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Neue Chancen für den lokalen Einzelhandel

Indem sie am Tag der Bestellung liefern, können kommunale Radlogistik-Projekte sogar große Online-Händler übertrumpfen. Da die Lieferung aus dem lokalen Einzelhandel die schnellste Option ist, gibt es gute Chancen für den Einsatz gegen das Händler- und Innenstadtsterben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Fakt ist: der Online-Handel boomt. Ob es nun der Pandemie zugeschoben werden kann oder nicht, ist zweitrangig. Laut dem Bundesverband E-Commerce und Versandhandel sind die online erzielten Umsätze vieler Warengruppen innerhalb eines Jahres im zweistelligen Bereich gestiegen. Im ersten Quartal 2021 wurden online 84 Prozent mehr Lebensmittel verkauft als im Vorjahresquartal. Bei Drogerie-Produkten waren es 62 Prozent mehr, und auch Blumen, Medikamente und Haushaltswaren zogen massiv an. Der kleinste Teil dieses Wachstums dürfte dem kleinen, lokalen Einzelhandel zugutekommen. Doch gerade dieser prägt das Stadtbild, mit oft einzigartigen Ladengeschäften und lokal ansässigen Mitarbeitenden. Die kleinen Einzelhändler*innen machen zwar nur zehn Prozent des Umsatzes, aber
54 Prozent der Standorte in Innenstädten aus. Damit der Einzelhandel in der Innenstadt bestehen bleibt, gibt es immer mehr Kommunen und andere Akteure, die Logistikprojekte mit Lastenrädern ins Leben rufen.

Wichtig: zukunftsfeste Innenstädte

Vielerorts gibt es Leerstände, Handelsketten füllen viele der verbleibenden Ladenlokale. Die Stadtverwaltungen sind besorgt. Das bestätigt die Studie „Zukunftsfeste Innenstädte“, bei der unter anderem der Industrie- und Handelskammertag und der Deutsche Städtetag die Verwaltungen aller Kommunen mit mehr als 5.000 Einwohnerinnen befragten. Nach Corona wird es an Standorten mittlerer Qualität, sogenannten B-Lagen, voraussichtlich fünf Prozent mehr Leerstand geben. An den Haupteinkaufsorten, den A-Lagen, rechnen die Macherinnen der Studie mit wenig Leerstand. Im Schnitt gehen die Teil-nehmerinnen der Studie davon aus, dass es nach der Pandemie 13 bis 14 Prozent weniger Einzelhandelsbetriebe geben wird als davor. Tot sind die Innenstädte zwar nicht, aber gerade während der Pandemie begegnete die Politik dem vermeintlichen Innenstadtsterben mit Maßnahmenpaketen und Finanzspritzen. Für den Erhalt der Innenstädte, wie die Menschen sie kennen und manchmal romantisieren, scheint der Handel weiterhin ein wichtiges Standbein zu sein. 2020 zeigte eine Umfrage, dass über die Hälfte der Menschen zum Befragungszeitpunkt in der Stadt waren, weil sie etwas einkaufen wollten. Der Handel ist also wichtig für Innenstädte. Sicher ist er nicht die einzige Funktion, die ihnen zukommt, aber er belebt sie spürbar. Die Frage, die Verwaltungen sich stellen müssen, ist, wo sie die Bürgerinnen abholen wollen. Eine Strategie könnte lauten „Die Leute wollen ihre Einkäufe schnell haben und beliefert werden, also beliefern wir sie schnell.“ Eine andere wäre der Versuch, das Verhalten der Leute zu ändern und ihnen das Treiben in der Innenstadt attraktiver zu machen.
Um die Menschen in der neuen Gewohnheit der Online-Käufe abzuholen, bieten immer mehr Städte und Unternehmen die Belieferung aus der Innenstadt an. Lastenräder machen es möglich, dass diese umwelt- und umgebungsschonend ist. Sogar taggleiche Lieferungen sind möglich.

Modellprojekt Kiezkaufhaus in Bad Honnef

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mittags im Homeoffice am Schreibtisch und überlegen, was es abends Gutes zu essen geben soll. Sie entscheiden sich für eine Lieferung aus verschiedenen Fachgeschäften, wie den örtlichen Metzger, Frischfisch-, Gemüse- oder Weinhändlern. Zu einem vereinbarten Zeitpunkt kommt ein Lastenradfahrer und überreicht Ihnen eine Tasche mit Ihren Bestellungen. Ein entspannter Abend kann beginnen. In Bad Honnef funktioniert das längst mit einem virtuellen Kiezkaufhaus. Das liefert auch verderbliche Waren lokal per Lastenrad in einem Radius von bis zu 15 Kilometern.
Die Fahrerinnen des Kiezkaufhauses liefern bei Bestellungen, die vor 13 Uhr eingehen, noch am selben Tag aus. Die Lieferung kostet 2,50 Euro. An Wochentagen können die Bürgerinnen Bad Honnefs flexible Lieferzeitfenster zwischen 16 und 20 Uhr wählen. Über 30 der etwa 70 Einzelhändler der Stadt machen mit. Die Kuriere bringen die Waren zu einem Tagesdienst, wo sie kommissioniert werden. Das hat den Vorteil, dass alle, auch bei unterschiedlichen Händlern bestellten Waren, in einer Tasche geliefert werden.
Gefördert wurde die Initiative mit je 100.000 Euro vom Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt. In einem Innenstadtbüro ist das Kiezkaufhaus auch analog ansprechbar. Das stärkt die Verbindung zum Einzelhandel. Dieser setzte den anfänglichen Impuls und berichtete bei der Wirtschaftsförderung von ausbleibenden Umsätzen und einer sinkenden Besucherfrequenz. Das 2018 begonnene Projekt muss für Bad Honnef nicht wirtschaftlich sein, sondern es läuft als Wirtschaftsförderung 2.0. „Wir unterstützen den Einzelhandel dabei, sich zukunftsfähig zu machen, sich zukunftsorientiert aufzustellen.“, sagt Andrea Hauser von der Wirtschaftsförderung Bad Honnef. Abhängig vom Lieferservice seien die Händler*innen aber nicht.
Das Kiezkaufhaus müsse als kleines Rädchen eines großen Ganzen gesehen werden, so Hauser. „Wir haben ein Fahrradkonzept für die ganze Stadt entworfen. Das Thema Fahrradfahren und emissionsfreie Logistik ist wirklich ein ganz großes in unserer kleinen Stadt.“ Deshalb will Bad Honnef in diesem Jahr knapp 97.000 Euro, davon 70 Prozent Fördermittel vom Bundesministerium für Verkehr und Digitales, in eine Analyse der städtischen Logistik investieren.

Beim Kiezkaufhaus in Bad Honnef machen über 30 der rund 70 Einzelhändlerinnen der Stadt mit. Sogar frischen Fisch können die Kundinnen bestellen.

Neues Kaufverhalten mitgedacht

Das Same-Day-Konzept ist ein fester Bestandteil des Projekts. „Ich glaube, das ist sehr wichtig, weil ich gerade bei Produkten des täglichen Bedarfs sehr spontan und kurzfristig sein möchte“, erklärt Hauser. „Wir verstehen uns nicht als Konkurrenz zu den Big Playern, sondern als kleine, feine lokale Lösung, die aber durchaus in Nachbar- und anderen Kommunen denkbar ist mit den entsprechenden Voraussetzungen.“ Das Konzept Kiezkaufhaus stammt von einer Agentur und kann als Franchise lizenziert werden.
Viele Kundinnen nutzen die teilnehmenden Geschäfte dabei hybrid. Sie sind manchmal vor Ort und bestellen gelegentlich digital. Dass die Grenzen zwischen Offline- und Online-Handel immer mehr verschwimmen, beschrieb Jörg Albrecht von der Agentur Neomesh bei der 2. Nationalen Radlogistik-Konferenz, die im September des letzten Jahres in Frankfurt am Main stattfand. Die Vision: Ein Kunde sieht zum Beispiel ein Produkt online, geht dann in den Laden, um sich dort beraten zu lassen, und bestellt dann online, um es sich lokal liefern zu lassen. Was im Einzelhandel sonst als Beratungsklau bekannt ist, stellt kein Problem mehr dar, wenn der Offline-Händler auch online verfügbar ist. Die Grenzen zwischen Offline und Online zerfließen und bei jedem Schritt im Kaufprozess könnten die Kundinnen die Sphäre wechseln.

Sorgenloses Shoppen in Würzburg

Ein ähnlich innovatives Projekt verfolgt die Stadt Würzburg mit WüLivery, einer Wortschöpfung aus Würzburg und Delivery. Die Firma Radboten will den Würzburgerinnen das Lästige am Shoppen, nämlich den Transport nach Hause abnehmen. Das Prinzip: Shop & Drop, also lokales Einkaufen mit nachträglicher Lieferung per Lastenrad. Die Kundinnen können aber ebenfalls gleich online lokal einkaufen. Alles, was vor 16 Uhr bestellt ist, wird vor 19 Uhr geliefert. Kostenpunkt: 4,50 Euro pro Lieferung. Um den Stein ins Rollen zu bringen, wurde der Preis zunächst mit 2,50 Euro, später mit einem Euro bezuschusst.
Inzwischen ist das Projekt etabliert und bietet gute Nebeneinkünfte für die Radboten, deren Hauptgeschäft die schnelle Lieferung von Dokumenten und Arzneimitteln ist. Initiiert wurde das Projekt von der Stadt und dem Stadtmarketing. Auch der Handelsverband Bayern steht dahinter. „Wir haben als Stadtmarketing immer gesagt: Wir dürfen nicht teurer sein als DHL oder andere Paketdienstleister“, sagt Geschäftsführer Wolfgang Weier. Im November 2020 startete WüLivery mit 35 Lieferungen pro Tag. Aktuell hat sich die Nachfrage auf 30 bis 50 Lieferungen am Tag eingependelt. Über 110 der 650 Einzelhändler*innen in Würzburgs Innenstadt machen inzwischen mit.

Die Radboten übernehmen die Logistik für das Projekt WüLivery. Auf einen eingespielten Partner zurückgreifen zu können, war ein Vorteil für das Projekt.

An einem Strang ziehen und Fördermittel nutzen

Die Beispiele haben gemeinsam, dass sie auf Kooperationen basieren. An einem Strang zu ziehen, ist laut Andrea Hauser ein Erfolgsfaktor. „Ich würde frühzeitig die beteiligten Akteure mit ins Boot nehmen, damit sie so ein Projekt als ihr eigenes und wichtiges ansehen und damit auch den Bedürfnissen des Marktes gerecht werden.“ Wenn das Projekt wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen soll, rät Wolfgang Weier zu einer Mindestgröße. „Unter 50.000 Einwohnern wird es schwierig, dass sich ein Radkurierservice lohnt.“ Wenn es schon einen Anbieter gibt, mit dem eine Kooperation denkbar ist, umso besser. Die Stadtgröße müsse ermöglichen, ein etwas profitableres Hauptgeschäft zu haben. „Man sollte sich von vorneherein die Zeit geben, die so ein Projekt braucht, um fliegen zu lernen“, ergänzt Weier.
Neben Zeit braucht ein solcher Projektstart natürlich auch Geld. Zur Unterstützung für gewerbliche Lastenrad-Projekte gibt es eine bundesweite Kaufprämie, die bis zu 2.500 Euro der Anschaffungskosten abdeckt. Dar-über hinaus gibt es verschiedene Bundesländer und Kommunen, die die Anschaffung unterstützen. Manche davon sind mit der Bundesprämie kombinierbar. Mit weniger Startkapital kommt aus, wer ein Lastenrad mietet, anstatt es zu kaufen. Das ist zum Beispiel bei Dockr möglich. Dort bekommt man im Abo ein Rundum-sorglos-Paket, inklusive Service, Reparaturen und Ersatzrad, falls eine Reparatur mehr als zwei Tage dauert.
Immer wieder gibt es außerdem Fördertöpfe, aus denen Lastenradlogistik-Projekte bedient werden können, zum Beispiel das Programm „Digitalen und stationären Einzelhandel zusammendenken“ in Nordrhein-Westfalen. Die aktuelle Einreichungsfrist ist der 30. Juni 2022. Auch städtische Verwaltungen oder das Stadtmarketing können die Lieferung per Lastenrad unterstützen. Denkbar ist eine finanzielle Unterstützung, oder aber es gibt städtische Grundstücke oder Gebäude, die für die Infrastruktur der Logistik nutzbar sind.


Bilder: Dockr – Steven van Kooijk, Kiezkaufhaus Bad Honnef, Radboten Würzburg