,

Familien im Fokus

Kommunen haben es in der Hand: Sie können es Eltern und Kindern schwer oder auch leicht machen, gesund und nachhaltig unterwegs zu sein. Von familienfreundlichen Angeboten profitieren letztlich alle. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


In Städten wie Amsterdam oder Kopenhagen ist das Fahrrad über Jahrzehnte ein Teil der Alltagskultur geworden. Schulkinder, junge Familien und Schwangere sind dort ganz selbstverständlich mit dem Rad unterwegs. Das ist in Deutschland ganz anders. „Bei werdenden Familien ist der Kauf des ersten Autos oder Zweitwagens schon fast die Regel“, sagt Hannah Eberhardt, Verkehrsplanerin aus Heidelberg. Dabei geht es auch anders, vorausgesetzt die Angebote stimmen. Mit ihrer Kollegin Anna Gering hat die Inhaberin des Büros „Verkehr mit Köpfchen“ untersucht, was junge Familien davon abhält, nach der Geburt ihrer Kinder weiterhin das Fahrrad zu nutzen. Im Rahmen ihres Forschungsprojekts „Radfahren mit Baby“ haben sie Alternativen entwickelt, um diesen Trend zu brechen. Herausgekommen ist eine breite Palette an Empfehlungen und Maßnahmen für Städte und Kommunen.

Nachwuchs: Sorge um Gesundheit und Sicherheit

Die Aussicht, anfangs unkompliziert ein Auto nutzen oder mieten zu können, sei zentral für junge Eltern, sagt Hannah Eberhardt. Sie könnten sich nicht vorstellen, ihre Babys auf dem Fahrrad mitzunehmen. Sie sorgen sich beispielsweise, dass die Schadstoffbelastung auf dem Rad oder im Kinderanhänger höher sei als im Auto. Exakte wissenschaftliche Untersuchungen dazu gibt es kaum, aber Zwischenergebnisse eines Studienprojekts der Hochschule Karlsruhe zeigen, dass die Abgas- und Lärmbelastung für Radfahrende und Kinder im Anhänger nicht höher ist als im Innenraum eines Autos. Besorgten Eltern rät die Verkehrsexpertin, mit dem Fahrrad Nebenstraßen zu nutzen. Dort sei die Luft meist besser und es sei dort auch viel ruhiger. Zudem fürchten manche jungen Eltern, dass ihr Kind Rückenschäden davontrage, wenn sie mit ihrem Rad über aufgebrochene Radwege oder nicht abgesenkte Bordsteine holpern. Die Ärzte und Hebammen, die Hannah Eberhardt dazu befragt hat, empfehlen, Babys erst ab dem dritten Lebensmonat in Sitzschalen im Lastenrad oder einem – idealerweise gefederten – Kinderanhänger mitzunehmen. Wer vorher darauf angewiesen sei, könne spezielle Babyschalen oder Halterungen nutzen, die wie Hängematten funktionieren.
Ein großes Problem auch für die Eltern selbst ist die subjektive Sicherheit. Selbst erfahrene Radfahrerinnen und Radfahrer fühlen sich als junge Eltern unwohl, wenn sie ihr Kind auf dem Rad dabeihaben und Autos nur wenige Handbreit an ihnen vorbeirauschen. „Sie wünschen sich sichere Wege und eine deutliche Trennung vom Autoverkehr“, sagt die Verkehrsexpertin. Deshalb ist ihre zen-trale Forderung: mehr Platz fürs Rad. Dazu gehört, dass sowohl die Rad- wie auch die Fußwege zu deren Nutzung Kinder bis zum achten Lebensjahr ja verpflichtet und bis zum zehnten Lebensjahr berechtigt sind, konsequent freigeräumt werden. „Mütter und Väter müssen ihre Kinder stets im Blick haben. Auch, wenn sie auf ihren Lauf- oder Fahrrädern unterwegs sind. Theoretisch dürfen sie ihren Nachwuchs sogar auf dem Gehweg begleiten.“ In der Praxis ist auf dem Gehweg für das Überholen oder den Begegnungsverkehr, geschweige denn Lastenräder oder Kinderanhänger aber kein Platz. Schon deshalb ist für Familien eine konsequente Parkraumüberwachung durch die Kommunen wichtig.

Verhaltenswechsel und Angebote zum Ausprobieren

Mit 700 jungen Vätern und Müttern haben Hannah Eberhardt und Anna Gering im Rahmen ihres Forschungsprojekts „Radfahren mit Baby“ gesprochen. Einige berichteten, dass ihnen das alte Auto ihrer Eltern angeboten wurde, als sie ein Kind erwarteten. „Es ist in Deutschland gesellschaftlicher Konsens, dass Familien mit Kind ein Auto brauchen“, sagt Hannah Eberhardt. Städte und Kommunen können aber mit einem vielseitigen Mobilitätsangebot speziell für Eltern gegensteuern. Ein Beispiel ist das Programm „Go!Family – mit Baby unterwegs“ (gofamily-muenchen.de) mit dem die Stadt München Radfahren, ÖPNV-Nutzung und Carsharing für junge Eltern bewirbt. Mit dem zweiten Platz in der Kategorie Kommunikation beim Deutschen Fahrradpreis 2021 wurde kürzlich der aus dem Forschungsprojekt der beiden Expertinnen hervorgegangene Heidelberger Verein Fahrrad & Familie (fahrrad-und-familie.de) ausgezeichnet: Mit Proberadel-Angeboten können Familien hier Fahrradanhänger, Lastenräder, Kindersitze, Lauf- und Kinderräder kostenlos testen – bei einem Aktionstag oder für einige Wochen im Alltag. Wichtige Bestandteile sind zudem eine hersteller- und händlerunabhängige Beratung und Informationsmaterialien in verschiedene Sprachen, u.a. Russisch, Rumänisch, Türkisch, Englisch, Spanisch und Französisch. „Das Besondere ist, dass wir Familien mit Babys oder Paare bereits vor der Geburt des Kindes unterstützen, um in dieser Umbruchsituation Hemmnisse abzubauen.“

Informationsbedarf zu bestehenden Lösungen

Wer mit einem Kind unterwegs ist, braucht meist mehr Stauraum. Und spätestens bei zwei Kindern macht der Kauf eines geeigneten Cargobikes oder Kinderanhängers Sinn. Die Fahrradbranche hält hier inzwischen ein reichhaltiges Angebot bereit, und vor allem die Motorunterstützung bedeutet in vielen Regionen einen Quantensprung und macht Begleitmobilität per Rad mit Kindern überhaupt erst möglich. Allerdings kennen sich nur wenige Mütter und Väter mit den Fahrzeugen aus. Hier braucht es Aufklärung, Informationen und auch die Möglichkeit, entsprechende (E-)Cargobikes oder Kombinationen von Fahrrad, E-Bike und Anhänger erst einmal auszuprobieren, bevor man mehrere Tausend Euro investiert. Gerade Hebammen sind nach den Erfahrungen von Hannah Eberhardt hier sehr gute Multiplikatorinnen. Viele Mütter suchten bei ihnen Rat zum Unterwegssein mit dem Baby. Deshalb hat sie mit ihren Kollegen einen Workshop für Hebammen entwickelt mit einem theoretischen Part und Testfahrten. Im Rahmen eines Förderprojekts hat sie in Heidelberg zudem den Verein „Fahrrad & Familie“ mitgegründet. Der informiert und verleiht Räder und Anhänger an Familien, die damit die Alltagstauglichkeit am Wohnort testen können.

Der Verein „Fahrrad & Familie“ verleiht Cargobikes und Lastenräder für den Alltagstest. Schließlich müssen die Fahrzeuge am Wohnort auch sicher abgestellt werden können.

Radfahren und Sharing bei Neubauten mitdenken

„Wer mehr Radverkehr will, der muss dafür auch die Bedingungen am Wohnort schaffen“, betont Hannah Eberhardt. Beim Neubau müsse der Radverkehr stets mitgedacht werden. Das kann sich für Bauherren sogar lohnen. Denn wenn Stellplätze für Autos in Fahrradstellplätze verwandelt werden, sparen sie viel Geld. Oberursel hat 2019 deshalb die Stellplatzsatzung geändert. Die Bauherren waren die Wegbereiter für den Wandel. „Sie haben darauf hingewiesen, dass teilweise zwischen 25 und 50 Prozent der Stellplätze leer stünden, die sie laut Satzung bauen mussten“, sagt Uli Molter, Abteilungsleiter der Verkehrsplanung in Oberursel. Stellplätze sind mit bis zu 25.000 bis 35.000 Euro ziemlich teuer in der 47.000-Einwohner-Stadt im Taunus. Die neue Satzung macht es Bauherren deutlich leichter, auf Stellplätze zu verzichten oder sie beispielsweise in Fahrradstellplätze zu verwandeln. Um den Investoren auf einen Blick zu zeigen, was auf ihren Grundstücken möglich ist, hat Ina Steinhauer, Verkehrsplanerin von Oberursel, das Stadtgebiet in ein Drei-Zonen-Netz eingeteilt. „Je besser der Wohnort an den ÖPNV angeschlossen ist, umso weniger Stellplätze müssen hergestellt werden“, sagt Ina Steinhauer. In der grünen Zone können die Bauherren auf 20 Prozent der Stellplätze verzichten, in der gelben Zone zehn Prozent und in der roten Zone noch fünf Prozent. Legen die Investoren zusätzlich ein qualifiziertes Mobilitätskonzept vor, erweitert sich das Einsparpotenzial um weitere 30 Prozent. Im Gegenzug verpflichten sie sich, Alternativen zu schaffen. Etwa indem sie Sharing-Angebote für Autos oder E-Bikes anbieten oder Fahrradstellplätze einrichten. Für Letztere hat das Land Hessen einen eigenen Leitfaden mit den dazugehörigen Qualitätsstandards erstellt. „Die Abstellanlagen müssen ebenerdig und einsehbar sein und ab 20 Rädern außerdem überdacht werden“, sagt Uli Molter.

„Wer mehr Radverkehr will, muss dafür auch die Bedingungen am Wohnort schaffen.“

Hannah Eberhardt

Selbstständigkeit der Kinder entlastet Eltern

In ihren Gesprächen hat Hannah Eberhardt zudem festgestellt, dass Familien mit Blick auf die Alltagsmobilität und ihr knappes Zeitbudget stark gestresst sind. Dabei liegt die Lösung auf der Hand: „Wenn Kinder selbstständig zur Schule gehen oder fahren, gewinnen Eltern Zeit im Alltag und die Zahl der Elterntaxis vor den Schulen sinkt.“ Auch die Kombination von ÖPNV und Radverkehr ist ein wichtiger Baustein für eine familienfreundliche Mobilität. „Wenn Kinder und Jugendliche selbstständig mit Bus und Bahn unterwegs sind, stärkt das ihr Selbstvertrauen und entlastet außerdem die Familien.“ Berlin macht den Familien den Umstieg leicht. Seit August 2019 gibt es dort ein kostenloses Schülerticket für den ÖPNV. „Das entlastet die Familien auch finanziell und fördert eine nachhaltige Verkehrserziehung“, sagt Eberhardt. Wer früh an die Verfügbarkeit öffentlicher Transportmittel gewöhnt werde, sei vermutlich auch später ökologischer unterwegs. Aber immer noch scheuen viele Eltern davor zurück, ihre Kinder allein zur Schule oder in der Freizeit zu Aktivitäten und Freundinnen gehen oder fahren zu lassen. „Bundesweit liegt die Quote an Elterntaxis vor Schulen bei rund 30 Prozent“, so Nico Rathmann, im Heidelberger Verkehrsamt zuständig für den Fußverkehr. In seiner Stadt sei die Quote vor Schulen deutlich niedriger. „An den städtischen Grundschulen zwischen drei bis fünf Prozent“, sagt er. Dafür tut Heidelberg einiges. In jedem der 15 Stadtteile sind 30 Kinderbeauftragte unterwegs. Sie kümmern sich dort um die Belange der Jüngsten, auch um ihre Mobilität. „Sie haben beispielsweise mit der Polizei, den Schulen und den Elternvertretern Kinderwegepläne für jeden Stadtteil erstellt“, sagt Rathmann. Für ihn sind sie ein wichtiges Bindeglied im Quartier. „Die Anwohner sprechen die Kinderbeauftragten an, wenn ihnen Stellen im Viertel auffallen, die verbessert werden sollten“, sagt er. Außerdem bringen sie immer wieder eigene Verbesserungsvorschläge ein. „Das können Poller sein an Knotenpunkten, eine Mittelinsel auf einer Straße oder eine Schwelle auf der Fahrbahn“, sagt Rathmann. Alles Dinge, die Kindern das Queren erleichtern. „Fußverkehr ist immer eine Detailarbeit. Es sind die kleinen Stellschrauben, an denen man dreht, um etwas zu verändern“, sagt er. Seit 1996 gibt es die Kinderbeauftragten in Heidelberg. Inzwischen sind sie wichtige Beraterinnen für die Verwaltung. „Wir wissen, sie prüfen die Beschwerden. Äußern die Kinderbeauftragten Kritik, ist sie fundiert und berechtigt. Entsprechend schnell prüfen wir ihre Vorschläge“, betont Rathmann. Für Hannah Eberhardt ist ein Perspektivwechsel in der Stadt- und Verkehrsplanung notwendig, um Schwachstellen zu identifizieren und neue, passgenaue, nachhaltige Mobilitätsangebote zu schaffen. Die Expertin sagt: „Was Familien nutzt, nutzt auch allen anderen.“

Vorreiter Wien

In Wien gehört die ganzheitliche Planung von Radverkehr und ÖPNV-Anbindung bei Neubaugebieten praktisch zum Standard. So entsteht zum Beispiel am ehemaligen Nordbahnhof bis zum Jahr 2025 ein neuer Stadtteil, der rund 10.000 Wohnungen für 22.000 Bewohner*innen und ebenso viele Arbeitsplätze bieten soll. Eine besondere Attraktion dieses Stadtteils ist die sogenannte Bike City. Hier kommen auf rund 100 Wohnungen 320 Fahrradstellplätze. Neben Stellplätzen direkt vor der Haustür gibt es in manchen Etagen Abstellräume für Fahrräder und Kinderwagen. Das funktioniert, weil die Fahrstühle so groß sind, dass bequem drei Fahrräder und drei Personen hineinpassen. Eine Vorreiterrolle hat Wien auch beim ÖPNV. Das Jahresticket für Erwachsene kostet hier nur 365 Euro; Jugendliche zahlen pro Jahr nur 19,60 Euro für Fahrtwege zur Schule oder zur Ausbildungsstelle oder 70 Euro für das unbegrenzte Top-Ticket. Zum Vergleich: Das Azubi-Ticket in Berlin kostet 30,42 Euro – pro Monat.


Bilder: Verkehrslösungen, Verkehr mit Köpfchen, Fahrrad & Familie