streets Approach, einen evidenzbasierten Rahmen für die Entscheidungsfindung auf allen Ebenen, um das Thema Gesundheit im Stadtverkehr, im öffentlichen Bereich und in der Planung zu verankern. Aufbauend auf ihrem Erfolg in London teilt sie nun ihr Fachwissen mit Städten und Regionen weltweit. Der Name Healthy Streets ist rechtlich geschützt.

Mehr Informationen unter healthystreets.com


Bilder: www.brompton.de – pd-f, Lucy Saunders