Schwerlastfahrräder haben ein enormes Potenzial, den urbanen Wirtschaftsverkehr nachhaltig zu verändern. Mit neuen, hochbelastbaren Komponenten ausgerüstet liefern sie gute Argumente für die Ergänzung oder Umstellung des Warentransports: kompakt, flexibel, umwelt- und klimafreundlich, verlässlich und günstig in Anschaffung und Unterhalt.

Natürlich kann man nicht jede Fahrt mit dem Lkw, Sprinter oder Hochdachkombi im Wirtschaftsverkehr ersetzen. Andererseits zeigen Studien und Beispiele aus der Praxis, wie gut sich sogenannte Schwerlastfahrräder oder Heavy Cargobikes für urbane Regionen eignen und wie viele Fahrten sich damit vergleichsweise leicht und wirtschaftlich sinnvoll verlagern lassen. Schon vor Jahren schätzten Experten das Verlagerungspotenzial auf rund 20 Prozent der Fahrten. Angesichts neuer Erkenntnisse, entscheidender Verbesserungen der Fahrzeuge und einem zunehmenden Bewusstseinswandel schätzt der Radlogistik Verband Deutschland (RLVD) das Potenzial inzwischen sogar auf bis zu 30 Prozent, eine Einschätzung, die auch die Politik inzwischen teilt.

Hohe Anforderungen an die Technik erfüllt

Die Technik für Lastenräder befindet sich mittlerweile auf einem hohen technischen Niveau. Insbesondere bei Schwerlasträdern werden Komponenten wie Antrieb, Bremsen und Fahrwerk ständig weiterentwickelt, denn die Anforderungen sind extrem, vor allem im täglichen Lieferverkehr. „Schwerlastfahrräder unterscheiden sich maßgeblich von Cargobikes im privaten Sektor und müssen höchsten Beanspruchungen standhalten“, sagt Dirk Stölting, Head of Marketing & Design der Pinion GmbH aus Denkendorf bei Stuttgart. „Nutzungsintensität und Wirtschaftlichkeit erfordern entsprechende Komponenten.“ Pinion hat sich als Hersteller besonders leistungsfähiger, hochbelastbarer und gleichzeitig praktisch wartungsfreier Getriebeschaltungen seit der Gründung 2008 einen Namen in der Fahrradbranche gemacht.

Das Ziel der beiden Pinion-Gründer und ehemaligen Porsche-Ingenieure Christoph Lermen und Michael Schmitz war von Beginn an das Beste aus Automobil- und Fahrradtechnologien zu verbinden. So entstand ein am Tretlager untergebrachtes vollständig abgedichtetes High-End-Getriebe. Zusammen mit Partnern aus der Radlogistik haben die Pinion-Macher die besonderen Anforderungen im Bereich professioneller Lastenräder eingehend untersucht und so eine noch mal robustere Produktlinie mit einigen Extras für den besonderen Einsatzzweck, wie zum Beispiel einen Neutralgang entwickelt. Bei der neuen T-Linie, die für Transport steht, wurden laut Pinion sämtliche Bauteile auf sehr hohe Laufleistungen, geringen Verschleiß und maximale Beanspruchung ausgelegt. „Das Besondere am Getriebe ist, dass sich die Gänge auch bei hohen Nutzlasten in jeder Situation schalten lassen, ob im Stand oder während dem Pedalieren“, erläutert Dirk Stölting. „Bei plötzlichen Stopps oder beim Anfahren an Ampeln ist das ein enormer Vorteil.“ Dazu kommt, dass das Getriebe auf bis zu 250 Newtonmeter Eingangsdrehmoment ausgelegt ist und keinerlei Einstellung oder Justage benötigt. „Alle 10.000 Kilometer ein Ölwechsel – mehr muss man nicht tun“, so Stölting. Technisch einzigartig: Als einzige Schaltung am Markt sind Pinion T-Linien-Getriebe optional mit einem Neutralgang ausgestattet. Dieser ermöglicht ergonomisches Rückwärts-Rangieren schwerer Cargo-Fahrzeuge.

„Zudem bieten wir auch Servicekonzepte für Gewerbekunden, wie zum Beispiel eine lebenslange Verlängerung der Mobilitätsgarantie.“ Für den Pinion-Launchpartner Tricargo sind das ganz wesentliche Anforderungen, denn professionelle Fahrer*innen bringen mehr Kraft mit und haben, wie in anderen Berufszweigen, ganz andere Ansprüche an die Robustheit ihres Arbeitsgeräts. Die konkreten Herausforderungen kennt das Hamburger Unternehmen Tricargo sehr genau. Zum einen als lokaler Dienstleister für Radlogistik und zum anderen als Entwickler und Flottenhersteller des Schwerlast-Cargobikes „Lademeister“.

Innovationen aus der Garage für die Straße


Viele heutige Marktführer haben mit neuen Ansätzen und neuem Denken quasi „aus der Garage heraus“ Innovationen entwickelt, die unser Leben verändert haben und heute nicht mehr wegzudenken sind. Bemerkung am Rande: Auch Apple hat in einer Garage angefangen und dem Zitat von Steve Jobs, „Computers are like a bicycle for the mind“, folgend, sollte sein erster kommerzieller Computer nicht nach der Apfelsorte „Macintosh“, sondern schlicht „Bicycle“ heißen.

Auch Tricargo ist aus einer Garage heraus entstanden, mit dem Anspruch, genau den Service anzubieten, der im Hamburger Umfeld benötigt wird: flexible und nachhaltige Logistik per Fahrrad. Wobei die Idee nicht neu, sondern nur in Vergessenheit geraten ist. Bis zum Zweiten Weltkrieg gehörten Lastenräder für den günstigen Transport von Waren und Gütern und dem Verkauf auf der Straße nicht nur in den europäischen Städten zum alltäglichen Bild. Begonnen hat die Renaissance der Lastenräder mit der Entwicklung leistungsfähiger Lithium-Ionen-Akkus, die sich heute praktisch überall finden, und der Kombination mit entsprechend leistungsstarken Komponenten. Dazu kommen Aufbauten, die sich an den industriellen Standard-Industriemaßen von Paletten und Kisten und die einfache Beladung per Hubwagen orientieren.

„Computers are like a bicycle for the mind.“

Steve Jobs

Was in der Theorie einfach klingt, führte vor allem in der ersten Zeit zu Problemen, die aber inzwischen gelöst sind. „Die Beschaffenheit des Materials und die Verarbeitung und Stabilität der Komponenten sind enorm wichtig für die Haltbarkeit des Rades und die Sicherheit des Fahrenden“, betont Heinrich Berger von Tricargo. Das gab letztlich auch den Ausschlag zur Entwicklung eigener Lastenräder, zuerst für den Eigenbedarf, aber natürlich mit dem Ziel, auch andere davon profitieren zu lassen. So entstand der sogenannte Lademeister als robustes Nutzfahrzeug, das zuverlässig tägliche Transportaufgaben erledigt. „Im Lademeister stecken mehr als 150.000 Kilometer Praxiserfahrung aus unserer Radlogistik“, erläutert Heinrich Berger.

„Dort entwickelten und testeten wir den Lademeister für die Feinverteilung von Gütern auf der letzten Meile.“ Die Pedalkraft wird beim Lademeister mittels Pinion-Getriebe übersetzt und wirkt auf das rechte Hinterrad. Zusätzlich unterstützt ein 250-Watt- Elektromotor in der Vorderradnabe bis 25 km/h. Rechtlich ist das große zweispurige Rad damit ein Pedelec und dem Fahrrad gleichgestellt. Die Vorteile: Fahrer*innen benötigen keinen Führerschein und können überall dort fahren, wo auch einspurige Fahrräder gemäß StVO unterwegs sein dürfen. Auch das Parken auf dem Fußweg ist erlaubt. Die Geschwindigkeit reicht laut Heinrich Berger völlig aus, nur bei der zugelassenen Leistungsangabe, also der Watt-Zahl im Dauerbetrieb, würde er sich eine schnelle Änderung der EU-weit gültigen Regularien wünschen. „In Regionen wie Hamburg, Köln oder Bonn, wo sich unsere Räder im Einsatz befinden, kommen wir mit 250 Watt Motorunterstützung gut klar, aber wir müssen auch an Regionen mit anspruchsvolleren Topografien denken. Deshalb setzen wir uns, wie die Verbände, für die Anhebung der Leistungsgrenze ein.“

Dreirädrige Lastenräder mit Motor gab es schon zur Jahrhundertwende. Unterwegs: Fotograf August F.W. Vogt (1871-1922) im Jahr 1905 in Amsterdam.

Profi-Lastenräder sind eine echte Alternative

Ansonsten habe man inzwischen ein sehr ausgereiftes Produkt, das sich in der harten täglichen Praxis bestens bewähre. Dafür sorgen beispielsweise ein hochstabiler Stahlrahmen, der in der Nähe von Osnabrück speziell für Tricargo gefertigt wird, sowie Räder und Scheibenbremsen aus der Motorradtechnik. Das ist wichtig, denn das zulässige Gesamtgewicht beträgt 425 kg, bei einer Nutzlast von 210 kg. Wer den Zustand der Radwege und die Vielzahl der Hindernisse wie Bordsteinkanten kennt, kann sich die Belastungen im Alltag gut vorstellen. „Auch wenn Profi-Lastenräder damit in der Anschaffung teurer werden, die hohe Qualität wirkt sich auf die Zuverlässigkeit, die Standzeiten der Komponenten und die Haltbarkeit der Räder insgesamt positiv aus“, sagt Heinrich Berger. Das mache sich vor allem mit Blick auf die Gesamtkosten, also die Total Cost of Ownership (TCO) der Lastenräder bemerkbar. Deshalb setzt Tricargo seit jeher unter anderem auch auf das Pinion-Getriebe. Als Launchpartner von Pinion nutzen die Hamburger erste Serienmodelle des neuen Lastenradgetriebes mit großer Begeisterung schon seit über 10.000 Kilometern.

„Nicht die Idee des Lastenradtransports an sich macht den Erfolg und eine Revolution im Wirtschaftsverkehr möglich, sondern die Kombination hochleistungsfähiger Komponenten“, betont Berger. „Ich bin davon überzeugt, dass wir gerade einen Durchbruch erleben. Cargobikes mit neuer Technik sind eine echte Alternative, nicht irgendwann in der Zukunft, sondern jetzt.“

Neue Geschäftsmodelle und Chancen

Auch veränderte Kundenerwartungen und neue Geschäftsideen dürften den Markt künftig weiter befeuern. Zu den Abnehmern des Tricargo Lademeisters gehört beispielsweise das im Raum Köln/Bonn tätige wertegetriebene Unternehmen „Himmel un Ääd“ – analog zum rheinischen Gericht Äpfel (Himmel) und Kartoffeln (Ääd/ Erde). Das Geschäftsmodell ruht dabei auf zwei Säulen: Radlogistik und ein Onlineshop für regionale Lebensmittel, die mit dem Lastenrad ausgeliefert werden. Ein weiterer Kunde und gleichzeitig Multiplikator ist die Memo AG. Der Spezialist für nachhaltigen Öko-Bürobedarf mit über 20.000 Produkten im Sortiment legt Wert darauf, dass Bestellungen auf der letzten Meile mit E-Lastenrädern ausgeliefert werden, die ausschließlich Ökostrom als Energie nutzen und so komplett emissionsfrei unterwegs sind. Um das zu gewährleisten stellt das Unternehmen Radlogistikern entsprechend gebrandete Räder zur Verfügung.

Generell sind die Einsatzgebiete von Profi-Cargobikes enorm vielfältig. Aktuell sind sie nicht nur technisch ausgereift, sie passen auch in die Zeit und hervorragend zu wieder lebenswerten Städten und Quartieren. Entsprechende Verbesserungen bei der Infrastruktur vorausgesetzt, zum Beispiel mit mobilen oder stationären Sammelpunkten für Pakete, sogenannten Micro-Hubs/Mikro-Depots, breiten Radwegen und ausreichend großen Park- und Halteflächen, verschiedenen Push- und Pull-Faktoren und neuen gesetzlichen Regelungen könnte hier ein völlig neuer, klimafreundlicher Multimillionen-Markt entstehen. Technologietreiber sind aktuell vor allem kleine und mittelständische Unternehmen. Sie aktiv zu fördern und neuen Entwicklungen für den nachhaltigen Lastentransport keine unnötigen Steine, wie bei der Begrenzung der Motorkraft, in den Weg zu legen, sollte mit Blick auf die Herausforderungen der Zeit eine Selbstverständlichkeit sein. Besonders wichtig für die Zukunft ist laut Experten unter anderem, dass die rechtliche Gleichstellung von Schwerlasträdern bis zu einem Gewicht von 500 kg zum Fahrrad erhalten bleibt. Eine umfangreiche Stellungnahme zum Nationalen Radverkehrsplan 3.0 mit Wünschen an die Politik hat der Radlogistik Verband Deutschland e.V. (RLVD) vorgelegt.


Steckbrief TRICARGO Lademeister

Das Schwerlastrad Lademeister von Tricargo ist optimiert für den Transport von Europaletten und allen kompatiblen Kistenformaten. Er lässt sich ergonomisch be- und entladen – auch per Gabelstapler. Die effektive Nutzlast beträgt 210 kg und das zulässige Gesamtgewicht 425 kg, bei 140 kg Leergewicht inkl. Box. Die Reichweite beträgt in der Praxis 40 bis 60 km. Für die Energie sorgt ein Greenpack-Wechselakku mit 1.456 Wh und einer Ladezeit von vier Stunden. Der Vorderradnabenmotor unterstützt mit 250 Watt und verfügt über eine Anfahr- bzw. Schiebehilfe. Die hintere Scheibenbremsanlage sowie die Laufräder kommen aus dem Motorradbau. Die optionale Transportbox hat ein Volumen von 2,17 Kubikmetern, Ladefläche in der Box 1522 × 815 × 1520 mm (L × B ×H). Weitere Konfigurationen sind optional verfügbar.
Mehr Informationen: www.lademeister.bike


Steckbrief PINION T-Linie

Mit eigens für den Schwerlastbereich entwickelten Schaltgetrieben professionalisiert Getriebehersteller Pinion den Markt der gewerblich genutzten Lastenräder. Fest steht: Komponenten müssen im Schwerlastbereich enormen Belastungen standhalten. Pinion T-Linien-Getriebe sind für den dauerhaften Einsatz von Lasten bis zu 250 Nm Eingangsdrehmoment ausgelegt. Verschleißarm und mit minimalem Wartungsaufwand sind die Getriebe kosteneffizient bei geringem TCO. Sie können als Direkt- oder Zwischengetriebe in Ein-, Zwei- und Dreispurfahrzeugen eingesetzt und mit verschiedenen Elektromotoren kombiniert werden – das bietet Herstellern höchste Flexibilität in der Entwicklungs- und Konstruktionsphase. Abgerundet wird Pinions Angebot an gewerbliche Kunden durch verlängerte Serviceintervalle und speziell angepasste Servicekonzepte.

Mehr Informationen: pinion.eu /pinion-industrial.eu

Text: Reiner Kolberg

Bilder:
Tricargo, Wikimedia Commons, Pinion

Ein Plädoyer für mehr Verkehrsgerechtigkeit

von Peter Hennicke, Thorsten Koska, Jana Rasch et al.

Die Zeit ist reif für mehr Klimaschutz und dieses Buch kommt damit genau richtig. Die neue Veröffentlichung des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie bringt alles mit, was es für ein grundsätzliches Neudenken im Verkehr braucht. Die fast 400 Textseiten sind dicht mit wertvollen Informationen gespickt. Zielgerichtet und handlungsorientiert wird hier gezeigt, warum die Mobilitätswende kommen muss, und noch wichtiger: wie der Wandel vonstattengehen kann. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Es erstaunt zu sehen, wie einfach faktenbasiertes Handeln sein kann. Das vielschichtige Thema Verkehrsgerechtigkeit, das alle Lebensbereiche buchstäblich miteinander verbindet, wird von den Autorinnen erläutert und konstruktiv angegangen. Dabei werden zahlreiche wichtige Fragen nach aktuellem wissenschaftlichem Kenntnisstand beantwortet. Welche Rolle spielt beispielsweise der kommunale Strukturwandel bei der Verkehrswende? Welche politischen Entscheidungen sind wirkungsvoll und welche haben schwerwiegende Schlupflöcher? „Die Grenzen des Verkehrswachstums sind erreicht. Klimaschutz und Lebensqualität sind wichtiger als hochgerüstete Autoflotten, die für Millionen Menschen ohne Auto Belastungen und Mobilitätsnachteile bedeuten. Notwendig ist eine radikale sozial-ökologische Transformation des Verkehrssystems: Ausbau und Förderung des Umweltverbundes aus ÖPNV, Schiene, Sharing-Systemen, Rad- und Fußverkehr – das sind bekannte Strategieelemente, die aber durch die herrschende Privilegierung des Autos ausgebremst werden.“ Das Buch liefert Kritik an historischen und aktuellen Entwicklungen. In „Nachhaltige Mobilität für alle“ ist diese nicht oberflächlich und plakativ, sondern wird mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und genauen Beobachtungen und Analysen unterfüttert. Mit Blick auf die Zukunft sind die Autorinnen zwiegespalten: „Ob diese Zeit all jene schon vor der Corona-Pandemie wirkenden multiplen Krisen auf die Spitze treibt oder ob Einsichten in allen Ländern gewachsen sind und weltweite Aktionsprogramme für eine wirkliche Wende zur Nachhaltigkeit aufgelegt werden, wird sich in wenigen Jahren zeigen.“ Wir bleiben ebenso gespannt, ob und wie sich die Wende entwickeln wird, und empfehlen bis dahin die Lektüre des Buches, die Probleme, Lösungsansätze und Entwicklungspfade aufzeigt.

Peter Hennicke war Präsident des Wuppertal Instituts. Er ist Träger des deutschen Umweltpreises und Mitglied des Club of Rome. Er gilt als einer der Vordenker der deutschen Energiewende.


Nachhaltige Mobilität für alle Ein Plädoyer für mehr Verkehrsgerechtigkeit | Oekom Verlag | 1. Auflage, Mai 2021 | 432 Seiten (farbig), Softcover/E-Book | ISBN: 978-3-96238-279-7 | 28,00 Euro


Bilder: Wuppertal Institut, VisLab, Sabine Michaelis

Als Alternative zu Transportern oder Lkws setzt auch der Logistikspezialist DB Schenker in Städten auf Lastenräder. Mehr als nur ein Hingucker in der Hamburger Cargobike-Flotte ist dabei das 6,50 Meter lange XXL-Lastenrad von Cargo Cycle. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Innerhalb des Smart-Cities-Programms sind verschiedene Schwerlastbikes für DB Schenker in Berlin und Hamburg unterwegs. Ein nicht nur optisches Highlight ist dabei das intern „langer Lulatsch“ genannte Cargobike der Hamburger Lastenrad-Manufaktur Cargo Cycle. Eine halbe Tonne Nutzlast lässt sich mit dem 6,50 langen „Megaliner unter den Lastenrädern“ transportieren. Trotz der Länge verspricht Christian Rusche, Gründer von Cargo Cycle und Konstrukteur des motorunterstützten Cargobikes, eine überraschend hohe Wendigkeit. Das Unikat fährt seit 2019 durch die Hansestadt und hat dabei inzwischen über 4.000 Kilometer zurückgelegt. Neben dem praktischen Nutzwert ist sicher auch die Werbewirkung nicht zu unterschätzen. So greifen viele Passanten fast reflexartig zum Smartphone, wenn sie den Lastentransporter sehen.

DB Schenker liefert inzwischen vor allem in französischen Städten auch per Cargobike aus, zum Beispiel in Straßburg, Nizza und Lille. Mehr als 120.000 Lieferungen finden pro Jahr alleine in Frankreich umweltfreundlich statt. Darüber hinaus sind Lastenräder international auch in weiteren großen Städten für DB Schenker im Einsatz, zum Beispiel in Norwegen, Finnland, Schweden und Österreich.

Das Standardmodell und die Basis für das XXL-Rad ist das Cargo-Cycle-Modell Nanuk. Lieferbar in verschiedenen Varianten mit und ohne Nabenmotor und mit einer Nutzlast von 200 kg.

Bilder: Deutsche Bahn AG / Max Lautenschlaeger

Kommentar von Reiner Kolberg, Chefredakteur (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Darf man sich im „Superwahljahr“ als Fachmagazin Gedanken machen zur Politik? Ja, man darf, und ich meine, man muss sogar. Natürlich bewegt man sich dabei auf einem schmalen Grat als Journalist, denn man sollte ja möglichst objektiv und neutral sein. Wobei es auch hier Ausnahmen gibt. Denn selbstverständlich stehen wir, wie jedes Fachmedium, positiv und sagen wir ruhig „parteiisch“ zu unseren Themen Radverkehr und Mikromobilität. Was im Umkehrschluss selbstverständlich nicht heißt, dass wir gegen Autos wären und den öffentlichen Verkehr oder den Fußverkehr vergessen würden. Parteiisch darf man, so die Meinung vieler Journalisten, auch sein, wenn es um den Klimaschutz geht. Angesichts der inzwischen sicheren wissenschaftlichen Erkenntnisse und des Bedrohungspotenzials für die Wirtschaft und die Gesellschaft kann engagierter Journalismus, so die Auffassung, nicht umhin, Stellung zu beziehen und Dinge und Entscheidungen kritisch zu hinter-fragen.

Geflügeltes Wort: „Wir machen das mit den Fähnchen!“ Oder, wie der Karikaturist meint: „Und wenn wir einfach auf ein Wunder warten?“

Zäsur: Gerichtsurteile verankern Klimaschutz

Eine von den meisten Seiten sicher unerwartete Zäsur bringt nach Einschätzungen von Experten das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021 zum Klimaschutz. Es erklärte nicht nur das Klimagesetz der Bundesregierung für verfassungswidrig, es betonte auch die besondere grundgesetzliche Verantwortung der Bundespolitik. „Das Grundgesetz verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen“, so die Richter*innen des höchsten unabhängigen Verfassungsorgans in Deutschland. Diese nach Expertenmeinung „Neudefinition des Freiheitsbegriffs“ setzt uns in Verbindung mit der verbindlichen Festschreibung auf das Pariser Klima-Abkommen unmissverständlich Grenzen und legt uns für heute und die Zukunft Pflichten auf.
Während die Politik noch nach Lösungen sucht, kommt schon das nächste Urteil, dessen Gewicht und Auswirkungen auf die Bereiche Energie und Verkehr ebenfalls kaum abzusehen sind. „Das Urteil gegen Shell zeigt die neue Klima-Macht der Justiz“ schreibt die „Welt“ zum Sieg niederländischer Aktivisten am 26. Mai gegen einen der größten Ölkonzerne der Welt. Zum ersten Mal in der Geschichte wird ein Konzern gerichtlich gezwungen, Verantwortung für die Klimakrise zu übernehmen und seine Emissionen radikal zu reduzieren. Weitere „Klima-Klagen“ gegen verschiedene Länder und Konzerne sind weltweit anhängig.
Die bislang gesprochenen und noch zu erwartenden Urteile könnten, verbunden mit erweiterten Klagemöglichkeiten, direkt in die Diskussionen und Entscheidungen auf allen Ebenen wirken: auf die Wirtschaft, den Bund, die Länder und Kommunen und nicht zuletzt wohl auch in die Verwaltungen hinein. Möglichkeiten für Veränderungen in Richtung klimafreundliche Mobilität sowie Pläne und Empfehlungen dazu gibt es reichlich, nicht nur von ökologisch orientierten Verbänden, Instituten oder Parteien. Auch die hochkarätig besetzten Arbeitsgruppen, Untersuchungen und Studien der Bundesregierung bzw. beauftragter Institute geben eine klare Richtung vor. Nur bei der Umsetzung hapert es bislang.

Laut Umfragen des Umweltbundesamts sehen 65 % der Bevölkerung Umwelt- und Klimaschutz als sehr wichtiges Thema. Für 51 % sollte das auch in der Verkehrspolitik eine übergeordnete Rolle spielen.

„Deutschland hat in der Verkehrsinfrastruktur massiv den Anschluss an andere Länder verloren.“

Stefan Wallmann, Ramboll Deutschland (Ingenieur-, Planungs- und Managementberatung)

Politik bislang zu langsam und zu zögerlich?

Kritiker merken immer wieder an, dass es die Politik in den vergangenen Jahren trotz gegenteiliger Zielsetzungen und Bekundungen nicht geschafft hat, den CO2-Ausstoß im Verkehr maßgeblich zu verringern, mehr Waren vom Lkw auf die Schiene oder deutlich mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen. Gleiches gilt für das Vorhaben, die Zahl der Toten und Schwerverletzten bei geschützten und ungeschützten Verkehrsteilnehmer*innen deutlich zu senken. Selbst beim Thema Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit, das Kommunen, der Städtetag und auch der Bundestag als Modellprojekt fordern: Fehlanzeige.
Bei neuen Plänen, wie dem kürzlich vorgestellten Nationalen Radverkehrsplan (NRVP 3.0) oder dem geplanten Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz in Nordrhein-Westfalen mangelt es nicht an Zielen. Aber auch hier fehlen nach Meinungen von Fachverbänden und Experten bislang noch konkret ausgestaltete Maßnahmenpakete inklusive messbarer Zwischenziele. Dabei besteht ein großer Konsens darin, dass es ein „Business as usual“ künftig nicht mehr geben kann. Selbst die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, die die grundlegenden Regelwerke, wie die Straßenverkehrsordnung (StVO), Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) und das Straßenverkehrsgesetz (StVG), erarbeitet, kam schon 2016 in einem Ergebnisbericht zu dem Schluss, dass die Klimaziele mit einer Umstellung auf Elektroantriebe allein im Verkehrssektor nicht zu erfüllen seien. Was unabdingbar dazu- kommen müsse, seien Verhaltensänderungen, also eine Verkehrsvermeidung, sowie der Umstieg auf ÖPNV, Fahrrad und Zufußgehen.
Hinter den Erwartungen vieler Fachleute und Verbände zurückgeblieben sind auch die kürzliche StVO-Reform sowie der vom BMVI Anfang Mai vorgestellte „Pakt für Verkehrssicherheit“. Fachleute reiben sich verwundert die Augen und fragen sich, wie man mit wenigen Änderungen, vielen Appellen und einem Verweis auf neue Technologien, die wohl erst in 15 Jahren wirksam werden, Richtung Vision Zero kommen oder eine Mobilitätswende voranbringen soll.

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Radfahrende sind 2019 bei Unfällen
in Deutschland getötet worden.
Mehr als die Hälfte von ihnen
war über 64 Jahre alt.

Quelle: Statistisches Bundesamt

„In Deutschland hat Verkehrssicherheit leider zu wenig Lobby, und Verkehrstote werden oftmals als Kollateralschaden angesehen. Erst wenn man persönlich betroffen ist, wird das Thema real.“ Stefan Pfeiffer, Vorsitzender Fachkommission Verkehr, Deutsche Polizeigewerkschaft

Kritischer Punkt: mehr Sicherheit für Radfahrende

Parteiisch dürfen und müssen wir als Magazin auch sein, wenn es um die subjektive und objektive Sicherheit von ungeschützten Verkehrsteil-nehmer*innen, vom Kind bis zur stark wachsenden Gruppe der Alten geht. Neben den tatsächlichen Gefahren spielt vor allem die subjektive Sicherheit beim Radverkehr eine große Rolle. Denn wie will man mehr Menschen, also auch Unsichere, Neueinsteiger, Ältere, Kinder und (werdende) Eltern aufs Rad bringen, wie die Alltagsmobilität dauerhaft verändern und wie den Fahrradanteil vervielfachen, wenn die Menschen kein Vertrauen haben in ihre eigene Sicherheit oder die ihrer Kinder? Fakt ist: Selbst erfahrene Nutzerinnen und Nutzer fühlen sich hierzulande nicht sicher auf dem Rad. Fast 70 Prozent gaben dies laut ADFC Klimatest 2020 deutschlandweit so an. Wie fühlen sich dann wohl erst Unerfahrene oder die große Zahl der Älteren, die nicht mehr so gut hören, sehen, den Kopf drehen oder im Notfall blitzschnell reagieren können? Dabei ist mehr gefühlte Sicherheit ebenso machbar, wie das von der EU vorgegebene und von der Großen Koalition angenommene Ziel Vision Zero. Im Arbeitsschutz haben wir uns an hohe Standards, etablierte Systeme und ständige Audits zur Vermeidung von Gefahren, Unfällen und gesundheitlichen Schäden seit Jahrzehnten ebenso gewöhnt wie in vielen anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Produktsicherheit oder beim Flugverkehr. Es geht also, wenn man wirklich will und weder Kosten noch Mühen noch unpopuläre Maßnahmen scheut.

Nicht nur Kritik, auch Lob und Ausblick

Nicht, dass wir uns falsch verstehen, in den letzten Jahren hat sich in Deutschland ganz sicher sowohl in den Köpfen wie auch bei den Maßnahmen einiges getan. Dass der Radverkehr beispielsweise nicht nur als Freizeitvergnügen, sondern sowohl in der Bevölkerung als auch in der Politik und der Verwaltung als ernst zu nehmende Verkehrsart gesehen wird, ist eine wichtige Entwicklung und auch das Verdienst vieler Menschen auf allen Ebenen. Gleichzeitig muss anerkannt werden, dass es in der Politik immer auch darum geht, Bevölkerungsgruppen mitzunehmen und nicht zu verprellen. Rechnet man hier Beharrungskräfte, Zukunftsängste und die durchaus unterschiedlichen Lebenssituationen mit ein, dann kann man manche Aussagen und Entscheidungen sicher besser nachvollziehen. Ähnliches gilt auch für die Verwaltungen in den Städten und Kommunen, die mit vielerlei Hürden und Widerständen zu kämpfen haben und mit dem Aufbau der notwendigen Kapazitäten und der nötigen Planung kaum nachkommen.
Klar ist aber auch, es gibt akuten Handlungsbedarf und noch viel Luft nach oben. Hier wäre zu wünschen, dass sich im Zuge des Wahlkampfs nicht unnötig Fronten aufbauen oder verhärten, sondern die Menschen im Gespräch bleiben und die wichtigen Probleme entschlossen zusammen angegangen werden. Die Erfahrung, dass zuerst viele gegen Veränderungen, dann aber fast alle dafür sind, sobald das Neue sichtbar und erlebbar wird, machen auch Stadt- und Verkehrsplaner in den viel gelobten Vorreiterstädten wie Kopenhagen, Amsterdam, Wien oder neu, Barcelona und Paris. In Paris gibt es beispielsweise inzwischen eine große Allianz zwischen allen Parteien und den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt für eine schnelle Transformation, und in Spanien war kein Aufschrei nach der landesweiten Einführung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Ortschaften zu hören.
Wie es gelingt, Menschen nicht nur mitzunehmen, sondern aktiv einzubinden und zu begeistern für Veränderungen und wie die Mobilität der Zukunft aussehen kann, dazu haben wir in den vergangenen Ausgaben mit renommierten Experten gesprochen, unter anderem mit Dr. Uwe Schneidewind, Transformationsforscher und neuer Oberbürgermeister in Wuppertal, und Prof. Dr. Stephan Rammler vom IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, einem der renommiertesten Vordenker, wenn es um die großen Zusammenhänge bei der Mobilität geht. Beide Interviews können Sie jetzt auch online lesen unter veloplan.de/magazin.


Bilder: stock.adobe.com – sveta, stock.adobe.com – cartoonresource, stock.adobe.com – Halfpoint, Norbert Michalke – Changing Cities

Schwerlastfahrräder haben ein enormes Potenzial, den urbanen Wirtschaftsverkehr nachhaltig zu verändern. Mit neuen, hochbelastbaren Komponenten ausgerüstet liefern sie gute Argumente für die Ergänzung oder Umstellung des Warentransports: kompakt, flexibel, umwelt- und klimafreundlich, verlässlich und günstig in Anschaffung und Unterhalt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Dreirädrige Lastenräder mit Motor gab es schon zur Jahrhundertwende. Unterwegs: Fotograf August F.W. Vogt (1871-1922) im Jahr 1905 in Amsterdam.

Natürlich kann man nicht jede Fahrt mit dem Lkw, Sprinter oder Hochdachkombi im Wirtschaftsverkehr ersetzen. Andererseits zeigen Studien und Beispiele aus der Praxis, wie gut sich sogenannte Schwerlastfahrräder oder Heavy Cargobikes für urbane Regionen eignen und wie viele Fahrten sich damit vergleichsweise leicht und wirtschaftlich sinnvoll verlagern lassen. Schon vor Jahren schätzten Experten das Verlagerungspotenzial auf rund 20 Prozent der Fahrten. Angesichts neuer Erkenntnisse, entscheidender Verbesserungen der Fahrzeuge und einem zunehmenden Bewusstseinswandel schätzt der Radlogistik Verband Deutschland (RLVD) das Potenzial inzwischen sogar auf bis zu 30 Prozent, eine Einschätzung, die auch die Politik inzwischen teilt.

Hohe Anforderungen an die Technik erfüllt

Die Technik für Lastenräder befindet sich mittlerweile auf einem hohen technischen Niveau. Insbesondere bei Schwerlasträdern werden Komponenten wie Antrieb, Bremsen und Fahrwerk ständig weiterentwickelt, denn die Anforderungen sind extrem, vor allem im täglichen Lieferverkehr. „Schwerlastfahrräder unterscheiden sich maßgeblich von Cargobikes im privaten Sektor und müssen höchsten Beanspruchungen standhalten“, sagt Dirk Stölting, Head of Marketing & Design der Pinion GmbH aus Denkendorf bei Stuttgart. „Nutzungsintensität und Wirtschaftlichkeit erfordern entsprechende Komponenten.“ Pinion hat sich als Hersteller besonders leistungsfähiger, hochbelastbarer und gleichzeitig praktisch wartungsfreier Getriebeschaltungen seit der Gründung 2008 einen Namen in der Fahrradbranche gemacht. Das Ziel der beiden Pinion-Gründer und ehemaligen Porsche-Ingenieure Christoph Lermen und Michael Schmitz war von Beginn an das Beste aus Automobil- und Fahrradtechnologien zu verbinden. So entstand ein am Tretlager untergebrachtes vollständig abgedichtetes High-End-Getriebe. Zusammen mit Partnern aus der Radlogistik haben die Pinion-Macher die besonderen Anforderungen im Bereich professioneller Lastenräder eingehend untersucht und so eine noch mal robustere Produktlinie mit einigen Ex-tras für den besonderen Einsatzzweck, wie zum Beispiel einen Neutralgang entwickelt. Bei der neuen T-Linie, die für Transport steht, wurden laut Pinion sämtliche Bauteile auf sehr hohe Laufleistungen, geringen Verschleiß und maximale Beanspruchung ausgelegt. „Das Besondere am Getriebe ist, dass sich die Gänge auch bei hohen Nutzlasten in jeder Situation schalten lassen, ob im Stand oder während dem Pedalieren“, erläutert Dirk Stölting. „Bei plötzlichen Stopps oder beim Anfahren an Ampeln ist das ein enormer Vorteil.“ Dazu kommt, dass das Getriebe auf bis zu 250 Newtonmeter Eingangsdrehmoment ausgelegt ist und keinerlei Einstellung oder Justage benötigt. „Alle 10.000 Kilometer ein Ölwechsel – mehr muss man nicht tun“, so Stölting. „Zudem bieten wir auch Servicekonzepte für Gewerbekunden, wie zum Beispiel eine lebenslange Verlängerung der Mobilitätsgarantie.“ Für den Pinion- Launchpartner Tricargo sind das ganz wesentliche Anforderungen, denn professionelle Fahrer*innen bringen mehr Kraft mit und haben, wie in anderen Berufszweigen, ganz andere Ansprüche an die Robustheit ihres Arbeitsgeräts. Die konkreten Herausforderungen kennt das Hamburger Unternehmen Tricargo sehr genau. Zum einen als lokaler Dienstleister für Radlogistik und zum anderen als Entwickler und Flottenhersteller des Schwerlast-Cargobikes „Lademeister“.

Profi-Cargobikes passen in die Zeit und hervorragend zu wieder lebenswerten Städten und Quartieren.

Innovationen aus der Garage für die Straße

Viele heutige Marktführer haben mit neuen Ansätzen und neuem Denken quasi „aus der Garage heraus“ Innovationen entwickelt, die unser Leben verändert haben und heute nicht mehr wegzudenken sind. Bemerkung am Rande: Auch Apple hat in einer Garage angefangen und dem Zitat von Steve Jobs, „Computers are like a bicycle for the mind“, folgend, sollte sein erster kommerzieller Computer nicht nach der Apfelsorte „Macintosh“, sondern schlicht „Bicycle“ heißen.
Auch Tricargo ist aus einer Garage heraus entstanden, mit dem Anspruch, genau den Service anzubieten, der im Hamburger Umfeld benötigt wird: flexible und nachhaltige Logistik per Fahrrad. Wobei die Idee nicht neu, sondern nur in Vergessenheit geraten ist. Bis zum Zweiten Weltkrieg gehörten Lastenräder für den günstigen Transport von Waren und Gütern und dem Verkauf auf der Straße nicht nur in den europäischen Städten zum alltäglichen Bild. Begonnen hat die Renaissance der Lastenräder mit der Entwicklung leistungsfähiger Lithium-Ionen-Akkus, die sich heute praktisch überall finden, und der Kombination mit entsprechend leistungsstarken Komponenten. Dazu kommen Aufbauten, die sich an den industriellen Standard-Industriemaßen von Paletten und Kisten und die einfache Beladung per Hubwagen orientieren. Was in der Theorie einfach klingt, führte vor allem in der ersten Zeit zu Problemen, die aber inzwischen gelöst sind. „Die Beschaffenheit des Materials und die Verarbeitung und Stabilität der Komponenten sind enorm wichtig für die Haltbarkeit des Rades und die Sicherheit des Fahrenden“, betont Heinrich Berger von Tricargo. Das gab letztlich auch den Ausschlag zur Entwicklung eigener Lastenräder, zuerst für den Eigenbedarf, aber natürlich mit dem Ziel, auch andere davon profitieren zu lassen. So entstand der sogenannte Lademeister als robustes Nutzfahrzeug, das zuverlässig tägliche Transportaufgaben erledigt. „Im Lademeister stecken mehr als 150.000 Kilometer Praxiserfahrung aus unserer Radlogistik“, erläutert Heinrich Berger. „Dort entwickelten und testeten wir den Lademeister für die Feinverteilung von Gütern auf der letzten Meile.“ Die Pedalkraft wird beim Lademeister mittels Pinion-Getriebe übersetzt und wirkt auf das rechte Hinterrad. Zusätzlich unterstützt ein 250-Watt- Elektromotor in der Vorderradnabe bis 25 km/h. Rechtlich ist das große zweispurige Rad damit ein Pedelec und dem Fahrrad gleichgestellt. Die Vorteile: Fahrer*innen benötigen keinen Führerschein und können überall dort fahren, wo auch einspurige Fahrräder gemäß StVO unterwegs sein dürfen. Auch das Parken auf dem Fußweg ist erlaubt. Die Geschwindigkeit reicht laut Heinrich Berger völlig aus, nur bei der zugelassenen Leistungsangabe, also der Watt-Zahl im Dauerbetrieb, würde er sich eine schnelle Änderung der EU-weit gültigen Regularien wünschen. „In Regionen wie Hamburg, Köln oder Bonn, wo sich unsere Räder im Einsatz befinden, kommen wir mit 250 Watt Motorunterstützung gut klar, aber wir müssen auch an Regionen mit anspruchsvolleren Topografien denken. Deshalb setzen wir uns, wie die Verbände, für die Anhebung der Leistungsgrenze ein.“

„In Regionen wie Hamburg, Köln oder Bonn kommen wir mit 250 Watt Motorunterstützung gut klar, aber wir müssen auch an Regionen mit anspruchsvolleren Topografien denken.“

Heinrich Berger, Tricargo

Profi-Lastenräder sind eine echte Alternative

Ansonsten habe man inzwischen ein sehr ausgereiftes Produkt, das sich in der harten täglichen Praxis bestens bewähre. Dafür sorgen beispielsweise ein hochstabiler Stahlrahmen, der in der Nähe von Osnabrück speziell für Tricargo gefertigt wird, sowie Räder und Scheibenbremsen aus der Motorradtechnik. Das ist wichtig, denn das zulässige Gesamtgewicht beträgt 425 kg, bei einer Nutzlast von 210 kg. Wer den Zustand der Radwege und die Vielzahl der Hindernisse wie Bordsteinkanten kennt, kann sich die Belastungen im Alltag gut vorstellen. „Auch wenn Profi-Lastenräder damit in der Anschaffung teurer werden, die hohe Qualität wirkt sich auf die Zuverlässigkeit, die Standzeiten der Komponenten und die Haltbarkeit der Räder insgesamt positiv aus“, sagt Heinrich Berger. Das mache sich vor allem mit Blick auf die Gesamtkosten, also die Total Cost of Ownership (TCO) der Lastenräder bemerkbar. Deshalb setzt Tricargo seit jeher unter anderem auch auf das Pinion-Getriebe. Als Launchpartner von Pinion nutzen die Hamburger erste Serienmodelle des neuen Lastenradgetriebes mit großer Begeisterung schon seit über 10.000 Kilometern. „Nicht die Idee des Lastenradtransports an sich macht den Erfolg und eine Revolution im Wirtschaftsverkehr möglich, sondern die Kombination hochleistungsfähiger Komponenten“, betont Berger. „Ich bin davon überzeugt, dass wir gerade einen Durchbruch erleben. Cargobikes mit neuer Technik sind eine echte Alternative, nicht irgendwann in der Zukunft, sondern jetzt.“

Neue Geschäftsmodelle und Chancen

Auch veränderte Kundenerwartungen und neue Geschäftsideen dürften den Markt künftig weiter befeuern. Zu den Abnehmern des Tricargo Lademeisters gehört beispielsweise das im Raum Köln/Bonn tätige wertegetriebene Unternehmen „Himmel un Ääd“ – analog zum rheinischen Gericht Äpfel (Himmel) und Kartoffeln (Ääd/ Erde). Das Geschäftsmodell ruht dabei auf zwei Säulen: Radlogistik und ein Onlineshop für regionale Lebensmittel, die mit dem Lastenrad ausgeliefert werden. Ein weiterer Kunde und gleichzeitig Multiplikator ist die Memo AG. Der Spezialist für nachhaltigen Öko-Bürobedarf mit über 20.000 Produkten im Sortiment legt Wert darauf, dass Bestellungen auf der letzten Meile mit E-Lastenrädern ausgeliefert werden, die ausschließlich Ökostrom als Energie nutzen und so komplett emissionsfrei unterwegs sind. Um das zu gewährleisten stellt das Unternehmen Radlogistikern entsprechend gebrandete Räder zur Verfügung.
Generell sind die Einsatzgebiete von Profi-Cargobikes enorm vielfältig. Aktuell sind sie nicht nur technisch ausgereift, sie passen auch in die Zeit und hervorragend zu wieder lebenswerten Städten und Quartieren. Entsprechende Verbesserungen bei der Infrastruktur vorausgesetzt, zum Beispiel mit mobilen oder stationären Sammelpunkten für Pakete, sogenannten Micro-Hubs/Mikro-Depots, breiten Radwegen und ausreichend großen Park- und Halteflächen, verschiedenen Push- und Pull-Faktoren und neuen gesetzlichen Regelungen könnte hier ein völlig neuer, klimafreundlicher Multimillionen-Markt entstehen. Technologietreiber sind aktuell vor allem kleine und mittelständische Unternehmen. Sie aktiv zu fördern und neuen Entwicklungen für den nachhaltigen Lastentransport keine unnötigen Steine, wie bei der Begrenzung der Motorkraft, in den Weg zu legen, sollte mit Blick auf die Herausforderungen der Zeit eine Selbstverständlichkeit sein. Besonders wichtig für die Zukunft ist laut Experten unter anderem, dass die rechtliche Gleichstellung von Schwerlasträdern bis zu einem Gewicht von 500 kg zum Fahrrad erhalten bleibt. Eine umfangreiche Stellungnahme zum Nationalen Radverkehrsplan 3.0 mit Wünschen an die Politik hat der Radlogistik Verband Deutschland e.V. (RLVD) vorgelegt (www.rlvd.bike/nrvp3punkt0).

Steckbrief Lademeister

Das Schwerlastrad Lademeister von Tricargo ist optimiert für den Transport von Europaletten und allen kompatiblen Kistenformaten. Er lässt sich ergonomisch be- und entladen – auch per Gabelstapler. Die effektive Nutzlast beträgt 210 kg und das zulässige Gesamtgewicht 425 kg, bei 140 kg Leergewicht inkl. Box. Die Reichweite beträgt in der Praxis 40 bis 60 km. Für die Energie sorgt ein Greenpack-Wechselakku mit 1.456 Wh und einer Ladezeit von vier Stunden. Der Vorderradnabenmotor unterstützt mit 250 Watt und verfügt über eine Anfahr- bzw. Schiebehilfe. Die hintere Scheibenbremsanlage sowie die Laufräder kommen aus dem Motorradbau. Die optionale Transportbox hat ein Volumen von 2,17 Kubikmetern, Ladefläche in der Box 1522 × 815 × 1520 mm (L × B × H). Weitere Konfigurationen sind optional verfügbar.

Informationen: www.lademeister.bike
Informationen zur Pinion-Schaltung: www.pinion.eu


Bilder: Tricargo, Wikimedia Commons

100.000 neue Fahrradstellplätze sollen bis 2022 mit Förderung des Bundesumweltministeriums im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative an Bahnhöfen entstehen. Warum es für Städte und Kommunen Sinn macht, jetzt in entsprechende Anlagen zu investieren, und wie sie schnell zu Ergebnissen kommen, dazu haben wir mit Jörg Suckow, geschäftsführender Gesellschafter von ORION Bausysteme, gesprochen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Geschäftsführer ORION Bausysteme, Jörg Suckow, bei der Demonstration des „Doppelstockparkers“ für das gemeinsame Projekt von DB und BMU „100.000 Fahrradstellplätze an Bahnhöfen bis 2022“

Herr Suckow, die ORION Bausysteme ist Partner der Deutschen Bahn beim Programm 100.000 Fahrradabstellplätze bis 2022. Welche Ziele verbinden sich mit dem Projekt?
An den meisten Bahnhöfen war es um das Angebot an geeigneten und vor allem ausreichenden Fahrradabstellplätzen nicht zum Besten bestellt. Obwohl ein Großteil der Fahrgäste der DB die Wegstrecke zum Bahnhof mit dem Fahrrad zurücklegt, fehlte es an funktionalen Fahrradabstellanlagen. Diebe und Vandalen hatten somit leichtes Spiel, ihr Unwesen an den schlecht gesicherten Rädern zu treiben. Durch das durch die DB und das Bundesumweltministerium initiierte Projekt findet nun im Umfeld vieler Bahnhöfe eine spürbare Aufwertung der Infrastruktur für Radfahrer statt.

Warum lohnt es sich für Kommunen generell, in Fahrradabstellanlagen zu investieren?
Das hohe Aufkommen des motorisierten Individualverkehrs ist in vielen Kommunen inzwischen zum Problem geworden. Politisch ambitioniert formulierte Ziele wie Klimaschutz, Nachhaltigkeit beim Ressourcenverbrauch und eine Verbesserung der Lebensqualität erfordern ein Umdenken und Umlenken. Im Hinblick auf die Umwidmung des für den motorisierten Individualverkehr bisher „reservierten Platzes“ bei der Aufteilung der Straßen zugunsten von sicheren Radfahr- und Fußgängerwegen.

Wie hoch ist der finanzielle und planerische Aufwand und welche Fördermittel gibt es?
Die an dem Projekt teilnehmenden Kommunen profitieren von hohen Zuschüssen. Der Bund steuert bis zu 70 % bei, sodass sich der Eigenanteil der Kommune auf bis zu 30 % reduziert. Die DB leistet ihren Beitrag in Form der Projektkoordination sowie durch kostenlose Überlassung der erforderlichen Fläche. Der planerische Aufwand für die Kommune ist abhängig von den vorgefundenen örtlichen Umständen. Als Hersteller mit über 40-jähriger Erfahrung im Bereich der Ausstattung von Flächen mit funktionalen Fahrradparksystemen unterstützt ORION Bausysteme den Kunden, um die jeweils beste Lösung zu finden.

Was sind Ihre Erfahrungen mit der bundesweiten Bike+Ride-Offensive?
Als ORION Bausysteme haben wir Ende 2019 den Zuschlag für das Gewerk „Fahrradparksysteme“ erhalten. Seitdem stehen wir in regem Kontakt mit der DB sowie interessierten Kommunen. Zur Ausführung kommen sowohl ebenerdige als auch doppelstöckige Abstellsysteme für Fahrräder. Beide Systeme bieten den Vorteil, in puncto „Platzverbrauch“ sehr effektiv für genügend Abstellkapazität zu sorgen. Das ist für die Kommunen oft von entscheidender Bedeutung, da Fläche in der Regel den restriktiven Faktor darstellt. Interessierte Kommunen sind über das gesamte Bundesgebiet verteilt.

Wie unterstützen Sie als Unternehmen zusammen mit der Deutschen Bahn Städte und Kommunen konkret bei der Umsetzung?
Wir beraten persönlich und erkennen dabei sehr schnell, welche Lösungen an welchem Standort zu favorisieren sind.

In den Niederlanden sieht man oft Doppelstockparker an Bahnhöfen und auch bei uns werden sie immer populärer. Welche Vorteile ergeben sich aus Ihrer Sicht?
Doppelstockparker bieten den Vorteil, dass man gegenüber klassischen, ebenerdigen Parksystemen auf vorhandener Fläche nahezu die doppelte Anzahl an Abstellplätzen für Fahrräder schaffen kann. Die Vorbehalte der angeblich erschwerten Bedienung relativieren sich mit etwas Übung sehr schnell! In manchen Systemen werden sogenannte „Gasdruckfedern“ als Hebehilfe integriert, was die erforderliche Muskelkraft deutlich reduziert. Doppelstöckige Fahrradparksysteme exportieren wir inzwischen in viele europäische Länder, was deren praktische Akzeptanz bestätigt. Beim Begehen von Fahrradstationen in Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz, Österreich usw. stellt man fest, dass die oberen genau wie die unteren Einstellungen vorbehaltlos genutzt werden.

„Im Schnitt vergehen vom Abruf bis zur Montage ca. vier bis sechs Wochen.“

Jörg Suckow, Geschäftsführer ORION Bausysteme
Praktisch und platzsparend: Auch die oberen Einstellungen werden vorbehaltlos genutzt.

Nach Ihrer praktischen Erfahrung: Wie lange dauerte es von den ersten Plänen bis zur Fertigstellung einer Fahrradabstellanlage?
Hierzu gibt es klare vertragliche Grundlagen mit der DB. Als Hersteller mit Ausrichtung auf industrielle Serienfertigung sind wir in der Lage, die durchaus „sportlichen“ Anforderungen der DB sowie der Kunden zu realisieren. Im Schnitt vergehen vom Abruf bis zur Montage ca. vier bis sechs Wochen, wobei der Zeitbedarf eher die kundenseitige Abwicklung bei der Umsetzung der vorzubereitenden Arbeiten widerspiegelt.

Was sollte noch besser werden im Hinblick auf die aktuellen und künftigen Herausforderungen mit Blick auf Fahrradparken und allgemein die Mobilitätswende?
Um Städte, aber auch Ortschaften dabei zu unterstützen, den Verkehr klimafreundlicher zu gestalten, müssten den Ankündigungen der Politik auch Taten folgen. In vielen ländlichen Regionen ist der ÖPNV unterentwickelt, die Fahrradinfrastruktur häufig ein Stiefkind, sodass für Wegstrecken, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden könnten, das Auto genommen wird. In größeren Städten ist zwar der ÖPNV besser getaktet, im Hinblick auf die Infrastruktur für Radfahrer gibt es aber große Unterschiede. Best-Practice-Beispiele findet man zum Beispiel in Karlsruhe, Freiburg und Münster. Auch Frankfurt und Berlin entwickeln Ambitionen und zeigen Erfolge. Trotzdem: Es bleibt noch viel zu tun.

To-dos für die Kommunen

Die Deutsche Bahn bietet im Rahmen der Bike+Ride-Offensive umfangreiche Hilfe bei der Projektrealisierung. Informationen unter www1.deutschebahn.com/bikeandride/Realisierungen


Folgende To-dos liegen demnach bei den Städten und Kommunen:

  • Projektregistrierung über die Bike+Ride-Website
  • Rechtzeitige Einplanung der Eigenmittel/Finanzierungsmöglichkeiten im Haushaltsplan
  • Teilnahme an einer Bahnhofsbegehung (virtuell/vor Ort)
  • Freigabe des Prüfkonzepts zur Übergabe an DB Immobilien
  • Freigabe des Feinkonzepts mittels rechtskräftiger Flächenauswahl
  • Ggf. Unterzeichnung des Bike+Ride-Standard-Gestattungsvertrages
  • Ggf. Einreichung des Förderantrages über das Easy-Online-Portal
  • Ggf. Flächenherrichtung und Bestellung der Anlagentypen
  • Baustellenbeschilderung
    (Ankündigung des Vorhabens/Schrotträderbeseitigung)
  • Betrieb der Anlage unter Einhaltung der Mindeststandards
  • Einhaltung vorliegender Gestattungs- und Förderbedingungen

Über die ORION Bausysteme GmbH

ORION Bausysteme mit Sitz in 64584 Biebesheim bietet dem Kunden eine Komplettleistung aus einer Hand: Planung, Konstruktion, Herstellung, Lieferung und Montage. Im Jahr 1980 gegründet, gehört das Unternehmen seit über 40 Jahren zu den führenden Herstellern im Bereich funktionaler Fahrradparksysteme und Überdachungen sowie Stadtmobiliar. Im Jahr 1996 wurde am Standort Neustadt/Sachsen, in der Nähe von Dresden, das Unternehmen ORION Stadtmöblierung GmbH gegründet. Beide Firmen zusammen bilden seitdem einen erfolgreichen Verbund, begleitet von kontinuierlichem Wachstum. Die Belegschaft umfasst 80 Mitarbeiter.


Bilder: ORION Bausysteme

Wie entwickelt sich der Markt für Fahrräder, E-Bikes und Mikromobilität? In Publikumsmedien ist von einem regelrechten Run auf Fahrradläden die Rede. Ein genauerer Blick auf die Zahlen bringt neue Einsichten und einige Überraschungen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Während in der Pandemiezeit die Nutzung von ÖPNV und Bahn eingebrochen ist, verzeichnet die Fahrradindustrie einen regelrechten Run auf die Produkte. Nicht nur in Deutschland und Europa, auch weltweit zog der Markt sprunghaft an. Die nicht absehbare rapide Nachfragesteigerung und viele weitere Faktoren, wie aktuell die weltweite Knappheit an Frachtkapazitäten und Containern stellt die Branche jedoch vor enorme Herausforderungen. „Shutdowns, gestörten Lieferketten, Ladenschließungen, Hygieneauflagen und eine beispiellose Nachfrage bestimmten das Marktgeschehen“, so heißt es vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) der im April die Zahlen für 2020 vorlegte. Dazu wird in Expertengesprächen auch immer wieder die Frage diskutiert, ob und wie lange der Trend anhält und wann ein Abflauen der Nachfrage einsetzen könnte. Für die von kleinen und mittelständischen Unternehmen geprägte Industrie, die ohnehin mit saisonalen Produkten, schnellen Modellwechseln und fortwährender Personalknappheit zu kämpfen hat und sich hohe Lagerbestände beziehungsweise ein Produzieren auf Halde nicht leisten kann, ist das trotz der momentanen Freude am wirtschaftlichen Erfolg langfristig ein Problem.

17 %

Echter Fahrradboom nach
langer Stagnation.
Rund 17 % Zuwachs in 2020.

Um 180 Grad gedreht: Bei Cargo- und Mountainbikes dominieren heute klar motorunterstützte Modelle. Zudem befeuert der Motor das Wachstum.

Markt in Deutschland

2020 wurden in Deutschland mehr als 5 Millionen Fahrräder verkauft. Davon waren 1,95 Millionen, also mehr als ein Drittel (38,7 Prozent) mit einem Motor bestückt. Damit wurden im letzten Jahr 43,4 Prozent mehr E-Bikes verkauft als 2019. Im Vergleich zum Jahr 2018 haben sich die E-Bike-Absatzzahlen damit verdoppelt. Positiv im Hinblick auf die Aspekte Sicherheit und Nachhaltigkeit ist, dass Fahrräder und E-Bikes laut ZIV hierzulande in immer höherer Güte und Ausstattung gekauft werden. Auffällig bei der Betrachtung ist vor allem, dass nach langer Stagnation bei den Gesamtstückzahlen, die den vielfach beschworenen Fahrradboom de facto konterkarierten, der Gesamtabsatz mit einem Plus von 16,9 Prozent auf 5,04 Millionen Einheiten deutlich zulegte. In der Relation ist das ein sehr gutes Ergebnis, allerdings immer noch nicht überragend, denn im Jahr 2000 lag die Zahl mit 5,12 Millionen verkauften Einheiten bereits knapp darüber. Nicht vom Wachstumstrend profitieren konnten Fahrräder ohne Motorunterstützung in den Bereichen Mountainbike (MTB), Holland-, Touren- und Lastenrad. Ebenfalls unverändert zum Vorjahr zeigte sich auch der Absatz von Kinderrädern.

Genauer Blick auf Pedelecs lohnt

Vor allem die Zahlen im Mountainbike-Sektor und bei Lastenrädern zeigen klar, dass es sich lohnt, beim Thema E-Bike/Pedelecs genau hinzuschauen und eine neue Perspektive einzunehmen. Pedelecs, so die bis vor wenigen Jahren weitverbreitete Meinung, sind vor allem etwas für Ältere oder weniger sportliche Menschen. Die dazugehörigen Bilder aus den Anfangszeiten haben sicher alle noch im Kopf. Aber mit der Realität der Verkaufszahlen und den Nutzergruppen haben sie längst nichts mehr zu tun. So hat sich das Verhältnis im Mountainbike-Sektor zwischen E-Bikern und „normalen“ MTBlern längst um 180 Grad gedreht. Erstmals stellten im Jahr 2019 E-MTBs das Gros der verkauften Mountainbikes mit 360.400 während die sogenannten Biobikes nur auf 215.500 kamen (Gesamt: 575.900). Im vergangenen Jahr hat dieser Trend den Markt hierzulande noch einmal drastisch verändert und die Gattung Mountainbike zudem insgesamt deutlich populärer gemacht: Allein 585.000 E-MTBs wurden 2020 verkauft. Das ist mehr als der Gesamtmarkt 2019. Dazu kommen nochmals 151.200 Bio-MTBs, was in Summe eine Stückzahl von 736.200, also ein Plus von mehr als 25 Prozent macht. Eine ganz ähnliche Entwicklung zeigt sich bei Lastenrädern: Über 100.000 Cargobikes wurden 2020 verkauft, davon rund drei Viertel (78.000) mit Motorunterstützung. Zum Vergleich: 2019 betrug die Gesamtsumme der verkauften Lastenräder 76.000. Also auch hier nicht nur ein Boom bei den motorunterstützten Bikes, sondern auch insgesamt eine Steigerung um satte 25 Prozent. Die Motorunterstützung sorgt also für neue Attraktivität und neue Optionen in der Nutzung und wird, analog zu Produktinnovationen in anderen Bereichen, in den verschiedensten Ausprägungen vielfach zum neuen Standard. Insofern macht es fachlich künftig wohl wenig Sinn, wie früher, generalisierend von Pedelec-Fahrer*innen zu sprechen und sie damit als eine mehr oder minder homogene Gruppe mit besonderen Eigenschaften und Risiken zu beschreiben.

„Ein E-Trotti hat 0,7 PS und wiegt 0,015 Tonnen – der ideale Protagonist der Smart City der Zukunft.“

Professor Thomas Sauter-Servaes, Mobilitätsforscher und Leiter des Züricher ZHAW-Studiengangs Verkehrssysteme

S-Pedelec-Absatz bleibt weit hinter den Möglichkeiten

Deutlich hinter den eigentlichen Möglichkeiten zurück blieben in Deutschland die Absatzzahlen bei schnellen E-Bike 45/S-Pedelecs. Obwohl sie für Langstreckenpendler eine ideale umweltfreundliche und gesunde Autoalternative sind, werden sie im Gegensatz zu unseren Nachbarn in Belgien, den Niederlanden und der Schweiz bislang weiter ausgegrenzt. Bei den Verkaufszahlen spielen sie hierzulande nach wie vor nur eine verschwindend kleine Rolle. 9.800 Stück verzeichnete der ZIV für 2020 und damit eine Steigerung von immerhin 35 Prozent zu 2019 (6.800 Stk.). Branchenkenner schätzen die Zahl allerdings als zu hoch gegriffen ein. Die Bundesregierung denkt laut Nationalem Radverkehrsplan 3.0 zwar offiziell darüber nach, ob S-Pedelecs außerorts nicht auch auf Radwegen fahren dürfen und damit rechtlich nicht auf die für sie hochgefährliche Bundesstraße gezwungen werden, im Live-Interview ließ Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer allerdings durchblicken, dass er von einer gemeinsamen Wegbenutzung nichts halte. Die Unterschiede bei den Geschwindigkeiten seien einfach zu groß. Kann man das so stehen lassen? Wohl kaum. Eine Ad-hoc-Umfrage in einem S-Pedelec-Forum ergibt, dass die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit bei den meisten Nutzern zwischen 30 und 35 km/h liegt. Der Motor unterstützt bei einem Pedelec bis 25 km/h – plus zugelassener Toleranz kommt man auf 27 km/h. Macht einen Nettounterschied von 3 bis 8 km/h. Nutzer haben der Umfrage zufolge keine gefährlichen Situationen auf Radwegen, berichten aber von massiven Problemen auf Landstraßen mit Autos und Lkw mit 70 bis 100 km/h, wo sie ja eigentlich fahren sollten. Zur Relation: Mercedes-AMG arbeitet gerade an einem sogenannten Hypercar mit Straßenzulassung und kombiniert dafür einen V6-Motor mit einem Elektroantrieb. 1.000 PS, 350 km/h Spitzengeschwindigkeit, Beschleunigung von 0 auf 200 in 6 Sekunden. Auf der Autobahn ebenso legal wie in der Tempo-30-Zone oder in der Spielstraße.

Radlogistik Verband legt erstmals Zahlen vor

Der Radlogistik Verband Deutschland (RLVD) hat in diesem Jahr zum ersten Mal die Situation der Branche systematisch erfasst. Demnach erwirtschafteten ca. 100 kleine und mittelständische Unternehmen mit 2.600 Beschäftigten 2020 rund 76 Millionen Euro Umsatz. Positiv: Bei mehr als 1,6 Millionen Kilometer zurückgelegter Wege per Lastenrad in 2020 sei kein Unfall mit schweren Folgen an Menschen entstanden. Die Branche steckt aktuell noch in den Kinderschuhen, aber die Aussichten sind laut RLVD sehr gut. „Damit wir jedoch das Potenzial für saubere Städte besser ausschöpfen können, braucht es mehr Anstrengungen der Politik, Lastenräder und Logistik per Lastenrad zu fördern“, betont RLVD-Vorstand Martin Schmidt. Der Verband spricht sich unter anderem für einen zügigen Ausbau der Radinfrastruktur, mehr Aktivitäten von Kommunen zur Planung urbaner Logistik und eine Förderpolitik in ähnlicher Höhe wie bei E-Pkw aus.

Revolution in Frankreich: E-Tretroller (franz. „Trottinettes Électriques“) werden gern geliehen und gekauft und überholen bei den Absatzzahlen sogar E-Bikes.

Boom in Frankreich: E-Tretroller überholen E-Bike-Verkäufe

Wer sich aktuelle Bilder aus den Städten Frankreichs anschaut, ist verblüfft. Neben Fahrrädern und E-Bikes mischt sich inzwischen eine große Zahl von E-Tretrollern („Trottinettes Électriques“) in den Verkehr. Das Wachstum kommt dabei längst nicht mehr nur durch die Verleihflotten. Immer mehr Menschen entdecken nach der Probierphase E-Scooter als ständige Begleiter für sich. Eine Untersuchung des französischen Fachverbands für Mikromobilität FP2M zeigt die weite Verbreitung und rasant steigende Absatzzahlen. Demnach gibt es nach nur wenigen Jahren bereits mehr als zwei Millionen Nutzer in Frankreich. Der E-Scooter sei das zweite Jahr in Folge das bevorzugte Mittel für elektrische urbane Mobilität, noch vor E-Bikes, so die Studie. 640.000 Einheiten wurden im Jahr 2020 verkauft. Verglichen mit 478.000 Stück im Jahr 2019 entspricht das einer Steigerung von 34 Prozent. Der Umsatz wuchs im gleichen Zeitraum um 8,3 Prozent und erreichte 206,6 Millionen Euro. Das zeigt klar, dass die Durchschnittspreise gesunken sind. Gute Scooter liegen heute zwischen 350 und 800 Euro und sind damit deutlich günstiger als E-Bikes. Zum Markterfolg tragen die niedrigen Anschaffungs- und Unterhaltskosten wohl ebenso bei wie der hohe praktische Nutzen auf der Kurzstrecke, als flexibler Zubringer zu Bus, Bahn oder dem nächsten Carsharing-Auto und nicht zuletzt das gute Image. „Schnittig und emotional“, so charakterisiert Professor Thomas Sauter-Servaes, Mobilitätsforscher und Leiter des Züricher ZHAW-Studiengangs Verkehrssysteme die hier unter dem Namen „E-Trottis“ bekannten Scooter. „Sie beschleunigen rasant, sind einfach zugänglich und mit dem Elektroantrieb schön bequem“. Die „manchmal nicht ganz regelkonforme Verwendung“ verweise auf eine Art „Robin-Hood-Gefühl“, das die Scooter vielfach vermittelten. Thomas Sauter-Servaes empfiehlt Kommunen und insbesondere Anbietern im öffentlichen Verkehr, die Mikromobilität zu umarmen. Ideal seien Verbundtickets zur nahtlosen Nutzung von Sharing-Angeboten und verkehrspolitische Weichenstellungen, die den nötigen Platz schaffen. „Ein E-Trotti hat 0,7 PS und wiegt 0,015 Tonnen – der ideale Protagonist der Smart City der Zukunft.“


Bilder: Eurobike, Haibike – pd-f, Segway Ninebot, stock.adobe.com – HJBC

Elektromotoren und vor allem leistungsfähige Akkus haben eine kaum überschaubare Vielfalt kleiner und umweltfreundlicher Verkehrsmittel und Mobilitätshilfen hervorgebracht, und ständig kommen weitere hinzu. Um diese sichtbar und erlebbar zu machen und die Mobilitätswende voranzubringen, plädieren unsere Gastautoren Dipl.-Ing. Konrad Otto-Zimmermann (The Urban Idea) und der Verkehrsplaner Prof. Dr. Oliver Schwedes für ein „EcoMobileum“ als neue Erlebniswelt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Die Verkehrsplanung und die Fachdiskussion unterscheiden üblicherweise zwischen Fußgängerverkehr (Fuß), Radverkehr (Rad), motorisiertem Individualverkehr oder auch Pkw (MIV/Pkw) und dem öffentlichen Verkehr (ÖV). Rad wird dabei auf das Fahrrad beschränkt, das Pedelec eingeschlossen. Zwischen dem Fußverkehr einerseits und dem Pkw bzw. Öffis andererseits gibt es aber wesentlich mehr Bewegungsmittel als nur Fahrräder. Zum einen gibt es eine wahre Räderwelt: Bewegungsmittel mit ein, zwei, drei, vier oder mehr Rädern; mit ein, zwei oder mehr Sitzen; zur Eigenbeförderung oder zum Personen- und Gütertransport. Zum anderen gibt es Schnee-, Schwimm- und Flugzeuge. Es gibt muskelkraftbetriebene „Human Powered Vehicles“ (HPV) und solche mit Elektroantrieb sowie wenige mit Brennstoffzelle. Unsere Datenbank erfasst bereits über 700 verschiedene Typen solcher Bewegungsmittel.
Diese Verkehrsmittel „zwischen Schuh und Auto“ zeichnen sich durch ein menschliches Maß aus und setzen sich damit von den heute noch den öffentlichen Stadtraum dominierenden, immer größeren Fahrzeugen ab. Im Kontrast zu den groben, schweren, bis hin zu kolossalen, dickwanstigen „Boliden“, lassen sich die Bewegungsmittel mit menschlichem Maß als „fein“ charakterisieren, gemäß Duden also als angenehm, vorzüglich, hochwertig, leise, von zarter Beschaffenheit, erfreulich und lobenswert. Die Fahrzeuge im Spektrum „zwischen Schuh und Auto“ bezeichnen wir hier daher mit dem Arbeitsbegriff „Feinverkehrsmittel“. In der Feinmobilität sehen wir einen beträchtlichen Beitrag zur Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschonung sowie zur Entlastung der Stadträume, zur Steigerung der städtischen Lebensqualität – und damit zur Mobilitätswende. Das Potenzial dieser Fahrzeuge bleibt, mit Ausnahme des Fahrrades und dank des Hypes im Jahr 2019 des Elektrotretrollers, in der vorherrschenden Diskussion weitgehend unberücksichtigt (siehe Kasten).

Reality Parcours zum Ausprobieren von Fahrzeugen der Feinmobilität unter realitätsnahen städtischen Bedingungen.

Bedarf an Exposition

Wir haben festgestellt: Viele kleine, umweltfreundliche Verkehrsmittel und Mobilitätshilfen existieren, sind aber nicht verfügbar. Das heißt, sie sind auf dem Markt, aber zumeist nicht bekannt, nicht auf den Straßen zu sehen und nicht im örtlichen Handel erhältlich. Welche Hemmnisse gibt es?

Hemmnis 1: Branchenstruktur. Der Markt der Fahrzeuge und Mobilitätshilfen ist stark segmentiert durch eine starre Branchenstruktur: Fahrradhandel, Motorradhandel, Industrielogistik, Sanitätshäuser, Sportbedarf, Eltern & Kind, Spielwaren, Elektromobile. Eine Branche „Feinmobilität“ fehlt. Es gibt keine „Mobilitätsläden“. Das erschwert sowohl interessierten Bürgern den Zugang zu umweltfreundlichen Alternativen zum Automobil, als auch den Herstellern den Zugang zur interessierten Kundschaft. Etliche interessante Fahrzeuge aus der Industrielogistik werden nur Business-to-Business vertrieben und sind für den Normalbürger nicht erhältlich. Fahrzeuge wie Mobility Scooter, die eine flotte Fortbewegung im städtischen Raum ermöglichen, werden bislang fast nur als Seniorenmobile über den Sanitätshandel vertrieben und leiden damit unter einer entsprechenden Stigmatisierung.

Hemmnis 2: Marktzugang für innovative Bewegungsmittel. Die meisten der Feinverkehrsmittel werden von kleinen und mittleren Unternehmen hergestellt. Diese Unternehmen haben oft keinen breiten Marktzugang. Viele neue, innovative Produkte passen nicht in das o.g. Branchen-schema, und Entwickler wie auch Start-ups finden keinen adäquaten Platz in der Branchen- und Vertriebsstruktur und damit keinen ausreichenden Zugang zu potenziellen Kunden.

Hemmnis 3: Klassifikationen und Nomenklatur. Das „feine“ Segment städtischer Mobilität – diejenige mit Fahrzeugen zwischen Schuh und Auto – leidet an fehlender einheitlicher Nomenklatur und Klassifikation. Zahlreiche Fahrzeuge, darunter viele innovative Neuentwicklungen, haben keine generische Typenbezeichnung. Beispielsweise werden viele von ihnen „E-Scooter“ genannt, eine Bezeichnung, die kaum eine Unterscheidbarkeit verleiht, weil sie Elektro-Motorroller ebenso umfasst wie Seniorenmobile, Dreirad-Stehmobile und Zweirad-Tretroller. Beispielsweise werden drei- oder vierrädrige Elektro-Fahrsessel mal als Elektromobile, mal als Mobility Scooter, mal als Seniorenmobil bezeichnet. Mit bauartbedingter Begrenzung auf 15 km/h gelten sie als Krankenfahrstühle, wenn sie die Höchstgeschwindigkeit von 45 km/h ausreizen, als vierrädrige Leichtkraftfahrzeuge bzw. als Kleinst-Pkw.

Wertvoll: draußen unterwegs sein, auch mit Handicap. Viele umweltfreundliche Verkehrsmittel und Mobilitätshilfen sind verfügbar, aber kaum sichtbar.

Erfahrung ermöglichen: Campus für nachhaltige Mobilität

Ideen für den Wandel städtischer Mobilität gibt es inzwischen viele – es gibt jedoch keinen Ort, an dem die Mobilität der Zukunft in ihrer Diversität schon jetzt erlebt werden kann. Es gibt eine nahezu stufenlose Palette von „feinen“ Fahrzeugen und Mobilitätshilfen, die eine zügige, „ökomobile“ Fortbewegung von Menschen und den Transport von Gütern in urbanen Bereichen ermöglichen. Zusammen mit Zufußgehen und öffentlichen Verkehrsmitteln im Umweltverbund erlaubt ihre Nutzung einen Stadtverkehr, der emissionsarm, energiesparend und sicherer ist, die Straßenräume entlastet und es erlaubt, Straßenflächen an die Menschen für soziale Aktivitäten zurückzugeben.
Soll ein Durchbruch hierhin erfolgen, so ist es nötig, die Welt der Feinmobilität ans Tageslicht zu bringen, die Branchengrenzen aufzubrechen und Orte zu schaffen, an denen die breite Palette existierender sowie ganz neu entwickelter Verkehrsmittel und Mobilitätshilfen für Menschen aller Altersgruppen und physischen Befindlichkeiten verfügbar wird. Wir möchten allen Stadtbewohnern Gelegenheiten geben, nachhaltige Mobilität mit Feinmobilen selbst erfahren zu können. Unter dem Arbeitstitel „EcoMobileum“ konzipieren wir daher eine Erlebniswelt für nachhaltige städtische Mobilität der Zukunft. Dem Automobil sind in Wolfsburg, Stuttgart, Ingolstadt und München Tempel gewidmet. Diesen soll nun ein Campus für nachhaltige Mobilität entgegengesetzt werden.
Ein wesentliches methodisches Merkmal des Ausstellungskonzepts ist es, die Grenzen zwischen den Marktsegmenten bzw. Branchen Fahrrad, Spezialrad, motorisiertes Zweirad, Elektromobile, Eltern & Kind, Sportartikel, Spielzeug, Sanitätsartikel, Industrielogistik u.a. aufzuheben. Idealerweise wird jeder Typ von Bewegungsmittel mit zumindest einem prototypischen Exemplar präsent sein – wenn nicht in Ausstellung und Ausfahrung, so doch im Schaulager.
Die Angebote und die Attraktion des EcoMobileum werden Hunderttausende von Besuchern von nah und fern anziehen. Die Besucher werden dazu angeregt, sich mit der praktischen Seite der Mobilitätswende auseinanderzusetzen: Warum sollte ich mein Mobilitätsverhalten ändern? Welche nachhaltigen Mobilitätsoptionen bieten sich mir? Wie kann ich meine Mobilitätsbedarfe und Transportzwecke mit Verkehrsmitteln und Mobilitätshilfen „mit menschlichem Maß“ erfüllen? Welche feinmobilen Gefährte gibt es dafür?
Wir positionieren unsere Einrichtung als zukunftsorientierte Erlebniswelt für nachhaltige städtische Mobilität im Gegensatz zu einem Verkehrsmuseum mit hohem Anteil von Rückwärtsgewandtheit oder einem Informationszentrum für rein kognitives Lernen. Die Erlebniswelt soll als Katalysator für die persönliche Mobilitätswende wirken, die zur Unterstützung des Gesundheits-, Klima- und Umweltschutzes und zur Rückgewinnung öffentlicher Stadträume für die Menschen notwendig ist. Im politischen Diskurs, auf dem Markt und unter den Erlebnisorten wird die Erlebniswelt eine Nische mit hohem Potenzial füllen.

Zum Konzept

Die Einrichtung soll in ihrem Angebot und Betrieb dynamisch sein, immer aktuelle Themen aufgreifen und die neuesten Produkte präsentieren. Anders als in traditionellen Museen werden die Besucher der Ausstellung dazu ermuntert, die Exponate anzufassen, sich draufzusetzen beziehungsweise einzusteigen und zu testen.
Thematisch wird die Erlebniswelt fokussiert auf:

  • Nachhaltigkeit, Gesundheitsschutz, Umwelt- und Klimaschonung
  • Eine ständige Ausstellung informiert über Kriterien der Nachhaltigkeit (bezogen auf den gesamten Lebenszyklus der Verkehrsmittel und ihrer Infrastrukturen) und legt es Besuchern nahe, die Nachhaltigkeitsmerkmale verschiedener Mobilitätsoptionen und Verkehrsmittel durch Exponate, Informationsterminals, interaktive Lernspiele und Probefahrten zu erfahren, zu verstehen und zu vergleichen.
  • Urbane Räume (Stadt)
  • „Straßenräume für alle“ werden gezeigt; wie kann Feinmobilität die Inanspruchnahme der Straßenräume durch Verkehr minimieren, um den sozialen und kulturellen Funktionen Raum zu geben? Zur Fokussierung werden Fernverkehre und internationaler Waren- und Reiseverkehr ausgeblendet.
  • Abrüstung im Stadtverkehr
  • Ausstellung und Ausfahrung bringen den Besuchern die Welt der feinen Bewegungsmittel nahe.

Format der Erlebniswelt

Das Format unserer Erlebniswelt ist innovativ und einzigartig. Umfangreiche Recherchen und Expertenbefragungen unterstützen unsere Annahme, dass es eine solche Erlebniswelt für nachhaltige städtische Mobilität noch nirgendwo auf der Welt gibt. Wir schaffen einen Ort, an dem die Besucher dazu eingeladen sind, nicht nur in der Ausstellung kognitiv zu lernen, sondern sich vor allem auch durch spaßvolle Fahrerlebnisse für Mobilität zwischen Schuh und Auto zu begeistern und Verhaltensbereitschaften zugunsten der Mobilitätswende zu ändern. Deshalb umfasst die Erlebniswelt eine charakteristische Kombination von fünf Komponenten:

Ausstellung:
  • Fahrzeuge und Mobilitätshilfen
  • interaktive Lernstrecken zu aktuellen Themen der Mobilitäts- und Verkehrsdiskussion
  • unter den Aspekten städtische Lebensqualität, Gesundheit, Klimaschutz
Ausfahrung:
  • verschiedene Parcours, indoor und outdoor, für realitätsnahe Fahrerlebnisse
  • unterschiedlichste Fahrzeuge und Mobilitätshilfen zum Ausprobieren
Animation & Aktionen
  • Besucheranimation auf Veranstaltungsflächen und Parcours
  • zielgruppenspezifische, thematische bzw. saisonale Aktionen
Akademie
  • Dokumentation (Bibliothek, Datenbank)
  • Studien (Arbeitsplätze für Masterstudierende und Doktoranden)
  • Information und Austausch (Vortragsveranstaltungen, Workshops, Kolloquien, Fachtagungen)
Einzigartiges Cuvet: Das Beste von Allem

Die Erlebniswelt vereinigt die besten Charakteristika von verschiedenen vorhandenen Einrichtungsarten:

  • Kognitive Lernerfahrungen vermitteln wir durch interaktive Stationen, die wir aus Science Centers und Technikmuseen kennen und durch Lernstrecken entsprechend moderner Ausstellungsgestaltung.
  • Produkte und Marken präsentieren wir basierend auf unserer Analyse wirksamer Präsentationen in Fahrzeugmuseen, Messeauftritten und Showrooms.
  • Die Vorführung von Fahrzeugen folgt Mustern beliebter und erfolgreicher Fahrzeugparaden.
  • Wir bieten Rennspaß nach Beispielen gelungener Kindermotorparks und Kartbahnen.
  • Wir faszinieren Besucher durch Attraktionen, die Spiel und Spaß bringen nach Vorbildern guter Freizeitparks.
  • Produktentwicklern, die ihren Prototyp oder ihr Vorserienfahrzeug einem breiteren Nutzertest durch Hunderte bzw. Tausende von Besuchern unterziehen möchten, kann ein Testpaket angeboten werden. Sie bringen ihr Fahrzeug, wir bringen die Besucher als Testnutzer. Faszinierend für die Besucher: sie können ein Fahrzeug erleben, das es noch gar nicht auf dem Markt gibt.
Die vernachlässigte Komponente der Mobilitätswende:

Größe und Gewicht

Durchweg ist die Frage zu kurz gekommen, welche Fahrzeuge denn geteilt, klimaschonend angetrieben und digitalisiert werden sollen: Fahrzeuge mit menschlichem Maß oder massive Gebilde? Leichte, feine Fahrzeuge oder monströse Panzerwagen? Damit rufen wir ein neues Themenbündel auf: den Übergang von Kolossalmobilität auf Feinmobilität, von Schwerfahrzeugen auf Leichtfahrzeuge im Stadtverkehr. Warum Feinmobilität? Nüchterne, vernünftige Betrachtung gebietet es, das ökonomische und ökologische Prinzip im Verkehr anzuwenden.

  • Ökonomische Mobilität bedeutet die Erfüllung des Mobilitäts- und Transportbedarfs mit den leichtesten, bezogen auf Raum- und Flächenbedarf kleinsten, energiesparendsten, kostensparendsten (einschl. soziale und Folgekosten) Verkehrsmitteln.
  • Ökologische Mobilität bedeutet die Erfüllung des Mobilitäts- und Transportbedarfs mit den Verkehrsmitteln mit dem geringsten Schadstoffausstoß, dem geringsten Raum- und Flächenbedarf, der geringsten Lärmemission, dem geringsten Ressourcenverbrauch und Abfallanfall über den gesamten Lebenszyklus.

Solche Öko-Mobilität erfordert eine Ausrichtung der Fahrzeuggrößen auf das menschliche Maß und stellt Feinmobile in den Fokus.

Auf den Standort kommt es an

Das Projekt des EcoMobileums als Erlebniswelt für nachhaltige Mobilitätskultur ist ausgereift, machbar und erhält von vielen Seiten Anerkennung. Es wird die erste Einrichtung mit diesem Profil sein. Es verdient einen Standort, an dem die politische Führung das EcoMobileum nicht nur als Tourismus-Attraktion und Besuchermagnet betrachtet, sondern als Katalysator für die persönliche Mobilitätswende der Bürger zur Flankierung der Verkehrswende.

Machbarkeitsstudie erfolgt

Diesem (gekürzten) Artikel liegt eine Machbarkeitsstudie für eine Erlebniswelt zugrunde, die das Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung der TU Berlin und das Freiburger Kreativstudio The Urban Idea mit Förderung durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt erstellt haben (https://www.ivp.tu-berlin.de/AB_Machbarkeitsstudie). Diese Arbeit wurde durch einen wissenschaftlichen Beirat begleitet, dem renommierte Repräsentanten der Zukunfts-, Nachhaltigkeits-, Mobilitäts- und Verkehrswissenschaft, des Freizeit- und Ausstellungswesens sowie des Stiftungswesens angehörten. „EcoMobileum“ ist eine eingetragene Marke von The Urban Idea GmbH.

Zu den Autoren:

Dipl.-Ing., Mag.rer.publ. Konrad Otto-Zimmermann

ist ehemaliger Generalsekretär des Weltstädteverbandes für nachhaltige Entwicklung, ICLEI und Kreativdirektor bei The Urban Idea in Freiburg.


konrad@theurbanidea.com

Prof. Dr. Oliver Schwedes

leitet die Fachgebiete Integrierte Verkehrsplanung, Fakultät für Verkehr und Maschinensysteme an der Technischen Universität Berlin.


oliver.schwedes@tu-berlin.de


Bilder: The Urban Idea 2020, Hase Bikes, HP Velotechnik – pd-f, CityQ, Riese & Müller, pd-f, Kyburz

Die gebürtige Amerikanerin Meredith Glaser beschäftigt sich beim Urban Cycling Institute der Universität Amsterdam mit den Schwerpunkten Collective und Social Learning. Dabei befasst sie sich vor allem mit der Transformation von Städten. Unter anderem im Rahmen des „Handshake“-Programms (handshakecycling.eu) zum Austausch von Erfahrungen, an dem 13 europäische Metropolen teilnehmen, darunter Kopenhagen, Amsterdam und München. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Frau Glaser, wo sehen Sie die Kernprobleme des heutigen Stadtverkehrs und was muss sich aus Ihrer Sicht ändern?
Wir fassen das Thema Verkehr als Transport-Engineering-Problem auf. Es geht um Zeit, nicht um Wert. Das Ziel ist, Zeit zu sparen und mögliche Verspätungen zu reduzieren. Das schlägt sich im Design der Straßen nieder und den Regeln, die hier gelten. Die Gesetze und Richtlinien, denen Verkehrsplaner folgen, sind aber schon rund hundert Jahre alt. Wichtig ist, sich bewusst zu machen, dass sich seitdem eine Menge verändert hat, in der Gesellschaft, bei Innovationen und Technologien. Vor allem die Art, wie wir unsere Städte heute nutzen, hat sich stark verändert.

Welche Anforderungen gibt es heute mit Blick auf die Städte und Straßen?
Wir sehen heute einen bunten Mix: Die Menschen wollen in der Stadt wohnen und leben, nah bei anderen Menschen. Wichtig ist auch die Nähe zu Aktivitätsmöglichkeiten und Annehmlichkeiten wie Kultur, Restaurants, Cafés – und natürlich die Nähe zu den Arbeitsplätzen. All das hat für Stadtbewohner*innen heute Priorität. Aber unsere Straßen werden immer noch so gedacht und durch die gleichen Regeln und Paradigmen bestimmt, wie vor hundert Jahren. Sie haben sich nicht weiterentwickelt, sondern versuchen, all diese neuen Anwendungen und Qualitäten mit unterzubringen. Wenn wir Straßen als Technologie sehen, dann wäre das vielleicht so, als würden wir versuchen, eine Floppy Disk in ein iPhone 12 einzulegen. Es funktioniert einfach nicht.

Was hat sich inzwischen technologisch verändert und wo gibt es Probleme?
Es gibt große gesellschaftliche Veränderungen und auch viele technische Innovationen. Neben Fahrrädern und E-Bikes die Mikromobilität, die Sharing Economy und Mobility as a Service. Aktuell dienen die Straßen aber nur einem Nutzer: dem Auto! Was wir sehen, sind Konflikte, die zu Verkehrsunfällen mit Todesfolge führen. Allein 3.000 Tote im Verkehr in Deutschland im Jahr 2020 und 300.000 Verletzte. Fakt ist: Viele wären vermeidbar.

Sind Straßen, wie wir sie heute zum Beispiel in Deutschland kennen, dann überhaupt zeitgemäß?
Straßen sind der größte öffentliche Raum jeder Stadt, es gibt also ein großes Potenzial. Derzeit ist jedoch ein Großteil dieses Raums allein für Autos reserviert.

„Wir brauchen mehr Urban Design, mehr Stadtplaner und mehr Input von allen Bürgern und nicht nur von Verkehrsplanern.“

Bei der Sicherheit hat man den Eindruck, dass die Verantwortung oft auf die Verkehrsteilnehmer geschoben wird.
Unsere Forschung hat gezeigt, dass Schuld sozial konstruiert ist. Viele Akteure spielen dabei eine Rolle, wie zum Beispiel die Medien und die Autoindustrie. Die Fakten zeigen, dass die Fahrzeuge immer größer und leistungsfähiger werden. Das bedeutet, dass Menschen außerhalb von Autos, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf Straßen unterwegs sind, einem noch größeren Risiko ausgesetzt sind. Es gibt definitiv eine Verantwortung der Entscheidungsträger, unsere Straßen, besonders in den Städten, sehr sicher zu machen und sie sicher zu halten, besonders für diejenigen, die zu Fuß gehen und Rad fahren.

Vielfach wird das Thema Angst angesprochen, wenn es um den Straßenverkehr oder neben der Straße spielende Kinder geht.
Straßen sind das Lebenselixier einer jeden Stadt. Wenn Straßen für jeden einladend sind, unabhängig davon, wie sie oder er sich fortbewegen kann, dann strömen die Menschen auf diese Straßen. Wenn Menschen Angst zeigen, dann wird es schwierig, diesen mentalen Zustand zu ändern. Angst kann nicht das sein, was wir wollen. Wir wollen menschen- und innovationsfreundliche Städte und Straßen.

Warum sind niedrigere Geschwindigkeiten wichtig und welche Maßnahmen wirken?
Die Absenkung der Geschwindigkeit in Städten ist eine wichtige Maßnahme, denn wir wissen, dass sowohl die Zahl der schweren Crashs, wie auch die Schwere der Verletzungen drastisch gesenkt werden. Die Senkung der Geschwindigkeiten in Städten ist eine wichtige Maßnahme, denn wir wissen, dass sowohl die Zahl der schweren Unfälle als auch die Schwere der Verletzungen drastisch reduziert werden. Aber neben Gesetzen und Regeln gibt es noch eine weitere wichtige Komponente: die Veränderung der Straßen durch Design. Wenn Sie auf einer sehr breiten Straße ohne Verkehr fahren, wollen Sie schnell fahren. Und warum sollte man die Geschwindigkeit reduzieren, zum Beispiel in Tempo-30-Abschnitten, wenn es keine Überwachung gibt? Ein wichtiger Faktor, der mitgedacht werden muss, ist das Design unter anderem durch Fahrbahnmarkierungen, Landschaftsplanung und Beleuchtung. Man muss den Leuten das Gefühl geben, dass sie hier langsam fahren müssen. In den Niederlanden gibt es eine klare Trennung zwischen Durchgangs- und Wohnstraßen.

In den Niederlanden gibt es eine klare Trennung zwischen Durchgangs- und Wohnstraßen. Was ist der Unterschied zu anderen Ländern?
In den Niederlanden wurde das in Schweden entwickelte „Sustainable Safety“-Konzept (Red. Anm.: Vision Zero) erfolgreich durch das Prinzip der hierarchischen Straßen adaptiert. Diese Hierarchie ist selbsterklärend und sehr logisch. Fahrer merken sofort, wo sie sind und was von ihnen erwartet wird. Die Unterschiede zwischen den mehrspurigen Hauptverkehrsstraßen, einer Arterie und einer Wohnstraße merkt man sofort. Wohnstraßen sind meist Einbahnstraßen, sehr schmal und kompakt, mit Bäumen und Grünbepflanzungen und einem Tempolimit von 15 bis 20 km/h. Manchmal ist die Zufahrt für Autos auch ganz gesperrt.

Menschen statt Autos: Die Govert Flinckstraat in Amsterdam 1973 und heute.

Was können andere Länder beim Straßendesign von den Niederlanden lernen?
Die Lehre für andere Städte ist klar, dass ein intuitiv erfassbares Design eine wichtige Rolle spielt. Auch um den Menschen zu signalisieren, dass man an diesen Stellen Zufußgehen und Radfahren präferiert und erwartet. Damit sind wir übrigens nicht nur in Wohnstraßen erfolgreich, sondern auch in Einkaufsstraßen mit Shops und Cafés. Die zweite wichtige Sache: Menschen machen Fehler. Die Gestaltung der Straßen sollte mit einbeziehen, dass menschliches Versagen unvermeidlich ist. Natürlich lässt sich das nicht von heute auf morgen erledigen, aber wir können auch jetzt schon viel tun. Wir brauchen mehr Urban Design, mehr Stadtplaner und mehr Input von allen Bürgern und nicht nur von Verkehrsplanern.

Brauchen wir für die Veränderungen auch ein anderes Mindset?
Die größte Veränderung, die wir sicher brauchen, ist eine kollektive Zustimmung. Natürlich muss nicht jeder Bürger und Verantwortliche direkt zustimmen, aber jeder sollte zumindest anerkennen, dass wir eine Verschiebung bzw. Veränderung benötigen. München hat hier zum Beispiel mit dem Konzept der „Radlhauptstadt“ vor einigen Jahren kommunikativ einen wirklich super Job gemacht und die Menschen mitgenommen.

Wie hoch sind aus Ihrer Sicht die Chancen für schnelle Veränderungen?
Was wirklich wertvoll ist, vor allem jetzt, sind die Learnings aus der Pandemie. Wir haben gesehen, dass Veränderungen wirklich möglich sind. Mit weniger Verkehr, Veränderung im Verhalten der Menschen, zum Beispiel indem man nicht mehr jeden Tag zur Arbeit pendeln muss und mehr lokal unterwegs ist. Es ist traurig, dass es einer Pandemie bedurfte, aber es ist faszinierend zu sehen, wie mit preiswerten Materialien und Kreativität Veränderungen in Gang gesetzt wurden.

Wie ist Ihre Sicht auf die Veränderungen im Verkehr während der Pandemie mit Blick auf Deutschland?
Berlin ist ein fantastisches Beispiel! Die Stadt hat sehr schnell und sehr flexibel reagiert mit einem Netz aus Pop-up-Bikelanes in der Stadt. Diese Fähigkeit, Flexibilität zu zeigen und eine schnelle Antwort zu geben, ist sehr beeindruckend. Wichtig sind aber auch die vielen kleinen Projekte, mit denen Städte zum Beispiel Neues ausprobieren und Akzeptanzgrenzen austesten. Auch zwei Kilometer Straße, die beispielsweise gerade in San Francisco verändert wurden, können etwas sein, was den Menschen die Augen öffnet und ein anderes Denken anstößt.

Wie ist Ihre Einschätzung? Werden temporäre Lösungen nach der Pandemie wieder zurückgebaut oder sind sie ein Durchbruch?
Es wird eine Hauptaufgabe sein die Projekte, aber auch das Umdenken, was klar eingesetzt hat, zu verstetigen. Es ist gut, dass die Menschen merken, dass sich etwas ändert. Was dabei enorm wichtig ist: Die Projekte und Maßnahmen legitimieren Änderungen in der Zukunft. Jedes Experiment, das erfolgreich und permanent wird, wird automatisch zu einer Referenz für jeden Planer, Politiker oder jede Lobbygruppe, die Änderungen möchte. Sie können sagen, schaut her, wie erfolgreich das war! Das ist, wie Dinge sich ändern können.

Online-Kurse: Unraveling the Cycling City

Die akademischen Online-Kurse „Unraveling the Cycling City“ der Universität von Amsterdam werden auf Coursera.com angeboten. Sie werden regelmäßig mit Bestnoten bewertet und wurden inzwischen von über 10.000 Teilnehmer*innen besucht.

urbancyclinginstitute.com/mooc

Welche Fehler sollte man als Verantwortlicher, Politiker oder Planer heute vermeiden?
Der größte Fehler ist sicherlich, Angst vor Veränderungen zu haben, in seiner alten Perspektive und Denkweise stecken zu bleiben. Es ist einfach und bequem für Planer und Beamte, den Status quo beizubehalten, mit Bürokratie, Regeln usw. Der schwierigste Teil ist sicherlich die Arbeit innerhalb der Bürokratie, um das Denken und die Standards zu ändern.

Was würden Sie Verantwortlichen raten? Was brauchen wir für eine Mobilitätswende?
Wir haben heute sehr gute Daten und wissen, dass 30 bis 50 Prozent der Menschen eine Mobilitätswende wollen und sich viele gerne auf das Fahrrad setzen würden. Die Menschen tun es meist nur nicht, weil sie sich unsicher fühlen. Für die, die zusätzlich aufs Rad wollen, brauchen wir andere Zustände im Verkehr. Wir brauchen Straßen, die sich sicher anfühlen, wir brauchen langsameren und weniger Autoverkehr, geschützte Radwege, sichere Abstellanlagen und wir brauchen eine Infrastruktur, die sicher genug ist für Kinder.

„Bieten die Straßen Freiheit für alle Arten von Menschen, alle Altersgruppen und alle Fähigkeiten?“

Orte wie Schulen, an denen Kinder zusammenkommen, sind großartige Gelegenheiten, den Straßenraum neu zu denken. In den 1980er-Jahren wurde die „Van Ostadestraat“ für den Durchgangsverkehr und Parkplätze gesperrt; dadurch entstand Raum für einen Spielplatz, Bäume und viel Platz für Eltern, die sich beim Bringen der Kinder treffen und unterhalten können.

Wieso ist die eigenständige Mobilität von Kindern so wichtig?
Ich komme ja aus Kalifornien und bin als Kind immer von meinen Eltern gefahren worden. Es ist unglaublich zu sehen, dass Kinder in den Niederlanden mit 10 Jahren sicher alleine mit dem Fahrrad zur Schule, zum Sport oder zu Freunden fahren können. Für die Kinder bedeutet das ein wichtiges Empowerment, das sie ihr ganzes Leben begleitet, und außerdem enorme Freiheiten. Die Freiheit gibt es gleichzeitig auch für die Eltern, die ihre Kinder nicht mehr überall hinfahren müssen. Ich bin vor über einem Jahrzehnt nach Amsterdam gezogen, habe selbst zwei Kinder und kann es mir gar nicht mehr anders vorstellen.

Wie müssten Straßen idealerweise aussehen?
Es gibt keine Blaupause oder ein Patentrezept. Die zentrale Frage ist: Bieten die Straßen, die wir haben, Freiheit für alle Arten von Menschen, alle Altersgruppen und alle Fähigkeiten? Können Kinder unbeaufsichtigt sicher neben der Straße spielen? Die meisten Städte werden nein sagen. Daran müssen wir dringend arbeiten – gerade Kinder brauchen in der Zeit nach der Pandemie viel mehr sichere Räume.

Meredith Glaser

ist als Doktorandin am Urban Cycling Institute der Universität Amsterdam tätig. Hier lehrt Professor Dr. Marco te Brömmelstroet, bekannt auch als „Cycling Professor“, Infrastrukturplanung und geografisches Informationsmanagement. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen politische Innovation, Wissenstransfer und Kapazitätsaufbau für eine beschleunigte Umsetzung von nachhaltigen Verkehrszielen. Sie hat den akademischen Output für europäische Projekte (CYCLEWALK und HANDSHAKE) akquiriert und verwaltet, ist Co-Leiterin des Sommerprogramms Planning the Cycling City und hat zur Produktion des Onlinekurs-Programms „Unraveling the Cycling City“ beigetragen. Meredith Glaser stammt aus Kalifornien und hat einen Master-Abschluss in Stadtplanung und öffentliche Gesundheit der Berkeley University. Seit fast 10 Jahren arbeitet sie im Bereich Stadtentwicklung und Transfer nachhaltiger Mobilitätspolitik und ist eine erfahrene Ausbilderin für Fachleute, die die niederländische Verkehrsplanungspolitik und -praxis erlernen möchten.


Bilder: Meredith Galser / Urban Arrow, Amsterdam City Archives (Bilddatenbank), Urban Cycling Institute

Die Probleme unserer Zeit sind komplex und das Beharrungsvermögen vielfach groß. Keine leichte Aufgabe also, Dinge zu verändern und Neues zu denken. Komplex? Ja! Aber nur, weil es komplex ist, lassen wir ja auch nicht die Astrophysik sein oder die Forschung nach Impfstoffen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Große Herausforderungen und neues Denken stehen auch im Bereich Mobilität und Verkehr an. Vor allem, wenn man sich nicht nur darauf konzentriert, Menschen möglichst schnell von A nach B und zurück zu bringen, sondern andere Dimensionen mitdenkt. Ein entschlossener Kurs Richtung Klimaneutralität gehört ebenso dazu wie die Herausforderungen der Urbanisierung, die Bewegungsarmut von Kindern, die in wenigen Jahren massiv wachsende Gruppe der Älteren (Stichwort geburtenstarke Jahrgänge) und nicht zu vergessen die sozialen Komponenten der Mobilität. Zudem braucht es verstärkt eine weibliche Perspektive, denn Mobilität, oder das, was wir darunter verstehen, wurde und wird weiterhin vor allem von Männern gedacht und geplant, wie Kritiker*innen immer wieder anmerken. Die Probleme sind bekannt und die Konzepte liegen auf dem Tisch. Vernetztes Denken und praktische Lösungen, die nicht mehr das private Auto oder den Lieferwagen in den Mittelpunkt stellen, findet man bislang allerdings vor allem in den Nachbarländern. Vielfach scheint es so, als würden wir in einem Denken, das uns über Jahre geprägt hat, feststecken. Würden wir sonst den weiteren Zuwachs von im Schnitt immer größeren und schnelleren Fahrzeugen zulassen und sogar noch fördern und auf der anderen Seite neuen, umweltfreundlichen und eher am menschlichen Maß ausgerichteten oder besser „angemessenen“ Mobilitätsformen generell erst einmal kritisch gegenüberstehen?

„Es muss den Menschen Freude machen sich anderes zu verhalten.“

Ines Imdahl, Rheingold-Salon

Umparken im Kopf

Vor zwei Jahren wurde bei einer Podiumsdiskussion zum Thema Mikromobilität zum Beispiel ernsthaft die Frage diskutiert, wohin denn die ganzen neuen Fahrzeuge sollten. Für Professor Thomas Sauter-Servaes, Mobilitätsforscher und Leiter des Studiengangs Verkehrssysteme an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, zeugen solche Diskussionen und „das Gemecker über den Platz, den E-Trottis (E-Tretroller in der Schweiz) verstellen“ von einer „komplett verschobenen Wahrnehmung“. „Die am Fahrbahnrand parkierten Blechlawinen werden derweil als normal wahrgenommen.“ Ihm zu widersprechen fällt schwer, wenn man mit offenen Augen durch die Städte und Quartiere geht, sich alte Bilder von Plätzen und Straßen anschaut, die noch zum Flanieren und Verweilen einluden oder sich mit statistischen Daten befasst. Wie verändern wir also unser Umfeld und die Gewohnheiten? Mit dem wiederholten Ausrufen von Zielen, wie „mehr Güter auf die Schiene“, „Deutschland wird digitaler Vorreiter“ oder „Deutschland wird Fahrradland“ wird erfahrungsgemäß noch kein Wandel angestoßen, obwohl ein öffentliches Commitment natürlich wichtig ist. Aber dann muss es auch weitergehen. Und die Zeit drängt: „Die Welt befindet sich bereits im Klimanotstand, und das Autoabhängige Verkehrssystem ist dafür ein fataler Treiber“, heißt es dazu als Fazit in unserem Buchtipp „Nachhaltige Mobilität für alle“ (S. 80). Zu wissen, wohin die Reise gehen soll, sei der erste notwendige Schritt. „Der nächste sollte sein, mit der Reise unverzüglich zu beginnen.“
Expertinnen, Politikerinnen und Verbände beschäftigen sich aktuell intensiv auf vielen Ebenen damit, die Rahmenbedingungen an die Herausforderungen der Zeit anzupassen. Reicht das? Letztlich kommt es wohl vor allem auch darauf an, die Menschen mitzunehmen und dabei auch diejenigen nicht zu vergessen, die dem erst einmal eher ablehnend gegenüberstehen. Denn sonst ist schnell das Tor geöffnet für Populisten, die gezielt auf die Ängste der Menschen setzen. Kommunikativ lässt sich eine Menge erreichen, wenn man kreativ ist und wirklich will. Viele werden sich noch an „Umparken im Kopf“ erinnern. Die groß angelegte und viel beachtete Kampagne ließ 2014 erst einmal den Absender offen und stellte sich auf eine sympathisch-humorige Art generell gegen Vorurteile und warb so für eine andere innere Einstellung. Dabei ging es weder um die Mobilitätswende noch um den Klimawandel, sondern „nur“ um einen Imagewandel bei der angestaubten Automarke Opel. Nach Brancheneinschätzung ein „Himmelfahrtskommando“, das die frisch ernannte Marketing-Chefin Tina Müller trotzdem mit Bravour und Jürgen Klopp als positiv-sympathisch Andersdenkendem glaubhaft löste. Das Rezept, aus der Not eine Tugend zu machen, ging voll auf. Lax formuliert: Wenn man es beim Opel-Image schafft umzudenken, dann sollte es doch auch bei der Mobilitätswende möglich sein mit dem Umparken im Kopf.

Oft vergessen oder ausgeblendet: Ältere, Frauen und Bürger*innen mit Migrationsgeschichte (2019: 26 %).

Die Zukunft und den Wandel umarmen

Wie bringt man auf den ersten Blick völlig unterschiedliche Bereiche wie Verkehr, Soziales, Gesundheit, Städteplanung und Umwelt-/Klimaschutz zusammen? Wie vermeidet man Endlos-Diskussionsschleifen und wie bringt man Menschen zu Verhaltensänderungen? Leadership-Experten empfehlen, die Zukunft und den Wandel zu „umarmen“, positive Bilder zu schaffen und den Menschen einen neuen Sinn, neudeutsch Purpose zu geben. „Einfach nur etwas im Kopf zu ändern, reicht nicht aus“, diagnostiziert auch die Psychologin Ines Imdahl, Mitgeschäftsführerin der auf qualitative Marktforschung, tiefenpsychologische Erkenntnisse und strategische Umsetzungen spezialisierten Agentur Rheingold-Salon. Es müsse eine Vision geben. „Wozu tun wir das? Was wollen wir bewegen?“ Das gelte universell, denn letztlich ginge es immer um die Menschen und ihre Bedürfnisse, und die seien aus dem Blickfeld geraten. „Nur wenn ich verstehe, was die Menschen davon haben, sich so zu verhalten, wie sie sich verhalten, kann ich überlegen, gibt es Alternativen? Wenn ich einfach nur sage, wir müssen das ändern, dann ist das ein Schritt zu schnell.“ Entscheidend sei die Frage nach dem Warum. Erst danach könne man sagen „wie kann ich das ändern und was sind die Hebel?“ Psychologisch gesehen sei es schlicht so, dass die Menschen zuallererst an sich dächten. Zentrale Motive seien Selbsterhalt und die Vergrößerung der eigenen Wichtigkeit. „Die enorme Kulturleistung, auch an die anderen zu denken, müssen wir tagtäglich neu leisten.“ Wichtig sei ein neuer Blick auf das große Ganze und eine Abkehr vom sogenannten Silo-Denken, also der Fixierung auf Teilausschnitte. Die Sinnfrage könne helfen, Zusammenhänge wiederherzustellen. Dazu komme eine andere wichtige Komponente: Spaß und Lustgewinn. „Es muss den Menschen Freude machen, sich anders zu verhalten. Sie müssen Spaß daran haben, die Perspektive des anderen einzunehmen, und das muss belohnt werden.“ Wichtig sei in diesem Zusammenhang auch das Thema Diversität, zum Beispiel mit Blick auf die unterschiedlichen Strategien und Denkmuster von Männern und Frauen. „Diversität hilft, andere Perspektiven einzunehmen und einen Zusammenhang herzustellen.“

„Wir müssen Männer, Frauen und Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten, mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und Erfahrungen ansprechen.“

Anna Weiß

Freude am Fahren

Lustgewinn ist also ein guter Antrieb, und so wundert es nicht, dass der Autohersteller BMW schon seit den 1970er-Jahren mit dem Motto „Freude am Fahren“ lockt. Auch die Politik hat in Deutschland viel dafür getan und tut es noch, damit der Spaß am Autofahren aktiv gefördert und möglichst wenig getrübt wird. Praktisch als gedankliches Grundrecht hat sich zudem das Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“ in vielen Köpfen etabliert, mit dem der ADAC über Jahrzehnte erfolgreich gegen ein generelles Tempolimit auf Autobahnen opponierte. Freude am Radfahren und freie Fahrt für Radfahrerinnen und Radfahrer, Junge, wie Alte, sucht man dagegen oft vergebens. Genauso erfolglos sucht man vielerorts auch nach Freude am entspannten Zufußgehen, nach der Freiheit für kleine Kinder, ungefährdet auf dem Bürgersteig Rad zu fahren, in einer ausgewiesenen „Spielstraße“ wirklich spielen zu können oder überhaupt ohne Auto mobil zu sein. Natürlich kann man in diesem Zusammenhang fragen, ob nicht die Infrastruktur grundsätzlich anders gestaltet und anders genutzt werden müsste, oder warum der in der Straßenverkehrsordnung angelegte Schutz der „Flüssigkeit des Verkehrs“ höher wiegt als die Sicherheit der Menschen. Und natürlich kann man auch fragen, ob nicht die Reduzierung der in den 1950er-Jahren eingeführten Regelgeschwindigkeit von 50 km/h innerorts noch zeitgemäß ist, wenn wir doch wissen, dass sich seit 1970 sowohl der Fahrzeugbestand als auch die Fahrleistung verdreifacht hat, die Verkehrsteilnehmer immer älter werden und die Lebensqualität in den Quartieren bei geringerem Tempo deutlich zunimmt.

Typisch Mann – typisch Frau

Männlichkeit sei in unseren Gesellschaften historisch sehr stark mit Unverletzlichkeit verknüpft, sagt die Soziologin Sabine Hark. Sie zeichne sich nach wie vor auch durch ein Verhalten aus, das einschließt, sich selbst und andere Risiken auszusetzen, statt sie zu vermeiden. Mit Blick auf Raser und illegale Autorennen in der Stadt – es säßen immer Männer am Steuer. Frauen würden dagegen stärker dazu erzogen, die Bedürfnisse von anderen wahrzunehmen und in das eigene Verhaltensrepertoire einzubeziehen.

Perspektiven wechseln und out of the box denken

Wie schafft man es aus dem „Silo-Denken“ herauszukommen, Perspektiven von anderen mitzudenken und neue Ansichten zu entwickeln? „Man muss die Entscheidungsträger selbst die Stadt ‚erfahren‘ lassen, in einem geführten Rahmen“, sagt die Expertin für Design Thinking Anna Weiß, die in ihrer Arbeit immer den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Dabei sollten die Bedingungen so realitätsnah wie möglich sein. „Wie fühlt es sich an, auf dem Fahrrad unterwegs zu sein, und wie zu Fuß? Wie schaut es bei schlechtem Wetter aus, wie mit Gepäck oder in Begleitung von Kindern oder einem Hund?“ Für Perspektivwechsel sorgt sie als Veranstalterin von Workshops in den Alpen zum Beispiel, indem sie Mountainbiker*innen und Wandernde die Rollen tauschen lässt. Wie fühlt es sich für eine wandernde Familie an, wenn unvermittelt ein Mountainbike von hinten vorbeischießt und wie sieht die gleiche Situation aus Sicht des Mountainbikers aus? „Bitte Rücksicht nehmen, ist leicht gesagt, aber vielen sind die Probleme gar nicht bewusst.“ Ebenso wenig präsent sei bei Entscheidern und vor allem in der Kommunikation nach außen ein realistisches Bild der Menschen und Kundengruppen. „In den Medien abgebildet werden meist junge sportlich-schlanke Models, gerade bei den Frauen. Die Menschen in der Realität sind aber messbar nicht nur älter, sondern auch viel diverser, als wir es in den Medien der Touristiker, in Fachzeitschriften, Publikumsmedien aber auch von den Verbänden sehen.“
Mit dieser verschobenen Realitätswahrnehmung sei es auch nicht verwunderlich, dass viele Entscheider Ältere, Übergewichtige oder Menschen aus anderen Kulturen weder auf dem Schirm hätten noch ihre Bedürfnisse und Probleme nachempfinden könnten. In Outdoor-Workshops nutzt Anna Weiß gern sogenannte Adipositasanzüge zur konkreten Simulation von Fettleibigkeit. „Der Aha-Effekt, der damit entsteht, schlägt jede theoretische Wissensvermittlung um Längen.“ Einen noch größeren Effekt sieht sie im Hinblick auf die stark alternde Bevölkerung in der Nutzung von sogenannten Alterssimulationsanzügen, die unter anderem das Hör- und Sehvermögen, das Gesichtsfeld und die Beweglichkeit von Kopf, Rumpf und Armen einschränken und durch Gewichte selbst einfache Bewegungen deutlich anstrengender machen. „Man muss ganz klar sagen, dass es schon für normale Radfahrerinnen und Radfahrer echt gefährlich auf den Straßen ist“, stellt Anna Weiß fest. „Wie schaut es dann erst für Kinder und Alte aus?“ Die Infrastruktur für den Radverkehr sei im Gegensatz zur Autoinfrastruktur so eingerichtet, dass sie hohe Anforderungen an die Nutzer stellt. Das müssten wir komplett umdrehen. „Wir brauchen einen Rahmen, in dem sich auch Unerfahrene und Unsichere aufs Rad trauen, einen Rahmen der Fehler verzeiht und der den Menschen vor allem wieder den Spaß an der Bewegung neu vermittelt.“ Um mehr Menschen zu motivieren, aufs Rad umzusteigen müsse man konkret auf die Menschen zugehen, sie beobachten und befragen. „Wir müssen Männer, Frauen und Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten, mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und Erfahrungen ansprechen.“

„Wir brauchen mehr Frauen als Entscheiderinnen und vor allem muss die weibliche Perspektive stärker in Betracht gezogen werden.“

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan

Chancengleichheit für „weibliche“ Mobilität

Ein nach wie vor bestehendes Problem ist Analysen zufolge, dass Mobilität weiterhin vor allem aus männlicher Sicht gedacht wird. „Wenn wir echte Veränderungen wollen, dann müssen wir uns viel stärker als bislang mit den Bedürfnissen und spezifischen Sozialisierungen und Rollen von Männern und Frauen beschäftigen“, betont Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan, Geschäftsführerin des AEM Institute. Für Kommunen, Mobilitätsanbieter, Young Professionals und NGOs bietet sie Gender- und Accessibility-Beratung und unterstützt in der Umsetzung von gerechter und umweltfreundlicher Mobilität. „Es ist wichtig, das Thema Mobilität ganzheitlicher und diverser zu betrachten.“ Ein aktuelles Problem sei beispielsweise, dass das Denken stark technologisch geprägt ist. „Es wird weniger gefragt, welche Probleme haben wir und welche Lösungen gibt es dafür, sondern was ist technisch möglich und was könnte man damit machen?“ Letzteres sei der Technikfaszination von Männern ebenso geschuldet wie den Geldmitteln der Technologie-Fonds. Frauen hätten aus ihrer Sozialisation heraus dagegen ein ganz anderes Verständnis und andere Bedürfnisse. „Frauen wollen praktische und intuitiv bedienbare Produkte und Services.“ Viele Komponenten kämen in der männlichen Erlebniswelt gar nicht vor, deshalb hätten Entscheider sie oft auch nicht auf der Liste. Ganz oben: Sicherheit. Ein Begriff der im englischen Sprachraum deutlich differenzierter und treffender sei: Safety für körperliche Unversehrtheit und der oft zu wenig betrachtete Begriff Security – also die persönliche Sicherheit vor Angriffen. Zweites spiele im Alltag von Frauen eine besondere Rolle, zum Beispiel was bestimmte Routen, Orte oder besonderen Zeiten angeht, zum Beispiel mit Blick auf Haltestellen, Parkhäuser oder menschenleere Straßen. „Allgemein gilt: Mobilität und die dazugehörigen Verkehrsmittel, die Orte und die Infrastruktur dürfen nicht für Mutige gemacht sein.“ Umgekehrt dürften die Mutigen (sozialisationsbedingt meist Männer) ihr Umfeld nicht beeinträchtigen und für Angst sorgen. „Wichtig ist ein gesamtgesellschaftliches Umdenken.“
Handlungsbedarf gibt es aber noch in vielen anderen Feldern. Das fange schon bei Umfragen und Statistiken wie der Auswertung „Mobilität in Deutschland“ an, bei denen beispielsweise Berufspendler priorisiert würden. Besonders auffällig sei das Missverhältnis zeitweise beim Thema Elektromobilität. „Umfragen müssen ja nicht zwangsweise repräsentativ sein, aber was soll man bei einem Männeranteil von 96 Prozent erwarten?“
Ein Thema, das bei Untersuchungen zudem vielfach ausgeblendet werde, sind kulturelle Unterschiede und Besonderheiten, auch im Hinblick auf die hohe Zahl der Bürger mit Migrationsgeschichte. „In einigen Kulturen gilt der Fahrradsattel zwischen den Beinen einer Frau als unschicklich und für Männer ist Radfahren Ausdruck eines niedrigen sozialen Status.“ Solche Vorurteile könne man mit gezielten Maßnahmen aber aufbrechen. Ein großes Problem sei weiterhin auch die Infrastruktur. „Frauenmobilität ist meist Alltagsmobilität. Das wird vielfach weder gesehen noch gemessen.“ Geschlechtsspezifische Studien aus San Francisco hätten beispielsweise gezeigt, dass sich die Zahl der Radfahrerinnen durch die Verbesserung der Infrastruktur verdoppelte. Wie kann die Situation künftig insgesamt besser werden? „Wir brauchen eine Chancengleichheit auf einer gemeinsamen Ebene. Wir müssen die Unterschiede adressieren. Wir brauchen mehr Frauen als Entscheiderinnen und vor allem muss die weibliche Perspektive stärker in Betracht gezogen werden.“
Es lohnt sich also, Neues zu denken. Positive Beispiele, die inspirieren und motivieren, gibt es reichlich. So, wie der elektrische Anlasser die automobile Revolution möglich gemacht hat, schicken sich heute vor allem leistungsfähige Akkus, Elektromotoren und Apps an, den Markt mit neuen Mobilitätsformen zu revolutionieren. Ein entscheidendes Kriterium: die Angemessenheit. Die Produkte, Konzepte und Best-Practice-Lösungen sind längst da und es macht Spaß, sich damit zu beschäftigen und sie auszuprobieren, wann immer sich die Gelegenheit bietet.

Problem: rapide wachsende Zahl älterer Menschen

Der Anteil der über 65-Jährigen liegt hierzulande laut Statista in diesem Jahr bei 23,1 %. 2030 sind es aufgrund der geburtenstarken Jahrgänge bereits 27,8% und 2034 dann 30 %. Ältere sind als Verkehrsteilnehmer besonders gefährdet, einen tödlichen Unfall zu erleiden. Vor allem in Innenstädten und hier zu Fuß oder mit dem Fahrrad. 2019 starben rund 43 % der innerorts im Verkehr getöteten Menschen über 65 Jahren als Fußgänger*innen. Ein Hauptgrund: die altersbedingte Schwierigkeit, das Tempo von Fahrzeugen und Lücken im Verkehr richtig einzuschätzen. Der Anteil der tödlichen Unfälle per Fahrrad/Pedelec betrug hier 32,5 %. In Frankreich werden die Themen Mobilität bzw. Mobilitätsarmut im Alter inzwischen ganzheitlich als Querschnittsfunktion betrachtet. „Das Fehlen oder die fehlende Eignung des Mobilitätsangebots kann ein ‚soziales Sterben‘ älterer Menschen bewirken“, sagt die Interministerielle Delegierte für Verkehrssicherheit, Maria Gautier-Melleray.

Quellen: Statista, DEKRA Verkehrssicherheitsreport 2021


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