Beiträge

Ob sie es selbst nutzen oder sich den Straßenraum mit seinen Nutzer*innen teilen, das Fahrrad spielt in der Mobilität blinder und sehbehinderter Menschen eine große Rolle. Zwischen Interessenkonflikten und fehlender Achtsamkeit finden sich auch Lösungsansätze – und jede Menge Handlungsbedarf. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Blinde und sehbehinderte Menschen können in Deutschland leicht übersehen werden. Das liegt zum einen daran, dass es hierzulande keine Kennzeichnungspflicht für Menschen gibt, die blind oder sehbehindert sind. Sie sind also nicht gezwungen, sich als solche nach außen zu präsentieren. Viele tun es trotzdem, erklärt Eberhard Tölke vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV): „Es ist natürlich vorteilhaft, den weißen Langstock zu nutzen. Weitere anerkannte Verkehrsschutzzeichen sind die gelbe Armbinde und das weiße Führhundgeschirr.“ Auch ein gelber Anstecker mit drei schwarzen Punkten ist üblich. Von hinten erkennbar sind diese Menschen damit aber nicht. Wer also nicht gerade den Langstock benutzt oder wessen Armbinde übersehen wird, kann sich nicht auf eine erhöhte Aufmerksamkeit bei den anderen Verkehrsteilnehmerinnen verlassen. Statistisch ist dieser Teil der Bevölkerung schlecht dokumentiert. Wie viele Leute in Deutschland ohne oder mit eingeschränkter Sehfähigkeit leben, ist schlichtweg nicht bekannt. Der DBSV erklärt auf seiner Website, warum er von rund 559.000 blinden und sehbehinderten Menschen als absolutem Mindestwert ausgeht. Diese Zahl stammt aus der Schwerbehindertenstatistik aus dem Jahr 2021 und lässt sich noch in rund 71.000 blinde Menschen sowie 47.000 hochgradig sehbehinderte und 441.000 sehbehinderte Menschen aufschlüsseln. Enthalten sind in der Summe aber nur jene blinden oder sehbehinderten Menschen, die einen Schwerbehindertenausweis haben. Auf einen erheblichen Teil der Sehbehinderten und selbst einige blinde Menschen trifft das nicht zu. Eine Sehbehinderung unterscheidet sich mitunter stark von der nächsten. Die Krankheit Retinitis Pigmentosa verursacht zum Beispiel ein eingeschränktes Sichtfeld. „Menschen mit einem sogenannten Tunnelblick schauen je nach Schwere der Erkrankung nur durch ein stecknadelgroßes Loch. Rein gesetzlich gelten diese Betroffenen aufgrund dieser starken Orientierungseinschränkung durchaus als blind. Der Betroffene läuft mit einem Langstock, er läuft mit einem Blindenführhund, setzt sich in die Straßenbahn, nimmt die Zeitung heraus und liest. Das ist möglich, weil er auf diesem Punkt gegebenenfalls noch 100 Prozent sehen kann. Das ist für den Sehenden nicht vorstellbar, liegt jedoch im Rahmen des Möglichen. Das führt zu Irritationen“, erklärt Tölke. Ziemlich verbreitet ist auch der Graue Star als Erkrankung. Tölke erläutert: „Den Grauen Star kann man sich vorstellen wie Nebel. Es ist alles eingetrübt und es sind keine scharfen Konturen erkennbar.“ Leicht zu übersehen sind mit Grauem Star vor allem feine Hindernisse wie Masten. Das gilt erst recht, wenn diese grau sind. Als Volkskrankheiten gelten unter den Sehbehinderungen weiterhin die altersabhängige Makula-Degeneration und die diabetische Retinopathie. Wer erfahren will, wie eine Sehbehinderung sich auf das Sichtfeld auswirkt, sollte einmal ein Blindenmuseum besuchen, empfiehlt Margot Daris von der Dutch Cycling Embassy. Das Museum in der niederländischen Stadt Nijmegen zeigt, wie verschieden die Sicht sehbehinderter Menschen untereinander ist. Mal ist sie verschwommen, bei anderen fleckenweise eingeschränkt. Das Museum bietet Führungen an, bei denen die Besucherinnen sich selbst temporär ohne Sehfähigkeit orientieren müssen. Für die Zielgruppe der Blinden und Sehbehinderten wurde Margot Daris von irischem Besuch bei der Dutch Cycling Embassy sensibilisiert. Dir irischen Delegierten diskutierten über die räumliche Aufteilung von Bushaltestellen und Fahrradspuren und deren Einfluss auf Menschen mit schlechter Sehfähigkeit. Gebräuchlich ist es in den Niederlanden, den Radweg zwischen Haltestelle und Straße entlanglaufen zu lassen. Der irische Besuch äußerte Bedenken: „Die wollten eine Ampel für die Fahrradfahrer, sodass die Leute in den Bus steigen können. In den Niederlanden ist das nicht üblich, weil wir das Gefühl haben, dass Gehen, Radfahren und auf den Bus warten jeweils auf menschlicher Interaktion basiert“, erzählt Daris. Diese Sichtweise habe ihr die Augen geöffnet und dazu geführt, dass Daris Vorträge zum Thema „Blinde und sehbehinderte Menschen und Radverkehr“ hält. „Besonders wenn man eine Sehbehinderung hat, ist es wichtig, dass man sich noch immer unabhängig fortbewegen kann und nicht abhängig ist von Partnern, der Familie oder Freunden.“

Sehbehinderungen können sehr unterschiedlich wirken. Die Erkrankung Retinitis Pigmentosa verursacht einen Tunnelblick (Mitte), während der Graue Star die Sicht eher vernebelt (unten).

Auch Blinde fahren Fahrrad

In dieser unabhängigen Fortbewegung haben fast alle blinden und sehbehinderten Menschen in ihrem Alltag Berührungspunkte mit Radfahrerinnen und ihrer Infrastruktur. Darüber hinaus fahren einige von ihnen selbst Fahrrad. Das gilt sogar für Personen, die rechtlich als blind gelten. „Ich möchte darauf hinweisen, dass Blinde durchaus Fahrrad fahren, und zwar mit dem Tandem“, erklärt Eberhard Tölke. „Es gibt sogar Vereine wie „die Weiße Speiche“, die das Tandemfahren zum Gegenstand ihrer Vereinigung haben. Diese Leute sind mit ihren Piloten sehr aktiv und unternehmen auch größere Touren.“ Als sportliche Betätigung wird diese Art des Radfahrens von vielen Blinden geschätzt. In der Alltagsmobilität dürften Tandems aber eine geringere Rolle spielen. Richtig empfehlenswert ist das Radfahren für Menschen, auch mit leichteren Sehbehinderungen nicht, findet Gerald Fröde, der sich ebenfalls beim DBSV engagiert. „Da geht es darum, ob ich mir mit einer vorhandenen Sehbeeinträchtigung noch zutraue, aufs Rad zu steigen. Man kennt es ja aus dem Kraftfahrzeugverkehr, dass viele denken, sie sehen noch gut, obwohl es nicht so ist.“ Dennoch fahren viele Menschen mit leichteren Sehbehinderungen im Alltag sehr erfolgreich Fahrrad. Auch schwerwiegendere Sehbehinderungen entstehen meist in einem Prozess, zu dessen Beginn die Betroffenen das Fahrrad noch nutzen können. Fröde hat persönlich eine ausgeprägte Meinung dazu: „Ich bin selbst früher noch tagsüber gefahren. Ich würde es keinem empfehlen, der ernsthafte Probleme hat.“ Wenn jemand einen Unfall baut und später bekannt wird, dass derjenige eine Sehbehinderung hat, ist das ein Problem. Fröde: „Ich habe mir noch 2017 ein neues Rad gekauft und bin es auch gefahren. Aber das war schon eine Grauzone, sich damit im Straßenverkehr zu bewegen. Meine Krankheitsgeschichte geht aber schon 20 Jahre.“ Eberhard Tölke, der selbst quasi nicht mehr sehvermögend ist, ist zuletzt in seiner Jugend Rad gefahren. Beide Herren kennen die Probleme gut, die blinde und sehbehinderte Menschen mit dem Radverkehr haben, ohne selbst auf dem Rad zu sitzen. Schwierig finden sie etwa die gemeinsame Nutzung von Geh- und Radweg, weil man die Radfahrerin-nen, die sich leise von hinten nähren, nicht gut wahrnehmen kann. Vielen Rädern fehle zudem auch eine Klingel. Fahrrädern spontan auszuweichen ist für blinde Menschen selbst dann schwer, wenn sie eine Klingel hören können oder einen Zuruf bekommen. Tölke erzählt von einer Situation, wo eine Radfahrerin, die er nicht wahrnehmen konnte und die ihn zu spät wahrnahm, auf die Fahrbahn einer viel befahrenen Straße ausweichen musste. Die Situation ging glimpflich aus, blieb ihm aber doch im Gedächtnis. „Ich kann mich nur auf etwas einstellen, wenn ich es wahrnehme“, sagt er. Die Situation zeigt, dass nicht nur blinde und sehbehinderte Personen selbst von den schwierigen Interaktionen gefährdet sind.
Das Problem ist noch größer bei Elektrofahrzeugen und E-Bikes, aufgrund der gestiegenen Geschwindigkeit. „Da ist der Sehbehinderte das schwächere Glied in der Kette“, erläutert Fröde. „Man müsste eigentlich von jedem Verkehrsteilnehmer erwarten können, dass jeder sich in dem ihm zugewiesenen Bereich aufaufhält.“

Kritische Stellen im Gehwegbereich sind mit Bodenindikatoren markiert. Manchmal mangelt es an Bewusstsein dafür, dass diese frei bleiben müssen.

Gehweg und Bodenindikatoren freihalten

Probleme gibt es auch durch im Gehbereich abgestellte Fahrräder. Radfahrbügel seien deshalb unbedingt in den Nebenbereichen anzuordnen. „Der Gehbereich ist unser Heiligtum. Den hätten wir gerne frei“, sagt Fröde. Der Langstock, mit dem viele Blinde den Gehweg fühlen, kann sich auch in den Speichen am Rand abgestellter Räder verfangen, wodurch die Räder im besten Fall zu einem Ärgernis, im schlimmsten zur Stolperfalle werden. E-Scooter sind für die Blinden in den letzten Jahren zur zusätzlichen Herausforderung geworden. Eberhard Tölke: „Die stehen kreuz und quer und können natürlich nicht rechtzeitig und sicher erkannt werden. Wir fordern deswegen, dass wirklich Abstellflächen geschaffen werden, wo diese E-Roller positioniert werden.“
Die besonders kritischen Stellen im Gehwegbereich sind mit flächigen Bodenindikatoren nach der Norm DIN 32984 ausgestattet. Diese Leitstreifen, so weiß auch Margot Daris, werden von vielen Menschen wenig beachtet und sind oft zugestellt. Das Blindenmuseum in Nijmegen hat die Leitstreifen vorm Museumseingang so bemalen lassen, dass diese wie eine Brücke über einen Teich aussehen. „Ich denke, es sollte ein größeres Bewusstsein dafür geben. Mehr Schilder helfen nicht unbedingt. Das Ganze entspricht einer größeren gesellschaftlichen Fragestellung. Wir müssen mehr achtgeben aufeinander“, meint die Niederländerin.
Den Fußweg verstehen Blinde und Sehbehinderte nicht nur dort, wo es Leitstreifen gibt, als ein System mit einer inneren Leitlinie und dem Kant- oder Bordstein als äußerer Leitlinie. Kleinpflaster umsäumt den häufig glatten Gehwegbereich und macht diesen taktil erfahrbar. Die Grenze des Weges lässt sich so mit dem Langstock oder mit den Füßen erfühlen.

„Wenn wir öffentliche Räume gestalten, müssen wir berücksichtigen, dass wir sie für alle Menschen nutzbar machen wollen und nicht bloß für körperlich Leistungsfähige zwischen 15 und 45 Jahren.“

Margot Daris, Dutch Cycling Embassy

Schwer vereinbare Interessen

Der Gehweg und der Bordstein sind also wichtige Orientierungshilfen für jene, die wenig bis gar nichts sehen. Hier unterscheiden sich die Bedürfnisse dieser Gruppe mitunter von denen anderer Behindertengruppen. Rollstuhlfahrer*innen würden von abgesenkten Bordsteinen profitieren. Das ist nicht der einzige Interessenkonflikt, mit dem blinde und sehbehinderte Menschen zu kämpfen haben.
Gerald Fröde verweist auf Pro-bleme mit moderner Fahrradinfrastruktur, etwa Radschnellverbindungen: „Die Bestrebungen, die auch ampellos zu machen und freie Fahrt zu gewähren, sehen wir durchaus kritisch. Am Ende des Tages gibt es gar keine Möglichkeit mehr für Blinde und natürlich auch für andere, gefahrlos über den Radweg rüberzukommen.“ Nicht nur Radschnellverbindungen erschweren die Alltagsmobilität. Das Queren von breiten Radwegen bringt seine eigenen Herausforderungen mit sich, gerade wenn diese nicht in die Ampelschaltung eingegliedert sind. „Das akustische Orientierungssignal hat eine vorgegebene Reichweite von vier bis fünf Metern. Wenn ich neben der Fahrbahn eine Wartefläche mit Lichtsignalanlage habe und dann einen seitlich abgesetzten Radweg, dann ist die Entfernung so groß, dass die Akustik auf dem Gehweg nicht mehr ankommt“, erklärt Tölke. Auch zusätzliche Fußgängerüberwege, die man über die Radwege führen könnte, helfen nur bedingt. „Ich kann zwar mithilfe der Bodenindikatoren die Querungsstelle finden, aber weiß nicht, ob ein Radfahrer kommt. Ich bin auf das Verhalten des Radfahrers angewiesen, dass ich heile da rüber komme.“ Auf die gegenseitige Rücksichtnahme könne er sich leider nicht immer verlassen, weiß Tölke.
Die ideale Lösung für die Blinden und Sehbehinderten wäre, den Radweg wieder an den Fahrbahnrand zu versetzen und ihn in die Lichtsignalanlage einzugliedern. Dass die Situation kompliziert ist, sieht Gerald Fröde natürlich auch: „Das ist verkehrsplanungstechnisch sehr diffizil. Da wird sich zurückgehalten, auch vonseiten derer, die diese Sache fachlich begleiten.“ Er wünscht sich, dass die eigenen Bedürfnisse differenzierter wahrgenommen werden. Zu einem Modellprojekt für eine geschützte Kreuzung nach niederländischem Vorbild hat der DBSV sich positioniert und einen Shitstorm kassiert. Fröde mahnt: „Zum Teil gibt es Stimmen aus den Landesverbänden, die sagen: „Früher haben wir gegen das Auto angekämpft und jetzt eigentlich gegen das Fahrrad.“

Kontrastreiche Farben helfen

Nicht alle stadtgestalterischen Schritte ziehen einen Interessenkonflikt nach sich. Margot Daris erklärt, warum in den Niederlanden fast alle Radwege rot markiert sind: „Das ist sehr hilfreich, wenn man eine Sehbehinderung hat, weil man einschätzen kann, wo man sich im Straßenraum bewegt und ob man auf der richtigen Spur ist.“ Auch Verkehrsteil-nehmer*innen ohne Sehbehinderung profitieren von gut sichtbaren Radwegen.
Für jene mit Sehbehinderung spielt die Farbgebung im öffentlichen Raum eine große Rolle. Die sogenannte Michelson-Formel hilft, den Mindestkontrast zu bestimmen, mit dem Markierungen und Gegenstände gut zu erkennen sind. Blumentöpfe, Baustellen oder Bänke sollten nicht dieselbe Farbe wie der Gehweg haben. Bodenindikatoren sind üblicherweise in Weiß, Markierungen von Stufen in Gelb und Weiß gehalten. Auch Rot gilt als Signalfarbe. Markierungen müssen flächig genug sein, sodass diese auch mit einem verschwommenen Sichtfeld wahrnehmbar sind.
Besonders wichtig sind kontrastreiche Farbunterschiede in der Dunkelheit. „In der dunkeln Jahreszeit sind alle Katzen grau“, scherzt Gerald Fröde. Ein grauer Mast kann dann schnell zum Unfallrisiko werden. Menschen, die schlecht sehen, sind mitunter überfordert, wenn es zu einem abrupten Licht-Dunkel-Wechsel kommt. Eine durchgängig gute Beleuchtung der Rad- und Fußwege ist für diese Personen unabdingbar. In den Niederlanden werden Unterführungen stets mit mittigen Lichtdurchlässen geplant. Das hilft, einen starken Licht-Dunkel-Wechsel zu vermeiden, und trägt zur sozialen Sicherheit bei.

„Alles, was bald mobil auf dem Gehweg ist, muss eigentlich für Blinde hörbar gemacht werden.“

Marc Rummeny, RTB

Ampeln können Nutzer*innen der App Loc.ID detektieren und ihr akustisches Signal lauter stellen. Die App soll zu einem Ökosystem für Blinde werden und ihnen den Alltag erleichtern.

Sprechende Infrastruktur

Lösungsansätze für ihre Probleme erhalten die Blinden und Sehbehinderten aus der Wirtschaft, etwa vom Unternehmen RTB. Die Firma stellt seit über 30 Jahren akustische Signalgeber und Taster für Ampeln her und hat rund um die Anwendung Loc.ID ein Netzwerk mit anderen Unternehmen gegründet. Sie allesamt wollen es blinden Menschen erleichtern, sich im öffentlichen Raum zurechtzufinden. Loc.ID ist eine App, die auf dem Smartphone im Hintergrund laufen kann und die via Bluetooth mit öffentlicher Infrastruktur, im Falle RTBs mit den Ampeln, kommuniziert. Marc Rummeny, Geschäftsführer von RTB erklärt: „Ich habe das Handy in der Hosentasche, Brust- oder Jackentasche, laufe durch die Gegend und werde im Bereich von etwa 15 Metern Entfernung von dem akustischen Signalgeber der Ampel detektiert. Dann hebt die Akustik die Lautstärke an. Wenn ich den Bereich verlasse, wird sie wieder leiser.“
Ampeln sind nur ein Anwendungsfeld von Loc.ID. Wenn es nach RTB geht, kann die Anwendung zukünftig mit diversen Infrastrukturelementen kommunizieren. Außerdem kooperiert RTB mit dem E-Scooter-Anbieter Bolt. Der hat Loc.ID bereits in rund 25.000 E-Scootern installiert. Auch mit anderen E-Scooter-Herstellern führt RTB Gespräche. Lastenräder hat Rummeny für die Anwendung ebenfalls im Visier und geht auf die Fahrradindustrie zu, etwa als Aussteller auf Konferenzen. Zudem finden aktuell Gespräche mit Herstellern von Lieferrobotern statt. „Alles, was bald mobil auf dem Gehweg ist, muss eigentlich für Blinde hörbar gemacht werden.“ Viele Alltagssituationen, so die Vision, sollen so inklusiver für blinde und sehbehinderte Menschen werden.
Beispiele wie diese zeigen, dass es durchaus Lösungsansätze gibt. Die Frage, wie öffentlicher Raum aufzuteilen und zu nutzen ist, gilt es gerade bezüglich der Interessenkonflikte aber noch differenziert auszuhandeln. Eberhard Tölke mahnt davor, was passiert, wenn vor allem ältere Menschen, die einen Großteil der vulnerablen Gruppe stellen, nicht mehr mobil sind. „In der Folge produzieren wir unsere eigenen Pflegefälle.“ Inklusion ist zum einen eine Frage des Aufeinander-Achtgebens. Zum anderen ist sie auch eine Gestaltungsaufgabe für den urbanen Raum. Margot Daris fasst fordernd zusammen: „Wenn wir öffentliche Räume gestalten, müssen wir berücksichtigen, dass wir sie für alle Menschen nutzbar machen wollen und nicht bloß für körperlich Leistungsfähige zwischen 15 und 45 Jahren.“


Bilder: stock.adobe.com – MarkRademaker, Andreas Friese, stock.adobe.com – elypse, RTB

Radfahren gehört in Deutschland zur Alltagskultur. Sportvereine und viele Ehrenamtliche bieten bundesweit Radfahrkurse für Frauen an. Damit helfen sie Frauen aus anderen Kulturkreisen beim Ankommen. Sie werden physisch mobiler, aber auch psychisch. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Bevor es in den Straßenverkehr geht, trainieren die Frauen verschiedene Manöver auf dem Marktplatz im Stadtteil. In den Pausen geht es immer wieder um die Verkehrsregeln. Die Broschüren hat der Landessportbund in verschiedene Sprachen übersetzt.

Canan Şen hat beim Sportverein Radfahren gelernt.
Inzwischen gibt sie dort selbst Fahrradkurse.

Da stand es, ein rotes Tourenrad mit sieben Gängen und Korb. Es war ein Geschenk, eine Überraschung von ihrem Mann. Aber Canan Şen hatte auch eine Überraschung parat. „Ich kann nicht Rad fahren“, erklärte sie ihm. Als Kind hatte sie es in ihrer Heimatstadt Istanbul nie gelernt. Ihrem Mann, einem gebürtigen Oldenburger, war sie erst drei Jahre zuvor in die Fahrradstadt gefolgt. Jetzt wollte die Buchhalterin endlich Radfahren lernen, mit Anfang 40. Ein Jahr musste sie auf einen Platz im Fahrradkurs warten. Aber das Warten hat sich gelohnt. Inzwischen ist Canan Şen Übungsleiterin und unterstützt andere Frauen dabei, Radfahren zu lernen.
Ihren Kurs hat Canan Şen beim TUS Bloherfelde im Westen Oldenburgs gemacht. Es ist einer von vielen Sportvereinen, die über den Landessportbund Niedersachsen (LSB) Fahrradkurse für Migrantinnen, Geflüchtete und sozial Benachteiligte anbieten. Ihr Motto ist: „Radfahren vereint“. 2016 startete der Landessportbund die Kurse. Damals waren über eine halbe Million Menschen vor dem Krieg in Syrien nach Deutschland geflohen. Viele saßen in den Unterkünften fest, fernab der Zentren und ohne Bus- und Bahnverbindung. Um ihnen das Ankommen zu erleichtern und Behördengänge überhaupt möglich zu machen, organisierten Privatleute vielerorts gebrauchte Fahrräder und brachten sie in die Unterkünfte. Schnell weitete sich ihr Engagement aus. Sie sammelten Spendenräder, organisierten Fahrradreparatur-Workshops und unzählige Fahrradkurse für Frauen.
Viele der Ehrenamtlichen wollten damals eigentlich nur kurz helfen, aus einem Impuls heraus. Aber der Bedarf an Rädern und Fahrradkursen für Frauen reißt seitdem nicht ab. Einige Konzepte wurden erst zu Projekten und dann zu Vereinen wie beispielsweise „Bike Bridge“ aus Freiburg und „Westwind“ aus Hamburg oder „Radfahren vereint“ in Niedersachsen. In kleinen Teams machen bezahlte und ehrenamtliche Übungsleiterinnen die Frauen seitdem mobil. Dabei ist ihr Angebot weitaus mehr als der Zugang zu einer eigenständigen Mobilität. Das Radfahren öffnet ihnen die Tür zu einer neuen Gemeinschaft. Durchs Radfahren werden sie Teil der Gesellschaft.
„Oldenburg ist eine Fahrradstadt, hier fahren alle Fahrrad, Alt und Jung“, sagt Canan Şen. Seit sie Rad fahren kann, fühlt sie sich als Teil dieser Gemeinschaft. Sie fährt damit zu Freunden, zum Einkaufen, in die Wälder und Wiesen rund um Oldenburg und zu ihrer Arbeit im Sportverein. Dort leitet sie seit 2021 das Kinderturnen und wenn es wieder wärmer wird, mit weiteren Übungsleiterinnen wie Susanne Möller auch wieder die Fahrradkurse für Frauen.
Canan Şen ist in ihrem Sportverein kein Einzelfall. Wenn die Frauen erst mal Rad fahren können, wollen sie mehr: Schwimmen lernen, Sport treiben. „Das Radfahren stärkt ihr Selbstbewusstsein“, sagt Übungsleiterin Susanne Möller vom TUS Bloherfelde. In ihrem Kurs hat Canan Şen Radfahren gelernt. Als sie ihr in einer Kurspause erzählte, wie sehr sie Kinder mag, bot Susanne Möller der lebendigen und humorvollen Frau an, das Kinderturnen zu übernehmen. Die gelernte Buchhalterin machte eine Fortbildung und leitet inzwischen drei Kurse pro Woche.
Für den TUS Bloherfelde sind Canan Şen und ihre Kollegin Ayşe Karaman ein Glücksgriff. Die beiden Frauen sind Vorbilder. „Sie vermitteln den Teilnehmerinnen das Vertrauen und die Zuversicht: Was sie schaffen, kann ich auch schaffen“, sagt Susanne Möller. Ihr Erfolg motiviert die anderen.
Das hilft den Frauen durchzuhalten. Für sie ist es anstrengend, Radfahren zu lernen. Der Bewegungsablauf ist ungewohnt und muss für die Erwachsenen gut vorbereitet werden. Deshalb starten die Übungsleiterinnen zunächst mit Gleichgewichtsübungen in der Sporthalle an Geräten. Sobald das klappt, wechseln sie auf Erwachsenenroller und spätestens am dritten Übungstag aufs Rad. Zweimal pro Woche trainieren sie. Nach fünf Wochen können die Frauen Rad fahren.

Der Anfang ist schwer: Damit die Frauen sich sicher fühlen, haben die Fahrräder einen extrem tiefen Einstieg. Der Sattel wird tief gestellt, dass die Frauen mit ihren Fußspitzen den Boden berühren.

Bevor es aufs Rad geht, trainieren die Teilnehmerinnen ihre Balance. Die Bewegungen beim Radfahren sind für viele von ihnen neu. Die Übungen geben ihnen Sicherheit.

Fahrradkurse bringen neue Vereinsmitglieder

Die Fahrradkurse verändern auch das Vereinsleben. „Wir erreichen plötzlich eine ganz andere Zielgruppe“, sagt Susanne Möller. Die typischen Mitglieder von Sportvereinen kommen traditionell aus der Mittelschicht. Über die Fahrradkurse lernen die Teilnehmerinnen Canan Şen kennen. Sie vertrauen ihr und bringen ihre Kinder zum Turnen. Inzwischen hat die Geschäftsführung Sportkurse für Frauen so arrangiert, dass in der Zeit keine Männer in den Hallen sind. Das macht die Kurse auch für Frauen muslimischen Glaubens attraktiv und sie beginnen Sport zu treiben.
Im Stadtteil Bloherfelde arbeitet der TUS eng mit der städtischen Gemeinwesenarbeit (GWA) zusammen. Das ist eine soziale Einrichtung, die in vier Nachbarschaftshäusern stadtweit unter anderem Deutschkurse anbietet. Den Teilnehmerinnen wird automatisch ein Fahrradkurs angeboten. Finanziert werden sie vom Landessportbund (LSB). Der bezuschusst auch die Grundausstattung, also die Fahrradflotte und die Tretroller für die Erwachsenen. Die GWA steuert weitere Fahrzeuge bei und hält die Flotte instand. 46 Fahrradkurse für Frauen hat der LSB Niedersachsen 2023 organisiert und landesweit rund 400 Frauen aufs Rad gebracht.

„Sie vermitteln Teilnehmerinnen das Vertrauen und die Zuversicht: Was sie schaffen, kann ich auch schaffen.“

Susanne Möller, TUS Bloherfelde

Freiburg: Begegnung und Bewegung anbieten

Von diesen Rahmenbedingungen konnte Shahrzad Enderle in den Jahren 2015 und 2016 nur träumen. Sie ist eine der drei Gründungsmitglieder von Bike Bridge, einem Verein in Freiburg, der ebenfalls seit 2016 Fahrradkurse für Frauen anbietet. Für die drei Gründerinnen ist das Fahrrad Mittel zum Zweck; es macht die Frauen mobil, bringt sie in Bewegung und ermöglicht Begegnungen mit der lokalen Bevölkerung. Mittlerweile finanzieren Sponsoren und Partner die verschiedenen Bike-Bridge-Angebote. Aber als Shahrzad Enderle 2015 zum ersten Mal eine Unterkunft für Schutzsuchende besuchte, stand sie allein auf dem Hof und hatte eigentlich nur eins mitgebracht: jede Menge Zeit.
Damals war sie noch Doktorandin im Bereich Sportsoziologie. Als sie das Fußballprojekt für Kinder in der Unterkunft besuchte, tobten die Kleinen zwischen den Männern übers Gelände. Frauen sah sie dort keine. Ein Mann aus Afghanistan berichtete ihr, dass seine Frau ihr Zimmer nur selten verlasse, so wie viele andere Frauen. „Viele waren einsam und deprimiert“, erinnert sich Shahrzad Enderle. Die Doktorandin besuchte sie und fand in unzähligen Gesprächen heraus, dass die Frauen sich vor allem eines wünschten: Sie wollten Fahrradfahren lernen. Mit zwei Kommilitoninnen vom Sportinstitut organisierte sie für sie einen Kursus. „Eigentlich war das als einmalige Aktion geplant“, sagt sie. Aber am letzten Tag überreichten die Absolventinnen dem Dreierteam eine lange Liste mit Namen von Frauen, die ebenfalls Radfahren lernen wollten.

Was brauchen Migrantinnen?

Die drei waren gut vorbereitet. In den zurückliegenden Wochen hatten sie ein Konzept entwickelt, wie es weitergehen sollte. Dazu gehörten Kurse für Anfängerinnen und Fortgeschrittene, Radtouren zu zweit oder in Gruppen, Fahrradreparatur-Workshops und vieles mehr. Ihr Konzept hatte auch schon einen Namen: Bike Bridge. Die Idee dahinter war, Bewegung und Begegnung stets zu verbinden. Die Frauen sollten ihre neu gewonnenen Fähigkeiten festigen, weitere erwerben und einander gleichzeitig besser kennenlernen und weitere Kontakte knüpfen. Das hatten sich die Teilnehmerinnen und die Trainerinnen gewünscht.
Die neue Fähigkeit, die Freiheit, im Alltag selbstständig mobil zu sein, hat in Freiburg das Leben vieler geflüchteter Frauen verändert. „Sie haben Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit durchs Radfahren gewonnen“, sagt Shahrzad Enderle. Eine ihrer Teilnehmerinnen habe sich lange nicht getraut, sich zu einem Deutschkurs anzumelden. Als sie jedoch Radfahren konnte, meldete sie sich an. Eine weitere ehemalige Teilnehmerin lebt mittlerweile außerhalb Freiburgs in einem kleinen Dorf. Sie bringt ihre Tochter dort täglich mit dem Rad zur Kita und fährt anschließend direkt weiter zur Arbeit. Ohne Fahrrad sei das unmöglich, weil zu der Zeit keine Busse fahren, sagt Shahrzad Enderle und fügt hinzu: „Das Radfahren ebnet der Frau den Weg in die Arbeitswelt.“

Sharing-Mobility erklären

Shahrzad Enderle kann Dutzende dieser Geschichten erzählen. Aber weiterhin gibt es viele Hürden im Fahrradalltag ihrer Zielgruppe. Dazu gehört auch das Bike-Sharing-Angebote in Freiburg. „Unsere Teilnehmenden kennen die Räder von Nextbike by Tier. Aber sie haben sich nie getraut, das System auszuprobieren“, sagt Shahrzad Enderle. Um das zu ändern, hat Bike Bridge den Workshop „Cycling Mobility“ entwickelt, für Männer und Frauen.
Die erste Herausforderung ist die Sprache. Damit alle Teilnehmerinnen jeden Schritt der Ausleihe verstehen, hat das Team die Anweisungen in verschiedene Sprachen übersetzt und in Abstimmung mit dem Sharing-Anbieter in einer Infobroschüre zusammengefasst. In dem Workshop wird zunächst die App erklärt, dann testen sie gemeinsam die Ausleihe und die Rückgabe der Räder. „Sharing-Angebote sind günstig und praktisch und deshalb für unsere Zielgruppe interessant“, sagt Shahrzad Enderle. Das gilt auch für die vielen freien Lastenräder in der Region. Für viele Workshop-Teil-nehmerinnen sind sie interessant, schließlich können sie damit im Alltag ein Auto ersetzen.
Viele der Angebote wie den neuen Workshop kann das Bike-Bridge- Team umsetzen, weil Privatleute, Sponsoren und Partner den Verein finanziell, aber auch mit Sachspenden unterstützen. Inzwischen gibt es Bike Bridge in den acht Städten Freiburg, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg, Köln, München, Leipzig und Berlin.

„Die brauchen Fahrräder, machen wir mal ein paar fertig.“

Christian Großeholz, Westwind

Zwei Nachmittage pro Woche sind die Freiwilligen in der Werkstatt. 500 Räder setzen sie hier jedes Jahr wieder in Gang. Darunter unzählige Kinderräder.

Hamburg: bezahlbare Räder für alle

Mit ihrer Arbeit erleichtern Bike Bridge und der TUS Bloherfelde neuen Mitbürgerinnen und Mitbürgern das Ankommen und verhelfen ihnen zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe. Die Initiative „Westwind“ im Norden von Hamburg macht das auch. Allerdings ist für das Team um Christian Großeholz, einer der Westwind Gründer, allein die Finanzierung der Miete ihrer Lagerhalle jedes Jahr eine Zitterpartie. 42.000 Euro müssen sie dafür über Spenden zusammenkratzen. Für ihn ist es jedes Jahr aufs Neue ein Kraftaufwand. Großeholz ist kein Zahlenmensch, er ist Praktiker, Fahrradmechaniker. Als 2015 die ersten Kriegsflüchtlinge aus Syrien in abgelegenen Lagerhallen in Hamburgs Norden untergebracht wurden, sagte er zu seiner Freundin: „Die sitzen da fest. Die brauchen Fahrräder, machen wir mal ein paar fertig.“
Daraus ist Westwind entstanden. Eine Initiative, die Fahrradkurse für Frauen anbietet, Radtouren für jugendliche Migrant*innen organisiert, mit ihrer mobilen Fahrradreparatur-Werkstatt in Flüchtlingsunterkünften Räder repariert und einkommensschwachen Familien jeglicher Herkunft zu verkehrstüchtigen Fahrrädern verhilft.
„2015 dachten wir, wir machen 20 Räder für eine Unterkunft fertig und das war‘s“, sagt Großeholz. Aber er irrte sich. Der Bedarf riss nicht ab, also machte er auch weiter. Mit rund einem Dutzend ehrenamtlicher Helfer arbeitet er mittlerweile an zwei Nachmittagen in der Woche gebrauchte gespendete Räder auf. An diesem Nachmittag steht er in der Lagerhalle im Hamburger Norden zwischen Hunderten Kinder- und Erwachsenenrädern. Etwa die Hälfte von ihnen ist bereits fahrbereit. Das Westwind-Team hat die Naben- und Kettenschaltungen sorgsam auseinandergenommen und wieder zum Laufen gebracht, Bremsen erneuert, Nabendynamos eingebaut, Sättel getauscht, Klingeln angeschraubt und vieles mehr. Die Zeit drängt. Der erste Samstag im März ist der erste von fünf Verkaufstagen für Westwind in diesem Jahr. Allein an dem Tag sollen etwa 100 Fahrräder einen neuen Besitzer bekommen.

Fahrradkauf wird zum Erlebnis

Der Verkaufstag bei Westwind ist jedes Mal etwas Besonderes. „Wir wollen den Käufern ein normales Einkaufserlebnis bieten“, sagt Großeholz. Deshalb wird vorher in der Halle Platz gemacht, aufgeräumt und die Lastwagen von den Nachbarn vom Hof gefahren. „Wir reihen die Räder dann auf wie in einem Showroom“, sagt Großeholz. Dann folgen Verkaufsgespräche wie in jedem Fahrradladen: Wofür ist das Rad gedacht? Wird es nur in der Stadt gefahren oder auch im Gelände? Und so weiter.
Wie groß der Bedarf an günstigen Rädern in Hamburg ist, zeigt die Warteschlange. Wenn wir um zehn Uhr zur Halle kommen, stehen dort manchmal bereits 20 Leute und warten“, sagt Großeholz. Dabei beginnt der Verkauf erst eine Stunde später, um 11 Uhr. Sobald einer aus dem Westwind-Team dann das Rolltor hochschiebt, sind sie alle für die kommenden drei Stunden im Dauereinsatz. Sie führen Räder vor, stellen Sattelhöhen ein und lassen Kinder und Erwachsene Probe fahren. Für sie ist es jedes Mal bewegend, wenn die Kinder stolz ihr neues Rad vom Hof schieben oder Erwachsene plötzlich die Leichtigkeit des Radfahrens entdecken, wie kürzlich eine 20-jährige Kurdin mit Downsyndrom. Sie hat bei Westwind ein Dreirad gekauft. „Die junge Frau saß bei uns zum ersten Mal in ihrem Leben auf einem Fahrrad“, sagt Großeholz. Nach ihren ersten Metern auf dem Hof strahlte sie. Es sind diese Erlebnisse, die das ganze Team antreiben, weiterzumachen.
Auch wenn die Räder gespendet wurden, kostenlos sind sie nicht. „Die Kunden müssen eine Sozialgebühr bezahlen“, sagt der Fahrradexperte. Die Kinderräder kosten 15 Euro, Jugendräder 30 Euro und ein Erwachsenenrad 50 Euro. Westwind deckt damit gerade so die Kosten, die ihnen beim Aufarbeiten entstehen. Mehr nehmen wollen sie nicht. „Für einige unserer Kunden sind 50 Euro richtig viel Geld“, sagt Großeholz.
Dafür bekommen sie aber auch etwas: ein Stück Freiheit. „In Hamburg kommen Jugendliche und Erwachsene mit dem Rad überall hin“, sagt der Fahrradmechaniker. Sie brauchten kein Auto, keinen Bus und keine Bahn. Außerdem werden sie mit dem Fahrrad einer von vielen. Radfahren sei in Hamburg Alltagskultur. Mit ihrer Arbeit macht Westwind seine Kunden zum Teil dieser Bewegung. Sie gehören dazu. Egal wo sie herkommen.


Bilder: TUS Bloherfelde, Andrea Reidl

Wege und Irrwege zu einem nachhaltigen Verkehr

von Benedikt Weibel

Wer schon immer einen fundierten Abriss der Mobilität über alle Dimensionen und die Grundbedürfnisse des Menschen haben wollte, wird mit diesem Buch fündig. Benedikt Weibel, selber seit Jahrzehnten in führenden Stellen in der Mobilitätsbranche tätig, leuchtet alle Bereiche aus und leitet daraus die Konturen einer – für ihn absolut zwingenden – Verkehrswende ab. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


„Mobilität ist Freiheit; Mobilität ist Grundbedingung für den Wohlstand; Mobilität nimmt permanent zu; Mobilität verursacht ein Viertel des globalen CO2-Ausstoßes – kurz: Die Bewältigung künftiger Mobilitätsströme ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit“, so der Klappentext des im September 2021 erschienenen Buchs. Anders als die meisten anderen Autorinnen und Expertinnen analysiert Benedikt Weibel die Gesamtheit der Verkehrsakteure – privat, öffentlich und im Transportwesen – in ihren komplexen Zusammenhängen.
Sein gut begründetes Fazit: „Die Verkehrswende ist zwingend und dringend. Sie ist machbar, auch finanziell, und in einer Weise umsetzbar, dass die Freiheit der Mobilität erhalten bleibt und die Lebensqualität steigt.“ Die Zutaten, die es seiner Meinung nach für die Umsetzung braucht, seien „politischer Wille, Bewusstsein für die Dringlichkeit, technischer Fortschritt sowie tatkräftige, kluge Köpfe in einer effizienten Umgebungsorganisation.“ Seiner Auffassung nach führt allerdings nur „eine konzertierte Aktion, die den ganzen Werkzeugkasten einsetzt“, zum Erfolg. Wie die nötigen Werkzeuge aussehen und wie sie einzusetzen sind, beschreibt er dabei ebenso wie die unterschiedlichen Aktionsfelder und Ziele.

Benedikt Weibel ist promovierter Betriebswirtschaftler, Manager und Publizist. In seinem Berufsleben war er unter anderem als Generaldirektor der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), als Präsident des Verwaltungsrats der Schweizerischen Rheinhäfen sowie als Honorarprofessor an der Universität Bern tätig. Seit 2008 ist er Präsident des Aufsichtsrats der privaten österreichischen Westbahn. 2013 wurde er mit dem European Rail Award ausgezeichnet.


Wir Mobilitätsmenschen Wege und Irrwege zu einem nachhaltigen Verkehr | von Benedikt Weibel | Verlag NZZ Libro, Basel | Sept. 2021 | ca. 200 Seiten, gebunden | ISBN 978-3-907291-56-6 | 34,00 Euro


Bilder: NZZ Libro, Michael Stahl

Elektromotoren und vor allem leistungsfähige Akkus haben eine kaum überschaubare Vielfalt kleiner und umweltfreundlicher Verkehrsmittel und Mobilitätshilfen hervorgebracht, und ständig kommen weitere hinzu. Um diese sichtbar und erlebbar zu machen und die Mobilitätswende voranzubringen, plädieren unsere Gastautoren Dipl.-Ing. Konrad Otto-Zimmermann (The Urban Idea) und der Verkehrsplaner Prof. Dr. Oliver Schwedes für ein „EcoMobileum“ als neue Erlebniswelt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Die Verkehrsplanung und die Fachdiskussion unterscheiden üblicherweise zwischen Fußgängerverkehr (Fuß), Radverkehr (Rad), motorisiertem Individualverkehr oder auch Pkw (MIV/Pkw) und dem öffentlichen Verkehr (ÖV). Rad wird dabei auf das Fahrrad beschränkt, das Pedelec eingeschlossen. Zwischen dem Fußverkehr einerseits und dem Pkw bzw. Öffis andererseits gibt es aber wesentlich mehr Bewegungsmittel als nur Fahrräder. Zum einen gibt es eine wahre Räderwelt: Bewegungsmittel mit ein, zwei, drei, vier oder mehr Rädern; mit ein, zwei oder mehr Sitzen; zur Eigenbeförderung oder zum Personen- und Gütertransport. Zum anderen gibt es Schnee-, Schwimm- und Flugzeuge. Es gibt muskelkraftbetriebene „Human Powered Vehicles“ (HPV) und solche mit Elektroantrieb sowie wenige mit Brennstoffzelle. Unsere Datenbank erfasst bereits über 700 verschiedene Typen solcher Bewegungsmittel.
Diese Verkehrsmittel „zwischen Schuh und Auto“ zeichnen sich durch ein menschliches Maß aus und setzen sich damit von den heute noch den öffentlichen Stadtraum dominierenden, immer größeren Fahrzeugen ab. Im Kontrast zu den groben, schweren, bis hin zu kolossalen, dickwanstigen „Boliden“, lassen sich die Bewegungsmittel mit menschlichem Maß als „fein“ charakterisieren, gemäß Duden also als angenehm, vorzüglich, hochwertig, leise, von zarter Beschaffenheit, erfreulich und lobenswert. Die Fahrzeuge im Spektrum „zwischen Schuh und Auto“ bezeichnen wir hier daher mit dem Arbeitsbegriff „Feinverkehrsmittel“. In der Feinmobilität sehen wir einen beträchtlichen Beitrag zur Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschonung sowie zur Entlastung der Stadträume, zur Steigerung der städtischen Lebensqualität – und damit zur Mobilitätswende. Das Potenzial dieser Fahrzeuge bleibt, mit Ausnahme des Fahrrades und dank des Hypes im Jahr 2019 des Elektrotretrollers, in der vorherrschenden Diskussion weitgehend unberücksichtigt (siehe Kasten).

Reality Parcours zum Ausprobieren von Fahrzeugen der Feinmobilität unter realitätsnahen städtischen Bedingungen.

Bedarf an Exposition

Wir haben festgestellt: Viele kleine, umweltfreundliche Verkehrsmittel und Mobilitätshilfen existieren, sind aber nicht verfügbar. Das heißt, sie sind auf dem Markt, aber zumeist nicht bekannt, nicht auf den Straßen zu sehen und nicht im örtlichen Handel erhältlich. Welche Hemmnisse gibt es?

Hemmnis 1: Branchenstruktur. Der Markt der Fahrzeuge und Mobilitätshilfen ist stark segmentiert durch eine starre Branchenstruktur: Fahrradhandel, Motorradhandel, Industrielogistik, Sanitätshäuser, Sportbedarf, Eltern & Kind, Spielwaren, Elektromobile. Eine Branche „Feinmobilität“ fehlt. Es gibt keine „Mobilitätsläden“. Das erschwert sowohl interessierten Bürgern den Zugang zu umweltfreundlichen Alternativen zum Automobil, als auch den Herstellern den Zugang zur interessierten Kundschaft. Etliche interessante Fahrzeuge aus der Industrielogistik werden nur Business-to-Business vertrieben und sind für den Normalbürger nicht erhältlich. Fahrzeuge wie Mobility Scooter, die eine flotte Fortbewegung im städtischen Raum ermöglichen, werden bislang fast nur als Seniorenmobile über den Sanitätshandel vertrieben und leiden damit unter einer entsprechenden Stigmatisierung.

Hemmnis 2: Marktzugang für innovative Bewegungsmittel. Die meisten der Feinverkehrsmittel werden von kleinen und mittleren Unternehmen hergestellt. Diese Unternehmen haben oft keinen breiten Marktzugang. Viele neue, innovative Produkte passen nicht in das o.g. Branchen-schema, und Entwickler wie auch Start-ups finden keinen adäquaten Platz in der Branchen- und Vertriebsstruktur und damit keinen ausreichenden Zugang zu potenziellen Kunden.

Hemmnis 3: Klassifikationen und Nomenklatur. Das „feine“ Segment städtischer Mobilität – diejenige mit Fahrzeugen zwischen Schuh und Auto – leidet an fehlender einheitlicher Nomenklatur und Klassifikation. Zahlreiche Fahrzeuge, darunter viele innovative Neuentwicklungen, haben keine generische Typenbezeichnung. Beispielsweise werden viele von ihnen „E-Scooter“ genannt, eine Bezeichnung, die kaum eine Unterscheidbarkeit verleiht, weil sie Elektro-Motorroller ebenso umfasst wie Seniorenmobile, Dreirad-Stehmobile und Zweirad-Tretroller. Beispielsweise werden drei- oder vierrädrige Elektro-Fahrsessel mal als Elektromobile, mal als Mobility Scooter, mal als Seniorenmobil bezeichnet. Mit bauartbedingter Begrenzung auf 15 km/h gelten sie als Krankenfahrstühle, wenn sie die Höchstgeschwindigkeit von 45 km/h ausreizen, als vierrädrige Leichtkraftfahrzeuge bzw. als Kleinst-Pkw.

Wertvoll: draußen unterwegs sein, auch mit Handicap. Viele umweltfreundliche Verkehrsmittel und Mobilitätshilfen sind verfügbar, aber kaum sichtbar.

Erfahrung ermöglichen: Campus für nachhaltige Mobilität

Ideen für den Wandel städtischer Mobilität gibt es inzwischen viele – es gibt jedoch keinen Ort, an dem die Mobilität der Zukunft in ihrer Diversität schon jetzt erlebt werden kann. Es gibt eine nahezu stufenlose Palette von „feinen“ Fahrzeugen und Mobilitätshilfen, die eine zügige, „ökomobile“ Fortbewegung von Menschen und den Transport von Gütern in urbanen Bereichen ermöglichen. Zusammen mit Zufußgehen und öffentlichen Verkehrsmitteln im Umweltverbund erlaubt ihre Nutzung einen Stadtverkehr, der emissionsarm, energiesparend und sicherer ist, die Straßenräume entlastet und es erlaubt, Straßenflächen an die Menschen für soziale Aktivitäten zurückzugeben.
Soll ein Durchbruch hierhin erfolgen, so ist es nötig, die Welt der Feinmobilität ans Tageslicht zu bringen, die Branchengrenzen aufzubrechen und Orte zu schaffen, an denen die breite Palette existierender sowie ganz neu entwickelter Verkehrsmittel und Mobilitätshilfen für Menschen aller Altersgruppen und physischen Befindlichkeiten verfügbar wird. Wir möchten allen Stadtbewohnern Gelegenheiten geben, nachhaltige Mobilität mit Feinmobilen selbst erfahren zu können. Unter dem Arbeitstitel „EcoMobileum“ konzipieren wir daher eine Erlebniswelt für nachhaltige städtische Mobilität der Zukunft. Dem Automobil sind in Wolfsburg, Stuttgart, Ingolstadt und München Tempel gewidmet. Diesen soll nun ein Campus für nachhaltige Mobilität entgegengesetzt werden.
Ein wesentliches methodisches Merkmal des Ausstellungskonzepts ist es, die Grenzen zwischen den Marktsegmenten bzw. Branchen Fahrrad, Spezialrad, motorisiertes Zweirad, Elektromobile, Eltern & Kind, Sportartikel, Spielzeug, Sanitätsartikel, Industrielogistik u.a. aufzuheben. Idealerweise wird jeder Typ von Bewegungsmittel mit zumindest einem prototypischen Exemplar präsent sein – wenn nicht in Ausstellung und Ausfahrung, so doch im Schaulager.
Die Angebote und die Attraktion des EcoMobileum werden Hunderttausende von Besuchern von nah und fern anziehen. Die Besucher werden dazu angeregt, sich mit der praktischen Seite der Mobilitätswende auseinanderzusetzen: Warum sollte ich mein Mobilitätsverhalten ändern? Welche nachhaltigen Mobilitätsoptionen bieten sich mir? Wie kann ich meine Mobilitätsbedarfe und Transportzwecke mit Verkehrsmitteln und Mobilitätshilfen „mit menschlichem Maß“ erfüllen? Welche feinmobilen Gefährte gibt es dafür?
Wir positionieren unsere Einrichtung als zukunftsorientierte Erlebniswelt für nachhaltige städtische Mobilität im Gegensatz zu einem Verkehrsmuseum mit hohem Anteil von Rückwärtsgewandtheit oder einem Informationszentrum für rein kognitives Lernen. Die Erlebniswelt soll als Katalysator für die persönliche Mobilitätswende wirken, die zur Unterstützung des Gesundheits-, Klima- und Umweltschutzes und zur Rückgewinnung öffentlicher Stadträume für die Menschen notwendig ist. Im politischen Diskurs, auf dem Markt und unter den Erlebnisorten wird die Erlebniswelt eine Nische mit hohem Potenzial füllen.

Zum Konzept

Die Einrichtung soll in ihrem Angebot und Betrieb dynamisch sein, immer aktuelle Themen aufgreifen und die neuesten Produkte präsentieren. Anders als in traditionellen Museen werden die Besucher der Ausstellung dazu ermuntert, die Exponate anzufassen, sich draufzusetzen beziehungsweise einzusteigen und zu testen.
Thematisch wird die Erlebniswelt fokussiert auf:

  • Nachhaltigkeit, Gesundheitsschutz, Umwelt- und Klimaschonung
  • Eine ständige Ausstellung informiert über Kriterien der Nachhaltigkeit (bezogen auf den gesamten Lebenszyklus der Verkehrsmittel und ihrer Infrastrukturen) und legt es Besuchern nahe, die Nachhaltigkeitsmerkmale verschiedener Mobilitätsoptionen und Verkehrsmittel durch Exponate, Informationsterminals, interaktive Lernspiele und Probefahrten zu erfahren, zu verstehen und zu vergleichen.
  • Urbane Räume (Stadt)
  • „Straßenräume für alle“ werden gezeigt; wie kann Feinmobilität die Inanspruchnahme der Straßenräume durch Verkehr minimieren, um den sozialen und kulturellen Funktionen Raum zu geben? Zur Fokussierung werden Fernverkehre und internationaler Waren- und Reiseverkehr ausgeblendet.
  • Abrüstung im Stadtverkehr
  • Ausstellung und Ausfahrung bringen den Besuchern die Welt der feinen Bewegungsmittel nahe.

Format der Erlebniswelt

Das Format unserer Erlebniswelt ist innovativ und einzigartig. Umfangreiche Recherchen und Expertenbefragungen unterstützen unsere Annahme, dass es eine solche Erlebniswelt für nachhaltige städtische Mobilität noch nirgendwo auf der Welt gibt. Wir schaffen einen Ort, an dem die Besucher dazu eingeladen sind, nicht nur in der Ausstellung kognitiv zu lernen, sondern sich vor allem auch durch spaßvolle Fahrerlebnisse für Mobilität zwischen Schuh und Auto zu begeistern und Verhaltensbereitschaften zugunsten der Mobilitätswende zu ändern. Deshalb umfasst die Erlebniswelt eine charakteristische Kombination von fünf Komponenten:

Ausstellung:
  • Fahrzeuge und Mobilitätshilfen
  • interaktive Lernstrecken zu aktuellen Themen der Mobilitäts- und Verkehrsdiskussion
  • unter den Aspekten städtische Lebensqualität, Gesundheit, Klimaschutz
Ausfahrung:
  • verschiedene Parcours, indoor und outdoor, für realitätsnahe Fahrerlebnisse
  • unterschiedlichste Fahrzeuge und Mobilitätshilfen zum Ausprobieren
Animation & Aktionen
  • Besucheranimation auf Veranstaltungsflächen und Parcours
  • zielgruppenspezifische, thematische bzw. saisonale Aktionen
Akademie
  • Dokumentation (Bibliothek, Datenbank)
  • Studien (Arbeitsplätze für Masterstudierende und Doktoranden)
  • Information und Austausch (Vortragsveranstaltungen, Workshops, Kolloquien, Fachtagungen)
Einzigartiges Cuvet: Das Beste von Allem

Die Erlebniswelt vereinigt die besten Charakteristika von verschiedenen vorhandenen Einrichtungsarten:

  • Kognitive Lernerfahrungen vermitteln wir durch interaktive Stationen, die wir aus Science Centers und Technikmuseen kennen und durch Lernstrecken entsprechend moderner Ausstellungsgestaltung.
  • Produkte und Marken präsentieren wir basierend auf unserer Analyse wirksamer Präsentationen in Fahrzeugmuseen, Messeauftritten und Showrooms.
  • Die Vorführung von Fahrzeugen folgt Mustern beliebter und erfolgreicher Fahrzeugparaden.
  • Wir bieten Rennspaß nach Beispielen gelungener Kindermotorparks und Kartbahnen.
  • Wir faszinieren Besucher durch Attraktionen, die Spiel und Spaß bringen nach Vorbildern guter Freizeitparks.
  • Produktentwicklern, die ihren Prototyp oder ihr Vorserienfahrzeug einem breiteren Nutzertest durch Hunderte bzw. Tausende von Besuchern unterziehen möchten, kann ein Testpaket angeboten werden. Sie bringen ihr Fahrzeug, wir bringen die Besucher als Testnutzer. Faszinierend für die Besucher: sie können ein Fahrzeug erleben, das es noch gar nicht auf dem Markt gibt.
Die vernachlässigte Komponente der Mobilitätswende:

Größe und Gewicht

Durchweg ist die Frage zu kurz gekommen, welche Fahrzeuge denn geteilt, klimaschonend angetrieben und digitalisiert werden sollen: Fahrzeuge mit menschlichem Maß oder massive Gebilde? Leichte, feine Fahrzeuge oder monströse Panzerwagen? Damit rufen wir ein neues Themenbündel auf: den Übergang von Kolossalmobilität auf Feinmobilität, von Schwerfahrzeugen auf Leichtfahrzeuge im Stadtverkehr. Warum Feinmobilität? Nüchterne, vernünftige Betrachtung gebietet es, das ökonomische und ökologische Prinzip im Verkehr anzuwenden.

  • Ökonomische Mobilität bedeutet die Erfüllung des Mobilitäts- und Transportbedarfs mit den leichtesten, bezogen auf Raum- und Flächenbedarf kleinsten, energiesparendsten, kostensparendsten (einschl. soziale und Folgekosten) Verkehrsmitteln.
  • Ökologische Mobilität bedeutet die Erfüllung des Mobilitäts- und Transportbedarfs mit den Verkehrsmitteln mit dem geringsten Schadstoffausstoß, dem geringsten Raum- und Flächenbedarf, der geringsten Lärmemission, dem geringsten Ressourcenverbrauch und Abfallanfall über den gesamten Lebenszyklus.

Solche Öko-Mobilität erfordert eine Ausrichtung der Fahrzeuggrößen auf das menschliche Maß und stellt Feinmobile in den Fokus.

Auf den Standort kommt es an

Das Projekt des EcoMobileums als Erlebniswelt für nachhaltige Mobilitätskultur ist ausgereift, machbar und erhält von vielen Seiten Anerkennung. Es wird die erste Einrichtung mit diesem Profil sein. Es verdient einen Standort, an dem die politische Führung das EcoMobileum nicht nur als Tourismus-Attraktion und Besuchermagnet betrachtet, sondern als Katalysator für die persönliche Mobilitätswende der Bürger zur Flankierung der Verkehrswende.

Machbarkeitsstudie erfolgt

Diesem (gekürzten) Artikel liegt eine Machbarkeitsstudie für eine Erlebniswelt zugrunde, die das Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung der TU Berlin und das Freiburger Kreativstudio The Urban Idea mit Förderung durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt erstellt haben (https://www.ivp.tu-berlin.de/AB_Machbarkeitsstudie). Diese Arbeit wurde durch einen wissenschaftlichen Beirat begleitet, dem renommierte Repräsentanten der Zukunfts-, Nachhaltigkeits-, Mobilitäts- und Verkehrswissenschaft, des Freizeit- und Ausstellungswesens sowie des Stiftungswesens angehörten. „EcoMobileum“ ist eine eingetragene Marke von The Urban Idea GmbH.

Zu den Autoren:

Dipl.-Ing., Mag.rer.publ. Konrad Otto-Zimmermann

ist ehemaliger Generalsekretär des Weltstädteverbandes für nachhaltige Entwicklung, ICLEI und Kreativdirektor bei The Urban Idea in Freiburg.


konrad@theurbanidea.com

Prof. Dr. Oliver Schwedes

leitet die Fachgebiete Integrierte Verkehrsplanung, Fakultät für Verkehr und Maschinensysteme an der Technischen Universität Berlin.


oliver.schwedes@tu-berlin.de


Bilder: The Urban Idea 2020, Hase Bikes, HP Velotechnik – pd-f, CityQ, Riese & Müller, pd-f, Kyburz

Kommunen haben es in der Hand: Sie können es Eltern und Kindern schwer oder auch leicht machen, gesund und nachhaltig unterwegs zu sein. Von familienfreundlichen Angeboten profitieren letztlich alle. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


In Städten wie Amsterdam oder Kopenhagen ist das Fahrrad über Jahrzehnte ein Teil der Alltagskultur geworden. Schulkinder, junge Familien und Schwangere sind dort ganz selbstverständlich mit dem Rad unterwegs. Das ist in Deutschland ganz anders. „Bei werdenden Familien ist der Kauf des ersten Autos oder Zweitwagens schon fast die Regel“, sagt Hannah Eberhardt, Verkehrsplanerin aus Heidelberg. Dabei geht es auch anders, vorausgesetzt die Angebote stimmen. Mit ihrer Kollegin Anna Gering hat die Inhaberin des Büros „Verkehr mit Köpfchen“ untersucht, was junge Familien davon abhält, nach der Geburt ihrer Kinder weiterhin das Fahrrad zu nutzen. Im Rahmen ihres Forschungsprojekts „Radfahren mit Baby“ haben sie Alternativen entwickelt, um diesen Trend zu brechen. Herausgekommen ist eine breite Palette an Empfehlungen und Maßnahmen für Städte und Kommunen.

Nachwuchs: Sorge um Gesundheit und Sicherheit

Die Aussicht, anfangs unkompliziert ein Auto nutzen oder mieten zu können, sei zentral für junge Eltern, sagt Hannah Eberhardt. Sie könnten sich nicht vorstellen, ihre Babys auf dem Fahrrad mitzunehmen. Sie sorgen sich beispielsweise, dass die Schadstoffbelastung auf dem Rad oder im Kinderanhänger höher sei als im Auto. Exakte wissenschaftliche Untersuchungen dazu gibt es kaum, aber Zwischenergebnisse eines Studienprojekts der Hochschule Karlsruhe zeigen, dass die Abgas- und Lärmbelastung für Radfahrende und Kinder im Anhänger nicht höher ist als im Innenraum eines Autos. Besorgten Eltern rät die Verkehrsexpertin, mit dem Fahrrad Nebenstraßen zu nutzen. Dort sei die Luft meist besser und es sei dort auch viel ruhiger. Zudem fürchten manche jungen Eltern, dass ihr Kind Rückenschäden davontrage, wenn sie mit ihrem Rad über aufgebrochene Radwege oder nicht abgesenkte Bordsteine holpern. Die Ärzte und Hebammen, die Hannah Eberhardt dazu befragt hat, empfehlen, Babys erst ab dem dritten Lebensmonat in Sitzschalen im Lastenrad oder einem – idealerweise gefederten – Kinderanhänger mitzunehmen. Wer vorher darauf angewiesen sei, könne spezielle Babyschalen oder Halterungen nutzen, die wie Hängematten funktionieren.
Ein großes Problem auch für die Eltern selbst ist die subjektive Sicherheit. Selbst erfahrene Radfahrerinnen und Radfahrer fühlen sich als junge Eltern unwohl, wenn sie ihr Kind auf dem Rad dabeihaben und Autos nur wenige Handbreit an ihnen vorbeirauschen. „Sie wünschen sich sichere Wege und eine deutliche Trennung vom Autoverkehr“, sagt die Verkehrsexpertin. Deshalb ist ihre zen-trale Forderung: mehr Platz fürs Rad. Dazu gehört, dass sowohl die Rad- wie auch die Fußwege zu deren Nutzung Kinder bis zum achten Lebensjahr ja verpflichtet und bis zum zehnten Lebensjahr berechtigt sind, konsequent freigeräumt werden. „Mütter und Väter müssen ihre Kinder stets im Blick haben. Auch, wenn sie auf ihren Lauf- oder Fahrrädern unterwegs sind. Theoretisch dürfen sie ihren Nachwuchs sogar auf dem Gehweg begleiten.“ In der Praxis ist auf dem Gehweg für das Überholen oder den Begegnungsverkehr, geschweige denn Lastenräder oder Kinderanhänger aber kein Platz. Schon deshalb ist für Familien eine konsequente Parkraumüberwachung durch die Kommunen wichtig.

Verhaltenswechsel und Angebote zum Ausprobieren

Mit 700 jungen Vätern und Müttern haben Hannah Eberhardt und Anna Gering im Rahmen ihres Forschungsprojekts „Radfahren mit Baby“ gesprochen. Einige berichteten, dass ihnen das alte Auto ihrer Eltern angeboten wurde, als sie ein Kind erwarteten. „Es ist in Deutschland gesellschaftlicher Konsens, dass Familien mit Kind ein Auto brauchen“, sagt Hannah Eberhardt. Städte und Kommunen können aber mit einem vielseitigen Mobilitätsangebot speziell für Eltern gegensteuern. Ein Beispiel ist das Programm „Go!Family – mit Baby unterwegs“ (gofamily-muenchen.de) mit dem die Stadt München Radfahren, ÖPNV-Nutzung und Carsharing für junge Eltern bewirbt. Mit dem zweiten Platz in der Kategorie Kommunikation beim Deutschen Fahrradpreis 2021 wurde kürzlich der aus dem Forschungsprojekt der beiden Expertinnen hervorgegangene Heidelberger Verein Fahrrad & Familie (fahrrad-und-familie.de) ausgezeichnet: Mit Proberadel-Angeboten können Familien hier Fahrradanhänger, Lastenräder, Kindersitze, Lauf- und Kinderräder kostenlos testen – bei einem Aktionstag oder für einige Wochen im Alltag. Wichtige Bestandteile sind zudem eine hersteller- und händlerunabhängige Beratung und Informationsmaterialien in verschiedene Sprachen, u.a. Russisch, Rumänisch, Türkisch, Englisch, Spanisch und Französisch. „Das Besondere ist, dass wir Familien mit Babys oder Paare bereits vor der Geburt des Kindes unterstützen, um in dieser Umbruchsituation Hemmnisse abzubauen.“

Informationsbedarf zu bestehenden Lösungen

Wer mit einem Kind unterwegs ist, braucht meist mehr Stauraum. Und spätestens bei zwei Kindern macht der Kauf eines geeigneten Cargobikes oder Kinderanhängers Sinn. Die Fahrradbranche hält hier inzwischen ein reichhaltiges Angebot bereit, und vor allem die Motorunterstützung bedeutet in vielen Regionen einen Quantensprung und macht Begleitmobilität per Rad mit Kindern überhaupt erst möglich. Allerdings kennen sich nur wenige Mütter und Väter mit den Fahrzeugen aus. Hier braucht es Aufklärung, Informationen und auch die Möglichkeit, entsprechende (E-)Cargobikes oder Kombinationen von Fahrrad, E-Bike und Anhänger erst einmal auszuprobieren, bevor man mehrere Tausend Euro investiert. Gerade Hebammen sind nach den Erfahrungen von Hannah Eberhardt hier sehr gute Multiplikatorinnen. Viele Mütter suchten bei ihnen Rat zum Unterwegssein mit dem Baby. Deshalb hat sie mit ihren Kollegen einen Workshop für Hebammen entwickelt mit einem theoretischen Part und Testfahrten. Im Rahmen eines Förderprojekts hat sie in Heidelberg zudem den Verein „Fahrrad & Familie“ mitgegründet. Der informiert und verleiht Räder und Anhänger an Familien, die damit die Alltagstauglichkeit am Wohnort testen können.

Der Verein „Fahrrad & Familie“ verleiht Cargobikes und Lastenräder für den Alltagstest. Schließlich müssen die Fahrzeuge am Wohnort auch sicher abgestellt werden können.

Radfahren und Sharing bei Neubauten mitdenken

„Wer mehr Radverkehr will, der muss dafür auch die Bedingungen am Wohnort schaffen“, betont Hannah Eberhardt. Beim Neubau müsse der Radverkehr stets mitgedacht werden. Das kann sich für Bauherren sogar lohnen. Denn wenn Stellplätze für Autos in Fahrradstellplätze verwandelt werden, sparen sie viel Geld. Oberursel hat 2019 deshalb die Stellplatzsatzung geändert. Die Bauherren waren die Wegbereiter für den Wandel. „Sie haben darauf hingewiesen, dass teilweise zwischen 25 und 50 Prozent der Stellplätze leer stünden, die sie laut Satzung bauen mussten“, sagt Uli Molter, Abteilungsleiter der Verkehrsplanung in Oberursel. Stellplätze sind mit bis zu 25.000 bis 35.000 Euro ziemlich teuer in der 47.000-Einwohner-Stadt im Taunus. Die neue Satzung macht es Bauherren deutlich leichter, auf Stellplätze zu verzichten oder sie beispielsweise in Fahrradstellplätze zu verwandeln. Um den Investoren auf einen Blick zu zeigen, was auf ihren Grundstücken möglich ist, hat Ina Steinhauer, Verkehrsplanerin von Oberursel, das Stadtgebiet in ein Drei-Zonen-Netz eingeteilt. „Je besser der Wohnort an den ÖPNV angeschlossen ist, umso weniger Stellplätze müssen hergestellt werden“, sagt Ina Steinhauer. In der grünen Zone können die Bauherren auf 20 Prozent der Stellplätze verzichten, in der gelben Zone zehn Prozent und in der roten Zone noch fünf Prozent. Legen die Investoren zusätzlich ein qualifiziertes Mobilitätskonzept vor, erweitert sich das Einsparpotenzial um weitere 30 Prozent. Im Gegenzug verpflichten sie sich, Alternativen zu schaffen. Etwa indem sie Sharing-Angebote für Autos oder E-Bikes anbieten oder Fahrradstellplätze einrichten. Für Letztere hat das Land Hessen einen eigenen Leitfaden mit den dazugehörigen Qualitätsstandards erstellt. „Die Abstellanlagen müssen ebenerdig und einsehbar sein und ab 20 Rädern außerdem überdacht werden“, sagt Uli Molter.

„Wer mehr Radverkehr will, muss dafür auch die Bedingungen am Wohnort schaffen.“

Hannah Eberhardt

Selbstständigkeit der Kinder entlastet Eltern

In ihren Gesprächen hat Hannah Eberhardt zudem festgestellt, dass Familien mit Blick auf die Alltagsmobilität und ihr knappes Zeitbudget stark gestresst sind. Dabei liegt die Lösung auf der Hand: „Wenn Kinder selbstständig zur Schule gehen oder fahren, gewinnen Eltern Zeit im Alltag und die Zahl der Elterntaxis vor den Schulen sinkt.“ Auch die Kombination von ÖPNV und Radverkehr ist ein wichtiger Baustein für eine familienfreundliche Mobilität. „Wenn Kinder und Jugendliche selbstständig mit Bus und Bahn unterwegs sind, stärkt das ihr Selbstvertrauen und entlastet außerdem die Familien.“ Berlin macht den Familien den Umstieg leicht. Seit August 2019 gibt es dort ein kostenloses Schülerticket für den ÖPNV. „Das entlastet die Familien auch finanziell und fördert eine nachhaltige Verkehrserziehung“, sagt Eberhardt. Wer früh an die Verfügbarkeit öffentlicher Transportmittel gewöhnt werde, sei vermutlich auch später ökologischer unterwegs. Aber immer noch scheuen viele Eltern davor zurück, ihre Kinder allein zur Schule oder in der Freizeit zu Aktivitäten und Freundinnen gehen oder fahren zu lassen. „Bundesweit liegt die Quote an Elterntaxis vor Schulen bei rund 30 Prozent“, so Nico Rathmann, im Heidelberger Verkehrsamt zuständig für den Fußverkehr. In seiner Stadt sei die Quote vor Schulen deutlich niedriger. „An den städtischen Grundschulen zwischen drei bis fünf Prozent“, sagt er. Dafür tut Heidelberg einiges. In jedem der 15 Stadtteile sind 30 Kinderbeauftragte unterwegs. Sie kümmern sich dort um die Belange der Jüngsten, auch um ihre Mobilität. „Sie haben beispielsweise mit der Polizei, den Schulen und den Elternvertretern Kinderwegepläne für jeden Stadtteil erstellt“, sagt Rathmann. Für ihn sind sie ein wichtiges Bindeglied im Quartier. „Die Anwohner sprechen die Kinderbeauftragten an, wenn ihnen Stellen im Viertel auffallen, die verbessert werden sollten“, sagt er. Außerdem bringen sie immer wieder eigene Verbesserungsvorschläge ein. „Das können Poller sein an Knotenpunkten, eine Mittelinsel auf einer Straße oder eine Schwelle auf der Fahrbahn“, sagt Rathmann. Alles Dinge, die Kindern das Queren erleichtern. „Fußverkehr ist immer eine Detailarbeit. Es sind die kleinen Stellschrauben, an denen man dreht, um etwas zu verändern“, sagt er. Seit 1996 gibt es die Kinderbeauftragten in Heidelberg. Inzwischen sind sie wichtige Beraterinnen für die Verwaltung. „Wir wissen, sie prüfen die Beschwerden. Äußern die Kinderbeauftragten Kritik, ist sie fundiert und berechtigt. Entsprechend schnell prüfen wir ihre Vorschläge“, betont Rathmann. Für Hannah Eberhardt ist ein Perspektivwechsel in der Stadt- und Verkehrsplanung notwendig, um Schwachstellen zu identifizieren und neue, passgenaue, nachhaltige Mobilitätsangebote zu schaffen. Die Expertin sagt: „Was Familien nutzt, nutzt auch allen anderen.“

Vorreiter Wien

In Wien gehört die ganzheitliche Planung von Radverkehr und ÖPNV-Anbindung bei Neubaugebieten praktisch zum Standard. So entsteht zum Beispiel am ehemaligen Nordbahnhof bis zum Jahr 2025 ein neuer Stadtteil, der rund 10.000 Wohnungen für 22.000 Bewohner*innen und ebenso viele Arbeitsplätze bieten soll. Eine besondere Attraktion dieses Stadtteils ist die sogenannte Bike City. Hier kommen auf rund 100 Wohnungen 320 Fahrradstellplätze. Neben Stellplätzen direkt vor der Haustür gibt es in manchen Etagen Abstellräume für Fahrräder und Kinderwagen. Das funktioniert, weil die Fahrstühle so groß sind, dass bequem drei Fahrräder und drei Personen hineinpassen. Eine Vorreiterrolle hat Wien auch beim ÖPNV. Das Jahresticket für Erwachsene kostet hier nur 365 Euro; Jugendliche zahlen pro Jahr nur 19,60 Euro für Fahrtwege zur Schule oder zur Ausbildungsstelle oder 70 Euro für das unbegrenzte Top-Ticket. Zum Vergleich: Das Azubi-Ticket in Berlin kostet 30,42 Euro – pro Monat.


Bilder: Verkehrslösungen, Verkehr mit Köpfchen, Fahrrad & Familie