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Eine Schweizer „Klima-Hacker“-Genossenschaft möchte neue Impulse für Mobilität setzen. Inspiriert von Pfadfindern erstellt sie ein simples Modell: Auto weg, alles andere gratis nutzen. Die Stadt Winterthur testete die Kampagne 31Days diesen Sommer. Wie das Modell funktioniert und was die Macher sich versprechen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Die Sache ist leicht erklärt, die Website macht ein einfaches Angebot: „Erlebe für 31 Tage kostenlose Mobilität.“ Was vielen kommunalen Verkehrspolitiker*innen aus dem fantasiebefreiten föderalen Betrieb der Bundesrepublik wie eine Utopie vorkommen muss, ist in der Schweiz bereits Realität geworden. Im zurückliegenden Sommer ließen 1000 Menschen in der Stadt Winterthur ihre Autos stehen, fotografierten den Kilometerstand und durften erst einen Monat danach wieder die Zündung betätigen. Dafür bekamen sie ein komplettes Paket für Fahrten im Nah- und Fernverkehr, sie fuhren mit eigenen Fahrrädern oder mit Leih-E-Bikes, und sie konnten sogar mit einem kleinen Fahrtenguthaben auf die Flotte des Schweizer Carsharing-Anbieters Mobility zurückgreifen. Für diesen Probemonat multimodaler Mobilität zahlten sie nur mit dem Verzicht auf ihr eigenes Auto. 31Days, so der Name dieser Aktion, erlebte eine starke Nachfrage. 3300 Menschen hatten sich laut Organisator für die Aktion registriert. Sie wollten den Gratismonat ohne Auto. Wenn es nach den Initiatoren geht, soll daraus mehr werden. Und die Stadt hofft, dass die Menschen dauerhaft ihr Verkehrsverhalten ändern. „Es ging uns um Sensibilisierung, um die Diskussion und auch darum, Menschen beim Einstieg in langfristig klimafreundliche Lebensweisen zu inspirieren“, erklärt Lukas Schmid, Kommunikationsmitarbeiter im zuständigen Amt der Stadt Winterthur.

Eindeutig lockend: Mit der direkten Ansprache und einem klaren Nutzenversprechen geht das Schweizer Projekt direkt die Menschen an – ungewöhnlich für sonst eher sperrige ÖPNV-Themen.

Hacken für das Klima – eine Schweizer Genossenschaft

Wie kann es gelingen, das Verkehrssystem klimafreundlich umzubauen und dabei relevante Effekte zu erzielen? Mit der Skalierungs- und Disruptions-Logik von Tech-Denkern macht sich die Schweizer Genossenschaft 42hacks genau an diesen Fragenkomplex. Sie ist ein Zusammenschluss von Start-up-Unternehmern und Hacker*innen mit Sitz im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Jessica Schmid ist eine der Mitgründerinnen dieser Genossenschaft, die sich als „Climate Hacker Community“ beschreibt. Neben dem Mobilitätssektor suchen die Hacker auch nach Wegen, um das Klima in den Sektoren Ernährung und Haushalt positiv zu beeinflussen. Sie spricht im Stil echter Tech-Gründer und neigt nicht zu unklaren Worten: „Wir sind extrem selbstkritisch. Wenn wir merken würden, dass das, was wir tun, nicht genug bringt, dann würde ich meine Zeit und meine Energie ganz sicher auf was anderes verwenden“, sagt Schmid. Doch bei 31Days sieht es eben anders aus. Schmid ist sofort gesprächsbereit, als die Interviewanfrage kommt. Derzeit, so schreiben es 42hacks auf ihrer Website, geht es ums Skalieren der Verkehrslösungen. „Ohne die Verkehrsverlagerung kommen wir nicht zu den Klimazielen, die auch der Schweizer Bund ausgegeben hat“, sagt Jessica Schmid. Und das Modell 31Days sei sowohl überzeugender Business- als auch Klima-Case, wenn man es vergrößere.

Was Pfadfinder mit der Verkehrswende zu tun haben

Wie ging das Projekt los? Inspiration für die Veränderung des Modal Splits haben sich die Macher hinter 31Days bei der Jugend geholt, zu deren Wohl ja auch die Verkehrsgewohnheiten in der Gegenwart so schnell wie möglich verändert werden sollten. Dafür reisten Leute vom Team um Jessica Schmid im Sommer 2022 nach Goms im Schweizer Kanton Wallis, wo sich 30.000 Pfadfinder*innen für das so- genannte Bundeslager trafen. Das Team befragte dort junge Scouts: Wie können wir eure Eltern dazu bringen, das Auto weniger zu nutzen? Zurück kam die Einsicht, dass es sich beim Autofahren um eine schlechte Angewohnheit handele, genau wie beim übertriebenen Medien- oder Zuckerkonsum. Nehmt doch einfach für einen Monat den Autoschlüssel weg – und gebt den Eltern dafür Gratis-ÖPNV und -Fahrradmobilität. „Das hat uns wirklich überzeugt, das war die Idee zu 31Days, wir wollten Menschen die Gelegenheit geben, alternative Verkehrsangebote überhaupt zu erleben“, sagt Jessica Schmid.

„Nach 10 kamen 100, nach 100 kamen 1000 Teilnehmer, da ist der nächste Schritt naheliegend.“

Jessica Schmid, 42hacks

Erste Praxistests mit 10 und 100 Personen

Wenige Wochen nach dem Pfadfinderlager startete schon der erste Praxisversuch. In Belp, einer Gemeinde im Kanton Bern, rekrutierte 42hacks zehn Freiwillige, die für 31 Tage ihr Auto stehen lassen würden. Das Projekt war Teil einer größeren Zusammenarbeit zwischen 42hacks und den Mobilitätsunternehmen BLS, SOB, PostAuto und dem Kanton Sankt Gallen, die auf eine Veränderung im Modal Split ausgelegt ist. Kontakte bestanden ohnehin wegen vorheriger Zusammenarbeit zu künstlicher Intelligenz im Verkehrssektor, was auch für die Kooperation bei den Gratistickets hilfreich war. Nach dieser Premiere im Herbst 2022 setzten die Macher 31Days im Sommer 2023 mit dem Faktor zehn um: in Bern gaben 100 Teilnehmer für 31 Tage ihre Autoschlüssel ab und bekamen im Gegenzug freien Zugang zu sämtlichen öffentlichen Verkehrsmitteln der Schweiz sowie zu Mieträdern und auch zur Flotte von Mobility, einem Carsharing-Anbieter. Am 31. Mai 2023 startete dieser Versuch im Kanton Bern. Die Ergebnisse ermutigten die Macher. Man habe die Ziele übertroffen, berichtet Schmid, 27 Prozent der Autos der Teilnehmenden wurden während des Monats oder kurz danach verkauft. In der Nachbefragung gaben 90 Prozent der Teilnehmer an, dass sie ihr Auto weniger und bewusster benutzten. Die Sache erregte schnell Aufmerksamkeit. Der österreichische VCÖ zeichnete 31Days als internationales Vorbildprojekt aus, das Medienecho in der Schweiz war erheblich.

Katrin Cometta, Winterthurer Stadträtin, überreicht am 12. April 2024 gemeinsam mit den Partnern des Projekts einem Teilnehmer der 31-Days-Challenge sein Mobilitätspaket.

Ausgangslage Stadt Winterthur

Im November 2021 beschlossen die Bürgerinnen der Schweizer Stadt Winterthur strenge Klimaziele für ihre Gemeinde. 60 Prozent der Abstimmenden sprachen sich für die Klimaneutralität Winterthurs bis zum Jahr 2040 aus. Nicht nur daraus leitet sich für die Verwaltung der Stadt ein Handlungsbedarf ab. Manuela Fuchs ist Projektleiterin Klima bei der Stadt und berichtet, dass ein Kollege aus ihrer Verwaltung über die Medienberichte auf 31 Days aufmerksam wurde. „Wenn wir Netto-null anstreben und auch eine nachhaltige räumliche Entwicklungsperspektive verfolgen – weg von einem autozentrierten Stadtbild, hin zu mehr öffentlichem Raum für alle –, dann erklärt sich unsere Aufmerksamkeit einfach“, sagt Fuchs. Winterthur verfügt über einen sehr gut ausgebauten öffentlichen Personenverkehr und eine moderne Radinfrastruktur. Aber die Menschen haben ihr Verhalten nur geringfügig verändert. Nach wie vor liegt der Anteil des motorisierten Individualverkehrs am Gesamtaufkommen nach Angaben der Stadt bei rund 40 Prozent. Die Stadt hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Anteil am „Modal Split“ bis 2040 auf 20 Prozent zu halbieren. „31Days legt den Fokus auf die Reduktion von Autofahrten beziehungsweise Autofahrerinnen und passte somit exakt zu den kommunalen Zielen. Diese Chance wollten wir nutzen und konnten uns schnell mit 42hacks auf eine Zusammenarbeit einigen.“ In Winterthur beschloss die Stadtverwaltung, aus dem eigenen Budget 70.000 Franken für einen Teil der Kampagne, nämlich die Finanzierung der Leihräder für die Teilnehmer bei 31Days, bereitzustellen. „Es gibt derzeit viele Projekte und Förderbeiträge für Energie- und Wärmeprojekte, aber kaum Anreize für den Umstieg auf klimafreundliche Mobilität – daher war das für uns ein einfacher logischer Schritt“, erklärt Lukas Schmid, der für die Kommunikation bei Umwelt- und Gesundheitsschutz zuständig ist. Die Stadt Winterthur hat sich darum entschieden, die sogenannten Umsteiger, also jene Teilnehmerinnen, welche während oder nach der Kampagne ihr Auto verkaufen, mit einer Umsteigerprämie aus dem kommunalen Energieförderprogramm zu unterstützen. Das „Kostendach“ beläuft sich auf 250.000 Franken. Umsteigerinnen profitierten von 3000 Franken, wenn ein Haushalt sein einziges Auto verkaufte, oder von 1500 Franken für den Verkauf eines Autos, wenn der Haushalt mehrere besaß. Mit etwa 100 Autoverkäufen rechnete Winterthurs Stadtverwaltung. Die finale Auswertung war bei Redaktionsschluss noch nicht erstellt, eine ursprünglich für November geplante Pressemitteilung wurde auf unbekannten Termin verschoben, da die finalen Zahlen noch nicht vorlagen und man erst auf eine endgültige Evaluation warten wolle. In einer frühen Stellungnahme der Kommune hieß es zudem, dass der CO2-Spareffekt in etwa der Wirkung von Fördermitteln bei Gebäudeisolierung und Photovoltaik entspreche.

Kritik an den Zuschüssen

Diese Incentivierung des Autoverkaufs ist jedoch ein Reizthema im politischen Raum. „Sogar von links kommt Kritik an der Umsteigeprämie der Stadt“, titelte etwa die Lokalzeitung Landbote am 5. September. Beschrieben wird Unmut bei Bürger*innen und in den politischen Parteien, weil die Prämie wiederum nur für Fahrkarten oder Dauerkarten im öffentlichen Verkehrssystem genutzt werden darf. „Verschwendung“ sei das, lässt sich die FDP zitieren, und zwar „ohne nachweisbaren Nutzen“. Die Mitte/EDU spricht sich für mehr E-Auto-Ladestationen und Photovoltaik aus. Bei der SVP heißt es, die gesamte Challenge sei ungerecht gegenüber Leuten, die sonst selten oder nie Auto fahren – und bei der SP findet man gar, dass die Stadt jene Menschen für dumm verkaufe, die ohne eine solche Aktion freiwillig auf den Pkw verzichten. Eine Forderung nach detaillierter Analyse der Kosten pro Einsparung bei CO2 fordert die SVP dem Bericht zufolge. Das ist etwas, dem 31Days-Mitinitiatorin Schmid jedoch offen gegenübersteht. „Es geht ja gerade darum, realistische Preise pro Tonne CO2 zu beziffern und Maßnahmen objektiv vergleichbar zu machen.“ Man müsse jedoch schauen: Wie hoch sind die externen Kosten des Straßenverkehrs wirklich? Wie steht es um die gerechte Verteilung, wenn etwa das Anbringen von Photovoltaikanlagen auf Eigenheimen gefördert werde – der komplette Verzicht auf Pkw allerdings nicht?

Die nächsten Schritte für 31Days

Um die Auswirkungen und Kosten-Nutzen-Rechnung genauer zu erfassen, arbeiten die Projektpartner mit zwei wissenschaftlichen Institutionen zusammen. Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und die Scuola universitaria professionale della Svizzera Italiana (SUPSI) sind mit einer wissenschaftlichen Begleitstudie beauftragt, deren Ergebnisse allerdings erst Ende 2025 vorliegen werden. Schließlich geht es um die dauerhaften Wirkungen des Projekts. Derweil ist Mit-Initiatorin Schmid darauf aus, den nächsten logischen Schritt zu machen. „Wir wollen skalieren. Nach 10 kamen 100, nach 100 kamen 1000 Teilnehmer, da ist der nächste Schritt naheliegend“, sagt sie – jedoch auch ein bisschen humorvoll. Ihr Ziel ist vor allem, das Projekt schneller weiterzuentwickeln und zu verbreiten. „Wir wollen nicht immer ein halbes Jahr verhandeln, um dann ein Jahr arbeiten zu können – deshalb treiben wir das Projekt mit viel Nachdruck voran und stecken auch in Verhandlungen für weitere Auflagen“, erklärt Jessica Schmid. Ein angedachter Start mit einer der größten deutschen Städte sei jedoch wegen des kommunalen Sparkurses nicht zustande gekommen. Schmid jedoch ist vollends überzeugt, dass dieser Ansatz weiter fruchten wird. „Ich habe mit mehr als 400 der Teilnehmer aus Winterthur gesprochen, und was ich gehört habe, lässt keinen Zweifel zu. Da hat sich für viele eine ganz neue Welt aufgetan.“


Bilder: 31 Days, Umwelt- und Gesundheitsschutz Stadt Winterthur

Der herbstliche Morgenwind schneidet durch die Straßen Berlins, während sich zahlreiche Radfahrende ihren Weg durch den Verkehr bahnen – darunter Hipster auf minimalistischen Rädern, Pendelnde auf E-Bikes und Eltern auf Lastenrädern, in denen warm eingepackt die Kinder sitzen. Das Fahrrad hat als umweltfreundliches und flexibles Verkehrsmittel in Städten wie Berlin zunehmend an Bedeutung gewonnen und wird auch in der Stadtplanung immer relevanter. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Die Radverkehrsförderung hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem differenzierten Planungsansatz entwickelt, der unterschiedliche Zielgruppen anspricht. In Berlin, einer Stadt mit besonders diversen Fahrradkulturen, ist diese zielgruppenspezifische Planung besonders gefragt, um den Anforderungen der verschiedenen Radfahrenden gerecht zu werden.
Lange galt die Ansicht, dass sich Radfahrende einfach wie Autos verhalten sollten, um im autodominierten Straßenraum bestehen zu können. Doch gerade wer neu aufs Rad steigt, fühlt sich dabei oft verloren und unsicher. Heute denkt man um: Radwege sollen nicht nur mutigen Radler*innen zur Verfügung stehen, sondern allen Menschen ein sicheres Gefühl geben. Ziel der Radverkehrsförderung ist es, die Radverkehrspolitik und -kultur so zu transformieren, dass der Radverkehrsanteil signifikant steigt und Radfahren in seiner gesellschaftlichen Bedeutung stetig normalisiert wird. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Radverkehrsförderung grundlegend gewandelt, weg von einem Planungsparadigma, das auf das sogenannte Vehicular Cycling setzt, hin zu einer zielgruppenspezifischen Förderung, die breite Bevölkerungsschichten und insbesondere potenzielle Radfahrende anspricht.
Das Vehicular Cycling, ursprünglich von John Forester in den 1970er-Jahren in den USA propagiert, fordert, dass Radfahrende sich wie Autofahrende im Straßenverkehr verhalten, um sich ihren Raum anzueignen. Radfahrende sollen demnach mitten auf der Straße fahren, Handsignale bei Spurwechsel oder Abbiegevorgängen geben, den Schulterblick verwenden, mit den Autos im Verkehr mitfließen und sogar mit den Autos im Stau stehen. Diese Sichtweise hat jedoch lange Jahre den Ausbau sicherer Infrastruktur behindert und wird heute als exklusiv kritisiert, da sie unerfahrene und unsichere Radfahrende ausschließt. Viele der in den 1980er- und 1990er-Jahren angelegten Fahrradschutzstreifen auf der Straße sind Relikte dieses aus heutiger Sicht antiquierten Planungsverständnisses.
Heute liegt der Fokus auf einer inklusiven Planung, die ein breiteres Publikum ansprechen soll. Roger Gellers Konzept „Four Types of Cyclists“ verdeutlicht, dass nicht alle Radfahrenden dieselben Bedürfnisse haben: Von „Strong and Fearless“ bis „Interested but Concerned“ unterscheidet Geller vier Typen, die unterschiedliche Anforderungen an die Infrastruktur stellen. Gellers Typologie hat wesentlich beeinflusst, wie geplant und potenzielle Radfahrende angesprochen werden und steht als konzeptuelles Modell weitestgehend im Einklang mit empirischen Ergebnissen zur hiesigen Radnutzung. Die zen-trale Frage ist, wie diese unterschiedlichen Ansprüche in der Radverkehrsplanung berücksichtigt werden können: Sind die Wünsche und Vorstellungen von geübten und ungeübten Radfahrenden tatsächlich so unterschiedlich? Können wir von selbstbewussten Radfahrenden lernen, um potenzielle Radfahrende abzuholen? Um dies zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die Fahrradkultur Berlins als lebendiges Beispiel einer multikulturellen Radszene zu werfen.

Das Konzept „Four Types of Cyclists“ von Roger Geller visualisiert unterschiedliche Typen von Radfahrenden.

Vielfalt der Fahrradkulturen im Schmelztiegel Berlin

Großstädte wie Berlin vereinen vielfältige Fahrradkulturen. Diese Vielfalt belebt die Stadt, stellt die Radverkehrsplanung jedoch vor Herausforderungen, da die Bedürfnisse und Erwartungen der einzelnen Gruppen teils stark auseinandergehen. In Berlin fahren Hipster auf Fixies, Familien mit Kindern kämpfen sich auf Lastenrädern durch den Verkehr und Akti-vistinnen engagieren sich für den Ausbau der Radinfrastruktur, während die sportliche Szene Geschwindigkeit und Stil schätzt. Diese unterschiedlichen Interessen verdeutlichen, dass die Berliner Fahrradkultur kein einheitliches Bild abgibt – sie reflektiert die individuellen Ansprüche und sozialen Hintergründe der Stadtbewohnerinnen.
In vielerlei Hinsicht weicht Berlin damit von den stereotypen Vorstellungen der deutschen Fahrradkultur ab, die oft durch schwere Fahrräder und Sicherheitsausrüstung geprägt ist. Einige Radfahrer*innen beschreiben die Ausstattung des typischen (in der Vorstellung tatsächlich fast ausschließlich männlichen) Radlers als „20-Kilo-Trekking-Panzer“ oder „Vollschutzblech-Fahrrad mit fünf Lampen“ – ein Bild, das der Vielfalt an unterschiedlichen Radfahrenden und ihren spezifischen sozialen und kulturellen Hintergründen nicht gerecht wird. Und auch das wissenschaftliche und planerische Verständnis des Radfahrens ist häufig stark vereinfacht und unsensibel gegenüber kulturellen Differenzen.
Radfahrende werden oft als „bewegliche Objekte“ wahrgenommen, die von A nach B wollen, während individuelle Motivationen und Nutzungsformen sowie subjektive Wahrnehmungen, Stile und Praktiken oft unterrepräsentiert bleiben. Obwohl sich die einzelnen Gruppen stark unterscheiden, eint sie die gemeinsame Suche nach Sicherheit und Akzeptanz im Straßenverkehr.

„Wir können uns aufs Fahrrad einigen, aber wir können uns nicht mal darauf einigen, wie das Fahrrad aussieht, wo wir mit dem Fahrrad fahren: Fahren wir im Gelände, fahren wir auf der Straße, fahren wir auf einem separierten Radweg, fahren wir bei den Autos mit? Also auf alles andere kann man sich nicht einigen, außer auf das Fahrrad. Und ist das ein Sport-Vehikel? Ist das ein Alltags-Vehikel? All diese Fragen beantwortet jede Szene unterschiedlich.“

Auszug aus einem vom Autor geführten Interview aus dem Dezember 2021

Aktivist*innen des Volksentscheids Fahrrad besetzten 2016 die Berliner Oranienstraße und forderten bessere Infrastruktur für Radfahrende.

Das Fahrrad als kleinster gemeinsame Nenner

Obwohl sie Radfahren unterschiedlich erleben, eint die Rad fahrenden Menschen der Wunsch nach einer Stadt, in der Radfahren sicher und selbstverständlich ist. Das Fahrrad ist der kleinste gemeinsame Nenner in der städtischen Fahrradkultur, doch die Auffassungen von Art, Nutzung und benötigter Infrastruktur variieren stark. Während einige eine Trennung des Radverkehrs vom motorisierten Verkehr befürworten, sehen andere die Integration als besseren Weg. Es gilt, Gemeinsamkeiten zu identifizieren und Kompromisse zu finden. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Akteurinnen und Szenen sind oft feiner Natur, was es Außenstehenden schwer macht, diese zu erkennen. Daher wird häufig nicht weiter differenziert: Ein Fahrrad ist ein Fahrrad, eine Radfahrerin ist eine Radfahrerin. Dennoch sind Unterschiede in sozialen Praktiken und Bedeutungen entscheidend, um die Fahrradkultur angemessen zu verstehen. Ein überkomplexes Bild der Szene braucht es trotz der großen Vielfalt nicht. Zwar zeigt sich eine zunehmende Differenzierung innerhalb der Fahrradszenen, gleichzeitig nähren sie sich an und durchmischen sich. Historisch wurde zwischen Radsport und Alltagsradfahren unterschieden, was in der Radverkehrsförderung zu einer Spaltung führte. Dies war zeitweise so wichtig, dass sich Anfang des 20. Jahrhunderts die gesamte Radverkehrsförderung in Nationen aufteilte, die das Radfahren eher als Sport verstanden, wie Frankreich oder Italien, und jenen, die das Radfahren als Alltags- und Freizeitmittel betrachteten, wie die Niederlande oder Dänemark (Carstensen & Ebert 2012). Diese Trennung ist heutzutage jedoch weitgehend aufgelöst, wie beispielsweise der aktuelle Gravel-Trend zeigt, der viel stilvoller, aber ähnlich wie das klassische Tourenfahren verschiedene Elemente aus Sport, Reisen und Freizeit kombiniert. In Städten wie Kopenhagen oder Amsterdam ist das Fahrrad ein alltägliches Verkehrsmittel. In vielen anderen europäischen Städten hat es hingegen einen stärkeren subkulturellen Charakter. Denn in Städten, in denen das Radfahren weniger normalisiert ist, muss man sich stärker als Rad-fahrerin identifizieren und gegenüber den automobilen Strukturen behaupten – man muss es „wirklich wollen“. Dies führt zu subkulturellen Szenen mit spezifischer Ausrüstung: Kleidung, Helmen, Reflektorstreifen, Messenger Bags oder Lycra. Diese subkulturellen Ausprägungen des Radfahrens können neue Nutzer*innen abschrecken, da Radfahren oft als anspruchsvoll, schweißtreibend und unsicher wahrgenommen wird. Etablierte Radfahrende werden in diesem Sinne als Hindernis für die Normalisierung des Radfahrens gesehen, da sie den Sport- und Lifestyle-Aspekt betonen, der Radfahren eher als voraussetzungsvoll und nicht als für alle zugängliche Alltagspraktik darstellt. Die Radverkehrsförderung versucht daher, das Radfahren von sportlichen Aspekten zu entkoppeln und das Fahrrad als normales Verkehrsmittel zu etablieren.

Ein modernes Gravelbike samt Bikepacking-Ausrüstung, schon kann das nächste Abenteuer losgehen.

Begeistern oder ausgrenzen?

Es ist jedoch problematisch, Radfahrende und Nicht-Radfahrende gegeneinander auszuspielen. Denn die Normalisierung des Radfahrens hängt stark von der allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz ab. Der sportliche Aspekt kann dabei auch Begeisterung für das Radfahren erzeugen, indem er Geschichten erzählt, Bilder und Moden schafft und Menschen inspiriert. Es sollte also eher darum gehen, beides miteinander in Einklang zu bringen und die Potenziale und Synergien zu betonen. Mögliche Botschaften: „Zum Radfahren ist kein spezielles Fahrrad und keine spezielle Kleidung notwendig, aber wenn du Spaß daran hast, kannst du dich bis ins kleinste Detail individuell ausstatten“, oder: „Um Rad zu fahren musst du kein Mitglied einer bestimmten Szene sein, aber du hast die Möglichkeit dich mit anderen in Gemeinschaft zu begeben“.
Um dieser Heterogenität gerecht zu werden, ist eine kultursensible Planung erforderlich. Die sollte nicht nur Unterschiede respektieren, sondern auch die gemeinsamen Bedürfnisse aller Radfahrenden in den Vordergrund stellen und die Synergien betonen. Dabei ist es wichtig, klarzustellen, dass zum Radfahren keine spezielle Ausrüstung oder ein szenespezifischer Lifestyle erforderlich ist. Dann können erfahrene Radfahrende ihr wertvolles Wissen zur Planung von Radverkehrsinfrastruktur beisteuern. Ein Kurier sagte mir gegenüber: „Wenn du hundert Kuriere in Berlin zusammennimmst, fahren die im Jahr mehr als eine Million Kilometer mit dem Rad. Das ist eine Menge Erfahrung, die für bessere Infrastruktur genutzt werden könnte.“

„Wenn du hundert Kuriere in Berlin zusammennimmst, fahren die im Jahr mehr als eine Million Kilometer mit dem Rad. Das ist eine Menge Erfahrung, die für bessere Infrastruktur genutzt werden könnte.“

Radfahrende nutzen die geschützte Radspur am Kottbusser Damm – ein Fortschritt für den Berliner Radverkehr.

Radverkehr kultursensibel planen

Obwohl verschiedene Gruppen das Radfahren unterschiedlich wahrnehmen und einsetzen, ähneln sich ihre Anforderungen an eine gute Radin-frastruktur. Deshalb sollten sowohl erfahrene als auch neue Radfahrende in den Dialog eingebunden werden, um eine inklusive Radverkehrsförderung zu schaffen. Praktische Maßnahmen wie baulich getrennte Radwege, verbesserte Sichtbarkeit und zugängliche Angebote für neue Radfahrende schaffen nicht nur Sicherheit, sondern wirken integrativ. Erfahrene Radfahrende, die häufig besonders hohe Anforderungen an Geschwindigkeit und Dynamik haben, bringen wertvolle Perspektiven in die Planung ein und helfen, infrastrukturelle Schwachstellen zu identifizieren.
Indem wir den Dialog zwischen den Radkulturen fördern und sichere, leicht zugängliche Wege für alle Radfahrenden schaffen, unterstützen wir eine Stadt, in der Radfahren kein exklusives Hobby, sondern eine integrative Praktik ist. Letztlich geht es darum, Radfahren als etwas zu sehen, das verbindet – nicht als etwas, das voneinander trennt. Unabhängig davon, ob jemand Kurierin, Pendlerin, Sportlerin oder Alltagsradlerin ist, bleibt der Wunsch derselbe: sicher, komfortabel und schnell ans Ziel zu kommen.


Bilder/Grafik: Joshua Meissner, Geller 2006, Norbert Michalke, Changing Cities e.V., Stefan Hähnel, Matthias Heskamp

Christian Hoffmann ist seit gut zwei Jahren Präsident des Bundesamts für Logistik und Mobilität (BALM). Das Amt befindet sich mitten in einem Wandel zu einer dynamischen und entstaubten Behörde. Ein erklärtes Ziel ist dabei, Fahrradfreundlichkeit ganz nah an der Lebensrealität der Menschen erlebbar zu machen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Aus dem Bundesamt für Güterverkehr (BAG) wurde im vergangenen Jahr das BALM. Welche Veränderungen gingen mit der Umbenennung einher?
Es war eine Umbenennung, da haben Sie vollkommen recht. Wir haben keine organisationsinternen Umstrukturierungen vorgenommen, sondern haben in den letzten Jahren eine Veränderung der Aufgaben erlebt. Das ist im Bereich unserer Kon-trolldienste, die wir digital und modern weiterentwickeln, genauso festzustellen wie im Bereich der Ahndung, der Maut und der Verkehrswirtschaft, unsere klassischen Tätigkeitsfelder. Aber auch im Bereich des Krisenmanagements, mit welchem wir mit der Beförderung und Verteilung ukrainischer Geflüchteter als ad hoc reagierende Krisenmanagementbehörde durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BDMV) beauftragt wurden. Schließlich haben wir mit hoher Geschwindigkeit und Intensität den Bereich der modernen Mobilität ausgebaut. Das BALM ist als zentraler Projektträger zur Förderung des Radverkehrs im Auftrag des BMDV erste Anlaufstelle für viele Fragen zur Finanzierung und Förderung des Rad- und Fußverkehrs, des ÖPNV und betrieblichen Mobilitätsmanagements. So hat der neue Name, der ja auf den Minister zurückzuführen ist, eine neue Strahlkraft, die das gesamte Aufgabenportfolio vollumfänglich abbildet.

„Wir haben in den letzten Jahren eine Veränderung der Aufgaben erlebt.“

Christian Hoffmann, Präsident des Bundesamts für Logistik und Mobilität

Sie selbst sind schon seit 2005 beim BALM und seit gut zwei Jahren dessen Präsident. Was reizt Sie an diesem Aufgabenfeld?
Dass es sich immer dynamisch weiterentwickelt und nie Stillstand herrscht. Man kann daraus eine unheimlich starke Motivation ziehen. Sie gestalten hier mit. Gerade bei den Modellvorhaben und bei den Ideen, auch den längerfristigen kommunalen Investitionen. Wenn Sie da mit der Zeit gehen und Dinge unterstützen können, die dann in der Lebensrealität sichtbar sind und gesellschaftlichen Nutzen bringen, macht das ein Stück weit zufrieden.

Welche Bereiche und Kompetenzen des BALM machen sich denn in der Lebensrealität besonders bemerkbar?
Im Prinzip haben alle Bereiche und Kompetenzen des BALM konkrete Auswirkungen auf die jeweilige Lebensrealität. Wir sind als BAG mit hoheitlichen Überwachungsaufgaben gestartet, die heute so wichtig sind wie früher. Wir sorgen für Verkehrssicherheit auf den Straßen und einen fairen Wettbewerb in einer zunehmend unter Druck stehenden Branche.
Eine moderne, auf die zukünftigen Bedarfe ausgerichtete Mobilität zu fördern, steht ebenfalls für die konkrete Gestaltung von Lebensrealitäten. Wir haben in Köln ja selbst eine Innenstadtlage als Behörde. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen kommen mit dem Rad zur Arbeit. Und das unterstützen zu können, dass es sichere, gut ausgebaute, schlaglochfreie Radwege gibt, ist ebenso Ansporn wie zu sagen: Wir fördern Modellvorhaben im Bereich des ÖPNV, die sowohl in den urbanen als auch in den ländlichen Raum ausstrahlen.


„Wenn Sie mit der Zeit gehen und Dinge unterstützen können, die dann in der Lebensrealität sichtbar sind und gesellschaftlichen Nutzen bringen, macht das ein Stück weit zufrieden.“

Christian Hoffmann, Präsident des Bundesamts für Logistik und Mobilität

Viele Fördermaßnahmen des Bundes mit Radverkehrsbezug werden vom BALM verwaltet. Das Amt sorgt mit der Transferstelle und der Förderfibel für etwas Durchblick. Ist die Förderlandschaft Ihrer Ansicht nach zu unübersichtlich?
Zu unübersichtlich ist sie nicht, aber zunehmend komplex, auch durch verschiedene Fördergeber mit unterschiedlichen Bedingungen für Förderung. Unser Anspruch ist es, mit der Förderfibel niederschwellig interaktive Angebote zu machen. Diese ist auch als Ergänzung zur Hotline, mit einem Förderlotsen als Ansprechpartner, zu verstehen.

Dass die Förderungen so komplex sind, ist aber unvermeidlich? Oder ließe sich das vereinfachen?
Das kommt drauf an. Es geht immer um den jeweiligen Förderbereich und die rechtliche Ausgestaltung der jeweiligen Förderrichtlinie. Soweit unsere Erfahrung uns in die Lage versetzt, beratend auf entsprechende Sachverhalte Einfluss zu nehmen, sprechen wir uns immer dafür aus, dass es so einfach wie möglich geht, damit die Mittel möglichst schnell zum Fördernehmer kommen. Wir fördern in der Regel Modellvorhaben, die eine Strahlkraft und eine Übertragbarkeit sicherstellen sollen.

Laut Christian Hoffmann ist Deutschlands Förderlandschaft nicht zu unübersichtlich, aber zunehmend komplex. Mit dem Förderlotsen und der Förderfibel will das BALM Abhilfe schaffen.

Haben Sie ein Beispiel für ein Förderprogramm, wo Sie im Vorfeld Einfluss nehmen konnten?
Das machen wir eigentlich bei allen Förderprogrammen, dass wir in guter Zusammenarbeit mit dem BMDV in den Austausch gehen. Es gibt manchmal auch Programme, bei welchen uns das nicht so möglich ist, weil sie zum Beispiel aus dem Parlament kommen und Abgeordnete bestimmte Vorstellungen haben, die wir umzusetzen haben. Natürlich haben wir durch langjährige Erfahrung die Expertise, Vorschläge zu machen, an welcher Stelle bestimmte prozessuale Schritte gekürzt werden können. Umgekehrt geben wir auch Hinweise, was man noch beachten sollte. Das ist völlig unabhängig vom Gegenstand gern gesehen vom BMDV. Wenn das Programm friktionsfrei durchlaufen kann, hat jeder was davon.

Wie macht man ein Programm friktionsfrei?
Wenn man investive Maßnahmen plant, also zum Beispiel den Bau eines Fahrradparkhauses, dann ist es nicht nur die Aufgabe der Förderrichtlinie, das Programm technisch umzusetzen. Sondern wir tragen auch die kommunikative Verantwortung, den Bedarfsträger und den Fördernehmer entsprechend zu informieren, welche Punkte und Komplikationen man am besten schon in einer Vorplanungsphase in den Blick nehmen müsste.
Im besten Fall funktioniert das über die Transferstelle und den Förderlotsen im Vorfeld, dass wir unsere Erfahrungen eben auch als nicht-monetäres Angebot formulieren und Best-Practice-Beispiele über Netzwerke zur Verfügung stellen. Da kommt immer wieder das Mobilitätsforum Bund ins Spiel, mit welchem wir in einem ersten Schritt in der Transferstelle Wege zeigen, wie Förderungen gelingen können. In einem zweiten Schritt bieten wir auch Wissensaufbau über Aus- und Fortbildungen an und nehmen diese Best-Practice-Beispiele als Orientierung.

Die Kernkompetenzen des Bundesamts für Güterverkehr, das zum BALM umstrukturiert wurde, lagen im Bereich der Verkehrswirtschaft, der Maut und der Ahndung. Heute ist das Aufgabenspektrum breiter.

Sie sind in Ihrer Arbeit ja in gewisser Weise von der Bundespolitik abhängig. Wenn das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung zum Klima- und Transformationsfonds für Förderchaos sorgt oder die Regierung sich zerstritten zeigt, wie gehen Sie mit solchen Situationen um?
So gut wie möglich! Wir hängen ja als BALM nicht an der ganzen Bundesregierung, sondern am BMDV. Dort haben wir sehr gute Abstimmungsverhältnisse. Dort erfährt das, was wir hier vorantreiben, sehr viel Zuspruch und Unterstützung. Wir haben Diskussionen über die Auskömmlichkeit von Haushaltsmitteln geführt, aber nicht über die Sinnhaftigkeit der Förderprogramme. Das muss man klipp und klar so sagen. Natürlich hat das (Chaos um den Klima- und Transformationsfonds, Anm. d. Red.) insgesamt zu einer haushalterischen Mangellage geführt, aus der der Radverkehr aber budgetär vergleichsweise gut herausgekommen ist.

Wie gut werden die Fördermittel abgerufen und wie bekannt sind die Programme im Einzelnen? Mitunter gibt es ja auch Förderprogramme etwa auf Landesebene, die auf dieselben Inhalte abzielen.
Es ist richtig, dass es oft komplementäre Angebote des Landes gibt. Das sind wichtige Fragen, wenn man im Vorfeld den Gesamtfinanzierungsbedarf klärt. Wenn es konkret darum geht, wie die Mittel abgerufen werden, muss man zwischen investiven und nichtinvestiven Maßnahmen unterscheiden. Gerade im investiven Bereich habe ich bei baulichen Leistungen natürlich ganz andere Vorlaufzeiten und auch gewisse Umsetzungszeiten, die in der aktuellen wirtschaftlichen Lage noch mit Baukostensteigerungen und Ähnlichem einhergehen. So treten tatsächlich immer wieder Verzögerungen ein. Wir bieten hier sehr viel Unterstützung an, um Fragen zu klären und den Mittelabfluss zu gewährleisten. Wir beobachten aber auch, dass gerade auf kommunaler Ebene sehr viel Schwung reingekommen ist. Man hat das Problem erkannt und der Abruf der Mittel wird immer fließender.

Wie stark wird die Transferstelle genutzt, die Sie in diesem Kontext betreiben?
Die Transferstelle ist mit dem Förderlotsen eine der vier Säulen des Mobilitätsforums Bund und zunehmend gefragt. Im besten Fall vor der konkreten Antragsstellung auf Fördermittel. Genau zu diesem Zeitpunkt sollte das Ob und Wie geklärt werden. Aber es passiert auch – dadurch, dass unsere Förderprogramme stark überzeichnet sind, da es eben doch mehr Nachfrage als Angebot gibt – dass man den Förderlotsen auch nach erfolgloser Antragsstellung seitens der Kommune in Anspruch nimmt und noch mal „lessons learnt“ bestimmt.

Wie öffentlichkeitswirksam ordnen Sie gerade in Bezug auf die moderne Mobilität die Arbeit des BALM ein?
Wir sind hier zunehmend proaktiv ausgerichtet. Wenn wir hier gesellschaftlich relevante Vorhaben umsetzen, dann müssen wir dies auch fortlaufend und unmittelbar kommunizieren. Früher haben wir ausschließlich mit Presseinformationen und unserem Internetauftritt gearbeitet. Jetzt richten wir unsere Öffentlichkeitsarbeit viel stärker auf die Kommunikation über Social-Media-Kanäle wie LinkedIn oder Instagram aus.
Darüber hinaus legen wir in der Öffentlichkeitsarbeit einen weiteren Schwerpunkt auf Messeauftritte und auf die Ausrichtung von Konferenzen und Veranstaltungen, wie den jährlich stattfindenden Fahrradkommunalkonferenzen. Das sind besonders wichtige Punkte, um das BALM ganz generell erlebbar zu machen, Transparenz herzustellen und zu zeigen, dass man mit uns in Kontakt treten kann.
Nehmen wir zum Beispiel mal dieses Gebäude. Das ist eine ältere Liegenschaft, die man auch als gesichtslosen Bau in der Kölner Innenstadt wahrnehmen könnte. Aber hier arbeiten Kölnerinnen und Kölner. Und nahezu alle Aufgaben, die wir hier wahrnehmen, sind auch für die Kommunalverwaltung interessant. Also sind wir gerade dabei, mit der Kölner Oberbürgermeisterin eine Partnerschaft einzugehen. Wir wollen die Arbeit, die wir tun, auch direkt vor der eigenen Haustür wirken sehen.

„Wir haben Diskussionen über die Auskömmlichkeit von Haushaltsmitteln geführt, aber nicht über die Sinnhaftigkeit der Förderprogramme.“

Christian Hoffmann, Präsident des Bundesamts für Logistik und Mobilität

Christian Hoffmann und sein Team wollen, dass ihr Arbeit auch vor der eigenen Haustür, also auch vor der Liegenschaft des BALM in Köln sichtbar wird. Mit der Kölner Oberbürgermeisterin entwickeln sie derzeit eine Partnerschaft.

In Sachen Kooperation sticht auch die Zusammenarbeit mit dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club für den Radtourismuskongress heraus. Wie wichtig sind solche Kooperationen generell für das BALM und welche potenziellen Partner haben Sie noch im Blick?
Die Zusammenarbeit mit einem wichtigen Verband auf europäischer Ebene ist sehr wichtig, um nahe der Branche den Bedarf erkennen zu können. Wir haben den Anspruch, zu wissen, was konkret dort passiert.
Wenn man ins Inland schaut, haben wir mit der Geschäftsstelle Radnetz Deutschland ein sehr breites Aufgabenspektrum. Es geht nicht nur darum, wichtige Radwege instand zu halten, auszubauen und zu verbessern. Es geht auch darum, diese Radwege erlebbar zu machen, durch Marketingkonzepte gerade im touristischen Bereich. Wir arbeiten in der Geschäftsstelle mit allen Bundesländern zusammen, von daher sind das in der föderalen Struktur die wichtigsten Partner, die man braucht.

Was Radverkehr angeht, sind sicher auch die Kommunen zentrale Handlungsträger. Gibt es ein Thema, das diese Ihrer Meinung nach beim Radverkehr noch stärker in den Blick nehmen müssten?
Wir formulieren Angebote aus unserer Perspektive des Fördergebers. Kommunen sind in ihrem jeweiligen Bedarf oft gar nicht ohne Weiteres vergleichbar. Und deshalb wissen die Kommunen in den meisten Fällen selbst am besten, was für den jeweiligen Bedarf vor Ort das Richtige ist. Aus diesem Grund steht es mir an dieser Stelle nicht zu, das zu bewerten. Wir arbeiten daran, die Erfahrungen, die wir sammeln, in Angebote umzuwandeln, und werben für das Abfordern dieser Angebote durch die Kommunen, weil ich auch die kommunalen Abhängigkeiten und Diskussionen kenne und weiß, wie schwer es manchmal sein kann, solche Projekte vor Ort umzusetzen.

Das BALM führte im vergangenen Jahr eine Auslandsexkursion nach Paris durch. Was kann sich die deutsche Verkehrspolitik generell oder was können sich die Kommunen im Speziellen im Ausland abschauen?
Die Auslandsexkursion diente dazu, die Fahrradfreundlichkeit der Stadt wirklich erlebbar zu machen. Hier ist es unsere Aufgabe, durch angereicherte Best-Practice-Veranstaltungen Impulse geben zu können.
Wir suchen uns im Inland wie im Ausland positive Beispiele heraus. Das hat auch im Fall der Paris-Exkursion sehr gut funktioniert. Die Verkehrspolitik der Stadt Paris steht unter anderem beispielhaft für eine Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs vor Schulen. Best-Practice-Beispiele – beziehungsweise deren modellhafte Umsetzung – konnten vor Ort besichtigt werden, welche dann auch entsprechend übertragbar waren.

Wie soll sich das BALM in den kommenden Jahren Ihrer Zielsetzung nach weiterentwickeln?
Wir werden den Weg, den wir eingeschlagen haben, konsequent weitergehen. Das heißt, dass wir uns als Fördergeneralist weiterhin bewähren, beweisen und in Anspruch genommen werden. Das heißt, dass es uns gelingt, mit wachsender Expertise immer zielgenauer und treffsicherer Förderung zu betreiben. Ich wünsche mir auch, dass wir unsere Agilität als ad hoc handelnde Krisenmanagementbehörde beibehalten. In der Vergangenheit haben wir bewiesen, dass wir sehr schnell sehr gut handlungsfähig sind. Das sind Faktoren, die heute eine wichtige Rolle spielen. Das können Sie nur machen, wenn die ganze Behörde so tickt.
Wir wollen in einem dynamischen Entwicklungsprozess bleiben, denn Stillstand ist Rückschritt. Das gilt, glaube ich, überall, aber erst recht im Aufgabenfeld der modernen Mobilität. Man muss am Puls der Zeit bleiben.


Bilder: BALM

Henning Rehbaum ist Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag für den Radverkehr. Nach seinem Empfinden „verändert sich gerade etwas in der Fahrradwelt“. Ein Professionalisierungsschub sei deutlich spürbar. Die große Aufgabe sei es nun, „sympathisch zu bleiben“. Das Fahrrad sei ein enormer Sympathieträger. Es braucht aus der Mitte der Gesellschaft starken Rückhalt – aber ohne moralischen Zeigefinger. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Hinweis: Das Gespräch wurde kurz vor dem Bruch der Ampelregierung geführt.

Vor Kurzem waren Sie bei der Klausur Ihrer CDU-Fraktions-Arbeitsgruppe Verkehr. Wie gelingt es Ihnen dort, mit dem Thema Fahrrad durchzudringen und dem Radverkehr Gewicht zu geben?
Als Volkspartei CDU/CSU haben wir uns zum Ziel gesetzt, dass jeder Verkehrsträger zu seinem Recht kommt. Natürlich ist das Auto für viele Menschen, gerade im ländlichen Raum, wo ich herkomme, wichtig, aber auch das Fahrrad spielt im Münsterland eine große Rolle. Das Fahrrad ist bei uns Alltagskultur – und diesen Spirit, dass das Fahrrad etwas ganz Normales ist, für die Breite der Gesellschaft, den will ich in meiner Partei noch viel mehr verankern. Es gibt Regionen in Deutschland, da ist das Fahrrad schon lange angekommen, aber auch andere, vielleicht topografisch schwierigere, da muss es erst noch zur Selbstverständlichkeit werden. Hierzu beizutragen, das habe ich mir zur Aufgabe gemacht.

Von der Gleichberechtigung aller Verkehrsträger wird ja immer wieder gerne gesprochen, aber es gibt hierzu sehr unterschiedliche Interpretationen. Gerade hier in Berlin, unter einer CDU-Verkehrssenatorin, wird mit dem Anspruch „Verkehr für alle“ die Entwicklung des Radverkehrs stark ausgebremst und stattdessen eine „Auto-First“-Politik betrieben. Die Verkehrsthematik wird ideologisch stark aufgeladen – auch von Vertreter*innen Ihrer Partei.
Einseitige Sichtweisen gibt es natürlich in allen Parteien und bei den Grünen hat man manchmal den Eindruck, dass es für sie nur den Radverkehr als Allheilmittel gibt. Immerhin hat die CDU in Berlin, indem sie das Autothema für sich besetzt hat, die Wahl gewonnen – das war ja ein stark vom Verkehrsthema geprägter Wahlkampf. Ich persönlich glaube, dass die Wahrheit in der Mitte liegt. Auf die Dauer müssen wir für alle Verkehrsträger vernünftige Lösungen haben. Ohne Autos wird Berlin nicht funktionieren, daher muss auch das Auto zu seinem Recht kommen. Es gibt nicht nur schwarz oder weiß! Die große Herausforderung für Fahrrad und Auto ist ja das sichere Kreuzungsdesign. Und dafür fehlen in Berlin massenhaft Fachleute.
Das läuft in NRW besser. Dort hat die CDU-Regierung den Radwegebau auch dadurch beschleunigt, dass wir die Umweltverträglichkeitsprüfung abgeschafft haben, denn Radwegebau ist praktizierter Umweltschutz! Das konnten wir dann auch im Bund durchsetzen, im Rahmen der Planungsbeschleunigung – und gegen den anfänglichen Widerstand von Umweltverbänden und den Grünen. Das ist ein Fortschritt.

„Für einen Mischverkehr von Kfz und Fahrrad ist auch Tempo 30 noch zu schnell, diese Temporeduzierung ersetzt keine eigenständige Radverkehrsinfrastruktur.“

Henning Rehbaum, Bundestagsabgeordneter

Der politische Diskurs hat sich in den letzten zwölf Monaten deutlich verändert, populistische Töne sind oft dominierend, eine sachliche Auseinandersetzung zu führen, wird immer schwieriger.
Politische Kräfte, die auf schnelle Maßnahmen dringen, werden abgekanzelt, die Grünen als „Verbotspartei“ gebrandmarkt. Was denken Sie darüber? Können wir ohne dirigistische Vorgaben die Probleme in einem verträglichen Zeitrahmen lösen?

Wir haben tatsächlich keine Zeit zu verlieren, aber wir erleben doch gerade, wie die Ampel beim Klimaschutz scheitert. Aktuell erreichen wir ja nur deshalb die Klimaziele, weil die Wirtschaft schrumpft. Wir haben in Deutschland noch nie so wenig Wärmepumpen verkauft wie gegenwärtig. Habeck hat mit einer chaotischen Förderpolitik alles abgewürgt. Und mit Verboten kommt man dann schon gar nicht weiter. Dann investieren die Leute eben nicht, fahren ihren Diesel, bis er auseinanderfällt. So funktioniert das nicht. Die Regierung muss den Leuten die Möglichkeit aufzeigen, Klimaschutz zu betreiben. Das müssen die auch schaffen können und das muss verlässlich sein, damit man darauf bauen kann. Diese Verlässlichkeit fehlt zurzeit.
Mit dem Deutschlandticket tun wir dem ÖPNV auch keinen Gefallen. Wir brauchen aber einen starken ÖPNV auch in Verknüpfung mit dem Radverkehr. So wie das Ticket aktuell organisiert ist, entzieht es dem ÖPNV massiv Geld. Milliarden, die für seinen Ausbau dringend gebraucht werden. Das ist eine Rolle rückwärts für den Klimaschutz.
Dasselbe gilt für den Radverkehr. Wir müssen, damit die Leute aufs Fahrrad umsteigen, ermöglichen: Vernünftige Radwege, gute Fahrradinfrastruktur, Fahrrad-Parkhäuser, tolle Produkte, wie sie die Industrie ja bereithält, eine zeitgemäße Regulatorik. Jetzt müssen wir Gas geben, damit die Leute fürs Fahrrad motiviert sind.

Der Grat ist ja schmal zwischen dem „Ermöglichen“ und Entscheidungen, die auch einschränken. Wenn es beispielsweise um die Neuverteilung des Verkehrsraums zugunsten des Fahrrads geht, dann sind wir sofort in aufgeheizten Debatten.
Das ist so. Der Kampf um die Fläche ist da. Allerdings gibt es auch viele Symboldebatten: Jeder Kfz-Parkplatz, den man dem ruhenden Autoverkehr abgejagt hat, ist in der Fahrradszene eine Trophäe. Das heizt die Stimmung aber nur weiter auf. Schließlich gibt es genügend Leute, die aufs Auto angewiesen sind, zumindest in bestimmten Lebensphasen. Wir müssen aufpassen, dass sich das nicht weiter aufschaukelt, also raus aus den Schützengräben! Wir müssen bessere Lösungen finden. Wir können auch Fahrradstraßen oder Fahrradzonen in der zweiten Reihe einrichten, das muss nicht an Hauptstraßen sein, wo jeder Meter Straßenbreite zählt. Die haben schließlich auch eine überregionale Transportfunktion.

Wir führen aber auch Geisterdebatten, selbst wir jetzt hier in diesem Gespräch. Sie haben mehrfach betont, dass man das Auto ja nicht abschaffen kann, weil es für viele eine wichtige Funktion hat. Nach meiner Wahrnehmung gibt es aber keine relevante politische Stimme, die das Auto komplett abschaffen will. Warum also reden wir überhaupt darüber?
Diese Debatten gibt es schon auf lokaler Ebene, oftmals über den Umweg des Parkraum-Wegnehmens. Wo sollen die Leute dann ihr Auto abstellen? Das ist dann eine Folgekette. Wenn man in manchen Kreisen fordert, Autos raus aus der Stadt, dann kriegt man da schon Applaus. Das heizt nur unnötig auf. Wir müssen auch aufpassen, dass wir das Pflänzchen Einzelhandel nicht durch zu hohe Parkgebühren kaputtmachen. Es fahren zwar viele mit dem Fahrrad in die Stadt, aber eben nicht alle. Und die bleiben dann weg. Wir müssen aufpassen, dass wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Nicht jede Lösung, die in Kopenhagen gut funktioniert, funktioniert auch in Bergisch-Gladbach.

Warum reden wir bei solchen Themen eigentlich immer nur über „autoarme“ Innenstädte und nicht über attraktive Begegnungsräume, in denen man sich frei bewegen und die Kinder mal laufen lassen kann? Warum steht der Verlust des Autos im Mittelpunkt und nicht der Gewinn, Stichwort Aufenthaltsqualität?
Es braucht maßgeschneiderte Lösungen! Manche Städte sind Industriestandorte, da müssen die Arbeitnehmer auch hinkommen können. In jedem Fall gilt für uns: Erst mal ein Angebot schaffen und dann die Veränderungen beim Verkehr angehen. Also: Erst Parkraum in vertretbarer Nähe zu den Zielen schaffen, dann den Verkehr neu strukturieren. Die Reihenfolge ist wichtig. Das war auch unsere Kritik beim Deutschlandticket: Erst das ÖPNV-Angebot ausbauen und dann ein attraktives Ticket obendrauf setzen. So ist es beispielsweise in Wien gelaufen, dann steigen die Leute auch um. Aber einfach erst die knappen Parkplätze teurer machen und sagen: Dann bleiben die Leute mit dem Auto halt draußen, das ist keine kluge Strategie. Ich bin ein Fan von vielen Park-and-Ride-Stellplätzen und auch von Bike and Ride.

Zurück zum Radverkehr und damit zum Straßenverkehrsgesetz (StVG): Bei unserem letzten Gespräch waren Sie den Ampel-Plänen gegenüber recht reserviert. Jetzt ist der Kompromiss mit den Ländern da. Wie bewerten Sie das Ergebnis? Sind Sie für den Radverkehr zufrieden oder hätten Sie sich anderes gewünscht?
Wir müssen erst mal schauen, wie das anläuft. Das ist jetzt ein klassischer politischer Kompromiss der Bundesregierung mit den Ländern. Kleine Fortschritte sind durchaus zu erkennen. Ich hätte mir gewünscht, dass der unter dem letzten CSU-Verkehrsminister entwickelte Katalog von Rahmenbedingungen für Tempo 30 aufgenommen worden wäre. Ich bin ja kein Freund von innerorts flächendeckendem Tempo 30, aber dass es vor Kindergärten, vor Schulen, vor Krankenhäusern und Altenheimen etc. ohne weitere Bürokratie Tempo 30 geben können sollte, finde ich vernünftig. Das kann ich als bürgerlicher Politiker, der nah an den Menschen im Wahlkreis ist, vorbehaltlos unterstützen. Das sieht man auch als Autofahrer ein, wenn da zur Begründung ein Schild steht „Achtung Kindergarten“. Solche lokal begrenzten Tempolimits sollten leichter möglich sein. Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit ist hingegen keine gute Idee, z.B. wenn man einen zügigen Busverkehr möchte …

… wobei auch bei der aktuellen Regelgeschwindigkeit von Tempo 50 Ausnahmen nach unten und oben problemlos möglich sind …
Für einen Mischverkehr von Kfz und Fahrrad halte ich auch Tempo 30 noch für zu schnell, diese Temporeduzierung ersetzt keine eigenständige Radverkehrsinfrastruktur. Sicherheit ist das ganz entscheidende Thema. Das hat für mich Priorität – und das ist am allerbesten mit einem abgetrennten Radweg zu erreichen.

Welche Entwicklungen sehen Sie im Parlamentskreis Fahrrad? Ist der eine Smalltalk-Runde oder ein zielführendes Instrument für eine fahrradfreundlichere Kultur im Deutschen Bundestag?
Der geistige Vater des PK Fahrrad ist ja unser viel zu früh verstorbener Gero Storjohann. Er war unermüdlich in der Sache, aber zugleich hat er immer wieder auch nach innen in die Partei hinein Brücken für den Radverkehr gebaut. Dieser Spirit schwebt immer noch über dem Parlamentskreis, und die Mitglieder, egal, welcher Partei sie angehören, verstehen sich gut. Alle gemeinsam haben das Ziel, das Fahrrad in die Köpfe und in die Herzen der Parlamentarier zu bekommen und das Fahrrad auch im Bundestag stärker zu etablieren.
Die Sitzungen des Parlamentskreises Fahrrad sind sehr fruchtbar und man erfährt vieles, wofür im hektischen Parlamentsalltag sonst gar keine Zeit wäre, so haben wir uns im PK Fahrrad beispielsweise sehr intensiv über Schulstraßen informiert, das war großartig.


Bilder: Christian Fischer

Lastenräder sind für viel Gewicht gemacht. Die Organisation Youth4Planet packt noch eine Ladung Ideen obendrauf. Mit der Macht des Geschichtenerzählens verfolgt sie das Ziel, junge Menschen für eine nachhaltige Zukunft zu inspirieren und so dem Klimawandel und Fake News zu trotzen. Wie funktioniert das? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Geht nicht gibt‘s nicht für ein kreatives Lastenrad. Es rollt und rollt und rollt für eine nachhaltige Welt: Das CreatiVelo radelte als mobiler Botschafter für einen positiven Wandel und Medienrad zur Klimakonferenz in Glasgow 2021. Bei der Klimakonferenz in Dubai 2023 war es als Reportagerad und mobiler Kommunikationsort vor Ort. Im Ahrtal ist das Rad der gemeinnützigen Organisation Youth4Planet (Y4P) nun als radelnder Kummerkasten und Mutmacher unterwegs, um die Menschen nach der Flut zu ermutigen. An luxemburgischen Schulen wird es als mobiler Workshop-Ort, fahrende Bühne oder mobiles Studio für Umfragen auf dem Marktplatz eingesetzt. Und auch in Indien wurde nun schon zum zweiten Mal eine CreatiVelo-Challenge durchgeführt. Studierende setzen dabei eigene Forschungs- und Bildungsideen radelnd um, etwa eine umherziehende Gesundheitsberatung.

Körper und Geist in Bewegung bringen

Y4P möchte mit den umgebauten E-Lastenrädern für eine nachhaltige Welt inspirieren und so die nachhaltige Transformation wortwörtlich ins Rollen bringen: „Das Fahrrad ist ja nicht nur das Fahrrad, sondern ein System zur Erkundung der Welt“, sagt Gründer und Vorsitzender Jörg Alte-kruse. Das CreatiVelo könne Ideen sowohl einsammeln als auch verbreiten. Er vergleicht dieses Konzept mit der Renaissance, als italienische Architekten durch Europa zogen und ihre neuen Bau-Ideen bis in die kleinsten Dörfer verbreiteten. Körperliche Bewegung sei zentral für geistige Veränderung. Das CreatiVelo vereine das und helfe so, junge Menschen für die Transformation zu empowern. Zudem schaffe es einen „Third Space“ – einen öffentlichen Raum, an dem Menschen sich treffen und austauschen können, ohne dafür bezahlen zu müssen, erklärt Altekruse. Sprich, ein Stückchen gelebte Transformation.
Das CreatiVelo sei ökologisch sauber, überall einsetzbar, ganz lokal und global vernetzt zugleich. Das bauliche Grundprinzip ist immer gleich: ein E-Lastenrad mit drei Rädern, hinten eine Lastenfläche mit einer Box – 80 cm breit, 120 cm lang, 145 cm hoch. Diese ist abnehmbar und auf Rollen. Mit an Bord ein in die Seitenfläche integrierter 50-Zoll-Monitor mit Klappe gegen Regen oder als Sonnenschutz. Solarpaneele und eine Batterie machen das Rad autark. Auf der Rückseite der Box ist Platz für ein großes Poster. In der Box: Mikrofone, Kamera, Laptop, Mischpult, Lautsprecher, Bühnenpodest, Kuppelzelt, Tisch und Hocker. Das Lastenrad hat Internetverbindung. Über die App EarthBeat sind die Räder auch untereinander verbunden. An den Außenwänden der Box prangen auffordernde Botschaften wie: „Lass uns gemeinsam die Erde retten.“

Das Konzept CreatiVelo funktioniert global, ob in Indien, Glasgow oder Luxemburg.

Nachhaltigkeit als Ziel

Y4P sitzt in Deutschland und Luxemburg und hat eine Niederlassung in den USA. Gründer Altekruse ist Filmemacher für Nachhaltigkeitsthemen. Als er eine 2013 veröffentlichte Fernsehserie über die Kipppunkte des Klimasystems drehte, merkte er, dass der Impact der Filme „gleich null“ war, obwohl sie in mehr als 100 Ländern gezeigt wurden. Die Filme hätten die „Lücke zwischen den Informationen und dem eigenen Standort“ nicht überbrücken können. Das sei der „Augenöffner“ für ihn gewesen, nicht länger nur mit Filmen in die Welt hinauszurufen, sondern etwas anderes zu tun. Als Ergebnis gründete er im Jahr 2015 Y4P. Im selben Jahr fuhr er mit jungen Leuten von verschiedenen Kontinenten nach Grönland, um sie zu Augenzeug*innen von schmelzenden Eismassen durch den Klimawandel zu machen. Die Jugendlichen drehten in Grönland selbst einen Film, traten im Fernsehen auf und berichteten in ihren Schulen von der Reise.
Die Idee von Y4P ist eng mit den UN-Nachhaltigkeitszielen verknüpft, die auch 2015 verabschiedet wurden und etwa Armut abschaffen, Klimawandel stoppen oder Ungerechtigkeiten bekämpfen sollen. Diese Ziele seien machtvoll, weil sie die Vision von 193 Ländern seien, so Altekruse, auch wenn man über Details streiten könne. So teile er das liberale Wirtschaftsverständnis der SDGs nicht, das auf Wirtschaftswachstum setzt. Er sieht die Lösung in einer zirkulären Ökonomie, um wieder innerhalb planetarer Grenzen zu leben.

„Das Fahrrad ist ja nicht nur das Fahrrad, sondern ein System zur Erkundung der Welt.“

Jörg Altekuse, Youth for Planet

Geschichten erzählen mit dem Handy

Das Y4P-Konzept nennt Altekruse „Storytelling for Future“: Y4P führt Storytelling-Workshops an Schulen, Universitäten oder in anderen Organisationen durch. So entstünden immer neue sogenannte Action Teams, die dann gemeinsam „ausschwärmen“ und Projekte umsetzen. In den Workshops lernen die Jugendlichen, wie sie Geschichten erzählen und Kurzfilme drehen – leicht und unkompliziert mit dem Smartphone, das die meisten eh in der Hosentasche haben. Sie sollen das Handy gezielt einsetzen, um die Welt um sie herum wahrzunehmen, festzuhalten und zu dokumentieren. Es gehe in den Workshops neben technischem Know-how vor allem darum, dass junge Menschen Mut für einen Standpunkt entwickeln: „Wenn ich eine Kamera irgendwo hinhalte, dann entscheide ich die Perspektive. Wenn ich eine andere Perspektive einnehmen will, dann muss ich halt weiter weggehen“, macht Altekruse mit dem Handy vor.
Junge Menschen sollen „Fähigkeiten entwickeln, um die Zukunft überhaupt anzupacken und nicht zitternde Knie zu kriegen“, beschreibt er. So sollen sie ermächtigt werden, sich im Raum und in der Welt so aufzustellen, dass sie eine Perspektive für sich und ihre Stimme finden. Eine der ersten Übungen sei deshalb, Handyfotos zu machen und diese auf ihre Geschichten hin zu analysieren. Etwa, welche Emotionen zugeparkte Straßen wachrufen. Durch die genaue Auseinandersetzung mit der Realität entstünden Ideen und Lösungen für eine neue, schönere Welt. So will Altekruse auch die Demokratie stärken: „Wir sind ein Teil des Gegengifts“ gegen die Zukunftsangst und die Unmengen an Falschinformationen, die etwa die AfD, Trump und mancher Milliardär säe. „Dagegen helfen nur starke Personen.“ Seine Vision: durch Y4P „resiliente Gemeinschaften und Individuen zu erzeugen, die sich vernetzen und gemeinsam an den erkannten Zielen arbeiten“.
Auf der Website von Y4P kann man sich durch viele Videos klicken, die vom Mut und der Energie verschiedener Menschen erzählen und Hoffnung machen: Etwa ein Rapsong über Plastik von Hamburger Schülerinnen; ein Video über Fairtrade- Orangensaft von Schülerinnen aus Luxemburg. Oder ein Video, das die Geschichte von Menschen im Togo zeigt, die die Küstenerosion zu bekämpfen versuchen.

CreatiVelos bestehen aus verschiedenen Komponenten – von A wie Antrieb bis Z wie zuklappbarer Monitor. So werden die Lastenräder quasi zur Eier legenden Wollmilchsau.

Lastenräder machen Schule

Inspiriert zu den CreatiVelos wurde Altekruse von der Bäckerei gegenüber seinem Hamburger Büro, die Brot mit einem Lastenrad transportiert. 2021 wurden die ersten Lastenräder umgebaut. Die Kinderkrankheiten seien mittlerweile überwunden: Die ersten Räder seien zu hoch gewesen und auf der Fahrt nach Glasgow zur Klimakonferenz mehrmals umgekippt. Aufgrund der Höhe passten sie auch nicht in Garagen oder durch Schultüren, erzählt Altekruse schmunzelnd.
Da Altekruse durch seine Dreharbeiten gut vernetzt ist, entstehen Projekte an ganz verschiedenen Orten der Welt: In dem kleinen Land Luxemburg arbeitet Y4P mit den 44 weiterführenden Schulen zusammen, führt Workshops und Forschungsprojekte durch und setzt drei CreatiVelos ein, bald sollen es sieben sein.
In Indien wurde nun bereits die zweite Challenge durchgeführt – eine Art mehrwöchige Sommeruniversität mit selbstorganisiertem Lernen: 12 Universitäten, über 30 Teams, über 150 Studierende. Die Studierenden schraubten die CreatiVelos vor Ort selbst zusammen mithilfe eines Startkapitals und dem, was sie auf Schrottplätzen fanden.. Ihre Universitäten unterstützen die Teams materiell und inhaltlich, so Altekruse. Die Teams entwickelten eigene Forschungsideen für die Challenges und schwärmten dann für acht Wochen aus. Adressiert werden dadurch etwa die Nachhaltigkeitsziele Klimaschutz und hochwertige Bildung: Ein CreatiVelo wurde so zur mobilen Gesundheitsberatung, mit der die Studierenden durch Dörfer radelten und über den Monitor Ärztinnen hinzuschalteten. Das sei bei den Menschen vor Ort und den Ärztinnen sehr gut angekommen und habe Mut gemacht, berichtet Altekruse. Ein anderes Team verschrieb sich mit einem Forschungsprojekt der Mädchenbildung und versuchte Diskriminierungen abzubauen. Wieder ein anderes Team habe Schadstoffe im Fluss Brahmaputra gemessen und dann gemeinsam mit NGOs angefangen, ihn zu reinigen. Die Studierenden hätten anschließend von einer Erfahrung fürs Leben geschwärmt und große persönliche Lernerfolge erzielen können, so Altekruse. Die erste Kohorte stand der zweiten als Coach zur Seite. Eine dritte Kohorte solle bald starten. Festgehalten werden diese Geschichten per Handyvideo und Posts auf Social Media oder es werden Vorträge gehalten. Auch die lokale Presse berichte.

Mut nach der Flut

In Deutschland ist ein CreatiVelo im Ahrtal unterwegs. Entstanden sei die Idee gemeinsam mit einer Psychologin, die mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen nach der Flutkatastrophe arbeitete. An einem Gymnasium in Adenau führte Y4P 2022 gemeinsam mit Psychologinnen einen Storytelling-Workshop durch, um sie zu ermutigen. Dabei blieb es nicht. Menschen in Sinzig im Ahrtal hörten vom Workshop und dem CreatiVelo. Mehrere Bildungsinstitute hatten sich nach der Flut zu einer Bildungsregion zusammengeschlossen. Dort ist das CreatiVelo nun als mobiles Event-Studio zum Erkunden von Berufs- und Ausbildungswegen im Einsatz und wird von verschiedenen Schulen bespielt: „Die Idee ist, eine Art Frischzellenkur für das Ahrtal aufzubauen, wo die jungen Leute nicht gehen müssen, sondern lernen, dass Dableiben auch was Gutes für sich hat und sie gestalten können“, erklärt Altekruse. Die Aufbruchshaltung für das Ahrtal nach der Katastrophe werde so durch das CreatiVelo unterstützt. Die Botschaft: „Hey da geht noch mehr. Lasst euch nicht entmutigen“, sagt Altekruse.
Diese Botschaft will er am liebsten überall verbreiten. Seine Vision: Jede deutsche Hochschule und jede Schule hat Action Teams mit CreatiVelos. Leider seien hierzulande die Strukturen sehr „verknöchert“ und es habe einige Rückschläge gegeben. Er sei im Kontakt mit der Initiative „Frei Day“, die sich dafür einsetzen, dass ein Tag die Woche freigeschaufelt wird für Zukunftsthemen. Das CreatiVelo sei wie dafür gemacht, neue Zukunftsformate umzusetzen, findet er. Etwa könnten Schüler*innen die Luftqualität in Stadtteilen messen und den Gemeinderäten vorlegen.

„Wir bauen Denkweisen und Systeme auf, wie zum Beispiel das CreatiVelo-Betriebssystem für ein bewegtes Lernen, was so aufgebaut ist, dass die Beteiligten lernen, wie sie für sich eine positive Zukunftsvision entwickeln“, so Altekruse von Y4P. Er steht vor dem ersten CreatiVelo frisch nach der Auslieferung.

Bildung in Bewegung

Vielleicht kommt bald auch das Bildungssystem in Nigeria ins Rollen. Auf der Klimakonferenz in Dubai baute sich ein Kontakt zum nigerianischen Gouverneur Mohammed Umaru Bago auf. Dieser möchte nun Tausende CreatiVelos mit Y4P für Nigeria organisieren, um sie als mobile Schulen einzusetzen, da in Nigeria aus unterschiedlichen Gründen viele junge Menschen die Schule abbrechen. So könnten junge Menschen direkt bei sich im Ort weiter an Bildung kommen. Die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) sei angefragt für Gelder, so Altekruse. Auch seien bereits die ersten Kontakte zu Edmilson Rodrigues, Bürgermeister von Belem in Brasilien, wo 2025 die Klimakonferenz stattfinden wird, geknüpft. Der Plan: 2025 soll ein Y4P-Action Team mit CreatiVelo vor Ort sein.
Es wird deutlich: Geht nicht gibt‘s weder für ein kreatives Lastenrad noch für Altekruse. Für ihn gelte stets das Prinzip: „Da, wo ich heute stehe, kann ich anfangen loszulegen und neu entwickeln, nicht in die Vergangenheit gucken und sagen ‚Ach Mist‘.“ Er gucke immer nach der nächsten Chance. Die nächste Chance, die ins Rollen kommen kann.


Bilder: Youth4Planet

Die Diskussion um Mobilität, Verkehrswende und nachhaltige Verkehrspolitik ist intensiver und kontroverser denn je. Oft fällt der Begriff „Kulturkampf“ – zwischen Autofahrerinnen und Radfahrerinnen, Stadt und Land und Menschen, die radikale Veränderung befürworten oder den Status quo verteidigen. Doch ist es wirklich ein Kulturkampf? Oder fehlt schlicht ein tiefes Verständnis für Mobilitätskulturen, deren Dynamiken, Einflussfaktoren und kluges Eingreifen? Welche Konflikte sind notwendig, welche Flanken gilt es zu vermeiden, und welche Kämpfe sind gewinnbar? Um Mobilität erfolgreich zu gestalten und Konflikte abzubauen, müssen wir die Ursachen gescheiterter Reformen, die Essenz der Mobilitätskultur und die Erfolgsfaktoren für Wandel verstehen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Der Autoverkehr schrumpft – ein Prozess, der vor Corona begann und durch Homeoffice-Verlagerung beschleunigt wurde. Besonders montags und freitags bleiben viele Arbeitnehmer*innen zu Hause. Bundesweit sind die Kfz-Bewegungen in den letzten fünf Jahren um 10 bis 20 Prozent gesunken, in Großstädten seit einem Jahrzehnt jährlich um 0,5 Prozent. Verbesserungen im ÖPNV, Radwege und Sharing-Angebote zeigen Wirkung. In Berlin sinkt überraschend die Zahl der zugelassenen Fahrzeuge, obwohl der Gesamttrend durch Zersiedlung, Demografie, Zweitautos und steigende Einkommen weiter Richtung Überpopulation zunimmt. Ältere Jahrgänge und mehr berufstätige Frauen, die häufiger Auto fahren, belasten zusätzlich die Straßen. Staus an den Einfallstraßen werden zum wachsenden Problem.
Zum Reflektieren, zum Wiederholen, wann immer es geht, und zur Einleitung jeglicher Argumentation: Pkw-Verkehr schrumpft. Schrumpfender Platzbedarf ermöglicht jede Menge neue Gestaltungsmöglichkeiten für die gesamte Mobilität.

Gut gemeintes Scheitern

Verkehrsreformen und Mobilitätsprojekte scheitern oft nicht an fehlenden Ideen oder mangelnder Finanzierung, sondern an falsch designter Umsetzung, ihrem politischen Rückhalt und ihrer Kommunikation. Wie bereits im Buch „Die Verkehrswesen – miteinander den Kulturkampf beenden“ (von den Autoren dieses Artikels) gezeigt, kann es hilfreich sein, zu reflektieren, in welchem Lager man steht und aus welchem man entsprechend argumentiert, plant und handelt. Die polarisierten Haltungen personifizieren in dem Buch Verkehrswendy und der böse Rolf, die stellvertretend für Verkehrs-wendeaktivistinnnen und archetypische Autofahrerinnen stehen. Die Figuren sind ein gutes Werkzeug, mit dem sich zielsicher erspüren lässt, ob man sich selbst gedanklich und kommunikativ im Wendy- oder Rolf-Lager bewegt. Das Scheitern liegt oft in zentralen Hindernissen wie der emotionalen Verankerung der Mobilität, der Mobilitätskultur, einer Fake-Partizipation, kommunikativen Schwächen, politischen Gesinnungen sowie in falsch designten Change-Strategien.

„Verkehrswendy und der böse Rolf” sollen als gegensätzliche Archetypen helfen, die Debatte zu verstehen.

Inklusiv das aktuelle Mobilitätsgefühl erreichen

Mobilität ist mehr als Fortbewegung – sie ist eng mit Lebensstilen, Identitäten und Freiheitsgefühlen verknüpft. Das Auto steht für Unabhängigkeit, Status und Komfort, das Fahrrad für Nachhaltigkeit, Gesundheit und Gemeinschaft. Maßnahmen, die diese Aspekte negativ beeinflussen, greifen tief in persönliche Überzeugungen ein, ähnlich einem emotionalen Eisberg mit verborgenen Gefühlen. So führte ein „Mimimi“-Autowahlkampf der CDU in Berlin zum Erfolg, obwohl klare Argumente ihn hätten schnell neutralisieren können, etwa: „Liebe Autofahrer*innen, der Ausbau der A100 lässt Euch jahrelang im Stau stehen; schnelle Bike+Ride-Angebote und Radschnellwege wären sofortige Entlastung.“
Verkehrliche Veränderungen werden jedoch schnell als Angriff auf Lebensstile wahrgenommen, vor allem wenn sie bestehende Privilegien infrage stellen. Wo zum Beispiel früher vor der Haustür geparkt werden konnte, sind nun 150 Meter Fußweg nötig. Veränderungen folgen oft dem Pareto-Prinzip – Verbesserungen für einige bedeuten Nachteile für andere.
Erfolgreiche Ansätze müssen das Mobilitätsgefühl relevanter Gruppen ansprechen und in ihrem Jargon für kleine Veränderungen werben. Politische Stoßrichtungen sind dabei klar verteilt: CDU, FDP und AfD auf der einen, Grüne, Linke, Volt und Teile der SPD auf der anderen Seite. Kommunikation birgt viele Stolperfallen – bürgerliche Klientel schaltet bei „Gender-Deutsch“ ab. Wer diese Fallstricke ignoriert, riskiert, dass gute Verkehrspolitik wegen Nebenschauplätzen scheitert. „Wendy und Rolf” geben da die richtigen Signale.

Kommunikative Schwächen und Fake-Partizipation

Viele Reformen scheitern, weil sie schlecht erklärt, unprofessionell kommuniziert oder Menschen falsch oder zu wenig einbezogen werden. Fühlen sich Bürgerinnen übergangen, reagieren sie oft ablehnend – selbst bei objektiv sinnvollen Maßnahmen. Beteiligung wirkt dagegen wie eine Farce, wenn alles bereits entschieden ist oder bestimmte Lösungen von vornherein ausgeschlossen werden. Besonders deutlich wird dies in den Renderings der „Stadt von morgen“, wo Autos kaum auftauchen. Ein Partizipations-Overkill signalisiert häufig Entscheidungsschwäche und mobilisiert Gegnerinnen, während klare Entscheidungen, beherzte Kommunikation und rasche Realisierung auf der Straße Konflikte klein halten könnten.
Auch das „Planungsdeutsch“ verkehrstechnokratischer Begriffe ist kaum hilfreich: Begriffe wie „Verlagerung“, „Umwidmung“ oder „Parkraumbewirtschaftung“ klingen negativ, erzeugen keine greifbaren Bilder („Was ist eigentlich diese Verkehrswende, von der einige immer sprechen?”) und schaffen zu wenig Rückhalt. Es braucht eher den klaren und verbindlichen Klartext, ohne um den heißen Brei zu reden. Menschen mit verschiedenen Bildungs- und Milieu-Hintergründen müssen das Gesagte verstehen und annehmen können, egal ob Sabine, die Aldi-Verkäuferin, Erwin, der Baggerführer, Margot, die Leitende Angestellte, oder Thomas, der Geschäftsführer.

Falsch designte Change-Strategien

Maßnahmen scheitern oft, weil ihre Umsetzung zu lange dauert und dadurch zu viel Angriffsfläche bietet. Sie scheitern auch, wenn sie schlecht durchdacht sind, unnötigen Widerstand provozieren oder zu plakativ und mit überschaubarer Wirkung umgesetzt werden. Oft hätten andere Stellen größere Wirkung erzielt, ohne politischen Schaden anzurichten. Ein Beispiel ist die Friedrichstraße: Sie autofrei zu machen, war unklug, da andere Berliner Straßen mit mehr Fußgängerverkehr und weniger Autos besser geeignet gewesen wären. Ebenso problematisch sind neue breite Radwege, die niemand nutzt, aber kräftig Stau produzieren und politische Wut erzeugen – wie die Abwahl von Rot-Grün in Berlin zeigt.
Es gilt, Maßnahmen entweder schnell und unterhalb der Wahrnehmungsschwelle umzusetzen oder solche zu wählen, bei denen Konsens mit den vermeintlichen Gegnern möglich ist. Fahrradstraßen statt Radwege an Hauptstraßen wären eine Option, die auch ADAC und ADFC unterstützen könnten, wenn die Qualität stimmt. Kompromisse schließen heißt, dass alle ein wenig unzufrieden sind, aber man miteinander besser vorankommt, anstatt sich an wenigen Punkten lange zu verkämpfen, um kaum was zu erreichen. Nicht jeder „Krieg” oder „Kampf um die Flächen“ lohnt sich, manche enden als Pyrrhussieg.

Mobilitätskultur als Abbild der Maßnahmen der Vergangenheit

Mobilitätskultur ist das Zusammenspiel aus Gewohnheiten und dem heutigen Verkehrsgeschehen, Werten, Normen und Infrastrukturen, die bestimmen, wie sich Menschen fortbewegten und heute bewegen können.
Gewohnheiten und Routinen haben sich eingeschliffen, lassen sich aber mit neuen guten Angeboten oder mit gezielten Change-Kampagnen ändern. Der neue und gute Radweg an der Kantstraße in Berlin brachte einen Radverkehrszuwachs von 300 Prozent, ohne große Kampagne. PR-Kampagnen mit Fokus auf diejenigen mit Autobesitz führten zu 30 Prozent Fahrzeugabmeldungen.
Die gebaute Umgebung prägt und reflektiert und fördert die Mobilitätskultur. Breite Straßen und Parkplätze fördern Autoverkehr, während Radwege und Fußgängerzonen den Umweltverbund stärken.

Alle sauer aufeinander – die gemeinsame Sprache verstehen und nutzen.

„Wer Radwege sät, wird Radverkehr ernten”

In die Kulturfrage wollen wir deshalb gar nicht tiefer einsteigen, denn „die” Mobilitätskultur eines Landes ist ein Ergebnis vieler historischer Entscheidungen. Die Niederlande haben selbstverständlich eine andere Mobilitätskultur, weil 50 Jahre eine andere Politik als in Deutschland gemacht wurde (mehr dazu im Artikel ab Seite 54 in dieser Veloplan-Ausgabe). Aber auch Münster und München unterscheiden sich kolossal. Für die Mobilitätskultur ist es hilfreich, sich auf gutes Change- und Kommunikationsdesign zu konzentrieren und den Kulturkampf-Aspekt einfach rechts liegen und ausfallen zu lassen.

Erfolgsfaktoren für den kulturellen Wandel

Wer Mobilitätskultur erfolgreich gestalten und verändern will, muss gezielt an bestehenden Strukturen anknüpfen und gleichzeitig neue Perspektiven eröffnen. Reformen sollten nicht als Angriffe auf bestehende Mobilitätskulturen wahrgenommen werden. Stattdessen ist es wichtig, an vorhandene Strukturen und Gewohnheiten anzuknüpfen und die konkret machbaren Schritte der Veränderungen zu gehen. Dazu braucht es auch eingängige Narrative: Gute Autopolitik heißt, Bike+Ride und Radschnellwege auszubauen, denn das reduziert Staus und Parkplatzsorgen für alle Einpendelnden. Allein schon der Gedanke, jede radverkehrspolitische Maßnahme als „hilfreich für Rolf” anzupreisen, ist schon ein wichtiger Schlüssel für die Gestaltung einer Miteinander-Kultur und wachsende Akzeptanz. Kleine, sichtbare Erfolge sind oft der Schlüssel für größere Veränderungen. Pilotprojekte, wie temporäre Radwege oder autofreie Tage, ermöglichen es, neue Ideen zu testen und den Menschen zu zeigen, dass Wandel möglich ist, ohne dass er sofort bedrohlich wirkt. Die erfolgreichen Pilotprojekte in einer Haltung von agilem Management oder Rapid Prototyping zu skalieren – das verändert konfliktarm bestehende Mobilitätskulturen und Infrastrukturen.
Die Mobilitätskultur ändert sich durch die infrastrukturellen Angebote und deren Nutzung. Wer die Kulturkämpfe auslässt, kann sich mit den kulturellen Erfolgsfaktoren und den eigenen verkehrspolitischen Fähigkeiten auf reale Veränderungen konzentrieren, die dann Schritt für die Schritt die Mobilitätskultur verändern.

Vom Kulturkampf zum Miteinander-Konsens

Der „Kulturkampf“ in der Mobilitätsdebatte ist zu großen Teilen eine Inszenierung. Es gibt nicht nur Trennendes, sondern weit mehr Faktoren, die die Menschen verbinden: die gemeinsame Sehnsucht nach weniger Stress, Sicherheit, mehr Lebensqualität, attraktiven Innenstädten und nachhaltiger Mobilität, die zur “freien Wahl für freie Bürger” einlädt . Wenn wir die aktuellen Mobilitätskulturen verstehen und respektieren, können wir Konflikte abbauen, Konsensschritte identifizieren und miteinander gestalten – für Städte und Regionen, in denen Mobilität weniger trennt, sondern mehr verbindet.


Bilder: stock.adobe.com – EdNurg, Tremoniamedia

Am 5. und 6. November fand die 18. Fahrradkommunalkonferenz in der Landeshauptstadt Hannover statt. Vielerorts werden positive Zeichen für den Radverkehr gesetzt. In Summe geht der Wandel aber nicht schnell genug. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Vor 12 Jahren hat die Fahrradkommunalkonferenz schon einmal in der niedersächsischen Landeshauptstadt gastiert. Seitdem hat sich nicht nur vor Ort viel verändert in Sachen Radverkehr. Die Rekordbeteiligung von 450 Teilnehmenden vor Ort und einer dreistelligen Teilnehmerzahl im Live-stream lässt laut Christian Hoffmann, Präsident des Bundesamts für Logistik und Mobilität, den Schluss zu, dass auch das Interesse am fachlichen Austausch seitdem zugenommen hat. 2012 waren 250 Expert*innen vor Ort.

Best Practice und Austausch brachten in Hannover 250 Menschen zusammen.

„Gemeinsam Radverkehr gestalten“

Nicht nur bei den verschiedenen Exkursionen ließ sich beobachten, dass die Stadt Hannover unter Oberbürgermeister Belit Onay sich mitunter durchaus als Vorreiter im Radverkehr sehen lässt. Laut Hoffmann beispielhaft ist etwa die Zusammenarbeit zwischen Region und Stadt, die das Veranstaltungsmotto „Gemeinsam Radverkehr gestalten“ beispielhaft illustriert. Gute Kooperation, so betonte auch Iris Reimold, Abteilungsleiterin Straßenverkehr im Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV), brauche es auch zwischen den verschiedenen politischen Ebenen, bis hinein in die Kommunen. Potenzial für mehr Radverkehr sieht Reimold beim Pendeln, das durch eine vollumfängliche Infrastruktur, ohne Lücken und mit Abstellmöglichkeiten, noch attraktiver werden könne.
Ein Streitpunkt, der auf der Fahrradkommunalkonferenz ausgehandelt wurde, war die Frage, inwiefern sich das Verkehrssystem zu langsam wandelt. Für Steffen Krach, Präsident der Region Hannover steht zwar fest: „Wünschenswert wäre, wir wären schon einen Schritt weiter.“ Jedoch mahnt er auch, dass Infrastrukturprojekte auf dem Weg seien, aber lange Zeit in Anspruch nehmen können.
Für die Bundestagsabgeordnete Swantje Michaelsen klafft im planerischen Alltag häufig eine Lücke zwischen Masterplänen, die beschlossen werden, und den tatsächlichen Veränderungen an konkreten Stellen in den Netzen. Während erstere auf viel Zustimmung treffen, ist vom „Gemeinsamen“ nicht mehr viel übrig, wenn es um die konkrete Veränderung vor Ort geht. Sie plädiert dafür, präzise zu zeigen, was der Radverkehr für Vorteile bringt und den Rechtsraum zu nutzen, der schon unter dem alten Straßenverkehrsgesetz nicht oft genug ausgenutzt wurde. Es gebe zwar Umwidmungen von öffentlichem Raum, aber die Beispiele seien zu wenige und sie würden zum Teil wieder gestoppt oder zurückgebaut. Tempo 30 vor Kitas und Schule wolle das Land Berlin zurücknehmen und in Hannover werden Fahrradstraßen gerichtlich gestoppt.

Verkehrsprognose 2030 ist Warnsignal

Mehrfache Erwähnung fand die jüngst veröffentlichte Verkehrsprognose 2030 vom BMDV, nach der sich der Radverkehrsanteil im Modal Split nur moderat steigern würde. Für Oberbürgermeister Onay ist sie ein Warnsignal, was mit der aktuellen Wandelsgeschwindigkeit blüht. Wenn Menschen Angst um ihr Leben haben müssen, sagte er außerdem, ist der Radverkehr keine ernst gemeinte Alternative.
Gegenüber dem Autoverkehr müsse der Radverkehr auch deshalb als Lösung selbstverständlich sein, weil er viel mehr Menschen zur Verfügung steht. 30 Millionen Menschen besitzen keine Kfz-Fahrerlaubnis. Autos lassen sich sogar für autofahrende Menschen als Belastung sehen. Wenn mehr Menschen Rad fahren, könnte das außerdem auch helfen, weniger verstopfte Straßen für alle zu erhalten.

Hannover braucht sich nicht zu verstecken, was den Radverkehr angeht. Das war nicht nur in einigen Vorträgen, auch auf den Exkursionen im Rahmen der Fahrradkommunalkonferenz sichtbar.

Mittel müssen abfließen

Positiv zu werten ist, dass das Sonderprogramm Stadt und Land die Kürzungen im Haushalt weitgehend unbeschadet überstanden hat und gut genutzt wird. Oft sei es dennoch schwierig, die Mittel tatsächlich abfließen zu lassen, weil Infrastrukturprojekte in der Praxis oft anders ablaufen, als sie sich planen lassen. Hinzu kommt, dass immer wieder kleine Abschnitte, die Förderhürden nicht nehmen, ganze Projekte scheitern lassen können.
Dass die Mittel aber möglichst vollumfänglich abgerufen werden, sei laut Reimold wichtig, weil sich nur so überzeugend signalisieren lässt, dass noch mehr Mittel benötigt werden. Das dürfte schließlich auch deshalb im Interesse der Radverkehrsakteure sein, weil viele Kommunen knappe Kassen haben, wie Thomas Kiel d’Aragon vom Deutschen Städtetag am zweiten Konferenztag erklärte. Die Kommunalfinanzen sind in einer dauerhaften Schieflage. Und es ist anzunehmen, dass der Investitionsrückstand von aktuell ca. 186 Milliarden Euro weiter ansteigen wird. Laut Prognosen dürfte der Finanzierungssaldo bis einschließlich 2026 sukzessive negativer werden. Dass es zudem oft mehr Geld braucht, als zunächst gedacht, zeigt auch das Beispiel der Hannoveraner Velorouten. Zwischen 50 und 60 Millionen Euro werden in das Projekt fließen. Anfangs gingen die Verantwortlichen von rund 10 Millionen Euro aus.
Neben einem kurzweiligen Rahmenprogramm hatten die Anwesenden in drei Sessions die Wahl aus einigen Fachforen sowie Theorie- und Praxissessions mit verschiedensten Themen. Als Highlight gab es unter anderem eine Keynote von Monika Sattler, die einen Blick hinter die Kulissen ihres Weltrekords gab, bei dem sie alle 124 Pässe der Schweiz mit insgesamt rund 56.000 Höhenmetern in 26 Tagen fuhr. Sie riet den Anwesenden, bei großen Zielen das Ende nicht aus den Augen zu verlieren, aber sich an Zwischenzielen zu orientieren. Selbst wenn man einmal scheitere und ein Ziel nicht erreiche, eröffnen sich auf dem Weg meist andere Ziele.
Christian Artopé von der Kommunikationsagentur GUD.berlin begeisterte das Publikum mit einem multimedialen Vortrag zum sehr präsenten Thema Kommunikation. GUD.berlin steckt unter anderem hinter der Kampagne „Weil wir dich lieben“, mit der die Berliner Verkehrsgesellschaft seit 2015 einen deutlichen Image-Gewinn verzeichnen kann. Als Erfolgsfaktoren benannte er Humor, Relevanz und Haltung. Auszahlen könne sich insbesondere, am Puls der Zeit zu sein, weshalb die Verkehrsbetriebe etwa auf Tiktok Sketche mit Puppen als Protagonisten verbreiten, die sich spontan für die Content-Erstellung nutzen lassen.
Die Fahrradkommunalkonferenz ging traditionell mit der Staffelstabsübergabe zu Ende. Die kommende Ausgabe im nächsten Jahr wird in Landau in der Pfalz stattfinden.


Bilder: BALM

Rein in die Mobilität von morgen

von Katja Diehl

Für die Bestseller-Autorin („Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt“) Katja Diehl klafft eine große Kluft auf zwischen den Bedürfnissen nach einer barrierefreien, klimagerechten und für alle erschwinglichen Mobilität und dem, was auf dieser Ebene geschieht. In ihrem neuen Buch analysiert sie rostige Stellschrauben und die Rolle der Wissenschaft, der Medien und der Industrie. Mit ihrem Buch will sie dazu beitragen, die identifizierte Kluft zu schließen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Spezifische Missstände gibt es laut Katja Diehl viele. In „Raus aus der Autokratie: Rein in die Mobilität von morgen“ begegnet sie diesen in drei Akten. Im ersten Teil widmet Diehl sich den Problemzonen des aktuellen Verkehrssystems in Deutschland. Im zweiten Teil geht sie den Ursachen des Stillstands auf den Grund und analysiert den Status quo, rechtliche Hemmnisse, Planungsfehler, Lobbyismus und Politik. Dabei bleibt sie konkret, wagt aber auch Systeme infrage zu stellen und reflektiert über Macht, Freiheit und die Rolle der Medien.
Vor Ort zeigt sich die Mobilitätswende doch oft in einem anderen Bild, als sie sich in großen politischen oder gesellschaftlichen Prozessen darstellt. Wichtige Erkenntnisse im dritten, konstruktiv orientierten Teil des Buchs zog Diehl auch aus den Gesprächen, die sie mit wichtigen Handlungsträgern in einigen deutschen Städten führte, darunter Berlin, Hannover, München und Hamburg.
Über 100 Expertinnen und Gestalterinnen hat Diehl für „Raus aus der Autokratie“ zum Interview getroffen. Von diesen Menschen lässt sich in Diehls Buch nicht nur Inhaltliches mitnehmen. Man begegnet ihnen mitunter auch in privater und biografischer Hinsicht. Obwohl so viele Menschen dazu beigetragen haben, ist „Raus aus der Autokratie“ auch ein persönliches Buch. Für die Autorin ist es die richtige Antwort auf die Hetze und den Hass, der ihr als kritische, in der Öffentlichkeit stehende Frau entgegenschlägt.

Katja Diehl hat selbst lange beruflich in der Mobilitäts- und Logistikbranche gearbeitet. Die Bestsellerautorin des Buches „Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt“ ist Trägerin des Leserpreises des Deutschen Wirtschaftsbuchpreises 2022 und des Deutschen Mobilitätspreises in der Kategorie Menschen. Sie berät Politiker*innen und hostet seit fünf Jahren den Podcast „SheDrivesMobility“.


Raus aus der Autokratie: Rein in die Mobilität von morgen | von Katja Diehl | S. Fischer Verlag | Auflage 2024 | ca. 340 Seiten, Softcover | ISBN: 978-3-10-397577-2 | 20,00 Euro


Bilder: S.Fischer Verlage

Die Velo-City-Konferenz steht für internationalen Austausch, prominent besetzte Vorträge und Diskussions-Panels sowie ein gut organisiertes Rahmenprogramm inklusive Ausstellung. Für viele Besucher*innen ist der Informationsgewinn aber nur ein positiver Aspekt, den das Event mit dem globalen Anspruch mit sich bringt.

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)


Auf der Velo-City kommen Menschen zusammen, die einander inspirieren und die aus dem Beisammensein der hoch motivierten Akteure aus vielen Ländern der Welt Kraft für ihre tägliche Arbeit schöpfen. Auch wenn die lokalen Gegebenheiten zum Teil kaum unterschiedlicher sein könnten, lassen sich Lehren ziehen aus Problemen und gelungene Best-Practice-Beispiele bewundern. So dürfte sich erklären lassen, warum die diesjährige Konferenz im belgischen Gent eine Rekordbeteiligung von 1600 Besucher*innen aus mehr als 60 Ländern zählen konnte.
Die Motivation, die sich auf der Velo-City auftanken lässt, ist gerade deshalb wichtig, weil Radverkehrsprojekte nicht selten auf Widerstand und Protest stoßen. Auch das Motto „Connecting through cycling“ der Velo-City Gent fand Belgiens stellvertretender Premierminister und Mobilitätsminister Georges Kilkinet in diesem Kontext sehr passend: „Das Motto der diesjährigen Konferenz spricht für sich selbst. Durch Radfahren verbinden, genau das macht der Radverkehr.“

Stilecht wurde das Programm auf der Hauptbühne im Velodrome „’t Kuipke“ mit einem Bahnrennen eröffnet.

Radverkehr überwindet Barrieren

Im belgischen Gent fand die Konferenz im Pavillon Floraliënhal im Citadelpark statt, einem zur Expo 1913 errichteten Gebäude voller industriellem Charme. Direkt angrenzend lag die Hauptbühne in Fahrradform im Velodrome „’t Kuipke“, wo die 1600 Besucher*innen mitunter auf den Fan-Rängen Platz fanden. Die Konferenz wurde stilecht mit einem Bahnradrennen eröffnet. Die Erfolgsstory von der Gastgeberstadt Gent war das erste Thema auf der Bühne, vorgetragen vom Bürgermeister der Stadt, Matthias de Clerq, gefolgt von inspirierenden Worten von Henk Swarttouw, Präsident der European Cyclists‘ Federation und Gents stellvertretendem Bürgermeister Filip Watteeuw. Radverkehr vermag es, Barrieren zu überwinden und Gemeinschaften zu verbinden, wenn er inklusiv organisiert ist, so das Resümee des anschließenden Podiums, auf dem auch Janette Sadik-Khan nach einer Keynote zu Wort kam. Die ehemalige Transport Commissioner von New York hat es geschafft, 400 Meilen Fahrradwege in der Stadt anzulegen. „Radfahren in New York hat sich von einer alternativen Art der Fortbewegung zu einer essenziellen gewandelt“, so Sadik-Khan.
Viel Aufmerksamkeit erhielt die European Declaration on Cycling, die die Europäische Kommission im April verabschieden konnte. Das Dokument nimmt in einem von acht Punkten auch Bezug auf rund zwei Millionen Jobs, die durch einen starken Support im Fahrradsektor entstehen könnten. Für Kevin Mayne, CEO von Cycling Industries Europe, ist es wichtig, dass im Grunde die gesamte Erklärung der Fahrradwirtschaft zugutekommen könnte. Die potenziellen neuen Jobs werden ihm zufolge zudem zu 85 Prozent lokal sein.

„Macht den öffentlichen Raum wirklich öffentlich!“

Simona Larghetti, Stadt Bologna

Kommunikation als Schlüssel

Viel Veränderungspotenzial, das bewiesen einige Veranstaltungen auf der Konferenz, liegt in der Art, wie über den Mobilitätswandel und die dadurch veränderten Städte gesprochen wird. Ein Beispiel einer vierspurigen Straße in Memphis, bei der die Hälfte für Rad- und Fußverkehr umgewidmet wurde, zeigt: Sogar, wenn die richtigen Daten vorliegen, die die Wirksamkeit einer Maßnahme beweisen, kann diese durch mangelnde Kommunikation noch immer scheitern. Der französische Autor Grant Ennis erklärte auf der Konferenz, dass die Tatsache, wie oft Menschen etwas zu hören bekommen, den Ausschlag dafür gibt, wie sie zu einer Überzeugung gelangen. In diese Kerbe schlagen Berichterstattungen zu Unfällen, in denen den Tätern in den Autos keine aktive Rolle zugeschrieben wird. Auch die Frage, wie sich Sicherheit im Radverkehr adressieren lässt, ohne Radfahren als inhärent gefährliche Aktivität darzustellen, ist eine kommunikative Herausforderung im gesellschaftlichen Diskurs um die Verkehrswende. Zum umgestalteten Oeder Weg in Frankfurt am Main ergab die Begleitforschung, dass von 117 Artikeln lediglich 13 positiv zu wertende Beiträge, aber 38 negative Beiträge waren. Das zieht die Bewertung der Öffentlichkeit für das städtebauliche Projekt deutlich ins Negative. Verstetigt wurde der Oeder Weg dennoch. Medien kommt eine wichtige Rolle zu, die Projektverantwortliche aktiver nutzen müssen, so das Resümee. Hilfreich kann es auch sein, Nicht-Regierungs-Organisationen oder lokale Unternehmen in die Kommunikation einzubinden.
Auch in Afrika beginnt der Wandel in den Köpfen, sagt Emmanuel John, Präsident der Africa Urban Cycling Organisation. Dort herrsche noch viel zu oft das Klischee vor, dass Fahrräder ein Mobilitätsmittel für arme Menschen sind.
Um am Ende ein positives Ergebnis zu erhalten, bedarf es einer Planung, die die Bedürfnisse der Menschen und keine rein technische Betrachtung in den Vordergrund stellt. „Macht den öffentlichen Raum wirklich öffentlich!“, fordert in diesem Zug Simona Larghetti von der italienischen Stadt Bologna. In italienischen Städten seien 80 Prozent der Fläche Autos gewidmet. Bei der Mobilität dürfe mangelndes Geld nicht der entscheidende Faktor sein, weshalb es günstige Angebote brauche. Neben dem Zuckerbrot braucht es manchmal aber auch eine Peitsche. In Utrecht benötigte die Verwaltung eine Parkverbotszone für Fahrräder, um die massenhafte Nutzung eines zentralen Fahrradparkhauses zu beschleunigen. In Singapur hingegen ist Autofahren sehr teuer, was sich als Push-Maßnahme für nachhaltige Mobilität auswirkt. Auch die Stadt Gent hat von der harten Push-Maßnahme, Parkraum für Autos zu reduzieren, profitiert.

Über 100 Aussteller, mehr als 80 inhaltliche Sessions und über 400 Vortragende erwarteten die Velo-Citizens in Gent. Vielleicht noch wichtiger: die Möglichkeiten, sich auszutauschen und zu vernetzen.

Öffentlichkeitswirksame Aktionen dürfen bei der Velo-City-Konferenz nicht fehlen. Zur Fahrradparade mit anschließender Party kamen 2600 Menschen.

Beteiligung aus Deutschland

Auch in Deutschland schlummert in dieser Hinsicht noch viel Potenzial, wie etwa ein Vortrag von Alexander Czeh vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt zeigt. Die von Autos genutzte Fläche geht mit privaten Garagen, Reparaturwerkstätten und Autohändlern weit über die reine Verkehrsfläche hinaus. Durch einen Wandel zu nachhaltigeren Verkehrsmitteln könne in Berlin Wohnraum für 143.000 Menschen entstehen, resümiert Czeh. Ein Beispiel: Der umgewidmete Raum eines ehemaligen Autohändlers in Berlin bietet heute Wohnraum für 400 Menschen sowie Flächen für einen Kindergarten und Einzelhandel.
Als weiteren Programmpunkt aus Deutschland stellte Anke Schäffner vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) die German Cycling Embassy (Deutsche Radverkehrsbotschaft) vor. Ehemals vom ADFC gestartet, um vor allem Wissen im Bereich Radtourismus zu vermitteln, stellt sich das Bündnis jetzt neu auf, um als Expertiseplattform zu fungieren. In der Ausstellungsfläche der Velo-City zeigten sich die Projektpartner ADFC, Zukunft Fahrrad, ZIV, das Umweltbundesamt und das Bundesministerium für Digitales und Verkehr mit einem gemeinsamen Stand, an dem sich auch die Radverkehrsprofessoren Deutschlands und das Bike Nature Movement mit kleinen Empfängen präsentierten.

ECF-Awards verliehen

Das Rahmenprogramm ließ mit Austauschmöglichkeiten bei Kaffee und Buffet, einer abendlichen Party, einer Filmvorführung und der Fahrradparade quer durch Gent mit 2600 Menschen viel Raum für die Teilneh-mer*innen, um sich zu vernetzen. Zum dritten Mal wurden im Rahmen der Konferenz außerdem die ECF Awards von Henk Swarttouw und ECF-CEO Jill Warren verliehen. Unter den Gewinnern sind die Städte Gent, Bologna, Lyon und Qualimane sowie das Europäische Parlament. Am dritten Konferenztag wurde dann zudem mit dem Startup Locky der Gewinner des Smart Pedal Pitch gekürt. Am vierten Tag hieß es dann für die Velo-Citizens bis zur nächsten Ausgabe der Konferenz im polnischen Danzig „Auf Wiedersehen!“.


Bilder: Velo-City Conference, Sebastian Gengenbach

Die Renaissance der Straßenbahn ist gut für Klima und Umwelt, eine sozial gerechte Mobilität sowie Radfahrende. Teilweise gibt es aber heftigen Gegenwind, wenn sie neu gebaut werden soll. Mit einer guten Kommunikationsstrategie können Städte viel richtig machen bei der Planung.

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2024, September 2024)


Von den einen geschätzt, da bewährt, komfortabel und Hoffnungsträger für die Verkehrswende. Von den anderen ängstlich beäugt oder gar verhasst, da sie Städte verändert, Baustellen erfordert und dem Auto den Platz streitig macht: die Straßenbahn. Während in Tübingen 2021 und Regensburg 2024 ihr Bau in Referenden scheiterte, votierten die Erlan-ger*innen 2024 für sie, in Lüneburg fordern manche sie, in Kiel wird sie geplant und in Lübeck oder Osnabrück eine Wiedereinführung diskutiert; in Karlsruhe oder Erfurt fährt sie längst.
Ende des 19. Jahrhunderts gab es weltweit einen Straßenbahnboom. Allein in Deutschland entstanden um die 100 Systeme. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde sie allerdings zunehmend vom Auto verdrängt und viele stillgelegt. Im Zuge des sich zuspitzenden menschengemachten Klimawandels ist die Straßenbahn ein wichtiger Baustein für die immer drängender werdende Verkehrswende – in Deutschland ist der Verkehr für etwa 20 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Es braucht Mobilität, die menschliche Bedürfnisse erfüllt, soziale Gerechtigkeit schafft und ökologische Grenzen wahrt. Dafür müssen wir uns effizienter, anders und weniger fortbewegen. Zentral ist, den motorisierten Individualverkehr zu reduzieren und gleichzeitig den ÖPNV zu stärken. Wie Städte ihre Infrastruktur planen und umsetzen, ist dabei zentral.

In Leipzig wurden gute Kompromisse gefunden: Eine klassische Straßenbahnstadt und neuerdings auch Fahrradstadt. Während in der BRD viele Strecken stillgelegt wurden, wurden sie in der DDR gepflegt.

Straßenbahn vs. Stadtbahn: Straßenbahnen integrieren sich gut in die Stadt, sind kostengünstiger, da sie keine Tunnel, Schotterbetten, Zäune oder Leitplanken brauchen und haben mehr Haltestellen.

Ein bisschen Nostalgie: Im Vintage Style kann man in Lissabon durch die Altstadt fahren.

Vorbild Frankreich: Hier entstanden in den letzten 30 Jahren viele neue moderne Straßenbahnsysteme, die gut in die Stadt integriert wurden und den Straßenraum aufwerteten, wie hier in Toulouse.

Straßenbahn for Future

„In Deutschland sitzen im Auto durchschnittlich 1,4 Menschen. Für je 100 Menschen sind also 71 Autos unterwegs oder eine einzige Straßenbahn“, rechnet Anika Meenken vom ökologischen Verkehrsclub VCD vor. „Straßenbahnen sind also eine effiziente sowie umwelt- und klimafreundliche Alternative zum Auto.“ Auch Verkehrswissenschaftler Heiner Monheim schreibt der Straßenbahn eine „riesengroße“ Relevanz mit Blick auf die Klimakrise zu: „Wir müssen eine ganze Menge Autoverkehr einsparen durch attraktive Angebote im öffentlichen Verkehr. Da ist die Straßenbahn eine ganz wichtige Möglichkeit“.
Punkten kann die Straßenbahn auch beim Sozialen: „Als Teil des ÖPNV steht sie allen Menschen zur Verfügung“ und fördere die Intermodalität. Zudem kann sie barrierearm gebaut werden und ist für Fußgänger*innen und Radfahrende sicherer, da „Hauptunfallgegner“ das Auto sei, erklärt Meenken.
Straßenbahnen lassen sich gut ins Stadtbild integrieren und können den Straßenraum sogar aufwerten. Rasengleise oder Tramalleen sehen nicht nur schön aus und steigern die Aufenthaltsqualität, sondern dämmen auch Fahrgeräusche und entsiegeln die Innenstadt. Das hilft bei Hitze und Starkregen, die durch die Klimakrise wahrscheinlicher werden. Auch kann eine Straßenbahn dazu beitragen, Staus zu verringern sowie Wohnqualität und Einzelhandel zu fördern, so Monheim. Gegenüber Bussen hat sie den Vorteil, mehr Menschen transportieren zu können und komfortabler zu sein, da sie weniger ruckelt. Außerdem wird sie laut Studien besser von Fahrgästen angenommen und übertrifft oft die prognostizierten Fahrgastzahlen. Das habe psychologische Gründe, erklärt Monheim. Durch die Sichtbarkeit und Nachvollziehbarkeit des Netzes entwickle man eine „Mental Map“, eine Karte im Kopf, was die Nutzung erleichtere.

Schienen mit Konfliktpotenzial

Den guten Argumenten zum Trotz stoßen Planungen von Straßenbahnen immer wieder auf Protest. Wie jüngst in Regensburg und Erlangen, wo zeitgleich zur EU-Wahl ein Referendum über eine Straßenbahn anstand. Während die Erlangerinnen für sie stimmten, votierten die Regensburgerinnen mit Nein. 2021 stimmten auch die Tübingerinnen gegen eine Straßenbahn. Bemerkenswert dabei: Parteiübergreifend war der Tübinger Gemeinderat sowie die Stadtverwaltung dafür, ebenso Umwelt- und Klimagruppen sowie die Verkehrsclubs VCD und ADFC. Außerdem gilt Tübingen als grüne Vorzeigestadt mit vielen Studierenden, grünem Bürgermeister, Lastenrädern, die neben Bussen durch die Stadt cruisen. Warum wurde die Straßenbahn dort trotzdem abgelehnt? Gegen den Bau waren wenige, aber gut organisierte Akteure. Schaut man sich ihre Argumente an, wird deutlich, dass sie einen klugen Mix aus NIMBY-Argumenten (Not In My BackYard) und Argumenten aus der anschlussfähigen E-Mobilitätserzählung (s. Kasten) verwendeten. Sie argumentierten etwa, die Bahn sei zu teuer, verschandle die Stadt, verdränge Autos, fuße auf veralteter Technik, sei eine Gefahr fürs Rad, der Bau verursache viele Emissionen oder das Busnetz auszubauen, würde es auch tun. Die Befürworterinnen versäumten einerseits, diese Gegenargumente zu entkräften: Straßenbahnen sind zwar teurer als Busse, aber ein Großteil der Kosten hätte der Bund gezahlt, sie wäre ins Stadtbild integriert worden und hätte für mehr Mobilität gesorgt, es handelt sich um eine bewährte und moderne E-Technik, die Gefahr fürs Rad ist vergleichsweise gering, die Emissionen hätten sich amortisiert und bestehende Busse hätten das Netz sowieso ergänzt. Andererseits entwickelten die Befürworterinnen keine positive Erzählung über ein Tübingen mit Straßenbahn: Eine Stadt mit moderner Mobilität und mehr Lebensqualität für ihre Bewohnerinnen. Zwar waren die guten Argumente da, aber kaum im öffentlichen Diskurs. Stattdessen wurden die Vorteile für das Umland und Einpendelnde fokussiert.
Ein Blick nach Erlangen und Regensburg zeigt, dass dort die Gegenargumente ganz ähnlich wie in Tübingen waren. Es braucht also eine Kommunikationsstrategie, um solchen Konflikten zu begegnen. Wird eine neue Straßenbahn gebaut, wird um knappe Flächen gekämpft: Wie viel Platz bekommen die Straßenbahn, Busse, Räder, Fußgänger*innen, Autos? Es braucht Kompromisse: „Da gibt es innovative Ansätze. Die Fahrspuren für Autos verschmälern oder im Abbiegebereich Kombispuren“, so Monheim. Sprich, den Platz fürs Auto reduzieren und so der „klassischen Überdimensionierung“ für das Auto entgegenwirken. „Die Standardspur ist 3,5 Meter, 2,2 würden auf mehrstreifigen Fahrbahnen und Kreuzungen oft ausreichen“.

Die Verkehrswende erzählen

Die hitzigen Debatten um neue Straßenbahnen zeigen: Städte sind im Spannungsfeld von verkehrs- und klimapolitischen Zielen sowie gesellschaftlicher Akzeptanz gefordert. Der Bau einer Straßenbahn ist nicht nur eine technische Herausforderung, sondern auch eine kommunikative. Dabei gilt es, das transformative Potenzial von Mobilitätserzählungen gezielt einzusetzen. Da eine ernsthafte Verkehrswende den Status quo infrage stellt, muss sensibel vorgegangen werden. Noch unbekanntere beziehungsweise wenig akzeptierte Erzählungen – Reduktion des motorisierten Individualverkehrs – sollten nicht verkürzt werden, sondern deutlich machen, dass eine lebenswertere Stadt hinzugewonnen werden kann.
Die Verkehrswende ist nicht nur gut für Klimaschutz, sondern kann auch positiv für Klimaanpassung sein, für die Gesundheit durch sauberere Luft, das soziale Miteinander, Inklusion durch Barrierearmut, den Wohnungsmarkt und die lokale Wirtschaft. In dieser Erzählung können Straßenbahnen eine wichtige Rolle spielen. Sie können dazu beitragen, Städte zu transformieren, die Stadt zu verknüpfen – auch mit dem Umland, hohe Aufenthaltsqualität zu schaffen durch ansprechendere Straßenraumgestaltung mit weniger Autos. Wichtig ist dabei, lokale Vorteile zu fokussieren und greifbar zu machen. Sprich, eine konkrete Utopie einer grünen, sichereren, gesünderen und sozialeren Stadt zu entwerfen. Gutes Illustrationsmaterial unterstützt dies. Ebenso eine Exkursion in eine Straßenbahnstadt.
Um Ängste früh zu erkennen und Lösungen zu finden, sollte auch die jeweilige Mobilitätskultur einer Stadt beachtet werden. Etwa die Angst von Radfahrenden, zu stürzen. Hilfreich ist, neben Ingenieurinnen auch Sozialwissenschaftlerinnen an Bord zu holen, um zu erfahren, wie die Menschen in der Stadt ticken.

Beim Kreuzen der Schienen ist Vorsicht angesagt, aber Fahrrad und Straßenbahn gehen auch zusammen.

In Amsterdam/Helsinki sind Fahrrad und Straßenbahn gut verzahnt.

Die Weichen drastisch umstellen

Dass die Verkehrswende in Deutschland verschleppt wird, liegt auch an jahrzehntelangen politischen „Fehlsteuerungen“ wie der Fokussierung aufs Auto. Zudem wurden beim Ausbau kommunaler Schienennetze oft teure Tunnelprojekte bevorzugt, so Monheim. Straßenbahnen wurden politisch lange ausgeblendet, obwohl sie eigentlich ein Klassiker der E-Mobilität und damit prädestiniert für die Verkehrswende sind. Es ärgert ihn, dass die deutsche Verkehrspolitik seit 30 Jahren auf E-Mobilität fixiert ist, „damit aber immer nur E-Autos meint“. Dabei gibt es schon lange eine ÖPNV-Förderung, nach der ein Großteil der Kosten für den Straßenbahnbau übernommen werden kann, aber „um tatsächlich sehr schnell aus der fossilen Mobilität aussteigen zu können“, brauche es „einen von Grund auf neuen politischen Ansatz“ und spezielle Straßenbahnförderprogramme. Momentan sei
die Verkehrspolitik „innovationsresistent“ und renne ein paar teuren Großprojekten hinterher. Stattdessen müsse der Fokus auf ehrgeizigen Netzen mit vielen Haltestellen und hoher Gestaltungsqualität der Trassen liegen, mit Rasengleis und Tram-allee. Tunnelprojekte seien viel zu teuer und dauerten zu lange. Dass sie trotzdem oft bevorzugt werden, liege an der Lobbyarbeit der Betonindustrie.
Ganz anders in Frankreich. Hier erlebt die Straßenbahn in den letzten Jahren einen Boom – neue Schienen statt neuer Autospuren. Die „französische Rezeptur“: Die Straßenbahn werde sehr gut und individuell in die jeweilige Stadt integriert und werte die Straßen durch Tramalleen und Rasengleise auf, erklärt Monheim. Es gehe um die gesamte Straßenraumgestaltung mit neuen Radwegen, breiten Gehwegen und einer gut integrierten Tramtrasse. Das sei der entscheidende Unterschied zu Deutschland, wo das Thema noch „sehr ideologisch“ sei und von Ingenieur*innen dominiert werde.
Für eine gelingende Verkehrswende brauchen deutsche Städte also Mut, Schienen zu legen. Benötigt werden mehr Straßenbahnnetze als die, die es noch gibt. Es braucht auch mehr als die 100, die es in Deutschland einst gab. Monheim schätzt, dass etwa 200 Städte Straßenbahnpotenzial haben.
Um die Verkehrswende zu meistern, braucht es Mut zu Debatten über Straßenbahnen, darüber, wie wir Innenstädte gestalten wollen, wie wir in Städten zusammenleben und uns fortbewegen wollen. Um sich mögliche Veränderungen plastisch vorstellen zu können, braucht es gemeinsame Erzählungen, die Utopien erzeugen, die wahr werden können. Vielleicht gleiten in Zukunft in Tübingen oder Regensburg ja doch noch Straßenbahnen auf von Bäumen gesäumten Rasengleisen neben Cafés und Radwegen. So wie es in Bordeaux und vielen anderen Städten längst der Fall ist.

Wie aus Straßenbahn und Rad ein starkes Duo für die Verkehrswende wird

Interview mit Straßenbahnexperte Heiner Monheim, er ist Geograph, Stadtplaner, Verkehrsexperte und war Professor an der Universität Trier, sowie Rechtsexperte Roland Huhn vom ADFC, der schriftlich antwortete.

Die Verkehrswende braucht mehr ÖPNV, aber auch mehr Rad- und Fußverkehr. Wie sicher sind Straßenbahnen für Radfahrerende?
Huhn: Gefährlich sind vor allem Straßenbahnschienen im Fahrbahnbereich. Das gilt besonders dann, wenn in einer schmalen Straße zwischen Schienen und Bordstein nur wenig Platz ist. Manche Verkehrs-planer*innen stellen sich vor, dass Radfahrende zwischen den Straßenbahnschienen fahren sollen. Das ist aber ausgesprochen unangenehm und gefährlich und sollte deshalb unbedingt vermieden werden. Aber Fahrrad und Straßenbahn sind nicht grundsätzlich unvereinbar. Leipzig und Amsterdam sind Straßenbahnstädte mit hohem Radverkehrsanteil.
Monheim: Fährt man im falschen Winkel über eine die Schiene, kann man mit den Reifen hineingeraten und stürzt. In Relation zur Netzlänge und Fahrleistung gibt es aber sehr viel mehr Unfälle zwischen Fahrrädern und Autos oder Fahrrädern und Bussen als mit der Straßenbahn und ihren Schienen. Straßenbahnen sind ein sehr sicheres Verkehrsmittel für andere Verkehrsteilnehmer. Objektiv ist nur die Seilbahn sicherer, da sie sich den Raum nicht mit anderen teilt. Und auch bei der subjektiven Sicherheit schneidet die Straßenbahn besser ab: Sowohl Fußgänger als auch Radfahrer fühlen sich subjektiv einfach stärker bedrängt von einem Bus, der hinter einem fährt als von einer Straßenbahn. Denn Straßenbahnen sind besser kalkulierbar.

Wie können Städte Straßenbahnen sicherer für Radfahrerende machen?
Monheim: Erstens kann man im Zuge der Verkehrserziehung lernen, wie ich über eine Schiene fahre, damit ich auf keinen Fall mit dem Reifen in der Schiene hängen bleibe. Zweitens gibt es Gummielemente, mit denen man Schienen ausstatten kann, sodass man, wenn man in Längsrichtung über die Schiene fährt, nicht zu Fall kommt. Das ist vom Betrieb her teurer, da das Gummi nicht ewig hält. Aber das wäre etwas für Städte, wo lange keine Straßenbahn fuhr und neu eingeführt wird. In klassischen Straßenbahnstädten wie Leipzig oder Erfurt, wo viele Schienen liegen, und es viel Radverkehr gibt, ist das kein großes Problem, weil alle wissen, wie man mit Schienen umgeht.
Huhn: Beide Verkehrsarten sollten möglichst getrennte Wege haben. Eine eigene Trasse z.B. in der Mitte der Straße ist nicht nur sicherer, weil Radfahrende sie leichter im rechten Winkel überqueren können. Sie dient außerdem der Beschleunigung der Bahn, weil sie nicht im Stau des Kfz-Verkehrs warten muss. Die Vorrangregelung an Kreuzungen muss zudem klar kommuniziert sein. Außerdem gibt es aktuell einen Lösungsvorschlag mit Rillen geringerer Tiefe, die zumindest für breite Fahrradreifen eine geringere Sturzgefahr bergen.

Wie können Städte Straßenbahn und Radverkehr verzahnt denken und planen?
Monheim: Straßenbahn und Fahrrad lassen sich gut kombinieren. In guten Straßenbahnsystemen gibt es an den Haltestellen Fahrradabstellplätze oder auch Leihräder. Oder ich kann mein Fahrrad problemlos in die Straßenbahn mitnehmen, wie etwa in Berlin.

Heiner Monheim

Roland Huhn


Bilder: Illustration: Mailänder Consult, stock.adobe.com – Egon Boemsch, scharfsinn86, Beste stock, Markus Mainka, stock.adobe.com – blende11.photo, Roman Sigaev, chrisdorney, Heiner Monheim, ADFC – Deckbar