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Mehr Tempo, mehr Radverkehr

Das Tempo spielt bei der Verkehrsmittelwahl eine große Rolle. Und gerade im Stadtverkehr würde das Fahrrad seine Stärken ausspielen, wenn es denn könnte. Um den Radverkehr zu beschleunigen, hilft es, die Perspektive der Radfahrenden einzunehmen. Schon kleine Eingriffe in die Infrastruktur können oft viel verändern. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Mit ihren Sensor-Bikes misst die Hochschule Karlsruhe die Bedingungen, unter denen Radfahrer*innen unterwegs sind. Sie finden heraus, welche Stellen Kraft kosten, wo zu eng überholt wird und welche Konflikte entstehen.

Fünf Kilometer auf dem Fahrrad können sehr unterschiedlich aussehen. In Stadt A braucht eine Radfahrerin dafür 15 Minuten, kommt entspannt an und konnte sich unterwegs noch Gedanken über ihre Abendgestaltung machen. Ein Radfahrer in Stadt B braucht 23 Minuten und erreicht sein Ziel mit erhöhtem Puls, verschwitztem Rücken und hohem Stresspegel. Während er an einer Ampel steht und wartet, beobachtet er den vorbeiziehenden Autoverkehr und kommt in Versuchung, die Wahl seines Verkehrsträgers zu überdenken.
Wer das ungenutzte Potenzial des Radverkehrs in Städten wie dem fiktiven Ort B heben möchte, muss anerkennen, dass Reisegeschwindigkeit und Stress-Level oft ausschlaggebend bei der Entscheidung für oder gegen das Fahrrad sind. Es reicht nicht, sich für sichere und komfortable Radwege einzusetzen, meint Jochen Eckart. Er ist Professor für Verkehrsökologie an der Hochschule Karlsruhe. „Keiner fährt Fahrrad, weil es sicher ist. Umgekehrt gibt es Faktoren, die nicht so sehr Basis-Voraussetzungen darstellen, aber wenn sie vorhanden sind, eine gewisse Begeisterung erzeugen. Da gehört meiner Meinung nach die Beschleunigung des Radverkehrs dazu, also dass Radfahrer relativ schnell mit einem geringen Kraftaufwand unterwegs sein können.“ Gute Radverkehrsplanung müsse sich beiden Dimensionen widmen. Die Rahmenbedingungen müssen objektive und subjektive Sicherheit erzeugen, letzten Endes müsse aber auch dafür gesorgt sein, dass die Leute gerne Fahrrad fahren. Geschwindigkeit und Komfort seien dafür zentral, so Eckart.

Ein echter Perspektivwechsel

In ihrer Forschung arbeiten Eckart und seine Kolleginnen regelmäßig mit sogenannten Sensor-Bikes. Diese sind mit verschiedenen Technologien ausgestattet und können vielfältige Daten erheben. Eine spezielle Kurbel misst den Kraftaufwand, ein weiterer Sensor prüft den Abstand, mit dem die Testfahrerinnen überholt werden. Auf einer Strecke, die mit den sensorischen Fahrrädern abgefahren wird, lassen sich später die Geschwindigkeit, Beschleunigungs- und Verzögerungsprozesse nachvollziehen. Meist sind die Räder mit einer Kamera ausgestattet, sodass die jeweilige Verkehrssituation in der Auswertung eindeutig erkennbar ist. Auch Umweltfaktoren wie Feinstaub und Wetterdaten werden aufgenommen. Die Forscher*innen erheben im Normalfall auf festgelegten Routen Daten für mehrere Hundert Fahrradkilometer und vergleichen diese mit anderen Verkehrsmodi. Der Ansatz eigne sich weniger für massenhafte Daten, sondern um spezielle Fragestellungen zu klären. So ließe sich dann sogar der Stress-Level der Radfahrenden bestimmen. „Das geht über die Hauttemperatur und die Hautleitfähigkeit. Das sind Sachen, dafür müssen sie die Leute heute nicht mehr verkabeln, aber mit einer Smartwatch und Kameras ausstatten, damit sie sehen, warum die überhaupt gestresst sind“, erklärt Eckart.
In der Auswertung führen die gewonnenen Daten zu genauen Einsichten in das Leben auf dem Fahrrad. Die Radfahrenden fühlen sich ernst genommen und berücksichtigt, meint Eckart. „Ich sehe das als nettes Instrument, die Radfahrer in der Diskussion zu empowern.“ Die ansonsten oft emotionale Diskussion um Straßenverkehr und Mobilität kann so mit Fakten beruhigt und evidenzbasiert ausgerichtet werden.

Kein Stau, aber Ampeln

Forschung aus dem Blickwinkel des Radverkehrs hilft dabei, die Eigenheiten des Verkehrsmodus Fahrrad besser zu begreifen. Bei Strecken bis 3,5 Kilometer, so Eckart, ist das Transportmittel im Stadtverkehr normalerweise schneller als das Auto. Bei Pedelecs erhöht sich dieser Wert sogar auf 4,5 Kilometer, wie ein Forschungsergebnis für die Stadt Karlsruhe belegt. Das liegt an geringen Zu- und Abgangszeiten und daran, dass die Parkplatzsuche quasi entfällt. Eine Studie des Bundesumweltamts aus dem Jahr 2016 sieht noch mal deutlich höhere Werte. Das Pedelec ist dort ab Weglängen von knapp einem halben Kilometer und bis zum Wert von neun Kilometern das schnellste Verkehrsmittel. Auf ganz kurzen Strecken unterliegt es dem Zufußgehen.
Im Gegensatz zum motorisierten Individualverkehr gibt es außerdem selten Stau oder stockenden Verkehr. Wie schnell das Fahrrad letzten Endes sein kann, ist von Stadt zu Stadt dennoch äußerst unterschiedlich. Beispielhaft zeigen die Ergebnisse aus Karlsruhe, dass dort 70 bis 75 Prozent der Zeitverluste an Ampeln entstehen. Der Rest dürfte größtenteils auf das Queren großer Straßen zurückzuführen zu sein.
Explizit Forschung vom Rad aus zu betreiben, bringt auch Feinheiten in den Verhaltensweisen zum Vorschein, die von außen nicht sichtbar sind. Wenn Radfahrerinnen sich Kreuzungen nähren, mag der Eindruck entstehen, dass sie trotz rechts vor links nicht langsamer werden. Die Kraftmessung zeichnet ein anderes Bild. Vor der Kreuzung treten sie deutlich leichter und verzögern minimal, wenn der Weg frei ist, treten sie etwas kräftiger und sind schnell wieder auf der gleichen Geschwindigkeit wie vor der Kreuzung. Sie ignorieren die Verkehrsregeln nicht, sondern reagieren subtil. Solche versteckten Verhaltensweisen erkennen und quantifizieren zu können, darin sieht Eckart eine Stärke des Perspektivwechsels. „Für mich ist ein großer Vorteil, dass es den Fokus anders lenkt und dass wir Sachen aufnehmen, die sonst übersehen werden, weil sie bisher nicht als Standards für Analysen mit dabei sind“, so Eckart. Ein Forschungsvorhaben von Eckart und seinem Team sollte dem Gefühl auf den Grund gehen, dass es auf jeder zweiten Fahrradfahrt zu einem Beinah-Unfall kommt. Dabei kam heraus, dass die meisten Radlerinnen zunächst mal versuchen, konfliktarme Routen zu finden. Außerdem entstanden rund 40 Prozent der beobachteten Konflikte zwischen Fußgängerinnen und Radfahrerinnen.

Keiner fährt Fahrrad, weil es sicher ist.

Prof. Dr. Jochen Eckart, Hochschule Karlsruhe

Sicher oder schnell?

Viele Maßnahmen, die das Radfahren sicherer machen, ermöglichen auch eine höhere Reisegeschwindigkeit. Beispielhaft spielen hier die Breite des Radwegs und die mögliche Sichtweite eine Rolle. Aber auch angehobene Radwege, die für den querenden Autoverkehr eine Schwelle darstellen, sind schneller und sicherer.
Aber nicht immer sind die Zielgrößen miteinander vereinbar, etwa beim Linksabbiegen an Kreuzungen. Dürfen die Fahrräder sich vor die Autos einreihen und in einer Ampelphase abbiegen, wenden sie weniger Zeit auf. Wenn sie zunächst nur die Straße überqueren können, um dann die nächste Ampel zu nutzen, dürfte das eher zur Sicherheit beitragen, aber eben mehr Zeit in Anspruch nehmen. Auch sogenannte Drängelgitter machen unübersichtliche Situationen meist etwas sicherer, für die Zielgröße Reisegeschwindigkeit sind sie aber eher schädlich.
Um das Verkehrsmittel Fahrrad schneller und damit attraktiver zu machen, muss nicht sofort die ganze Stadt umgebaut werden. Es gibt auch schnell verfügbare und minimalinvasive Maßnahmen. Ampeln umzuprogrammieren könnte potenziell einen Großteil der Haltezeiten beim Fahrradfahren eliminieren. Auch Tempo-30-Zonen dürften helfen und wären zumindest theoretisch einfach einzurichten. Durch die geringeren Geschwindigkeitsunterschiede fließen die Radfahrerinnen dort gut mit dem Autoverkehr mit. An manchen Stellen, so Jochen Eckart, könnten die Radfahrerinnen auch von Wahlfreiheit profitieren. Das hieße in der Praxis, den Radfah-rer*innen auch das Fahren auf der Straße zu erlauben. Hier könnte der einzelne Verkehrsteilnehmer dann entscheiden, ob der sicherere Bürgersteig oder die schnellere Straße gerade eher zu seinen Bedürfnissen passen.

Auch Apps und Sensor-Boxen führen Richtung Ziel

Wie Radfahrerinnen sich verhalten und welche Bedürfnisse sie haben, kann nicht nur die Forschung aus Karlsruhe zeigen. Es gibt zunehmend technische Möglichkeiten, die Rad-fahrerinnen nutzen können, um ihr Fahrverhalten zu erfassen. „Da hat sich wirklich viel getan. Unheimlich viele versuchen, die Radfahrenden in die Gewinnung von Daten einzubeziehen“, betont Eckart.
Das Projekt SimRa sammelt Fahrraddaten über eine Smartphone-App und ist dafür 2022 mit dem Deutschen Fahrradpreis geehrt worden. Den ersten Platz in der Kategorie Service und Kommunikation teilte sich das Projekt mit dem OpenBikeSensor. Die kleine Box wird am Fahrrad montiert und misst Seitenabstände nach links und recht und Fahrten über GPS.
Die verbaute Sensorik ist nicht so umfassend wie beim Sensor-Bike, dafür kann die kleine Kiste aber auch selbst gebaut werden. Wer mit dem frei verfügbaren Bauplan mehrere Geräte baut, kommt auf Kosten von etwa 60 bis 80 Euro pro Stück. Der OpenBikeSensor setzt als Open-Source-Projekt eher auf freiwillige Beteiligung der Bevölkerung, eine städtische Unterstützung ist aber denkbar. 20 Sensoren können sich Städte und Initiativen aus Baden-Württemberg auch beim Landesverband des ADFC ausleihen.
Gerade wer große Datensätze über die eigene Stadt erhalten will, stößt mit freiwilligen Teilnehmer*innen schnell an seine Grenzen. Unternehmen wie Bike Citizens bieten deshalb ihre Hilfe bei der Datenerhebung an, was meist auch mit Kampagnenarbeit einhergeht. Fundierte, massenhafte Daten könnten auch mit den qualitativen Daten aus Forschungsprojekten mit Sensor-Bikes oder den kleinen Sensor-Boxen kombiniert werden. Dieser Mixed-Method-Gedanke ist in der Wissenschaft gang und gäbe.

„In Zukunft wird Mobilität ganzheitlich vernetzt sein.“

Markus Papke, Head of Innovation bei Riese & Müller
Moderne E-Bikes könnten der Stadtplanung in Zukunft helfen, indem sie die gesammelten Daten spenden.

Daten direkt vom Hersteller

In Zukunft wäre es auch denkbar, dass die Daten von Herstellern von Fahrrädern und vor allem E-Bikes direkt geliefert werden. Diese bieten vermehrt die Möglichkeit, Fahrräder über GPS-Module zu tracken und Motordaten auch in der Cloud einsehen zu können. Hier könnten freiwillige und anonymisierte Datenspenden immer mehr Informationen zur Verfügung stellen. Laut dem E-Bike-Hersteller Riese & Müller dürften auch Fahrräder bald so vernetzt sein, dass sie mit der Infrastruktur und anderen Verkehrsteilnehmern kommunizieren. Das Fahrrad in solche Prozesse einzubinden, ist wichtig, gerade weil die Automobilbranche sich in Pilotprojekten etwa bereits mit Ampeln vernetzt. „In Zukunft wird Mobilität ganzheitlich vernetzt sein. Und wenn du als E-Bike nicht in dieses Ökosystem reingehst, dann bist du zumindest auf der Connectivity-Ebene ein unsichtbarer Datenpunkt, den kein anderer vernetzter Akteur wahrnehmen kann“, meint Markus Papke, Head of Innovation bei dem hessischen Hersteller. Ohnehin gilt es hier zunächst branchenübergreifende Kommunikationsstandards zu entwickeln.
In höherer Zahl wären Radverkehrsdaten direkt vom Fahrrad für die Planung gut nutzbar. Die Nachfrage nach den detaillierten Informationen der Sensor-Bikes ist seitens der Kommunen bisher noch begrenzt. Jochen Eckart führt das da-rauf zurück, dass viele lokale Knackpunkte, an denen Änderungen nötig sind, bereits bekannt sind, es aber an Ressourcen mangelt, diese Aufgaben abzuarbeiten. Dass sich die Kommunen dann zunächst auf das Offensichtliche konzentrieren, anstatt noch weitere Daten zu erheben, ist in der Praxis nachvollziehbar. Auch große Radverkehrspläne werden nicht jedes Jahr geschrieben.
Der kommunale Datenbedarf soll in einem nächsten Forschungsprojekt mit kommunalen Handlungsträgern von Eckart erforscht werden. „Mich interessiert nämlich: In welchen Einsatzbereichen brauchen Sie Daten, für was brauchen Sie keine? Wie müssen die aufbereitet sein? Ich sehe das als eine Sache, wo wir mehr reingehen müssen. Ihnen einfach nur zu sagen ‚Hier haben wir Daten, seid bitte begeistert‘, das wird es nicht sein.“ Es bleibt abzuwarten, ob das Interesse an Daten aus Radfahrperspektive in den nächsten Jahren nachziehen wird. Am Angebot technischer Möglichkeiten scheitert es jedenfalls nicht.


Was macht den Radverkehr …

… schneller?

– Breite Radwege
– Weite Sicht
– Angehobene Radwege
– Direktes Linksabbiegen
– Tempo 30
– Wahlfreiheit zwischen Bürgersteig und Straße

… langsamer?

– Rote Ampeln
– Drängelgitter
– Linksabbiegen mit zwei Ampeln
– Stressige Überholsituationen


Bilder: stock.adobe.com – Kara, John Christ, Jochen Eckart, Anne Sophie Stolz, Riese & Müller – Lars Schneider, stock.adobe.com – BlackMac