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Im Dezember 2023 war die Regierung aus SPD, FDP und Grünen zwei Jahre im Amt. Wie sieht ihre bisherige verkehrspolitische Halbzeitbilanz aus Sicht der Fahrradbranche aus? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Es sollte eine „Fortschrittskoalition“ werden. Das neue Bündnis hatte sich viel vorgenommen. Im 177-seitigen Koalitionsvertrag von 2021 findet sich 72-mal das Wort „Zukunft“, 11-mal ist von „Aufbruch“ die Rede. Doch neben blumigen Worten gibt es kaum etwas zum Thema Mobilität und Verkehrswende. Ein Lichtblick: Die Ampel-Koalitionäre formulierten ihre Absicht, Straßenverkehrsgesetz und StVO so anzupassen, „dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen“.
Der Fahrradbranche fiel ansonsten auf, dass der Begriff „Verkehrswende“ im Koalitionsvertrag überhaupt nicht vorkam. Dem Thema Radverkehr waren ganze vier Zeilen gewidmet, zum Beispiel: „Wir werden den Nationalen Radverkehrsplan umsetzen und fortschreiben, den Ausbau und die Modernisierung des Radwegenetzes sowie die Förderung kommunaler Radverkehrsinfrastruktur vorantreiben.“ Allgemeinplätze.
Für den Radverkehr war der Koalitionsvertrag 2021 daher eine Enttäuschung. Hinzu kam – neutral gesagt – die Überraschung, dass ein FDP-Minister das Ministerium führen sollte. Viele waren davon ausgegangen, dass der Grüne Cem Özdemir Verkehrsminister werden würde. Dessen Haltung zur Verkehrswende war bekannt, Volker Wissing hingegen hier eher ein unbeschriebenes Blatt. In seiner Zeit als Landesminister für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau in Rheinland-Pfalz war er nicht durch eine besonders fortschrittliche Verkehrspolitik aufgefallen.

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Verkehrspolitische Zwischenbilanz

Nach gut zwei Jahren Regierungszeit lässt sich nun eine Zwischenbilanz ziehen. Welche verkehrspolitischen Akzente hat Volker Wissing als Bundesverkehrsminister gesetzt? Hat er die Verkehrswende vorangebracht? In welcher Weise hat er etwas für die Fahrradbranche bewegt?
In den ersten Monaten seiner Amtszeit war auffällig, wie sehr sich Volker Wissing öffentlich bemühte, jede Erwartung zu zerstreuen, er könnte die Rahmenbedingungen für den motorisierten Verkehr verschlechtern oder das Autofahren teurer machen. Die Ablehnung von Tempolimits war sogar im Koalitionsvertrag bereits festgeschrieben worden. Allerdings war nach dem Bundesklimaschutzgesetz (KSG) 2019, das zwei Jahre später als Konsequenz eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts nochmals verschärft wurde, eine klar definierte CO2-Reduktion auch für das Verkehrsressort gesetzlich verpflichtend. Daher stand der Minister unter Druck, hier auch zu liefern.
Doch Volker Wissing schien das KSG nicht weiter zu interessieren. Bisher wurde in jedem Jahr seiner Amtszeit festgestellt, dass der Verkehrssektor die gesetzlichen Vorgaben nicht eingehalten hat und die Reduktionsziele deutlich verfehlt wurden. Für den Minister war dies allerdings kein Anlass, seinen Kurs zu ändern. Stattdessen wurde die Verantwortung weitergeschoben: Nicht Volker Wissing würde die Klimaschutzziele reißen. Es wären die Bürgerinnen und Bürger, die eben mobil sein wollten – so lautete die Begründung seines Parteichefs Christian Lindner. Der Spiegel nannte diese Haltung eine „Verweigerung des Klimaschutzes“ und „Nichtstun als Methode“.

Dass die Radinfrastruktur noch nicht gerade perfekt ist, ist offensichtlich, aktuell wird aber das Bemühen, daran etwas zu ändern, ausgebremst.

Was kümmert mich das Klimaschutzgesetz?

Mit seinem offensichtlich gesetzeswidrigen Verhalten ist Volker Wissing natürlich ein nicht unerhebliches Risiko eingegangen. Deshalb haben er und seine Partei mit dafür gesorgt, dass das KSG in der Weise geändert werden soll, dass es künftig keine separaten Reduktionsziele für den Verkehrssektor mehr gibt, sondern nur noch ein Gesamtpool aller Sektoren betrachtet wird. Das Kabinett hat im Juli 2023 einen entsprechenden Gesetzentwurf verabschiedet, der allerdings noch nicht durch den Bundestag ist (Stand Januar 2024).
Ein Handeln nach dem Motto: „Wenn ich die Vorgaben des Gesetzes nicht einhalten kann, ändere ich einfach das Gesetz“ ist im Hinblick auf das Rechtsempfinden der meisten Bürgerinnen und Bürger und für die politische Moral in Deutschland allerdings verheerend. Es zeigt zudem, wie wichtig der Ampel-Regierung offenbar ein Festhalten am verkehrspolitischen Status quo ist – mit ein bisschen mehr E-Mobilität und verbessertem ÖPNV.
Das temporäre 9-Euro-Ticket sowie nun das 49-Euro-„Deutschlandticket“ für den Nahverkehr ist hingegen ein Punkt, den sich der Verkehrsminister auf der Haben-Seite seiner Bilanz zu Recht ans Revers heften kann.

Planungsbeschleunigung

Ein weiteres wichtiges verkehrspolitisches Thema in den letzten zwei Jahren war die Planungsbeschleunigung für Infrastrukturmaßnahmen. Hier ging es darum, die Genehmigungsverfahren substanziell schneller zu machen. Durch das vom Bundestag im Oktober 2023 verabschiedete Genehmigungsbeschleunigungsgesetz soll sich das ändern, und zwar für alle Bauvorhaben, die im „überragenden öffentlichen Interesse“ liegen. Doch welche sind das? Der Ausbau der Bahn-Infrastruktur war zwischen allen Ampel-Partnern unstrittig. Auch die Einbeziehung von maroden Straßen- und Autobahnbrücken, wodurch lange Staus oder Umleitungen entstehen, waren nachvollziehbar. Ob angesichts der gravierenden Klimaproblematik jedoch auch Autobahnaus- und -neubauten zum „überragenden öffentlichen Interesse“ gehören, darüber wurde lange gerungen. Der Verkehrsminister argumentierte, ohne Straßen gäbe es in Deutschland kein Wachstum und keinen Wohlstand. Schließlich setzte sich die FDP hier durch, die Koalition verständigte sich neben den unstrittigen Themen auf eine Liste von 138 Autobahnvorhaben, bei deren Genehmigung nun unter anderem die Umweltverträglichkeitsprüfung entfällt. Im Sinne der Verkehrswende müsste die Beschleunigung allerdings auch für Radschnellwege und andere bauliche Radwege gelten. Doch was fiel für den Radverkehr ab? Nur der Bau von Radwegen an Bundesstraßen – aber nur dort, weil diese in der Kompetenz des Bundes liegen – soll ebenfalls beschleunigt werden. Tusch!

Standen dem Radverkehr im Jahr 2022 noch 750 Millionen Euro zur Verfügung, so sollen es in diesem Jahr nur noch rund 350 Millionen Euro sein.

Reform des Straßenverkehrsgesetzes

Eine zeitgemäße Reform des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) stand bereits im Koalitionsvertrag. Bisher zielt das Gesetz allein auf die Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs. Klima- und Umweltschutz oder städtebauliche Aspekte spielen keine Rolle. Die Integration dieser Themen ins Gesetz würde den Kommunen mehr Gestaltungsraum vor Ort geben – eigentlich ein klassisches FDP-Anliegen, dass Dinge von denen entschieden werden, die demokratisch legitimiert und unmittelbar betroffen sind: Stichwort Subsidiaritätsprinzip. Nachdem es 2023 endlich einen Regierungsentwurf gab, der von der Fahrradbranche immerhin als „Schritt in die richtige Richtung“ bewertet wurde, scheiterte dieser überraschend im Bundesrat. Also keine Reform, stattdessen gilt das alte Gesetz weiter.

Bis zur Fahrradidylle ist es noch ein weiter Weg. Die Branche und ihre Verbündeten werden kämpfen müssen, um die selbst gesteckten Ziele zu erreichen.

Haushaltsentwicklung

Die Fahrradwirtschaft ist in erheblichem Umfang von der Haushaltskrise des Bundes nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts betroffen. Zunächst wurde im Herbst 2023 durch die Haushaltssperre die gewerbliche E-Lastenrad-Förderung gestoppt, was viele Hersteller von Cargobikes vor massive Probleme stellt. Auch die Bike+Ride-Offensive wurde blockiert. Schließlich beschloss der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages am 18.01.24 Kürzungen in Höhe von 44,6 Mio. Euro bei dem so wichtigen kommunalen Radverkehrs-Infrastrukturprogramm „Stadt und Land“. Fast komplett gestrichen wurde das „Fahrradparken an Bahnhöfen“. Weitere Kürzungen gibt es bei Finanzhilfen zur Unterstützung des Radverkehrs in Ländern und Kommunen und bei der Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans. Die Kritik der Fahrradverbände ist deutlich, zumal beim Haushalt 2024 die Mittel für den Autobahnausbau verschont blieben und zugleich die Mittel für Regionalflughäfen erhöht wurden. Der ZIV spricht in einer Stellungnahme von einem „Schreddern beim Radverkehr und der Verkehrswende“ durch die Ampel-Parteien. Standen dem Radverkehr im Jahr 2022 noch 750 Mio. Euro zur Verfügung, so sollen es in diesem Jahr nur noch rund 350 Mio. Euro sein. Dabei hatte die Verkehrsministerkonferenz der Länder 2023 unterstrichen, dass Deutschland eine Bundesförderung für den Radverkehr von rund 1 Mrd. Euro pro Jahr benötigt, um zum „Fahrradland“ zu werden.
Die EU hat ihren Mitgliedsländern im April als Beitrag zum Klimaschutz erstmals die Möglichkeit gegeben, Fahrräder statt mit dem Standard-Umsatzsteuersatz nur noch mit dem ermäßigten Satz zu belegen. Zum Vergleich: Bus, Bahn und sogar Taxi werden nur mit 7 Prozent MwSt. belegt, das Ausleihen oder der Kauf von Fahrrädern mit 19 Prozent. Die Verbände der Fahrradwirtschaft hatten sich für eine Umsatzsteuersenkung stark gemacht, doch das Finanzministerium entschied anders. Staatssekretär Michael Kellner begründete die Absage auf dem Vivavelo-Kongress im September unter anderem mit einer sehr gut florierenden Fahrradwirtschaft.

Fahrradbeauftragte des BMDV weg

Seit dem 1. Oktober 2023 hat das BMDV keine Radverkehrsbeauftragte mehr. Karola Lambeck wurde auf eine andere Stelle befördert, seitdem ist die Funktion unbesetzt. Frau Lambeck hatte das Amt seit 2018 bekleidet und war auch in der Fahrradbranche durchaus geschätzt. Nun sind personelle Wechsel innerhalb eines Ministeriums nichts Ungewöhnliches. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Position bisher nicht neu besetzt wurde und dass es keine Information darüber gibt, wann beziehungsweise ob es einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin geben wird oder ob das BMDV diese Funktion künftig für entbehrlich hält. Für Letzteres gäbe es angesichts eines personell und strukturell inzwischen deutlich gestärkten Radverkehrsreferats im BMDV sachlich durchaus Argumente. Doch offiziell gibt es keine Erklärungen.Was sagen die
Fahrradverbände?
Mit der radverkehrspolitischen Bilanz der Ampel-Regierung ist in der Fahrradwirtschaft kaum jemand zufrieden. Im Gegenteil: Burkhard Stork, Geschäftsführer des ZIV, kritisiert, dass die Bundesregierung die Orientierung in der Verkehrspolitik verloren habe und appelliert, die Verkehrswende nicht bis zur Bundestagswahl 2025 zu verschleppen: „Wir erwarten, dass schnellstmöglich der Vermittlungsausschuss angerufen wird, um die StVG-Reform zum Abschluss zu bringen.“ Auch der Verband Zukunft Fahrrad sowie der ADFC sind von der bisherigen Regierungsarbeit im Hinblick auf die Verkehrswende enttäuscht und appellieren gemeinsam mit anderen Verbänden der Mobilitätsbranche an die Koalition, „in der verbleibenden Amtszeit ihre Verkehrspolitik stärker an ökologischen und sozialen Kriterien auszurichten“. Hinter den Kulissen fallen die Worte deutlich drastischer aus, aber richtigerweise will man mit der Regierung im Gespräch bleiben. Ein zugespitztes Ampel-Bashing würde zwar gerade gut in den Zeitgeist passen, wäre aber letztlich eher kontraproduktiv. Da ist es klug, sich mit scharfen öffentlichen Statements etwas zurückzuhalten.

Volker Wissing – wes Geistes Kind?

Bundesminister prägen als Person maßgeblich ihr Ressort, und das gilt auch für Volker Wissing und den Verkehrsbereich. Nach gut zwei Jahren zeichnet sich ein klares Bild ab: Sein abgewählter Amtsvorgänger Andreas Scheuer hatte recht, als er den Koalitionsvertrag der Ampel mit den Worten kommentierte: „Schön, dass die Ampel meine Politik der letzten Jahre fortsetzt.“ Allerdings mit einem Unterschied: In der zweiten Hälfte von Scheuers Amtszeit wurde vieles für den Radverkehr bewegt und es wurden höhere Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt. Unter Volker Wissing findet das Gegenteil statt.
Gleich nach seiner Nominierung positionierte sich Wissing massiv als Anwalt der Autofahrer. Das hätte noch taktischer Natur sein können, aber der Minister meint es ernst mit der Überzeugung, dass der Kfz-Verkehr die Grundlage unseres Wohlstands ist. Wie seine Vorgänger ist er zuallererst Autominister, vielleicht mit einer Einschränkung: ÖPNV (Ländersache) und die Bahn scheinen ihm wichtiger zu sein, Stichwort Deutschlandticket. Aber das Fahrrad?
Die Fahrradbranche sah es als positives Signal, dass Volker Wissing höchstpersönlich am 7. April 2022 zum Parlamentarischen Abend während des Vivavelo-Kongresses kam und enthusiastische Worte über das Fahrrad sagte. Aber das war‘s dann auch mit dem Ministerengagement. Zur Eurobike nach Frankfurt kam nur noch sein Staatssekretär. In seiner eigenen, 13-seitigen „Halbzeitbilanz“ nennt das Ministerium den Radverkehr ganz am Ende auf elf Zeilen und zählt als Erfolge die Verstetigung des Förderprogramms „Stadt und Land“ auf, das Erscheinen einer Broschüre mit ergänzenden Fortbildungskursen sowie die Zertifizierung des BMDV als „Fahrradfreundlicher Arbeitgeber“ in Gold. Das war‘s.
Die grundlegende Desillusionierung über Volker Wissing begann aber durch seinen respektlosen Umgang mit dem Bundesklimaschutzgesetz. Nachdem 2022 erstmals festgestellt wurde, dass der Verkehrsbereich die Sektorziele gerissen hat, musste das BMDV ein Sofortprogramm erstellen. Der Expertenrat der Bundesregierung hat dies als inhaltlich unzureichend bezeichnet, was Volker Wissing aber nicht weiter störte. 2023 wurde erneut amtlich das Verfehlen der gesetzlichen Ziele festgestellt. Diesmal verweigerte das BMDV sogar ein Sofortprogramm mit dem Argument, man wolle das Klimaschutzgesetz ohnehin ändern, was aber bis heute (Stand Januar 24) nicht rechtswirksam geschehen ist. Ende November 2023 verurteilte das OLG Brandenburg die Bundesregierung dazu, Paragraf 8 des KSG einzuhalten und Sofortprogramme aufzulegen. Die Bundesregierung legte Revision ein, um weiter Zeit zu gewinnen. Ein derartiger Umgang mit dem wichtigen Gut der Zukunftssicherung durch den Klimaschutz und vor allem auch mit unserem Rechtssystem erschüttert ganz grundsätzlich das Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern in die politische Moral der Regierung. Ein schwerwiegender Vorgang, den Volker Wissing, selbst Rechtsanwalt und Angehöriger einer Partei, die sich die Rechtsstaatlichkeit besonders auf die Fahne geschrieben hat, mitzuverantworten hat. Gleichwohl liegt hier auch eine Verantwortung beim Bundeskanzler und dem gesamten Kabinett.
Wes Geistes Kind Volker Wissing ist, zeigte sich auch beim Gerangel um die Reform des auch für den Radverkehr so wichtigen Straßenverkehrsgesetzes (SVG), das die Verkehrswende ein Stück weit hätte erleichtern können. Zunächst verzögerte das BMDV das Angehen des Themas, dann gab es um jede Formulierung zähe Verhandlungen innerhalb der Ampel-Parteien und schließlich, nach dem Scheitern des Gesetzes im Bundesrat, verzichtete der Minister auf die umgehende Anrufung des Vermittlungsausschusses, um doch noch zu einer Einigung zu gelangen. Es wirkt so, als wäre es kein allzu großer Schmerz für Volker Wissing, wenn nun wieder alles beim Alten bliebe.

Albert Herresthal


Bilder: stock.adobe.com – Kirill Gorlov, stock.adobe.com – A. Rochau, stock.adobe.com – Kara

Ein integrierter Ansatz für nachhaltigere Verkehre verlangt, Raum und Mobilität stärker zusammenzudenken. Dafür sollte der gesetzliche Rahmen reformiert werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Die Gestaltung von Quartiers- und Stadträumen bestimmt maßgeblich mit, ob sich Menschen beispielsweise fürs Fahrrad, den Bus oder das Auto entscheiden. Im Projekt „Integrierte Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung“ will die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) unter anderem die Frage beantworten, wie individuelles Mobilitätsverhalten funktioniert und welche Interventionsmöglichkeiten zur Förderung nachhaltiger Verkehrsmittelentscheidungen es gibt. Als zentraler Hebel für die Schaffung vielfältiger und klimaresilienter Städte wurden dabei die Wechselwirkungen zwischen räumlichen Strukturen und Mobilität identifiziert. Das ist keine grundlegend neue Erkenntnis, jedoch spannt das Projekt der Akademie einen größeren Bogen, indem sie die integrierte Stadtplanung als Kooperation und fachliche Synergien von Politik, Verwaltung, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft skizziert.

Vier räumliche Maßstabsebenen

Aufgezeigt werden die Wechselwirkungen von Raum und Mobilität an den vier Maßstabsebenen Straße, Stadtquartier, Gesamtstadt sowie Stadtregion. Für jede der Ebenen werden jeweils spezifische Einflussfaktoren beschrieben. So fördert beispielsweise eine hohe Aufenthaltsqualität in Straßen den sozialen Austausch im öffentlichen Raum und die Fortbewegung zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Im Stadtquartier bestimmen Infrastruktur und Erreichbarkeit der Alltagsziele die Mobilitätsoptionen. Entsprechend belebt werden Quartiere durch den Zugang zum öffentlichen Verkehr und durch kürzere Wege. In der Gesamtstadt sollen Standorte verteilt und gut mit dem ÖV oder nicht motorisierten Verkehrsmitteln erreichbar sein. Wichtig für eine Stadtregion ist die Abstimmung von Siedlungsentwicklung, Infrastrukturentwicklung und Verkehrsachsen. Verläuft die Entwicklung beispielsweise entlang von ÖV-Achsen, können im Umfeld von Bahnhöfen und Haltestellen lebendige Zentren entstehen.

Räumliche Maßstabsebenen: Im lebendigen Stadtquartier geht es darum, die Alltagswege zu verkürzen. Für die Gesamtstadt sollen die Standorte im Stadtraum verteilt und mit dem ÖV oder nicht motorisierten Verkehrsmitteln gut erreichbar sein.

Verkehrsmittelwahl nicht immer rational

Ausführlich auf individuelles Verhalten im Kontext von Raum und Mobilität geht der Zwischenbericht ein. Demnach geben zwar, wie zuvor beschrieben, äußere Strukturen oder Angebote den Rahmen vor, Verhaltensentscheidungen sind jedoch nicht unbedingt im ökonomischen Sinn vernünftig. So steht die Wahl von Wohnort und Arbeitsstätte in Wechselwirkung mit der Aktivitätenwahl oder dem individuellen Mobilitätsverhalten. Entscheidungen über Alltags- und Freizeitaktivitäten haben Auswirkungen auf Ziele, Distanz, Frequenz und Abfolge zurückgelegter Wege. Darüber bestimmen sich auch individuelle Mobilitätsoptionen. Das Mobilitätsverhalten ist bestimmt durch Anzahl und Länge täglicher Wege. Bewegungsverhalten beinhaltet beispielsweise schnell oder langsam, zielstrebig oder mäandrierend. Bewegungsverhalten, Aktivitätenwahl und Mobilitätsverhalten beeinflussen sich gegenseitig und haben Auswirkungen auf andere Verkehrsteilnehmende sowie die Wahrnehmung von Raum.

Verhalten nach Budget, Geschlecht und Alter

Wichtig für das Verhalten sind soziodemografische Faktoren. So bedeutet etwa ein höheres Einkommen mehr Freiheit bei der Standortwahl. Die Geburt eines Kindes führt tendenziell zu vermehrter Pkw-Nutzung, ebenso der Fußwege. Je besser der ökonomische Status, desto mehr Wege werden zurückgelegt, während Haushalte mit geringem Budget 28 Prozent mehr Wege zu Fuß gehen. Männer legen fast ein Drittel mehr Wege mit dem Auto zurück als Frauen. Frauen sind um 20 Prozent häufiger zu Fuß unterwegs. Die Hälfte der Frauen fühlt sich unsicher, bei Dunkelheit allein unterwegs zu sein. Mit dem Alter nimmt die Einschränkung der Mobilität zu. Hinzu kommen neuerdings städtische Hitzewellen, bei denen bis zu 65 Prozent ihre Aktivitäten im öffentlichen Raum reduzieren.

Vorstellung in Berlin: Mit den Ergebnissen des Acatech-Projekts wurden auch Handlungsempfehlungen als Orientierungs- und Argumentationshilfe für kommunale Praktikerinnen und Praktiker vorgestellt.

Normen, Werte und Einstellungen

Auch psychologische Aspekte werden beleuchtet. Eine positive Affinität zum Fahrrad etwa hat, wer seit der Kindheit gerne das Rad benutzt hat. In der Jugend wird das Zweirad Mittel zur Selbstständigkeit, die Umgebung auf eigene Faust zu erkunden. Fördert man durch Bildung in Schule und Familie frühzeitig positive Erfahrungen mit aktiver Mobilität, kann dies langfristig ein umweltfreundliches Verkehrsverhalten begünstigen. Und ob jemand in öffentliche Verkehrsmittel einsteigt, ist auch eine Frage des Images. So besitzen Buslinien ein schlechteres Image als schienengebundene Verkehrsmittel. Als Interventionsansatz werden statussensible Angebote und begleitende Kommunikations- und Marketingmaßnahmen empfohlen.

„Die Novellierung des StVG ist eine wichtige Basis für ein Mobilitätsgesetz mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort.“

Helmut Holzapfel, Co-Projektleiter

Wechsel und Krisen als Chancen

Auch eine neue Lebensphase bietet die Chance, mit Routinen und Gewohnheiten zu brechen. Mit Bezug einer Wohnung oder Wechsel des Arbeitsplatzes kann das eigene Mobilitätsverhalten hinterfragt werden. Hilfreich können deshalb Mobilitätsberatungen für Neubürgerinnen und Neubürger oder junge Familien sein. Betriebe können Anreize setzen, wenn sie Mitarbeitenden Abomodelle für Dienstfahrräder oder ein Mobilitätsbudget anbieten. Ebenso bewirken externe Schocks oder unvorhergesehene Ereignisse individuelle Verhaltensänderungen. Als Beispiel wird die Covid-19-Pandemie genannt, in der zahlreiche Personen ihr Standort-, Aktivitäts- und Mobilitätsverhalten hinterfragt haben. Digitale Transformationen haben standortunabhängiges Arbeiten ermöglicht.

Partizipation aller Teilnehmer

„Als einseitiger Top-down-Prozess wird die Transformation der Mobilität jedoch nicht erfolgreich sein. Wichtig ist, dass sich alle gesellschaftlichen Gruppen als Teil dieser Veränderung verstehen, diese für sich als Gewinn betrachten, die Prozesse mitentwickeln und in ihren Alltag integrieren“, heißt es im acatech-Bericht. Konflikte entstehen zum Beispiel bei unterschiedlichen Vorstellungen von Raumnutzung. Deshalb sollte der Austausch zwischen Nutzergruppen ermöglicht werden. Die Akzeptanz neuer Angebote wie temporär verkehrsberuhigte Zonen wird größer durch die Einbindung lokaler Akteurinnen. In Partizipationsprozessen wird das Wissen von Quartieranrainerinnen genutzt und fließt mit in die Planung ein.

Raumebene Stadtregion: Wichtig ist hier die Abstimmung von Siedlungsentwicklung, Infrastruktur und Verkehrsachsen. Rund um Bahnhöfe und Haltestellen können attraktive Zentren entstehen.

Regelwerke reformieren, Zusammenarbeit fördern

Dreh- und Angelpunkt von Interventionen, um auf Verhaltensänderungen einzuwirken, bleibt das Zusammenspiel von Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung. Zu den Bausteinen gehören Umweltzonen, der Ausbau von Fuß- und Radinfrastrukturen, Bike-Sharing-Systeme und Quartiersverbindungen durch den ÖV. Die Empfehlungen der Acatech richten sich auch an die Politik. Co-Projektleiter Helmut Holzapfel sagt: „Es ist ein Dilemma: Kommunen sollen die Mobilitätswende vorantreiben, doch sobald sie Neues ausprobieren, um öffentlichen Raum vielfältiger zu nutzen und etwa Straßen für Fußgängerinnen und Fußgänger zu öffnen, droht schnell der Gang vor Gericht. Die Novellierung des StVG ist eine wichtige Basis für ein Mobilitätsgesetz mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort.“ Kommunen sollten mehr rechtlichen Spielraum erhalten, um integrierte Maßnahmen eigenständig umzusetzen. „Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser“, findet Co-Projektleiter Klaus Beckmann (Interview). Eine entsprechende Reform ist 2023 im Bundesrat jedoch gescheitert.
Patentlösungen für lebenswerte Stadtregionen gibt es nicht. Deshalb sollten Experimentierklauseln erweitert und das temporäre Abweichen von Vorschriften erleichtert werden. So könnten innovative Ansätze und ihre Wirkung rechtssicher ausprobiert werden. „Die Sendlinger Straße in München ist ein gutes Beispiel“, sagt Co-Projektleiter Klaus Beckmann. „Die Straße wurde zunächst versuchsweise zur Fußgängerzone umgewidmet. Seither flanieren die Menschen, sie genießen den neu gewonnenen Freiraum und auch der Einzelhandel profitiert von der höheren Besucherfrequenz. Schon nach einem Jahr war klar: Das soll so bleiben.“
Programme mit angepassten Förderbedingungen sollten einen integrierten Ansatz in Kommunen und Regionen unterstützen für eine langfristige und sichere Planung.

Erfolge in Paris, Freiburg und Hannover

Als Beispiel für einen integrierten Planungsansatz wird unter anderen die französische Hauptstadt Paris genannt mit ihrer Fokussierung auf gute Erreichbarkeit nach dem Konzept der 15-Minuten-Stadt. Dort wurde von 2001 bis 2018 ein deutlicher Rückgang der täglich mit dem Auto zurückgelegten Wege verzeichnet, während sich die zu Fuß zurückgelegten Wege um etwa 50 Prozent erhöht haben. Die Anzahl mit dem Auto zurückgelegter Wege fiel 2018 sogar unter die 6-Millionen-Marke. In Freiburg im Breisgau wiederum verfolgt man seit Ende der 1980er- Jahre das Ziel, Verkehr durch eine abgestimmte Stadtentwicklungs- und Mobilitätspolitik zu vermeiden. Die Wirkung einer integrierten Planung wird deutlich sichtbar. So stieg zwischen 1982 und 2016 der Anteil des Umweltverbunds von 61 auf 79 Prozent, der des motorisierten Individualverkehrs sank von 39 auf 21 Prozent. Nicht zuletzt steht die Region Hannover mit ihrer Regionsversammlung als Beispiel für eine institutionalisierte Form regionaler Zusammenarbeit. Bereits 2011 wurde ein Verkehrsentwicklungsplan für die Region verabschiedet, der auf räumliche Integration abzielte. Im 2023 fortgeschriebenen Verkehrsentwicklungsplan ist eine Senkung des CO2-Ausstoßes von 70 Prozent bis 2035 vorgesehen. Zwischen 2011 und 2017 ging der MIV-Anteil in der Region von 59 auf 55 Prozent zurück, der des Umweltverbunds stieg von 41 auf 45 Prozent.

„Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser“

Interview mit Acatech-Co-Projektleiter Prof. Klaus Beckmann

Was sind Kernanliegen des integrierten Ansatzes?
Es geht um die Frage, welche Effekte auf den Verkehr wir bei der Stadtentwicklung berücksichtigen müssen. Wie können wir die erwünschten Effekte im Verkehr stützen, die unerwünschten bremsen oder umlenken? Das bedeutet, dass ich über die verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen nachdenken muss. Es beginnt im Straßenraum vor der Haustür. Der ist nicht nur Verkehrsfläche, sondern ebenso für Aufenthalt, Kontakte oder Spiel. Ich kann auch Grünflächen zur Verbesserung des Stadtklimas bereitstellen.
Das geht dann ins Quartier hinein. Was ist bereits an Einrichtungen vorhanden? Welche sollte man schaffen, die im Alltagsleben Ziele von Menschen sein können? Von der Schule über den Kindergarten, die Einkaufsgelegenheiten bis hin zu Ärzten. Das muss ich versuchen mitzudenken.
Man könnte jetzt sagen, das ist doch alles fix. Die letzten zwei Jahre haben jedoch gezeigt, dass vieles, von dem wir gemeint haben, es sei fix, nicht so fix ist. Ich erinnere an den für die Innenstädte problematischen Niedergang der Kaufhäuser. Welche Nutzungen ich da reinbringen kann. Ausschließlich Handel ist vielleicht zu monofunktional. Ich muss überlegen, ob nicht auch Wohnungen oder Arbeitsplätze infrage kämen – oder eine Bibliothek. Was wir jahrelang an den Rand der Städte geschoben haben, kann vielleicht wieder in die Stadt rücken. Bei den räumlichen Maßstabs-ebenen bin ich da vom Quartier im Übergang zur Gesamtstadt. Wo liegen die Orte, die Zugänge zu Fußgänger- und Zweiradverkehrsnetzen oder zum ÖPNV bieten? Kann ich die mit der U-Bahn oder Tram erreichbar machen? Hier sind die Botschaften. Wir brauchen Integration. Städtebau auf der einen Seite, Mobilität auf der anderen. Und das über alle Ebenen vom Quartier bis in die Region hinein.

Wie wichtig ist eine selbstständige Planung für die Kommunen?
Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser. Die Politikerinnen und Politiker aus den Gemeinde- und Stadträten müssen letztlich die Wirkungen überprüfen und eventuell nachkorrigieren, also Erfahrungen sammeln. Vor allem die Kritik der Bürgerinnen und Bürger ist aufzunehmen, um sich damit auseinanderzusetzen. Die Verantwortlichkeit ist bei den Kommunen zu sehen. Dieser Weg ist im Augenblick eingeschränkt, beispielsweise durch das bisherige Straßenverkehrsgesetz.
Natürlich gibt es Argumente dafür zu sagen, es wäre nicht förderlich, wenn wir in Kommune A und der Nachbarkommune B völlig gegensätzliche Regelungen hätten. Deswegen bedarf es eines Rahmens wie das Straßenverkehrsgesetz und die Ableitung als StVO. Aber das ist im Augenblick relativ strittig. Es gibt mehr als 1000 Gemeinden, die postuliert haben: Gebt den Städten und Gemeinden mehr Kompetenzen und Verantwortlichkeiten im Bereich der Gestaltung von städtischen Verkehrsräumen. Das betrifft zum Beispiel die Geschwindigkeiten.

Was beeinflusst die individuelle Verkehrsmittelwahl?
Das fängt bei der Wohnungssuche schon mit dem Angebot an. Wo liegt das in der Stadt? Wie erreiche ich von dort meinen Arbeitsplatz und Einkaufsgelegenheiten? Ist das ein gut ausgestattetes Quartier? Was für Mobilitätsoptionen habe ich selbst und bevorzuge ich? Bin ich Fußgänger, Fahrradfahrer, ÖPNV-Nutzer oder passionierter Autofahrer?
Es gibt einige Wohnungsbaugesellschaften, die bereits integrierte Angebote von Wohnungen und Mobilitätsmöglichkeiten machen. Als Nutzer mieten Sie also eine Wohnung und haben vielleicht damit schon einen Mobilitätspool. Dieser kann ein Fahrrad, ein Pedelec, einen Leih-Pkw oder eine ÖPNV-Fahrkarte beinhalten. Gerade im kommunalen Bereich, in Quartieren und Stadtteilen, spielen nicht motorisierte Verkehrsmittel von den Füßen bis zu den Zweirädern eine bedeutende Rolle.

Der integrative Ansatz ist umfangreich: Wer hat den Masterplan, wer fängt an?
Das Schwierige und Interessante daran ist, dass es keine Musterlösung gibt nach dem Motto: Nur so geht´s. Das hängt von den lokalen Rahmenbedingungen ab. Was habe ich für ein Radwegenetz? Wie kann ich das Straßennetz umgestalten? Ich muss bei allem, was die Stadtplanung und die Verkehrsplanung entscheiden, fragen: Was bedeutet das hinsichtlich der städtischen Lebensqualitäten sowie der Mobilitäts- und damit Teilnahmemöglichkeiten? Das sind zentrale Fragen, die man sich ständig stellen muss. Manche Städte haben gute Erfahrungen gemacht, indem sie Masterpläne erstellt und schrittweise in der Verwaltung und Politik umgesetzt haben. Das schließt nicht aus, dass man, wenn Menschen aus dem Quartier sagen: Das ist etwas, was wir für nötig halten, dies berücksichtigen, also davon profitieren sollte.

Ein Leitfaden, der mit dem Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) entwickelt wurde, unterstützt Kommunen bei der Transformation ihrer Governance und zeigt Handlungsbausteine auf für integriertes Arbeiten.

Info: www.acatech.de


Bilder/Grafiken: acatech, David Ausserhofer

Sie haben das Zeug dazu, Autofahrten zu ersetzen. Aber in Deutschland sind S-Pedelecs für die Bundesstraße zu langsam und für den Radweg zu schnell. Nun testen erste Kommunen, wie sie die Räder in den Alltagsverkehr besser integrieren können. Das Ausland ist da schon weiter. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Mit Tempo 70 und schneller ziehen die Autos auf der Bundesstraße an Anja Herz vorbei. Sie schneiden die Radfahrerin, hupen anhaltend und zeigen wild gestikulierend auf den parallel verlaufenden Radweg. Der ist leer, Anja Herz würde gerne auf ihn ausweichen. Aber das verbietet die Rechtslage, denn Anja Herz fährt ein schnelles Pedelec.
Die schnellen Pedelecs, auch Speed-Pedelec oder S-Pedelec genannt, gelten als Kleinkraftrad, weil sie bis zu 45 Kilometer pro Stunde schnell fahren können. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis sind ihre Fahrerinnen und Fahrer eher mit 30 bis 35 Kilometern pro Stunde unterwegs. Trotzdem gelten für sie die gleichen Regeln wie für Autos: Gefahren werden darf nur auf der Fahrbahn.
In Belgien, der Schweiz oder Dänemark ist es umgekehrt. Dort müssen die schnellen Räder zwingend die Radwege nutzen – auch in den Zentren. Ob diese Regelung sinnvoller ist, bezweifeln viele Radverkehrs-expertinnen. Aber auch sie finden: Die Rechtslage in Deutschland sollte angepasst werden. Umfragen und erste Studien zeigen: S-Pedelecs können Autofahrten ersetzen, wenn ihre Nutzerinnen sicher unterwegs sind. Das 2023 gegründete Bündnis „Allianz Zukunft S-Pedelecs“ will dafür die Rahmenbedingungen schaffen. Seit vergangenem Jahr initiieren seine Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verbänden Studien und organisieren regelmäßige Diskussionsrunden mit Experten. Der Blick in die Nachbarländer zeigt, wie Lösungen aussehen könnten. Aber nicht nur jenseits der Grenzen gibt es Vorbilder, auch in Deutschland gibt es erste Versuche, die Nutzung von S-Pedelecs zu liberalisieren.
Die Unistadt Tübingen in Baden-Württemberg gehört dabei zu den Vorreitern. Dort gibt es seit 2019 das erste und bislang einzige S-Pedelec-Netz bundesweit. Auf einer Strecke von rund 80 Kilometer verbindet es sämtliche Ortsteile mit der Kernstadt. Die Idee für die Planung kam aus der Stadtregierung. „Einige Gemeinderäte und der Oberbürgermeister, Boris Palmer, waren damals bereits mit herkömmlichen, aber auch mit schnellen Pedelecs unterwegs“, sagt Daniel Hammer, Verkehrsplaner und zuständig für den Radverkehr in Tübingen. Die baden-württembergische Landesregierung unterstützte das Vorhaben und führte das Zusatzzeichen „S-Pedelec frei“ ein.
Damit begann die Netzplanung. Der Grundsatz war: Das Fahren mit S-Pedelecs im Stadtgebiet muss einfach und intuitiv sein. „Wir haben keine festen Standards definiert“, sagt Hammer. Stattdessen haben sie vor Ort entschieden, auf welcher In-frastruktur die schnellen Rad-fahrerinnen sicher unterwegs sind. Das können Radwege sein, Radfahrstreifen, Fahrradstraßen, verkehrsberuhigte Zonen und Wirtschaftswege. Der Aufwand war groß. Jeder Teil der Route wurde begutachtet. Insbesondere für kritische Stellen mussten sie Lösungen finden. Dazu gehört beispielsweise eine Unterführung im Zentrum. „10.000 Radfahrende sind dort täglich unterwegs und ebenso viele Fußgänger“, sagt Hammer. Die Unterführung ist sechs Meter breit und hat einen getrennten Fuß- und Radweg. Um die schnellen S-Pedelecs zu bremsen, haben sie dort ein Tempolimit von 20 Kilometern pro Stunde für alle Fahrräder eingeführt. Eine spätere Geschwindigkeitsmessung zeigte, dass Rennräder und Pedelecs dort bergab mit 30 bis 35 Kilometern pro Stunde unterwegs sind – ohne andere zu gefährden. Bislang funktioniert das Miteinander der schnellen und langsamen Radfahrerinnen und Radfahrer recht gut. Laut Hammer gab es weder mehr Unfälle noch sonstige Beschwerden. „Wenn sich das ändert, passen wir die Infrastruktur an“, sagt er. Momentan ist das Tübinger Modell nur eine Insellösung. Spätestens am Ortsschild der Nachbarstädte wie Reutlingen oder Rottenburg endet für die schnellen Pendlerinnen das entspannte Fahren. Der Radverkehrsplaner bedauert, „dass S-Pedelecs generell auf die Straße müssen, auch wenn Tempo 100 gilt“. Das schrecke potenzielle Umsteiger ab. Er plädiert für ein landkreisweites S-Pedelec-Netz auf geeigneten Wegen.

Mit maximal 30 Kilometern pro Stunde dürfen die Radfahrer durch den Tunnel fahren. In den Niederlanden sind Tempolimits auf vielen Radwegen üblich. In Deutschland ist Tübingen damit Vorreiter.

Speed-Pedelecs sind mit einer Tretunterstützung bis 45 km/h und einer Motorleistung bis zu 4 kW rechtlich betrachtet kene Fahrräder, sondern Kleinkrafträder der Klasse L1e. Damit sind bisher nicht nur Radwege tabu, sondern auch Feld- und Waldwege, die mit Verbotschildern für Motorfahrzeuge gekennzeichnet sind.

S-Pedelec-Netze für Landkreise

Diese Idee ist besonders für Radregionen interessant, wie etwa den Bodensee. Viele Berufstätige fahren dort täglich 20 oder auch 30 Kilometer zur Arbeit. Von Singen und Radolfzell etwa nach Konstanz oder auch in die Schweiz. „Das ist eine ideale Distanz für S-Pedelecs“, sagt der Radverkehrsplaner der Stadt Kon-stanz, Georg Gaffga. Bislang müssen die schnellen Radfahrerinnen an einigen Stellen die Bundesstraße nutzen. Die wird gerade auf vier Fahrspuren ausgebaut und führt zudem durch einen Tunnel. „Selbst für versierte Radfahrende kommt ein Fahren dort nicht infrage“, sagt Gaffga. Für diese Streckenabschnitte braucht es Ausweichrouten. Mit seinen Kolleginnen plant Gaffga seit vergangenem Jahr das neue Radwegenetz der Stadt. Die S-Pedelecs haben sie dabei stets im Blick. „Wir suchen auf den Hauptachsen ins Umland die Lücken im Netz“, sagt Gaffga. Wo das Fahren auf den Straßen für die schnellen Radfahrer zu gefährlich ist, sollen sie auf Radwege neben der Fahrbahn ausweichen können. Vorausgesetzt, sie sind breit genug und es sind dort nur wenige Fußgänger und Radfahrende unterwegs.

„Unsere Mobilitätsstrategie ist der autofreie Haushalt“

Georg Gaffga, Stadt Konstanz

S-Pedelec: Ein Baustein zum autofreien Haushalt

Innerorts sieht der Radverkehrsplaner Gaffga nahezu keinen Handlungsbedarf in seiner Stadt. In Konstanz’ Zentrum könnten die schnellen Radler bei Tempo 30 oder 50 auf der Fahrbahn mitrollen. Aber es gibt auch Ausnahmen. Im vergangenen Jahr hat er eine Anliegerstraße, die auch Fahrradstraße ist, für S-Pedelecs freigegeben. „Die Straße hat den Charakter einer Außerortsstraße, sie führt durch ein Waldgebiet geradewegs zum Fähranleger Richtung Meersburg“, sagt er, eine wichtige Pendelroute. Auch dort funktioniert das Miteinander. Bislang gab es keine Beschwerden.
Angesichts der geringen Zahl an S-Pedelecs im Straßenverkehr erscheint der hohe Aufwand, den Gaffga mit seinem Team betreibt, unverhältnismäßig hoch. Insbesondere weil sie kein konkretes S-Pedelec-Netz planen, sondern vorerst nur die Möglichkeiten ausloten, potenzielle Lücken im Netz zu schließen. Gaffga hält dagegen: „Unsere Mobilitätsstrategie ist der autofreie Haushalt“, sagt er. Das S-Pedelec ergänze das aktuelle Angebot an Sharing und öffentlichem Verkehr. Deshalb wollen sie die junge Fahrzeuggattung fördern. Das funktioniere allerdings nur, wenn die Fahrer*innenr sich wohlfühlen und sicher unterwegs sind. Die benachbarte Schweiz zeige zudem, dass bei attraktiven Bedingungen die Verkaufszahlen von S-Pedelecs steigen und ihr Anteil am Gesamtverkehr zunimmt.

S-Pedelecs ersetzen das Auto

Hierzulande ist die Fahrzeuggattung bislang nur eine Randerscheinung. Gerade mal 11.000 Stück wurden im Jahr 2022 verkauft. In Belgien, den Niederlanden oder der Schweiz sind S-Pedelecs deutlich populärer. Allein in der Schweiz mit ihren knapp neun Millionen Einwohnerinnen wurden im Jahr 2022 rund 23.000 der S-Pedelecs aus den Läden geschoben. Expertinnen führen das auf die Rechtslage zurück: Schließlich dürfen sie dort die Radinfrastruktur nutzen. Das hat zur Folge, dass 75 Prozent der Strecken, die dort mit schnellen E-Bikes zurückgelegt wurden, Arbeitswege waren. Im niederländischen Rotterdam waren es 2021 rund 60 Prozent.
Für Anke Schäffner vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) sind die Zahlen ein Indiz für das große Potenzial der S-Pedelecs für die Verkehrswende. Sie hat Ende vergangenen Jahres die ZIV-Studie „Wo fahren S-Pedelecs?“ vorgestellt. Die beschreibt, wie die Nachbarländer die Elektroräder in den Verkehr integrieren und wie sich das unter anderem auf die Verkaufszahlen auswirkt.
In Belgien etwa können die Fahrerinnen zwar innerorts wählen, ob sie die Radinfrastruktur oder die Fahrbahn nutzen, dagegen ist außerorts für sie die Radwegbenutzung ab Tempo 50 Pflicht. Diese Regelung kommt in der Bevölkerung anscheinend gut an. Von 2017 bis 2021 sind die Zulassungszahlen der S-Pedelecs von rund 5.300 auf 51.000 gestiegen. In den Niederlanden gelten für die schnellen Elektroräder die gleichen Bestimmungen wie für Mopeds. Ihre Fahrerinnen dürfen Radwege benutzen, die für Mopeds freigegeben sind. Innerorts ist das fast jeder Radweg in einer Tempo-50-Zone. Allerdings gilt dort für sie ein Tempolimit von 30 Stundenkilometern.

Die Fahrradstraße ist für Radpendler*innen von großer Bedeutung. Sie ist die schnellste Verbindung von Konstanz zum Fähranleger Richtung Meersburg.

Ausnahmegenehmigungen für Radwege

Auch beim S-Pedelec zeigt sich: Die Niederlande sind Fahrradland. Seit Jahren testen die verschiedenen Regionen, wie sie die Räder in den Alltagsverkehr integrieren können. Die Provinz Gelderland hat bereits 2018 im Rahmen einer Studie 16 Radwege im Stadtgebiet erst temporär und dann dauerhaft freigegeben. Andere Provinzen wie Groningen und Overijssel folgten dem Beispiel. In Rotterdam, Amersfoort und Utrecht können S-Pedelec-Fahrerinnen mittlerweile Ausnahmegenehmigungen beantragen, wenn sie die Radwege nutzen möchten. Allein in Rotterdam wurden im Jahr 2020 für die 384 angemeldeten Räder 275 Genehmigungen beantragt. Für Tobias Klein vom Team „Nahmobilität“ beim Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) ist das Vorgehen zeitgemäß. „Die Niederlande und auch Dänemark testen seit Jahren, wie sie die Alternativen zum Autoverkehr in ihre Verkehrsinfrastruktur integrieren können“, sagt er. Vor vielen Jahren bauten sie die ersten Radschnellwege, heute geben sie Radwege frei, damit die S-Pedelec-Nutzerinnen sicher unterwegs sind. „Ihre Lösungen sind nicht sofort perfekt, aber sie entwickeln die Systeme weiter und passen sie an“, sagt er. Deutschland hingegen sei bei Neuerungen im Verkehr eher darauf bedacht, nichts falsch zu machen, und bremse damit neue Entwicklungen. Das gelte für die Radinfrastruktur ebenso wie für die Integration neuer Verkehrsmittel wie S-Pedelecs.
Insbesondere außerorts sieht der Mobilitätsexperte verschiedene Möglichkeiten, Radinfrastruktur wie Wirtschaftswege oder auch Radschnellwege für sie freizugeben. „Die Radschnellverbindungen sind darauf ausgelegt, dass die Menschen dort mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs sein können“, sagt er. Die Freigabe per Zusatzschild sei nie ein Freifahrtschein zum Rasen. Im Gegenteil. „Die S-Pedelec-Fahrer müssen ihre Geschwindigkeit auf den Radschnellwegen anpassen, wenn dort viel Verkehr ist“, sagt er. Der Mobilitätsexperte ist zuversichtlich, dass das funktioniert.

Fahrzeiten: Pedelec versus S-Pedelec

Aber lohnt es sich überhaupt, vom normalen, dem Fahrrad rechtlich gleichgestellten E-Bike auf ein Speed-Pedelec umzusteigen? Das Kuratorium für Verkehrssicherheit (KFV) in Österreich, eine der führenden Institutionen der Unfallprävention, wollte es genau wissen und hat im Jahr 2021 die Studie durchgeführt „Potenzial von S-Pedelecs für den Arbeitsweg“.
Fünf Wochen dauerte der Feldversuch. 98 Berufstätige nahmen teil und zeichneten auf, wie viel Zeit sie für ihren Arbeitsweg mit den verschiedenen Fahrzeugen brauchten. Ab einer Strecke von fünf Kilometern kamen die Speed-Pedelecs stets schneller ans Ziel als ihr langsameres Pendant. Konkret benötigten die Berufstätigen für eine Strecke von 15 bis 20 Kilometer mit dem Auto durchschnittlich etwa 23 Minuten, mit dem S-Pedelec 34 Minuten und mit dem Pedelec rund 45 Minuten. Das herkömmliche Pedelec war demnach fast doppelt so lange unterwegs wie das Auto. Für die Forscherinnen ist dieser Zeitunterschied entscheidend. Eine Verdoppelung der Fahrtzeit zur Arbeit ist aus ihrer Sicht unattraktiv. Das S-Pedelec kann diese Differenz aber auf allen Strecken bis etwa 25 Kilometer in etwa halbieren. Damit ist das S-Pedelec für die Wissenschaftlerinnen eine echte Alternative zum Auto. Insbesondere auf langen kreuzungsfreien Strecken wie Radschnellwegen.
Allerdings wird die Freigabe von Radschnellwegen für S-Pedelecs seit Jahren kontrovers diskutiert. Vornehmlich die Vertreter*innen des ADFC waren strikt dagegen. Inzwischen weichen sie von dieser starren Haltung ein wenig ab. Inzwischen befürwortet der Fahrradclub die Freigabe der Radinfrastruktur in Einzelfällen – etwa außerorts, auf breiten, wenig frequentierten Radwegen. Damit sind viele geplante Radschnellwege bereits aus dem Rennen.

„Nur weil mein S-Pedelec 45 km/h fahren kann, fahre ich die Menschen nicht über den Haufen.“

Anja Herz

Klimafreundliche Fahrzeuge dürfen passieren, dazu gehören Busse, Taxen, Fahrräder und S-Pedelecs.

Zentrale Verbindungen in Tübingen wie diese Fahrradbrücke haben die Verkehrsplaner*innen ebenfalls für die Speed-Pedelec-Fahrer freigemacht.

Geschwindigkeit anpassen möglich?

Für die S-Pedelec-Fahrerin Anja Herz ist die ADFC-Haltung nur schwer nachzuvollziehen. Sie lebt außerhalb Münchens. Das S-Pedelec nutzt sie für fast jede Gelegenheit. Mit einer Freundin hat sie damit die Alpen überquert. 400 Kilometer sind die beiden von Garmisch bis zum Gardasee gefahren, die meiste Zeit auf Radwegen. Probleme mit den anderen Radfahrerinnen gab es aus ihrer Sicht keine. „Ich passe meine Geschwindigkeit immer den Gegebenheiten an“, sagt sie. Auf den Radwegen, aber auch, wenn sie beispielsweise an einer Fahrradsternfahrt teilnehmen. „Nur weil mein S-Pedelec 45 km/h fahren kann, fahre ich die Menschen nicht über den Haufen“, sagt sie. Sie bedauert, dass ausgerechnet der Fahrradverband ihr und vielen anderen S-Pedelec-Fahrerinnen die Bereitschaft und Fähigkeit abspricht, ihr Tempo anzupassen.

„Porschefahrenden traut man zu, in einer Tempo-30-Zone 30 km/h zu fahren, S-Pedelec-Fahrern nicht.“

Martina Lohmeier, Hochschule RheinMain Wiesbaden

Fehlende Erfahrungen schüren Vorurteile

Die Vorurteile gegenüber Pedelec-Fahrern kennt Martina Lohmeier, Professorin an der Wiesbadener Hochschule RheinMain. „Mit S-Pedelecs verbinden viele Menschen Überholvorgänge“, sagt sie. Konventionelle Radfahrende fürchten, von ihnen an den Bordstein gedrängt zu werden oder dass sie sich erschrecken, wenn die schnellen Radler*innen an ihnen vorbeijagen. Eltern sorgen sich zudem um ihre Kinder, wenn Schulstraßen oder Tempo-30-Zonen für S-Pedelecs freigegeben werden.
Die Ursache für all diese Bedenken sind laut der Professorin fehlende Erfahrungen. „S-Pedelecs sind noch eine sehr junge Fahrzeuggattung“, sagt sie und anders als die herkömmlichen Pedelecs sind sie in Deutschland immer noch eine Seltenheit. Allein die mögliche Spitzengeschwindigkeit von 45 km/h schüre Ängste. Sie lacht und sagt: „Es ist paradox, dass man Porschefahrenden zutraut, in einer Tempo-30-Zone 30 km/h zu fahren, S-Pedelec-Fahrern aber nicht.“
Im Rahmen eines Feldversuchs erforscht die Radprofessorin mit Kolleginnen und Kollegen der Hochschule Darmstadt und RheinMain, ob diese Sorgen berechtigt sind. Sie untersuchen, wie schnell die S-Pedelecs tatsächlich unterwegs sind, ob Konflikte auf dem Radweg entstehen und wenn ja, welche. Im Winter 2023 starteten die ersten elf Teilnehmerinnen und Teilnehmer den ersten Testlauf. Der dauert für sie und alle weiteren Gruppen jeweils sechs Wochen. Die Wissenschaftler tracken die GPS-Daten und die gefahrenen Geschwindigkeiten. Nach dem Praxisteil befragen sie die Teilnehmenden dann zum Radwegenetz und zu ihren Erfahrungen mit dem Elektrorad als Pendelfahrzeug.
Die Ergebnisse sollen laut Martina Lohmeier interessierten Kommunen dabei helfen, einen Leitfaden für die Integration von S-Pedelecs in den Alltagsverkehr zu entwickeln. Dazu gehört auch, Kriterien für die Freigabe von Radinfrastruktur für S-Pedelecs zu definieren. Der Leitfaden kommt genau zur richtigen Zeit. Seit vergangenem Sommer dürfen Kommunen in Nordrhein-Westfalen ebenfalls ihre Radinfrastruktur für schnelle Elektroräder freigeben. Das Potenzial ist riesig. Dort wird der Radschnellweg RS1 gebaut. Er soll 100 Kilometer lang werden.


Bilder: www.haibike.de – pd-f, Universitätsstadt Tübingen, www.flyer-bikes.com – pd-f, Stadt Konstanz – Gregor Gaffga

Damit die Verkehrswende Fahrt aufnehmen kann, braucht nicht nur der Radverkehr deutlich mehr Platz auf der Straße. Hamburg will künftig mit 10.000 selbstfahrenden Shuttle-Diensten den privaten Autobesitz überflüssig machen. Aber noch ist das autonome Fahren längst nicht alltagstauglich. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Der Holon Mover (oben) soll in einigen Jahren als autonom fahrendes Shuttle durch die Straßen Hamburgs fahren. Den Fahrgästen wird mehr Komfort versprochen. Etwa mit besseren Sitzen wie im Moia-Taxi (unten).

Die Zahlen der neuesten Mobilitätserhebung klingen vielversprechend: In Hamburg fahren die Menschen weniger Auto. Im Jahr 2022 wurden 5 Millionen weniger Pkw-Kilometer gezählt als noch 2017. Im selben Zeitraum wuchs der Radverkehr: Rund 2 Millionen mehr Kilometer ist Hamburgs Bevölkerung im selben Vergleichszeitraum geradelt. Das hört sich nach viel an, jedoch ist im Stadtverkehr davon bislang kaum etwas zu spüren. Auf den Hauptrouten und an den Verkehrsknotenpunkten sind zwar mehr Radfahrerinnen unterwegs, aber auch dort bestimmen die Kraftfahrzeuge weiterhin das Stadtbild. Zum Beispiel am Dammtorbahnhof. Hier rauschen die Pkw permanent an den Radelnden vorbei, während die neuen Radwege und Aufstellflächen, kaum gebaut, schon wieder zu schmal sind für die vielen Fahrradfahrenden. Szenen wie am Dammtorbahnhof gibt es überall in Hamburg. Bis 2030 will der Hamburger Senat das Kräfteverhältnis auf den Straßen ändern. Dann sollen nur noch 20 Prozent der Wege mit dem Auto zurückgelegt werden, 12 Prozent weniger als zurzeit, und der Anteil des Radverkehrs soll im besten Fall auf 30 Prozent steigen. Die Ziele sind ehrgeizig. Um sie zu erreichen, setzt Hamburg auf ein neues Verkehrskonzept, den Hamburg-Takt. Damit soll der Umweltverbund – also der Bus-, Bahn- Rad- und Fußverkehr sowie das Sharing – so attraktiv werden, dass der eigene Wagen zunehmend überflüssig wird. Mit dem Hamburg-Takt gibt der Senat seinen Bürgerinnen ein Versprechen. Im Jahr 2030 sollen sie rund um die Uhr unabhängig vom Wohnort innerhalb von fünf Minuten das Mobilitätsangebot erreichen, das zu ihrer jeweiligen Lebenssituation passt. Das kann ein Car-Sharing-Auto für die Fahrt ins Grüne sein, ein Leihrad oder ein E-Scooter für die Fahrt zur U-Bahnstation oder eine neue Bus- oder Bahnhaltestelle, die zu Fuß in fünf Minuten erreichbar ist. Damit das klappt, wird der ÖPNV in der Hansestadt in den kommenden Jahren drastisch ausgebaut. Der Takt einiger U- und S-Bahn-Linien soll mithilfe der Digitalisierung auf einen 100-Sekunden-Rhythmus erhöht werden, einige Züge und Bahnsteige werden verlängert, damit mehr Menschen in einem Zug Platz finden, und außerdem werden neue Bahnlinien gebaut. Die wichtigste Stellschraube, um den Privatwagen zu ersetzten, soll in dem Mobilitätsmix aber ein komplett neues Angebot auf der letzten Meile werden.

„Autonome Autos müssen besser sein als menschliche Fahrer, bevor sie im Stadtverkehr eingesetzt werden.“

Philipp Kosok, Verkehrsforscher bei der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Berlin.

10.000 autonome Shuttle-Dienste

Die letzte Meile ist der neuralgische Punkt im Hamburg-Takt. Diese Lücke im ÖPNV-Angebot will der Senat bis 2030 mit autonomen On-Demand-Angeboten schließen. 10.000 selbstfahrende Robotaxis und Shuttle-Busse sollen dann im gesamten Stadtgebiet unterwegs sein und den Privatwagen überflüssig machen. Bei Bedarf sollen sie die Kunden abholen und zum gewünschten Ziel bringen. Im Prinzip funktionieren sie wie Sammeltaxis, nur orientieren sie sich preislich eher am ÖPNV.
Der Kopf und Treiber des Projekts der autonomen Shuttle-Dienste ist der Chef der Hochbahn, Henrik Falk. Er ist überzeugt, dass der Ausbau von Bussen und Bahn allein nicht ausreicht für die Mobilitätswende. „Selbst, wenn wir den ÖPNV bis zum Erbrechen ausbauen“, sagte er beim Stadtgespräch der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Hamburg, sei das System zu starr und unflexibel, um Autobesitzerinnen davon zu überzeugen, dass ihr Privatwagen überflüssig ist. Autonome Taxis und die neuen selbstfahrenden Shuttle-Busse hingegen seien flexibel und deutlich komfortabler als Bus oder S-Bahn und damit attraktiver für viele Autofahrerinnen. Sie könnten die Lücke zwischen ÖPNV und Privatwagen schließen.

Mit dem Robotaxi durch San Francisco

Aber ist die Technik fürs autonome Fahren überhaupt schon ausgereift? Aus Falks Sicht ja. Im Sommer war er auf Delegationsreise in San Francisco. Dort sind bereits Robotaxis unterwegs und Falk ist mitgefahren. „Die Technologie ist da“, sagt er. Die Software kutschierte ihn sicher durch den Stadtverkehr, beachtete Ampeln, bog mal nach rechts, mal nach links ab und das alles so sicher, dass sich der Hochbahn-Chef nach wenigen Minuten langweilte. Jetzt gehe es darum, der Technologie die „edge cases“ auszumerzen. Also die Grenzfälle zu finden, die vielen Situationen außerhalb der Norm, die zu Fehlern führen im Alltagsbetrieb. Dass die alles andere als trivial sind, zeigt ebenfalls der Blick nach San Francisco.
Seit Mitte August durften „Cruise“ von General Motors und der Google-Ableger Waymo in der kalifornischen Hafenstadt mit ihren Robotaxis rund um die Uhr einen kostenpflichtigen Taxiservice anbieten, ohne Operator an Bord. Die Entscheidung war umstritten. Den Vertreterinnen der Stadtregierung, den Rettungskräften und den Mitarbeiterinnen der Verkehrsbetriebe war das zu früh. Immer wieder hatten sie erlebt, dass technische Probleme die Fahrzeuge lahmlegten und den Verkehr blockierten. Wenige Tage nach der Einführung blieben dann auch gleich mehrere Cruise-Fahrzeuge liegen. Ein großes Musikfestival hatte das Mobilfunknetz in dem Stadtteil überlastet, weshalb die Fahrzeuge nicht per Funk umgeleitet werden konnten. Sie blieben stehen und blockierten die Straßen, ein weiteres Fahrzeug blieb im nassen Beton stecken.

Ein fahrerloses Auto der Robotaxi-Firma Cruise fährt im August durch die Straßen von San Francisco. Damit ist es vorerst vorbei.

Fehlerhafte Technik hat schwerwiegende Folgen

Das klingt noch nach Kinderkrankheiten. Doch im Oktober verletzte allerdings ein Cruise-Fahrzeug eine Frau schwer. Dem Unfallbericht zufolge wurde die Fußgängerin zunächst von einem von Menschen gesteuerten Fahrzeug angefahren und vor das selbstfahrende Auto geschleudert. Das Robotaxi blieb zwar sofort stehen, versuchte dann aber, an den Straßenrand zu fahren. Dabei sei die Frau einige Meter mitgeschleppt worden. Die kalifornische Verkehrsbehörde DMV hat der General-Motors-Tochter umgehend verboten, fahrerlose Taxis durch die Stadt zu schicken. Seitdem muss in den Fahrzeugen wieder ein Mensch am Steuer sitzen, der im Notfall eingreifen kann. Die Waymo-Fahrzeuge dürfen weiter fahrerlos durch San Francisco fahren.
„Autonome Autos müssen besser sein als menschliche Fahrer, bevor sie im Stadtverkehr eingesetzt werden und bevor die Gesellschaft die Technik akzeptiert“, sagt Philipp Kosok, Verkehrsforscher bei der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Berlin. Aktuell sei die Technik noch in der Entwicklungsphase, sie funktioniere nicht fehlerfrei. In der jetzigen Phase müssten die Fahrzeuge jede einzelne Sondersituation erlernen. Das heißt: Sie muss programmiert werden. „In der Regel überschätzen die selbstfahrenden Autos die Gefahren. Sie sind übervorsichtig, bleiben stehen, wenn eine Plastiktüte über die Straße weht, und blockieren den Verkehr“, sagt Kosok.

„Wir brauchen Radwege für eine Fahrradstadt.“

Anjes Tjarks
Senator für Verkehr und Mobilitätswende

Shuttlebusse auf festgelegten Routen

Er rechnet damit, dass die ersten selbstfahrenden Fahrzeuge in vier bis fünf Jahren in Deutschland zugelassen werden. „Aktuell gibt es noch kein Fahrzeug, das eine uneingeschränkte Zulassung fürs autonome Fahren auf deutschen Straßen hat“, sagt der Verkehrsforscher. Die rechtliche Grundlage sei aber bereits vorhanden. Im Jahr 2021 hat die Bundesregierung autonomes Fahren auf Level-4-Niveau erlaubt. Das heißt, dass kleine autonome Shuttle-Busse auf genau festgelegten Strecken oder in vorgegebenen Betriebsbereichen unterwegs sein dürfen.
Erste Versuchsfahrzeuge für Level 4 sind seit einigen Jahren mit einer Begleitperson an Bord in verschiedenen Kommunen in Deutschland unterwegs. Ein Sechssitzer pendelt beispielsweise seit dem Jahr 2017 im bayerischen Bad Birnbach im Halbstundentakt durch die Innenstadt. Zunächst nur mit acht Kilometern pro Stunde auf einem 700 Meter langen Streckenabschnitt. Mittlerweile ist er mit Tempo 17 unterwegs und fährt 2000 Meter zum Bahnhof. Seitdem hat sich die Zahl der Fahrgäste schlagartig verdoppelt.

Eine echte Alternative für ländliche Regionen

„Der Einsatz von autonomen Shuttles in ländlichen Gemeinden oder am Stadtrand ist ideal“, sagt Kosok. Wer dort wohnt, braucht rund um die Uhr einen verlässlichen Transport zum Bahnhof. Sei der gewährleistet, sei das Tempo des Fahrzeugs zweitrangig. „Es geht darum, den Menschen überhaupt einmal ein Angebot zu machen“, erklärt er. Und in dem Geschwindigkeitsbereich 15 bis 20 Kilometer pro Stunde könnten die autonomen Shuttle-Busse auf bekannten Routen inzwischen gut und zuverlässig agieren.
Wenn alles nach dem Plan der Senatsverwaltung geht, kurven 2024 die ersten selbstfahrenden Fahrzeuge mit einem Operator an Bord durch die Hansestadt. Die Hochbahn entwickelt mit ihren Projektpartnern, dem Unternehmen Holon und Volkswagen Nutzfahrzeuge (VWN), zwei eigene Fahrzeuge. Das Holon-Shuttle kann dem aktuellen Prototyp zufolge bis zu 15 Passagiere mitnehmen und über eine automatisierte Rampe auch Rollstuhlfahrer. Der Bund fördert das Projekt mit dem Namen ALIKE mit 26 Millionen Euro.
Ein Teil des Geldes soll auch dazu verwandt werden, die Akzeptanz der Bevölkerung für die neue Technik zu stärken. Das Thema polarisiert. Laut einer Statista-Erhebung fehlt 42 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger das Vertrauen in autonom fahrende Fahrzeuge. Sie sind skeptisch und wollen die Verantwortung beim Fahren nicht komplett an ein elektronisches System abgeben.

Die Mobilitätswende in Hamburg soll unter anderem mithilfe von Tausenden autonom fahrenden Kleinbussen gelingen. Dazu gehört auch der Sammeltaxidienst Moia.

Shuttle-Dienste können nur autonom fahren

Hier hat Hamburg noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Denn der Erfolg des Hamburg-Takts ist eng verknüpft mit dem Erfolg der selbstfahrenden Robotaxis und Shuttle-Dienste. Fest steht bereits heute: Mit Personal wird Hamburg die Fahrzeuge nicht auf die Straße schicken können. Das wäre zu teuer und außerdem fehlen die Fahrer.
Bewähren sich die autonomen Shuttles jedoch im Praxistest, bekommt der ÖPNV mit den On-Demand-Angeboten eine zusätzliche Säule und obendrein eine ganz neue Qualität. Die Dienste könnten nicht nur in den dünn besiedelten Randgebieten Autofahrten ersetzen, sondern auch im Stadtgebiet. In vielen Städten gibt es Lücken im ÖPNV-Netz. In Hamburg funktionieren die Querverbindungen zwischen manchen Stadtteilen nicht gut. Dort könnten die selbstfahrenden On-Demand-Angebote den Anwohner*innen lange Umwege mit dem ÖPNV ersparen. „Damit rückt der Service bei der Fahrtzeit und der Flexibilität deutlich näher an den privaten Pkw heran. Das autonome Shuttle kann also zu einem echten Gamechanger werden“, sagt Kosok.
Die kommenden Jahre werden zeigen, ob der Hamburg-Takt funktioniert und die autonomem On-Demand-Dienste tatsächlich die Pkw-Flotte reduzieren. Der Platz, den sie freiräumen könnten, wird in Hamburg dringend für die Verkehrswende gebraucht. Beispielsweise für mehr Grün, um Extremwetter abzupuffern, für mehr Fußverkehr, aber auch, um den Radverkehr zu steigern. Hamburgs Senator für Verkehr und Mobilitätswende Anjes Tjarks bringt es auf den Punkt: „Wir brauchen Radwege für eine Fahrradstadt“, sagte er beim Stadtgespräch der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Hamburg. Nach den aktuellen Regelwerken könnten bestenfalls Radwege für eine weiterhin autozentrierte Stadt gebaut werden. Mit solchen Radwegen wird die Hansestadt ihr Ziel von einem Radverkehrsanteil von bis zu 30 Prozent womöglich nur schwer erreichen.


Bilder: Holan, Moia, Cruise, Daniel Reinhardt

Wer Verkehrswendeprojekte kommunikativ gestalten will, muss lokale Akteure und ihre Themen kennen. Um Konflikten vorzubeugen, sollten Bürger*innen rechtzeitig beteiligt werden. Die lauten ebenso wie die leisen Stimmen gehören dazu. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Konflikte zwischen Verkehrsplanung und Bürger*innen können laut und spektakulär werden. Mitunter werden Maßnahmen der Politik oder der Verkehrsplanung dann von Gerichten kassiert. So geschehen bei dem bekannten Beispiel Friedrichstraße, wo das Berliner Verwaltungsgericht die Sperrung des Kfz-Verkehrs für rechtswidrig erklärte. Geklagt hatte eine Geschäftsfrau vom Aktionsbündnis „Rettet die Friedrichstraße“. Umgekehrt gelten jene Beteiligungsverfahren als gelungen, von denen man seltener hört. „Die erfolgreichen Projekte sind die leisen“, sagt Christian Klasen von DialogWerke. Das Beratungsbüro konzipiert und moderiert Prozesse um nachhaltige Mobilität. Klasen begleitete erfolgreiche Bürgerbeteiligungen unter anderem in Freiburg, Köln und Dresden.

Am Anfang eines Verfahrens besteht oft geringes Interesse seitens der Bevölkerung, Einfluss zu nehmen. Im Zeitverlauf steigt der Wunsch nach Mitsprache. Zugleich sinkt die Möglichkeit einer wesentlichen Einflussnahme.

Das Beteiligungsparadoxon im Blick

„Die Beteiligung ist eine Art Versicherung“, sagt der Experte. „Macht man sie nicht, kann es richtig laut, teuer, zeitintensiv werden.“ Im Blick haben sollte man das Verhältnis von Interesse zu den Möglichkeiten der Einflussnahme im Zeitverlauf eines Verfahrens. Es wird im Beteiligungsparadoxon ausgedrückt. Demnach ist das Interesse von Bürger*innen am Anfang eines Projekts gering. Die Möglichkeiten auf Planungen Einfluss zu nehmen ist zu diesem Zeitpunkt jedoch hoch. Im Verlauf des Prozesses nimmt das Engagement der Bevölkerung zu. In der Umsetzungsphase erreicht es seinen Höhepunkt. Gleichzeitig nimmt die Möglichkeit der Einflussnahme dann ab. Wenn die Betroffenen das größte Interesse am Beteiligungsverfahren zeigen, besitzen sie nur noch geringe Einflussmöglichkeiten. Klasen: „In einem Koordinatenkreuz dargestellt, treffen sich irgendwann beide Linien. Spätestens dann müssen wir die Leute eingebunden haben.“

Positive Narrative versus Verlustängste

Hinter Protesten gegen Maßnahmen stehen oft Verlustängste bei den betroffenen Anrainerinnen. „Mobilität ist eine Gewohnheitssache“, erklärt Klasen. „Das hat mit Rationalität wenig zu tun. Bei der Mobilitätswende geht es darum, den Raum neu aufzuteilen. Egal in welcher Stadt wir arbeiten: Der meiste Ärger dreht sich um den Platz für den ruhenden und fahrenden Kfz-Verkehr.“ Als Konsequenz müssen die Vorteile einer Veränderung klar kommuniziert werden. So vollzog man in Hamburg eine Wende von der „autofreien“, zur „autoarmen“ Stadt. Darauf wies der ehemalige Projektleiter von „freiRaum Ottensen“ , Bastian Hagmaier Anfang dieses Jahres gegenüber der Tageszeitung taz hin: „Angefangen hat es mit dem Verkehrsversuch Ottensen macht Platz 2019/2020, in dem einzelne Straßenzüge als autofreier Raum erprobt worden sind. Auf Basis dessen hat die Bezirkspolitik im Februar 2020 den Beschluss gefasst, dass es eine Verstetigung geben soll, und auch schon den Terminus des autoarmen Quartiers statt wie im Verkehrsversuch den des autofreien genutzt.“ Als weiteres Beispiel nennt Christian Klasen die Vision des Hannoveraner Bürgermeisters Belit Onay. Der betonte, dass es für Menschen, die auf das Auto angewiesen sind, zukünftig leichter sein wird, ihre Ziele zu erreichen. „Er verpackt das in eine Geschichte und erläutert den Mehrwert. Das ist ein Erfolgsfaktor.“ Das alte Narrativ von der alleinerziehenden Nachtschwester, nach der sich die Regeln für alle übrigen Verkehrsteilnehmerinnen orientieren sollen, wird durch eine neue Story ersetzt. Immerhin gewann Onay mit seiner Vision der Verkehrswende den Wahlkampf.

In Freiburg hatten die Teilnehmenden der Auftaktveranstaltung vor Ort und online die Möglichkeit, sich mit ihren Fragen, Wünschen und Anregungen aktiv in den Klimamobilitätsplan einzubringen.

Von der Vorbereitungsphase bis zum Freiburger Gemeinderatsbeschluss wurden in einem zweijährigen Entstehungsprozess die fachliche Bearbeitung und die Öffentlichkeitsbeteiligung eng miteinander verzahnt.

Freiburger Mobilitätsplan vor Ort und im Livestream

Hilfreich ist eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung der Bürgerinnen. Sie beginnt mit der Kommunikation über eine Projektidee. „Man muss den Leuten sagen: Es ist noch eine Idee und noch nicht geplant. Sonst gibt es sofort Protest“, warnt der DialogWerke-Experte. Dazu gehören ein Ansprechkontakt sowie ein brauchbares Format. Ein gutes Beispiel für solche Formate ist der zweijährige Beteiligungsprozess zum Klimamobilitätsplan (KMP) 2023 in Freiburg. Darin geht es um Maßnahmen mit dem Ziel, mindestens 40 Prozent der Treibhausgase bis zum Jahr 2030 einzusparen. Am Anfang standen Interviews mit der Stadtgesellschaft, vom ADFC über die IHK bis hin zu Fridays for Future. Es folgte eine prominent besetzte Auftaktveranstaltung mit Landesverkehrsminister Winfried Hermann und Oberbürgermeister Martin Horn im Konzerthaus Freiburg. Damals unter Pandemie-Auflagen: „Rund 280 Teilnehmende vor Ort und im Livestream waren dabei“, erinnert sich Klasen. „Weil wir die Aufmerksamkeit hatten, folgte noch eine Online-Beteiligung zum Mobilitätsverhalten mit etwa 800 Leuten.“ Darin priorisierten Teilnehmende den Ausbau des Radnetzes, einen sicheren und umweltverträglichen Ausbau des Straßenverkehrs sowie des ÖV. Es folgten zwei Ein-Tages-Foren, auf denen mit Stakeholdern und zufällig ausgewählten Bürgerinnen über den KMP diskutiert wurde. Klasen findet: „Das war konkreter. Wir konnten verschiedene Maßnahmen nebeneinanderlegen und fragen: Was heißt das eigentlich, wenn wir die Parkpreise vervierfachen?“

„Wollen wir dreihundert Leute haben, schreiben wir drei- bis viertausend an. Die Rücklaufquote beträgt weniger als zehn Prozent.“

Christian Klasen, DialogWerke

Die Arbeit mit ausgewählten Zufallsbürgerinnen

Die Arbeit mit Zufallsbürgerinnen fußt auf einem möglichst heterogenen Auswahlfeld nach Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Einkommen, Wohnort oder Mobilitätsverhalten. Klasen: „Wollen wir dreihundert Leute haben, schreiben wir drei- bis viertausend an. Die Rücklaufquote beträgt weniger als zehn Prozent.“ In Freiburg wurden 550 Personen zufällig aus dem Melderegister gezogen und angeschrieben. Auf Basis der Rückmeldungen wurde eine Gruppe ausgewählt, welche die Breite der Stadtgesellschaft widerspiegelt. Im Alter von 23 bis 80 Jahren mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen und einem diversen Mobilitätsverhalten.
Man muss auch wissen: Je mehr Daten abgefragt werden, desto geringer die Rücklaufquote. Klasen sagt sogar: „Am besten wäre, man würde nur sagen: Es geht um die Gestaltung der Zukunft der Stadt.“ Dahinter steckt die Erfahrung, dass die eine Gruppe zum Thema Mobilität abwinkt und sagt: „Ist doch alles gut, ich will keine Veränderung.“ Die Menschen, die eine Veränderung wollen, neigen eher dazu, sich zu beteiligen. Dann wird es unausgewogen.

Um mit Bürger*innen über Mobilität zu reden, die durch herkömmliche Bewerbung nicht erreicht werden können, braucht es die aufsuchende Beteiligung wie hier in Köln.

Beteiligung braucht die richtigen Orte

Unter der Beteiligung der DialogWerke fanden ähnliche Foren in Dresden und Köln statt. Nach Klasens Erfahrung kann dabei ein besonderer Ort dem Thema Wertschätzung verschaffen. So lud die Kölner Oberbürgermeisterin anlässlich des Mobilitätsforums ins historische Rathaus. „Wer nicht gerade heiratet am Wochenende, kommt da nicht unbedingt rein. Das muss natürlich gut beworben werden.“ Geht es nur um eine Straßenraumgestaltung, reicht auch eine Schule oder Turnhalle. Ein Dialogangebot sollte man den Menschen immer machen und dabei etwas zum Anfassen mitbringen. „Am besten Pläne“, sagt Klasen. „Sich mit den Leuten zusammen darüberbeugen, um konkret zu verstehen, worum es geht.“

Laute Stimmen und andere Überraschungen

Für Verzerrung im Meinungsbild sorgen die lautstarken Stimmen. Auch wenn sie in Minderheit sind, lassen sie sich nicht einfach ignorieren. Sie müssen zu Wort kommen. Klasen rät: „Dazu muss man sagen, dass es sie in beide Richtungen gibt. Den einen gehen Maßnahmen nicht schnell genug. Die anderen sagen, jetzt bricht der ganze Wirtschaftsverkehr zusammen. Wichtig ist, gib ihnen einen klaren Rahmen, in dem sie zu Wort kommen können. Schaue aber auch, dass man die breite Mitte mitbekommt.“
Ein Diskussionspapier des Deutschen Instituts für Urbanistik DIfU („Bürgerinnen und Bürger an der Verkehrswende beteiligen“) empfiehlt, lautstarken Stimmen gegenzusteuern, indem Meinungen „vorab bzw. zu Beginn einer Bürgerversammlung z. B. per Punktabfrage erhoben werden, um unterschiedliche Positionen (Pro und Contra) auch quantitativ sichtbar zu machen.“ Auch „Fokusgruppendiskussionen“, eignen sich, um leise Stimmen zu erfassen.
Schließlich gibt es noch andere Überraschungen. Beispiel Hamburg-Bramfeld: Dort wollte die Stadtverwaltung Radwege ausbauen – und dafür alte Bäume fällen. Plötzlich stellten sich diejenigen Bürger*innen dagegen, die sonst für die Verkehrswende sind. „Wenn wir an ein Projekt rangehen, hängen wir eine Akteurs- und Themenlandkarte an die Wand“, erläutert Klasen. „Deswegen der Hinweis an die Planer: Führt gleich am Anfang ein paar Gespräche. Lernt das Thema und die Akteure kennen.“

„Mobilität ist eine Gewohnheitssache. Das hat mit Rationalität wenig zu tun. Bei der Mobilitätswende geht es darum, den Raum neu aufzuteilen.“

Christian Klasen, DialogWerke

Das Kölner Mobilitätsforum fand im historischen Rathaus in der Altstadt auf Einladung von Oberbürgermeisterin Henriette Reker statt. Ein angemessener Ort kann förderlich sein.

Erfolgreich trotz Push-Maßnahmen

In Freiburg stand am Ende des Beteiligungsprozesses die Verabschiedung des Klimamobilitätsplans. Er enthält 17 Maßnahmen, die sukzessive bis 2030 umgesetzt werden sollen. Darunter der geforderte Ausbau des Radnetzes und des ÖPNV. Aber auch Maßnahmen, die sonst viel Konfliktpotenzial mitbringen: Klasen sagt: „Da sprechen wir nicht nur von Pull-Maßnahmen: Wir machen alles schöner und laden die Leute ein, mehr Fahrrad zu fahren. Sondern über Push-Maßnahmen. Das heißt, wir drücken Fahrzeuge raus aus der Stadt.“ Obwohl der KMP ein massives Verteuern des Parkens, die Reduktion des Parkraums mit Schlüsselvorgaben für neue Siedlungen vorsieht, wurde er zum Erfolg. „Das war ein Prozess, der vom Gemeinderat am Ende über alle Parteigrenzen hinweg stark gelobt wurde,“ sagt Klasen.

Politischer Mut gehört dazu

Für den Experten von DialogWerke gehört politischer Mut zum Erfolg von Maßnahmen. Mit Blick auf Reallabore wie in Hamburg Ottensen sei es empfehlenswert, eine Sache einfach mal zu starten, gemäß dem Tenor „Ich hab euch das erklärt. Wir haben eure Bedenken ernst genommen. Wir machen das aber jetzt mal. In einem halben oder einem Jahr evaluieren wir das Ganze.“ Zwar kann es passieren, dass ein Projekt nicht funktioniert. Oder dass es das so noch nicht war. Was von Versuch und Irrtum übrig bleibt, wäre dennoch ein Lerneffekt. Der Haken daran, das weiß Klasen ebenso: „Politisch zu sagen, vielleicht machen wir auch einen Fehler, funktioniert häufig nicht.“
Mut braucht es auch am Ende eines Verfahrens, etwa bei der Frage, wo Kompromisse im Bürgerdialog eigentlich enden sollten. Klasen: „Viele Städte haben sich das Ziel einer Klimaneutralität bis 2035 gesetzt. Das werden wir allein mit Elektrofahrzeugen nicht schaffen. Also braucht es gewisse Maßnahmen in der Stadt. Da gibt es Modellierungen und Verkehrsmodelle. Am Ende, so sind unsere demokratischen Verhältnisse, entscheidet darüber in der Regel der Stadtrat, der Gemeinderat oder ein Verkehrsausschuss. Da sind dann irgendwo die Grenzen der Beteiligung gesetzt.“


Bilder: Stadt Köln – Thomas Banneyer, Grafik: Velobiz, Stadt Freiburg, Stadt Freiburg – Patrick Seeger, DialogWerke

Das Durcheinander auf der Venloer Straße in Köln war sehr gefährlich. Ein Verkehrsversuch sollte das ändern, schuf Verwirrung und lieferte dann doch „Verzauberung“. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Die Venloer Straße in Köln ist eine Arterie in einem äußerst lebhaften Organismus. Sie durchzieht mittig das boomende Stadtviertel Ehrenfeld, wo sich eine urbane Mischung aus Cafés und Restaurants, Kebab-Läden, Schnäppchen-Shops, Bio-Boutiquen mit einer dichten Wohnbesiedlung mischt. Die Venloer ist Hauptgeschäftsstraße, Pendler-Achse im Kölner Westen und Shopping-Meile, zudem steht hier Kölns wichtigstes islamisches Gotteshaus, die sogenannte Zentralmoschee des türkisch-islamischen Religionsvereins Ditib. Mit gut 10.000 Pkw am Tag war die Venloer seit Langem eine Hauptverkehrsachse, die auch die meistfrequentierte Fahrradstrecke der Millionenstadt ist. Die Dauerzählstelle dort zeigte 2022 5500 Fahrradfahrer*innen am Tag an. Bei diesem Treiben wundert es nicht, dass die Venloer einer der Unfallschwerpunkte Kölns ist – und in einer Analyse der „Allianz Direct“ sogar als einzige Straße in NRW unter den zehn gefährlichsten Straßen des Landes rangierte. „Wir sind da als Kommunalpolitik gefragt, das hat vordergründig auch gar nichts mit Verkehrswende zu tun. Wir mussten das entschärfen“, sagt Volker Spelthann (Bündnis 90/Die Grünen), Bezirksbürgermeister in Ehrenfeld.

Im Laufe des Jahres 2023 machte die Venloer Straße einen oft sehr unsortierten Eindruck, was auch an Baumaßnahmen in anliegenden Straßen lag. In Ehrenfeld war das Durcheinander Dauerthema.

Alles auf sechs Meter gequetscht

Die Problematik ist seit Langem bekannt. Die Venloer war, man kann es so klar sagen, ein Alptraum für alle Verkehrsteilnehmerinnen. Sie führte gleich neben dem Fußgängerweg einen baulich getrennten, schmalen Radweg neben der Fahrbahn, die einspurig in jede Richtung ausgelegt ist. 2009 brachte die Stadtverwaltung Piktogramme für Radfahrerinnen auf dem Asphalt auf, denn der Radweg war inzwischen in einem sehr schlechten Zustand. Ab 2010 dann ließ die Verwaltung die Straße umbauen. Am Rand ist die Straße mit vier Reihen Steinen gepflastert, daneben verläuft ein rot gefärbter Schutzstreifen für die Radlerinnen. Diese Gestaltung führte ein Maximum an Verkehrsteilnehmerinnen auf engen Raum. Über Jahre wuchsen der öffentliche Druck und die Unzufriedenheit mit dieser Lage. Bezirksbürgermeister Spelthann spricht von einer „Lebenslüge“ der vergangenen 15 Jahre. Hier habe die Verwaltung alles auf sechs Meter Breite gequetscht. „Politische Gremien und Verwaltung haben dann immer eine große Lösung aus einem Guss angestrebt, bei der alles passen sollte.“ Deswegen habe sich nichts bewegt in der Politik, und so gelinge auch Verkehrswende nicht.

„Ohne den Verkehrsversuch wären wir erst in fünf Jahren, wo wir sind.“

Volker Spelthann, Bezirksbürgermeister Ehrenfeld

„Realer Irrsinn“ Verkehrsversuch

Am 8. November 2023 traf man den Kommunalpolitiker aber an einem windigen Herbsttag in gelöster Stimmung an. Der Grüne, studierter Wirtschaftsgeogeograf, war Beobachter eines Pressetermins der Stadt Köln. Neben einer Kebab-Bude auf einem Platz neben der Venloer Straße und mitten im Mittagstrubel informierte die Stadtverwaltung über ein Projekt, das hohe Wellen geschlagen hat. Spelthann kam mit einer klaren Meinung: „Ohne den Verkehrsversuch wären wir erst in fünf, sechs Jahren da, wo wir jetzt sind“, sagte der gut gelaunte Bezirksbürgermeister. Und das ist schon erstaunlich, denn die Venloer Straße hatte gerade in den zurückliegenden Monaten noch einmal richtig viel Aufmerksamkeit erregt. Nicht nur die lokalen Medien hatten im Laufe des Jahres 2023 über ein großes Durcheinander berichtet, das hier ausgebrochen war. Im NDR gab es einen Bericht mit dem Titel „Realer Irrsinn“, Kabel 1 zog über „Chaos auf der Straße“ her. Wer die Venloer im Frühling oder Sommer nutzte, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die ohnehin überlastete Verkehrsmeile hatte noch chaotischere Züge angenommen als ohnehin schon. Einen erheblichen Anteil daran hatten die Behörden, die eigentlich für Orientierung sorgen sollten.

Vorstoß aus der Kommunalpolitik

Rückblende ins Jahr 2021. Damals gab es nach vielen Jahren der Auseinandersetzungen einen politischen Vorstoß in der Stadt. Der Verkehrsausschuss und die Bezirksvertretung 4 (Ehrenfeld) beauftragten die Verwaltung mit der Einrichtung eines Verkehrsversuchs. Vorausgegangen war in Ehrenfeld die Arbeit an einem Radverkehrskonzept, im Mai 2021 beschloss die Bezirksvertretung dann das neue Ziel: Die Venloer sollte zur Einbahnstraße werden. Zudem sollte ein „verkehrsberuhigter Geschäftsbereich“ eingerichtet werden, mit Tempo-20-Zone und „Shared Space“ an verschiedenen Schlüsselstellen auf der Straße zwischen Ehrenfeldgürtel und Innerer Kanalstraße. Dieser politischen Forderung lag die Einschätzung eines Gutachters zugrunde. Er hatte vor allem die Einrichtung dieses Tempo-20-Segments für einen großen Wurf gehalten: „Dies hat unter den Einzelmaßnahmen die höchste Entlastungswirkung und weist zudem, anders als bei der reinen Einbahnstraßenführung, weniger negative Auswirkungen in Bezug auf die kleinräumige Verlagerung in die umliegenden Wohnstraßen auf“, so lässt es sich in der Beschlussvorlage des Verkehrsausschusses nachlesen.

Vorschrift ist Vorschrift: Während der ersten Phase des Verkehrsversuchs hob die Verwaltung mit gelber Farbe die Wirkung vorheriger Verkehrszeichen auf. Das führte zu Fehlwahrnehmungen im Alltag.

Gelbe Farbe sollte es richten

Zwei Jahre später lässt sich feststellen, dass die Einschätzung des Gutachters und die Realität des Kölner Straßenverkehrs miteinander kollidiert sind. Der Verkehrsversuch, den die Verwaltung infolge des politischen Beschlusses startete, lieferte Durcheinander auf Stein und Teer. „Im Verfahren gab es auch immer wieder Überraschungen. So scheint es bei vielen Stellen eine ungenügende Kenntnis der Straßenverkehrsordnung gegeben zu haben“, kommentiert Christoph Schmidt, Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs in Köln. Er war es, der den Vorstoß zur Einbahnstraße im Facharbeitskreis des damaligen Radverkehrskonzepts Ehrenfeld ins Rollen brachte. Was sich dann in der Realität zeigte, war allerdings eher ein politischer Kompromiss, der die Menschen in Desorientierung stürzte. Schmidt erklärt, was falsch gedacht war: „Auch in einem verkehrsberuhigten Geschäftsbereich hat man keinen Shared Space, auch wenn das oft anders verstanden wurde.“ So war die Fahrbahn eben weiterhin Fahrbahn, aber viele Menschen verstanden das falsch. Die Tempo-20-Zone ging mit einer Rechts-vor-links-Regelung einher, doch auch das setzte sich nicht durch im Verkehrsgeschehen. Plötzlich rollten also Kraftfahrzeuge und Radler durch einen Verkehrsversuch, auf dem andere Regeln galten als zuvor – bei gleicher Verkehrslast. Es kam hinzu, dass die Straßenverkehrsbehörden der Bezirksregierung und der Stadt eher „konservativ“ (Schmidt) auf die Regeln der Straßenverkehrsordnung und der Verwaltungsverordnungen bestanden. Im Ergebnis waren die weißen Fahrradpiktogramme auf der Straße mit gelber Farbe überstrichen, Ampeln abgeschaltet, Verkehrsteil-nehmer*innen verwirrt. Die Logik dahinter: Gelb sticht Weiß. Was die Verwaltungsexperten dabei nicht im Blick hatten, war die Realität des Straßenraums. Die konkrete Umsetzung des Verkehrsversuchs brachte Hohn und Empörung. „Das hat sicher nicht dazu beigetragen, dass die Lage auf der Straße übersichtlicher wurde“, sagt Schmidt heute.

Mit Schildern, Zeichen und Farbe: Seit 23. Oktober gilt eine neue Einbahnstraßenregelung. Vorher überstrichene Verkehrspiktogramme wurden nun wieder freigelegt.

Zweite Stufe ab 23. Oktober

Inzwischen hat die Stadtverwaltung nachgesteuert. Der Verkehrsversuch, so hat man es aus dem Rathaus stets kommuniziert, ist eine zweistufige Angelegenheit. Stufe eins, so ließ sich schon nach kurzer Zeit feststellen, brachte Desorientierung in den Straßenraum. Der Verkehr blieb, wie er war; die durchgestrichenen Zeichen und die gelbe Farbe auf dem Asphalt verwirrten die Menschen ebenso wie auf der Fahrbahn aufgestellte Hindernisse, mit denen der Verkehrsfluss beruhigt werden sollte. Das Ergebnis war gerade für Radfahrende eine erheblich gefährlichere Lage auf der Straße. Nun aber, mit Stichtag 23. Oktober, hat sich das Bild auf der Venloer Straße vollständig gewandelt. „Das ist eine Verzauberung“, sagt Bezirksbürgermeister Spelthann, „wer die Straße vorher kannte, sieht nicht nur eine Verbesserung, der sieht quasi eine ganz andere Straße.“

Verbesserungen fallen ins Auge

Dem Orientierungsverlust der vergangenen Monate folgt nun eine zweite Versuchsphase, in der noch mal alles neu ist. Für den Kraftverkehr gilt zwischen dem Ehrenfeldgürtel und der Piusstraße seit dem 23. Oktober eine Einbahnstraßenregelung. Radfahrende dürfen weiter in beide Richtungen fahren. Die alten Zeichen gelten wieder, die Straße ist nun auch wieder mit Tempo 30 befahrbar, auch Ampeln sind wieder angeschaltet. Wer die Straße in den Wochen seither beobachtet, erkennt augenscheinlich verbesserte Bedingungen nicht nur für die Fahrradfahrer*innen, sondern auch entspanntere Zustände für die Menschen in Pkw und Lkw. Die Straße ist ruhiger, Hindernisse sind beseitigt, statt durchgestrichener Zeichen gibt es nun vor allem Hinweise auf die Einbahnstraßenregelung. In Aussicht gestellt hat die Stadtverwaltung auch, die Markierungen für den Radverkehr noch einmal zu verbessern – gerade entgegen der Einbahnstraße ist das relevant, um diese Verkehrsteilnehmenden vor dem Kraftverkehr zu schützen. Denn trotz aller Schilder und Öffentlichkeitsarbeit: Man kann nicht davon ausgehen, dass sich die Menschen schlagartig an neue Regelungen halten und sie auch verstehen.

„Wir brauchen Anpassungen, die uns in den Kommunen mehr Möglichkeiten geben.“

Ascan Egerer, Beigeordneter für Mobilität, Stadt Köln

Erste Zwischenbilanz: Im November zog Kölns Mobilitätsbeigeordneter Ascan Egerer (M.) mit Kolleginnen aus der Stadtverwaltung ein erstes positives Fazit der neuen Einbahnregelung. Dabei stellte die Verwaltung auch ihr Partizipationsmodell vor.

Verkehrsversuch in Deutz scheiterte vor Gericht

Zur Präsentation der zweiten Phase dieses Verkehrsversuchs war auch Ascan Egerer anwesend. Für den Mobilitätsdezernenten der Stadt Köln ist das Projekt eine wichtige Angelegenheit. Zwei Wochen nach Start der Einbahnstraßenregelung sah auch er ein deutlich reduziertes Verkehrsgeschehen: „Bei dem Ziel, die Verkehrssicherheit in diesem viel befahrenen Bereich der Stadt zu erhöhen, ist es ein Meilenstein.“ Mit Verkehrsversuchen hat die Stadtverwaltung unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Für viele Autofahrer überraschend hatte sie vor einiger Zeit Poller auf der Zülpicher Straße aufgestellt, um den Durchfahrtsverkehr zu stoppen – die Maßnahme war ein großer Erfolg für den innerstädtischen Verkehr. Im Herbst kassierte Egerers Behörde dann jedoch eine gewaltige Schlappe: Ein autofreier Verkehrsversuch in Köln-Deutz ist verwaltungsgerichtlich gestoppt worden – die Sache brachte der Verwaltung massive Negativschlagzeilen.

Botschaft nach Berlin: Lockerungen im Regelwerk gebraucht

Egerer sieht ein, dass die erste Phase des Verkehrsversuchs problematisch war. „Die Menschen haben manches nicht verstanden. Das hat zu Verwirrung geführt.“ Man habe darum sehr schnell nachgesteuert. Mitnichten gehe es seinen Leuten in der Verwaltung darum, überhaupt erst Verwirrung aufkommen zu lassen, um dann eine einfache Lösung durchzubekommen. Doch Egerer leitet daraus auch ein Problem ab. „Das ist genau der Punkt, den wir auch weitergeben müssen, auch in Richtung Berlin, dass wir da Anpassungen brauchen, die uns in den Kommunen mehr Möglichkeiten geben.“ Es brauche Lockerungen im Regelwerk, weil sonst lokale Verkehrswende-Maßnahmen nicht möglich oder in angestrebten Kombinationen „nicht vorgesehen“ sind. Und wenn die Fachleute aus der Verwaltung an Orientierung denken, sind sie vielleicht oft überrascht darüber, dass die Nutzer*innen der Straßen damit nicht klarkommen. So war es eben auch mit der Regel „rechts vor links“ während Stufe 1 – sie müsste eigentlich jedem bekannt sein, wurde aber nicht praktiziert. Egerer sieht das inzwischen ein. Das Beispiel zeige vielleicht auch, dass es auf der Venloer einfach zu unübersichtlich war. „Es ist ja ein lebhafter Raum hier. Hier ist viel los, hier ist es bunt, hier sind viele Menschen unterwegs. Da muss man genau hingucken, denn wir haben auch jetzt den Raum wirklich sicherer machen wollen.“

Erste Stufe als „politischer Zaubertrick“

Politisch lässt sich allerdings festhalten, dass erst Durcheinander herrschen musste, um zu der neuen Lösung zu gelangen. Die Stufe 1 mit „verkehrsberuhigtem Geschäftsbereich“ war ein bundesweites Kuriosum. Sie war aber, so sagt es Bezirksbürgermeister Spelthann, auch ein „politischer Zaubertrick“. Gern hätte man im grünen Milieu und bei Radfahrer*innen direkt die Einbahnregelung gehabt. Aber dafür hätte es keine Mehrheiten gegeben. Und so machten die Vorkämpfer für eine veränderte Venloer Straße Zugeständnisse, um ans Ziel zu kommen. Diejenigen, die einer Einbahnstraße gegenüber skeptisch waren, konnten mit dem zweistufigen Verfahren leben. Und nun, mit Stufe zwei, entfalte der eigentliche Plan seine Wirkung.

Erweiterte Beteiligung der Öffentlichkeit

Aber was halten die Menschen von diesem Ergebnis politischer Taktik? Die Verwaltung hat das, nach einer eher kritikwürdigen Beteiligung in der ersten Phase, jetzt zum wichtigen Thema gemacht. Das „Meinungs-Mobil“ der Verwaltung ist auf der Venloer anzutreffen, die Mitarbei-terinnen sammeln Rückmeldungen aus der Bevölkerung, auch online kommt Feedback an. Begleitet wird diese Phase von Workshops, in denen Bürgerinnen mitwirken. So soll der Versuch um sich greifen. Christoph Schmidt vom ADFC sieht das mit Genugtuung. „Vor der ersten Phase des Verkehrsversuchs hat man die Öffentlichkeit nicht gut mitgenommen“, sagt er, das habe sich nun wie schon seinerzeit beim Radverkehrskonzept geändert. „Die Verwaltung hat hier alle Akteure eingebunden, spricht die Öffentlichkeit an. Da wurde nichts durchgeboxt, es hat das Potenzial, dass sich so Legitimation erhöht.“ Und das geht natürlich nur, wenn die Leute sich auch auf der Venloer Straße zurechtfinden.


Bilder: stock.adobe.com – tashalex, Tim Farin

Gut gestaltete, schöne Räume beeinflussen das Verhalten der Menschen. Wege und Warteräume für Fußgänger, Radfahrer sowie Bus- und Bahnreisende sind jedoch im besten Fall praktisch. Mehr Schönheit im öffentlichen Raum kann ein Booster sein für den Umweltverbund. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Öffentliche Räume verwandeln: Vor der Gestaltung wurde die Unterführung als öffentliche Toilette missbraucht. Heute lassen sich dort Hochzeitspaare fotografieren.

Lange Zeit wurde die Unterführung des Brooklyn-Queens-Expressway in New York von den Besuchern der umliegenden Bars als öffentliche Toilette missbraucht. Das endete, als die Designer Stefan Sagmeister und Jessica Walsh die Tunnelseiten schick gestalteten, mit dem Schriftzug „Yes“ als Blickfang. Die Gestaltung veränderte die Atmosphäre des Ortes und gab ihm ein komplett neues Image. Die Unterführung ist bei Passanten und Touristen beliebt. Mittlerweile lassen sich sogar Hochzeitspaare vor dem Schriftzug fotografieren. Als Pissoir wird sie nicht mehr genutzt.
„Schönheit kann uns verwandeln. Sie kann verändern, wie wir uns fühlen und wie wir uns benehmen“, erklären Walsh und Sagmeister in ihrem Buch „Beauty“. Aus ihrer Sicht gilt das sowohl für Gegenstände des Alltags als auch für die Stadt- und Verkehrsplanung. In der Forschung, Planung oder dem Design von Mobilität taucht der Begriff „Schönheit“ jedoch praktisch nie auf. Er ist Wissenschaftlern zu unpräzise. Aber auch sie beobachten und erforschen sehr genau, wie Fuß- oder Radwege, Warteräume und auch Stadtmöbel wirken. Der Mensch mit seinen Bedürfnissen und seinen Emotionen rückt zunehmend in den Mittelpunkt, wenn es darum geht, aktive Mobilität zu fördern und zu steigern. Den Experten ist bewusst, dass das Angebot besser werden muss. Und vielleicht auch schöner.
Aber was macht Schönheit oder eine schöne Umgebung überhaupt aus? „Unsere Forschung zeigt, dass Schönheit unseren Blick anzieht und bindet. Unser Blick verweilt bei dem Schönen“, sagt Helmut Leder, Schönheitsforscher und Professor für Psychologie an der Uni Wien. Eine schöne Umwelt erzeuge automatisch eine Sequenz von glücklich machenden Momenten. „Sie wirkt wohltuend, dort bin ich gerne unterwegs, weil ich dort Impulse empfange, die mir guttun“, sagt Leder.
Wissenschaftler wie Helge Hillnhütter verwenden den Begriff der Schönheit nicht. Der Professor und Stadtplaner lehrt an der Norwegischen Universität für Naturwissenschaften und Technik und forscht seit Jahren zum Fußverkehr. Er untersucht, wann Menschen eine Umgebung oder einen Stadtraum als angenehm empfinden. Dazu gehören Aspekte wie: Sicherheit, Grünanlagen, Schaufenster, stimulierende Fassaden, andere Menschen und eine Gestaltung des Stadtraums. „Fußgänger reagieren am meisten auf das, was nicht weiter als fünf bis sechs Meter entfernt ist“, sagt Hillnhütter. Demnach ist ein interessanter Stadtraum nicht zu groß.
„Eine angenehme Stimulanz durch die Umgebung unterstützt positive Emotionen, die das Gehen zu einer angenehmen Erfahrung machen“, sagt Hillnhütter. Wer an großflächigen Fassaden entlanglaufe, empfinde den Weg schnell als langweilig und der Weg erscheint länger. Wenn es obendrein noch dunkel oder laut sei und es übel rieche, summierten sich die negativen Empfindungen. Das führe dazu, dass man beim nächsten Mal vielleicht nicht mehr zu Fuß gehe, sofern andere Optionen bestehen.

„Wir müssen in Netzen denken, die den gesamten Umweltverbund umfassen, aber auch stets ein Nachtnetz mitdenken.“

Katja Striefler, Fachbereich Verkehr, Region Hannover

Die Reisezeit zu Fuß und im ÖPNV sind identisch

Lange Zeit wurde der Fußverkehr von der Verkehrsforschung vernachlässigt. Hillnhütters Studien zeigen: Das ist ein Fehler. „Wir gehen überall und ständig zu Fuß“, sagt der Wissenschaftler. Selbst Autofahrer gehen vom Parkplatz zu einem Geschäft in einem Einkaufszentrum drei bis sechs Minuten zu Fuß. Eklatant sind jedoch die Wege, die Bus-, S- und U-Bahn-Nutzerinnen zurücklegen. Hillnhütter hat alle Wege-, Warte- und Umsteigezeiten addiert und festgestellt: „Die Reisezeit, die wir als Fußgänger zum Gehen, Warten und Umsteigen im öffentlichen Raum verbringen, ist fast genauso lang wie die Zeit als Passagier im Verkehrsmittel.” Für Städte und öffentliche Verkehrsbetriebe ist das eine wichtige Information. „Meistens wissen wir überhaupt nicht, was während des Teils der Reise passiert, der zu Fuß zurückgelegt wird“, sagt der Professor. Dabei ist die Qualität dieser Wege und auch die Wartesituation ausschlaggebend für die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs. Warten an Haltestellen und auf Bahnsteigen ist in Deutschland jedoch oft kein Vergnügen. Professor Peter Eckart und Prof. Dr. Kai Vöckler von der Hochschule für Gestaltung in Offenbach erforschen seit Jahren unter anderem, wie das Design von Bahnhofshallen, Bahnsteigen und Zu- und Ausgängen das Mobilitätsverhalten der Nutzerinnen beeinflusst. „Räume haben neben ihrer praktischen Dimension auch eine psychische Dimension mit symbolischen und ästhetischen Aspekten“, sagt Eckart. Das bedeutet, die Menschen sollen sich intuitiv in einem Bahnhofsgebäude zurechtfinden. Sie sollen sich aber auch willkommen fühlen, sich also wohl- und wertgeschätzt fühlen.

Vor dem Umbau prüfen Eckart und Vöckler ihre Ideen zu Sitz- und Anlehnmöbeln unter VR-Testbedingungen.

Mehr Komfort für Bahn- und S-Bahnnutzer in Hamburg: Im Bahnhof Harburg wurden bereits Holzmöbel installiert, ebenso an der neuen Vorzeigehaltestelle „Elbbrücken“.

Bessere Sitzmöbel für Warteräume

Für Eckart ist das ein wichtiger Aspekt. Er sagt: „Wenn ich als Kunde die U-Bahn oder S-Bahn nutze, möchte ich mit meinen unterschiedlichen Bedürfnissen wahrgenommen und wertgeschätzt werden.“ Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Viele Warteräume oder Zu- und Ausgänge von S- und U-Bahnhöfen sind vor allem praktisch. Das spiegeln die Sitzmöbel aus Gittergeflecht wider. „Das Gittergeflecht soll Obdachlose davon abhalten, sich dort auszuruhen, und ist zudem leicht zu reinigen“, sagt Eckart.
Mittlerweile hat bei der Deutschen Bahn ein Umdenken begonnen. Mit ihrem Projekt „Zukunftsbahnhof“ will das Unternehmen Fahrgästen und Besucherinnen die Zeit am Bahnhof angenehm gestalten. Vöckler und Eckart haben im Rahmen des Projekts „Zukunftsbahnhof Offenbach“ für eine S-Bahnhaltestelle vorgeschlagen, dort Sitzmöbel aus Holz zu installieren. „Der Pflegeaufwand ist zwar höher, aber bereits das hochwertige Material drückt die Wertschätzung gegenüber dem Kunden aus“, sagt der Professor. In einer Studie mit Kognitionspsychologinnen hat er festgestellt, dass Menschen gerne auf Holzmöbeln sitzen und sie sich wohlfühlen. Infolgedessen erscheint ihnen die Wartezeit kürzer. „Was wiederum die Kundenzufriedenheit steigert“, sagt Vöckler.
Dieser Anspruch muss aus ihrer Sicht auf den gesamten Umweltverbund angelegt werden. „Momentan wird er aber gar nicht als System zusammen gedacht“, sagt Eckart. Weder von der Politik noch von den Planern oder auf organisatorischer Ebene. Das sei aber für die Verkehrswende entscheidend. „Das Ziel muss sein, dass die Menschen, wenn sie aus der U- oder S-Bahn aussteigen, intuitiv erfassen, wo der Ausgang ist, und auf dem Weg dorthin erkennen, was sie in 100 bis 200 Metern an Mobilitätsangeboten vorfinden“, sagt Eckart.
Katja Striefler, zuständig für den Fachbereich Verkehr in der Region Hannover, stimmt dem zu: „Wir müssen in Netzen denken, die den gesamten Umweltverbund umfassen, aber auch stets ein Nachtnetz mitdenken“, sagt sie. Nur dann könne sichergestellt werden, dass Menschen jeden Alters und auch Frauen, den Umweltverbund nutzen. Wer bei der Planung dann noch den Schönheitsaspekt einbeziehe, habe eine lebenswerte Stadt, eine lebenswerte Gemeinde oder ein lebenswertes Dorf.

Clock Tower als Wegweiser

Ein Klassiker, der die Aspekte Ästhetik, Wegweisung und Mobilitätsknotenpunkt kombiniert, ist die Turmuhr an englischen Bahnhöfen. „Den Clock Tower findet man an fast jedem Bahnhof in England“, sagt Professor Eckart. Der Wiedererkennungswert sei immens. Jeder in England wisse: Beim Clock Tower ist der Bahnhof. Ein Forschungsprojekt hat laut Eckart gezeigt: Die große Uhr wirkt beruhigend, selbst auf die 18- bis 25-Jährigen. Zudem haben die Reisenden stets die Uhrzeit im Blick. Diesen Aspekt haben die beiden Wissenschaftler auf eine Station am Offenbacher Marktplatz übertragen. Die Ankommenden sehen auf dem digitalen Infowürfel sämtliche Abfahrten von Bus- und S-Bahn nebst Richtungsanzeigen. „Sie wissen sofort, ob sie den Zug noch erreichen oder laufen müssen“, sagt er.
Wie Menschen den dicht bebauten Stadtraum erleben, was ihnen gefällt oder wo ihr Blick hinfällt, wird schon lange untersucht. „Die Technologie ermöglicht uns zu messen, wie der Körper auf die Umgebung reagiert“, sagt Hillnhütter. Demnach brauchen wir eine Umgebung, die uns stimuliert. Eine zentrale Rolle spielt dabei, was wir sehen.
Deshalb sind laut Hillnhütter die Fußgängerzonen in Innenstädten so beliebt. Das bunte Treiben mit Straßenkünstlern, unterschiedlichsten Angeboten von Kunst bis zum Café wirke stimulierend. Wer dort unterwegs ist, schätzt Entfernungen deutlich kürzer ein. Die Distanzempfindung kann laut Hillnhütter in unterschiedlichen Stadträumen variieren und der Unterschied bis zu 30 Prozent betragen.

Vor dem Umbau war die High Line in New York ein vergessener Ort. Heute ist sie eine Oase inmitten der Metropole, die Anwohner und Touristen anzieht.

Ein schöner Verkehr funktioniert besser

Für den Schönheitsforscher Helmut Leder und die Verhaltensbiologin Elisabeth Oberzaucher steht fest: Schönheit und ästhetische Wertigkeit im öffentlichen Raum sind kein „nice to have“. „Mit ihnen funktioniert der Straßenverkehr besser“, sagt Elisabeth Oberzaucher. Ein klassisches Beispiel ist für sie die Mariahilfer Straße in Wien. In der neu geschaffenen Begegnungszone wurde die Fahrbahn mit großzügigen Blumenkübeln und weitläufigen Sitzecken so verjüngt, dass die Autos dort automatisch mit maximal 30 Kilometern pro Stunde oder langsamer unterwegs sind. „Dort funktioniert das Tempolimit über die Gestaltung, man braucht dort keine Schilder“, sagt sie. Die niedrige Geschwindigkeit erzeugt mehr Gleichheit unter den Verkehrsteilnehmern. „Sie begegnen sich eher auf Augenhöhe“, sagt die Wissenschaftlerin. Dieser Respekt setzt sich in der Fußgängerzone fort. Dort sind in den Sommermonaten rund 5000 Radfahrer unterwegs und das Miteinander zwischen Fuß- und Radverkehr funktioniert.
„Diese Begegnung auf Augenhöhe stärkt das individuelle Sicherheitsempfinden, aber erhöht auch die Sicherheit im Allgemeinen“, sagt Elisabeth Oberzaucher. Das sei gut für die Verkehrswende. Denn auf diese Weise entscheiden Menschen über die intuitive Ebene, sich eher aktiv zu bewegen, als ins Auto zu steigen.

„Alles, was uns in urbanen Räumen umgibt, ist mittlerweile von Menschen gestaltet.“

Helmut Leder, Schönheitsforscher und Professor für Psychologie an der Uni Wien

Die Nordbahntrasse ist ein Aushängeschild von Wuppertal. Sie ist Radlerparadies, Veranstaltungsort, Touristenmagnet und kurbelt zudem noch die Wirtschaft an.

Stimulierende Wirkung von Grünanlagen

Eines der bekanntesten Beispiele, wie die Umgestaltung eines Raums sein Umfeld zum Positiven verändern kann, ist die High Line in New York. Die 2,6 Kilometer lange stillgelegte Hochbahntrasse sollte eigentlich abgerissen werden. Seit ihrer letzten Fahrt Ende der 1980er-Jahre verkam die Trasse immer mehr und mit ihr die Viertel entlang der Strecke. Abfallberge, Kriminalität, Drogen und der Straßenstrich prägten die Gegend. Dann gründete sich eine Nachbarschaftsinitiative, die die Trasse begrünen wollte. Die Idee fand Zuspruch. Heute ist die High Line eine Oase am Rand Manhattans für die Anwohner. Zwischen den Grünflächen finden regelmäßig Veranstaltungen statt und es werden wechselnde Kunstobjekte ausgestellt. Mit der High Line veränderte sich auch ihre Umgebung. Die drei Distrikte, die sie quert, sind zu Szenevierteln geworden mit Galerien, Cafés und renovierten Straßenzügen.
Dass diese Erfolgsgeschichte reproduzierbar ist, zeigt die Nordbahntrasse in Wuppertal. Die Bürgerinnen und Bürger der Stadt haben die vergessene und zugewucherte Bahnlinie in den vergangenen 17 Jahren in eine 23 Kilometer lange Flaniermeile für Radfahrerinnen und Fußgängerinnen umgebaut. Heute verbindet der Freizeitweg im Norden der Stadt fünf Bezirke miteinander und beschert Wuppertal einen immensen Image-Wandel: von der Pleitestadt zum Radlerparadies. Seit ihrer Eröffnung haben sich entlang der Trasse Restaurants, Geschäfte und Freizeiteinrichtungen angesiedelt. Wer im Norden der Stadt lebt und arbeitet, nutzt die Flaniermeile zum Pendeln mit dem Fahrrad.
Die High Line und die Nordbahntrasse haben das Leben in den angrenzenden Vierteln verändert. Die Anwohnerinnen haben einen neuen Freiraum in Laufnähe. Menschen jeden Alters sind dort zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs und erleben gleich mehrere schöne Momente: die grüne Umgebung, die Ruhe durch den fehlenden Autoverkehr, den Blick aus der Vogelperspektive auf die umliegenden Stadtteile und immer wieder auch Kunstobjekte auf der Route. „Wenn die Bewegungsumgebung so attraktiv gestaltet ist, dann bedeutet das nicht nur, dass wir sie gerne für aktive Mobilität nutzen, sondern, dass wir uns dort auch lieber aufhalten. Das bedeutet, wir entschleunigen“, sagten Leder und Oberzaucher. Hinzu kommt: Es werden Freizeitfahrten mit dem Auto vermieden. Die Anwohnerinnen kommen zu Fuß oder per Rad zur Nordbahntrasse.
„Alles, was uns in urbanen Räumen umgibt, ist mittlerweile von Menschen gestaltet“, sagt Helmut Leder. Wir können durch eine schöne, ästhetische Gestaltung des öffentlichen Raums das Wohlbefinden der Menschen in der Stadt enorm heben. Er sagt: „Wenn wir es nicht tun, verschenken wir das eigentliche Potenzial unserer engen Städte.“


Bilder: Stefan Sagmeister, Maggie Winters, OIMD, Andrea Reidl, Friends of the High Line – Timothy Schenck, Friends of the High – Line Liz Ligon, Christa Mrozek – Wuppertalbewegung

Wer den Verkehrsraum umgestalten und neu verteilen will, begegnet meist großen Widerständen, egal ob durch die Bevölkerung oder das ortsansässige Gewerbe. Albert Herresthal, Herausgeber des Informationsdienstes Fahrradwirtschaft, sprach mit Kirsten Pfaue, Leiterin des Amts Mobilitätswende Straßen in Hamburg, darüber, wie sie in der Hansestadt Akzeptanz für ihre Maßnahmen erzeugt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Verkehrspolitik ist immer ein Konfliktfeld, denn Veränderungen gefallen nicht jedem. Wie gelingt es Ihnen, vor Ort eine möglichst breite Akzeptanz für die Umgestaltungen zu schaffen?
Die Hamburger Radverkehrsförderung haben wir einerseits durch das stadtweite Erheben und Analysieren von Daten untermauert. Wir haben in Hamburg ein dauerhaftes und automatisiertes Radverkehrszählnetz aufgebaut. Die Daten von rund 100 Messquerschnitten mit Wärmebildtechnik sind online abrufbar. Darüber können wir Entwicklungen erläutern und konkrete Maßnahmen erklären. Zahlen, Daten, Fakten schaffen Akzeptanz und Verständnis. Denn am Ende bilden sie das Verhalten der Menschen selbst ab und diese gehören als Nutzerinnen und Nutzer in den Mittelpunkt. Außerdem haben wir einen guten Maßnahmen-Mix hinbekommen zwischen Marathon, also lang andauernden Projekten wie dem Netzausbau und Sprints, also schnell umzusetzenden Maßnahmen wie der Roteinfärbung von Kreuzungsbereichen, der Umsetzung von Pop-up-Bikelanes und der Schaffung von mehr Protektion. Letztlich ist es so, dass Maßnahmen Akzeptanz haben, wenn die Menschen merken, dass sie ihre tägliche Mobilität verbessern. Durch mehr Komfort und mehr Sicherheit.

Setzen Sie Planungen auch gegen Widerstände durch oder ist die Akzeptanz der unmittelbar Betroffenen für Sie eine Voraussetzung für die Umsetzung?
Mit dem Kopf durch die Wand ist keine gute Grundhaltung und sicher nicht meine. Ich bin überzeugt davon, dass in jeder Kritik auch eine Botschaft und eine Chance stecken. Deshalb gilt es, in einem ersten Schritt ernsthaft zuzuhören, die Belange in den Prozess einzubauen und dann abzuwägen.

„Mit dem Kopf durch die Wand ist keine gute Grundhaltung.“

Kirsten Pfaue, Leiterin des Amts Mobilitätswende Straßen in Hamburg

Vielerorts kämpfen ansässige Einzelhändler um jeden Parkplatz und eine optimale Anbindung mit dem Auto. Erleben Sie das in Hamburg auch so? Welchen Weg haben Sie im Gespräch mit den Händlern gefunden, Verständnis für Ihre Planungen zu erreichen?
Wir haben uns in unserem „Hamburger Bündnis für den Rad- und Fußverkehr“ einen Grundsatz gegeben und zwischen allen Partnern abgestimmt, der heißt, dass alle Beteiligten der Information von Bürgerinnen und Bürgern, Betroffenen, Politik und Interessenverbänden in ihren Zuständigkeiten einen hohen Stellenwert einräumen. Dies insbesondere dort, wo bereits artikuliertes öffentliches Interesse, eine Verknüpfung mit anderen Planungsprozessen im Stadtteil, hoher Einzelhandels- und Gewerbebesatz, Parkplatzmangel oder viele Straßenbäume in engem Straßenraum Konflikte möglich erscheinen lassen. Hier soll stets eine Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden. Unser Ziel in Hamburg ist es, ins Gespräch zu kommen und zu verdeutlichen, welche Chancen auch für Händlerinnen und Händler durch eine bessere Radverkehrsanbindung bestehen – vor allem in Kombination mit dem ÖPNV.

Gibt es Projekte, die am Widerstand gescheitert sind, und wie gehen Sie damit um?
Natürlich ist es auch schon vorgekommen, dass wir Projekte „on hold gestellt“ oder umgeplant haben, weil es Rückmeldungen und Diskurse gab, die uns veranlasst haben, Dinge zu überdenken. Wichtig ist, sich dann nicht festzubeißen, sondern die Dinge in Ruhe mit allen Stakeholdern zu erörtern.

Welche Rolle spielen Presse und Medien für Ihre Arbeit und wie gelingt es, dass sie eine konstruktive Rolle einnehmen?
Der gesellschaftliche Konsens, dass wir eine Mobilitätswende brauchen, der ist in Hamburg da, und die Zahlen zeigen dies auch eindrucksvoll. In 2022 wurden 68 Prozent aller Wege der Bevölkerung Hamburgs mit Verkehrsmitteln des Umweltverbunds, also im ÖPNV, mit dem Fahrrad und zu Fuß, zurückgelegt. Im Vergleich zu 2017 ist dieser Anteil um 4 Prozentpunkte gestiegen. Den größten Zuwachs erreichte dabei das Fahrrad, dessen Anteil in 2022 gegenüber 2017 um sieben Prozentpunkte auf 22 Prozent angestiegen ist. Das ist enorm! Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs sank von 36 Prozent in 2017 auf 32 Prozent in 2022. Dies gibt meiner Arbeit natürlich viel Rückenwind und letztlich wissen wir doch alle, auch Presse und Medien, dass ein „einfach weiter so“ nicht geht. Auch gegenüber den Medien ist es deshalb wichtig, und dies ist unser Bestreben, transparent und klar zu erläutern, was wir warum tun. Dies hilft enorm.

Zur Person

Kirsten Pfaue hat mit dem Thema Fahrrad eine erstaunliche Karriere gemacht: Von 2010 bis 2014 war sie Landesvorsitzende des ADFC Hamburg, 2015 wurde sie Radverkehrskoordinatorin der Freien und Hansestadt Hamburg und heute leitet sie das Amt „Mobilitätswende Straßen“. Doch auch bundesweit ist Kirsten Pfaue gefragt. So wurde sie 2022 zur Vorsitzenden des Beirats Radverkehr im Bundesverkehrsministerium gewählt.
Doch Posten sind nur das eine, spannender sind die tatsächlichen Ergebnisse auf der Straße. Und hier hat Hamburg in den letzten zehn Jahren große Fortschritte gemacht, wenn auch beginnend auf sehr niedrigem Niveau (Bewertung Fahrradklimatest 2012: Schulnote 4,4). Heute findet man Velorouten und Fahrradstraßen, gerade auch an sehr prominenten Stellen, etwa entlang der Außenalster. Zwar ist Hamburg von durchgängigen Netzen für den Radverkehr noch weit entfernt, aber es ist eine konsequente Strategie erkennbar, deren Umsetzung im Vergleich zu vielen anderen Städten relativ geräuscharm erfolgt.


Bild: bvm.hamburg

Wie gelingt Radverkehrsförderung in kleineren Kommunen? Die Gemeinde Eichwalde bei Berlin lernt in einem Reallabor, wie es mit datengestützter Planung und Zusammenarbeit mit den Nachbargemeinden besser vorangeht. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Auf kommunaler Ebene steckt der Teufel oft im Detail. Beispiel: der interkommunale Radweg von Eichwalde nach Königs-Wusterhausen. Jörg Jenoch, Bürgermeister von Eichwalde, kennt die Herausforderungen: „Wenn vier Kommunen so etwas planen und jeder seinen Teil ohne Fördermittel in seinem Haushalt einstellen muss, gibt es garantiert eine Kommune, die das in dem Jahr nicht macht.“ Etwa wenn es andere Budgetpräferenzen gibt. „Deswegen haben wir gesagt: Obwohl es vier Teilstücke sind, müssen wir uns gemeinsam auf den Weg machen.“ Das heißt unter anderem: gemeinsam einen Förderantrag stellen.
Damit willkommen vor Ort im Nudafa-Reallabor. Das Kürzel steht für „Nutzerdatengestützte Planung eines integrierten Fahrradverkehrsnetzes“. Das Projekt konzentriert sich auf die Erfordernisse kleiner und mittlerer Kommunen und sucht nach innovativen Ansätzen dafür. Nudafa-Verbundkoordinator Christoph Kollert, dessen Büro gleich neben dem des Bürgermeisters liegt, sagt: „Zwei Themen stehen bei uns im Fokus: Welche Rolle kann interkommunale Kooperation spielen? Der andere Aspekt ist, wie frei verfügbare OSM-Daten genutzt werden können, um Planungsprozesse mit digitalen Tools zu unterstützen.“

Erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit mittels Beteiligungsteppich. Die begehbare Karte zeigt die lokale Infrastruktur und lädt zur Diskussion.

Mit Radverkehrsdaten planen und überzeugen

Bei den Planungstools steht der Radverkehrsatlas im Mittelpunkt. Entwickelt wurde er von von FixMyCity. Mithilfe automatisierter OSM-Daten stellt er die Informationen und Karten für ein mögliches Zielnetz bereit. Besonders hilfreich für Kommunen, die sich erst auf den Weg begeben, ein Radverkehrskonzept zu entwickeln. Kollert erklärt: „Anders als in den Städten hat nicht jede Gemeinde 50.000 Euro für ein Fachplanungsbüro. Die Daten werden von Bürgern gesammelt. Man kann sie aktualisieren und anpassen. Und wir haben ein Tool, das diese Daten automatisiert auswertet. So hat man eine kostengünstigere Grundlage, vernünftig über ein Zielnetz zu diskutieren.“
Denn mit den kuratierten Karten lässt sich das komplexe Thema Radverkehrsplanung rasch für Fachfremde herunterbrechen. So wird ein lokaler Radnetzvorschlag problemlos an die Wand projiziert. Im Hintergrund wird die bestehende Infrastruktur angezeigt. Es kann über Details wie Kopfsteinpflaster oder geeignete Nebenstraßen gesprochen werden. „So treffen wir uns mit der Nachbarkommune, dem Bürgermeister, der Verwaltung. Oder mit den aktiven Bürgern“, sagt Kollert. Zugleich verbindet er den neuen Radverkehrsatlas mit der Hoffnung, von der teils hitzigen „Ihr-Wir“-Diskussion unter Verkehrsteilnehmenden wegzukommen. Zum Beispiel, wenn es um Ideen geht, die Bahnhofsstraße in Eichwalde fahrradfreundlich umzugestalten. „Es gibt mehr Platz. Die Läden können etwas rausstellen. Dabei sprechen wir über Stadtmöbel und eine Vermarktungsstrategie. Dann ist es nicht mehr Radfahrer gegen Auto, sondern eine Placemaking-Diskussion: Wie können wir unser Umfeld schöner machen?“

„ (…) Dann ist es nicht mehr Radfahrer gegen Auto, sondern eine Placemaking-Diskussion: Wie können wir unser Umfeld schöner machen?“

Christoph Kollert, Nudafa-Verbundkoordinator

Nudafa-Verbundkoordinator Christoph Kollert (links) und der Eichwalder Bürgermeister Jörg Jenoch (rechts) arbeiten gemeinsam im Reallabor für interkommunale Zusammenarbeit.

Ressourcen Geld, Mensch und Vertrauen

Technische Lösungen allein sind keine hinreichenden Erfolgsfaktoren für kleinere Kommunen. So wird das Nudafa-Projekt zu 100 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) über den Wettbewerb „MobilitätsWerkStadt 2025“ gefördert, flankiert von der Forschung der TU Berlin und TH Wildau. Insgesamt wurden 1,2 Millionen Euro für die ersten beiden Projekt-Phasen verteilt. Bürgermeister Jenoch betont: „Wir sind keine arme Gemeinde. Aber Kommunen im ländlichen Raum hätten sonst keine Chance, an so etwas teilzunehmen. Die können den Eigenanteil nicht aufbringen. Bekommen wir keine Mittel, begeben wir uns in den politischen Prozess, obwohl noch nichts entstanden ist. In der dritten Phase des Projekts sollen wir selbst etwas dazu beitragen. Aber da haben wir vorher Erfolge produziert. Dann heißt es: Wir haben das eingeworben, die restlichen Mittel haben wir auch noch.“
Der Nudafa-Koordinator ergänzt: „Weil Daten keine Radinfrastruktur bauen, sondern Menschen, Verwaltungen und Geldmittel, müssen wir uns viel breiter aufstellen.“ So wurde auch die Vollzeitstelle für den interkommunalen Radverkehrsmanager möglich, der die Projekte vor Ort vorantreibt. Bürgermeister Jörg Jenoch nennt ihn „unser wirklich existentes Reallabor“. Für erfolgreiche interkommunale Kooperationen reicht eine Stellenbeschreibung aber nicht aus. Vielmehr handelt es sich um eine Gemeinschaftsaufgabe. Kollert: „Unser Radverkehrsmanager macht als Fachplaner die Vergabeverfahren auf der Arbeitsebene. Als Verbundkoordination mache ich viel Vermittlungsarbeit. Manchmal kommen wir nicht weiter, ohne dass Herr Jenoch den Nachbarbürgermeister anruft.“
Neben Finanz- und Personalressourcen kommt bei der Zusammenarbeit mit den Nachbarkommunen ein weiterer Aspekt hinzu. „Es hat ganz viel mit Vertrauen zu tun“, findet der Bürgermeister. „Wir haben teilweise schon Verantwortung abgegeben, weil wir eine gemeinsame Vergabestelle haben. Dann ist der Kollege in Zeuthen dafür zuständig. Macht der in Schulzendorf genauso viel Radverkehrsförderung wie in Eichwalde? Das ist immer wieder schwer zu verstetigen. Dafür braucht es eine Übereinkunft.“

Konkrete und übertragbare Nudafa-Projekte wie der VBB-Modulbaukasten für ein Fahrradparkhaus sparen anderen Kommunen Zeit und Geld.

Ein Fahrradparkhaus als übertragbares Modell

Zu den Learnings gehört auch, wie man mit konkreten und vorzeigbaren Modellen überzeugt. Kollert: „Wir haben gesehen, die Kommunen brauchen etwas, wo man hingehen kann und sagen: So sieht das aus, so hoch ist das und so funktioniert das.“
In Eichwalde hat man im Rahmen von Nudafa eine Reihe konkreter Projekte angestoßen: vom Lastenrad über den interkommunalen Fahrradweg, einer begehbaren Karte für die Öffentlichkeitsarbeit („Beteiligungsteppich“) bis hin zur Dienstradleasing-Praxis. Als Paradebeispiel für die Übertragbarkeit könnte das modulare Fahrradparkhaus stehen. Es soll auf beiden Seiten des Bahnhofs Platz für jeweils 360 Stellplätze bieten. Gemeinsam mit dem Verkehrsverbund Berlin Brandenburg (VBB) und dem Planungsbüro Bahnstadt ist ein Baukastensystem mit durchgängigem Dach geplant. Nach dem erfolgreichen Bau soll eine Typengenehmigung beim Land Brandenburg beantragt werden. So muss nicht jede Kommune neu prüfen, ob ihr Vorhaben statisch genehmigungsfähig ist. Andere Gemeinden könnten nicht nur technisch das Eichwalder Parkhausmodell übernehmen. Mit dem vereinfachten Genehmigungsverfahren und Rahmenvertrag sparen sie ebenso Zeit und Geld.

Stärkung der Akteure vor Ort

Ob Parkhaus oder Beteiligungsteppich: Wichtig ist, dass der Funke auf die Nachbarkommunen überspringt. Denn dass die Verkehrswende zuerst über ethische und moralische Argumente funktioniert, daran glaubt Kollert nicht. Es muss anfassbar sein: „Und dann muss man die Antwort parat haben für die Leute, wenn sie es machen wollen.“ Sprich: die Akteure und Akteurinnen.
Die wissenschaftliche Begleitforschung des Nudafa-Projekts sorgt für eine qualitative Prozessanalyse und Akteurskartierung. Dabei schaut man, wer vor Ort aktiv ist und wertet das aus für Hemmnisse und Potenziale. „Am Anfang lag der Fokus noch auf der Bevölkerung“, erläutert Kollert. „Irgendwann haben wir gesagt: Wir werfen den Blick auf die Radverkehrsfördernden. Auf uns, den ADFC oder einzelne Personen, die Lastenräder pushen. So gibt es Leute, die sind auf Landkreisebene vernetzt und sorgen dafür, dass auch Planungskosten förderfähig sind. Jeder Tiefbaubearbeiter, der das nebenbei on top macht, ist ein Radverkehrsfördernder. Auch das haben wir gelernt: Wenn wir wirklich eine Radinfrastruktur und den strukturellen Wandel wollen, müssen wir die Leute in den Fokus nehmen, die das machen.“
So ist das Reallabor ein willkommener Anlass, die Akteure zu vernetzen und mit Ressourcen zu unterstützen. Herr Kollert weist darauf hin, dass das Engagement der zentralen Akteur*innen sind gut und richtig. Aber wir müssen es schaffen, dass die Radverkehrsfördernden vor Ort besser zusammenkommen, in weniger Zeit effektiver Arbeiten können. Und dass sie Spaß haben und die Erfolge sehen.“ Dafür setzt man einen Rahmen. Kollert: „Es hilft zu sagen, wir sind ein Reallabor. Wir machen innovative Dinge, werden gefördert und haben den Auftrag, das zu probieren. Wir haben sogar die Erlaubnis, scheitern zu dürfen.“

Der Radverkehrsatlas liefert die aktuellen Infrastrukturdaten, die Kommunen für ihre Verkehrsplanung brauchen. Die Darstellung nach Themenkarten hilft auch Laien beim Verständnis der Planungsvorhaben.

Von der Implementierung zum Wissenstransfer

Neben der Umsetzung des erarbeiteten Radnetzes vor Ort ist das Ziel des Nudafa-Projekts die Übertragbarkeit der durchgeführten Maßnahmen. Am Ende sollen konkrete Steckbriefe und Leitfäden formuliert werden, wie sich Prozesse der interkommunalen Radverkehrsförderung optimieren lassen. Und eine Art Cookbook für das Planungstool wie sonst in der IT-Branche üblich. „Darin steht relativ knapp: Das brauche ich, das kostet das“, erläutert der Verbundkoordinator. „So etwas fehlt ganz oft: Beschreiben, wie man es umsetzt. Und idealerweise ein Leistungsverzeichnis.“
Weniger die Idee von Reallaboren soll „übertragbar aufbereitet“ werden, sondern deren Erkenntnisse. Kollert nennt einige konkrete Beispiele, die überall funktionieren können: „Ein Dienstradleasing kann man sehr einfach und schnell mit einer einstufigen Vergabeverhandlung mit Online-Bietern besprechen. Überlegt euch eine Rahmenvereinbarung für Abstellanlagen. Meldet euch beim VBB, die helfen euch beim Fahrradparkhaus. Macht eine gemeinsame Radtour mit den Akteuren. Wollen wir den Radverkehr in die Fläche bringen, brauchen wir solche umsetzungsorientierten Lösungen. Wis-senstransfer ist immer, dass man Erfolg sieht. Das ist die Antwort, die wir für die Radverkehrswende brauchen.“
Wo Wissenschaft oft sehr systemisch arbeiten muss, ist es für die Umsetzung schließlich wichtig, das Projekt aus Sicht einer Kommune aufzubereiten. Sonst kann es zum Problem werden, etwa wenn ein Transfer von Externen eingeleitet wird, die nicht die Verwaltungsbedürfnisse kennen. Die Nudafa-Experten aus Eichwalde kennen diese Perspektive genau. Schon jetzt bieten sie anderen Kommunen ausdrücklich ihre Hilfe an und schauen sich die spezifische Situation gern vor Ort an.

„Wir können die Radnetzplanung vereinfachen“

Interview mit Heiko Rintelen

Herr Rintelen, wozu brauchen Kommunen einen Radverkehrsatlas?
Die meisten Kommunen besitzen keine guten Daten zu ihrer eigenen Radinfrastruktur. Punktuelle Daten wie aus Zählungen sind oft veraltet, nicht vollständig und nach diversen Standards verfasst. Meist ist ein Ingenieurbüro losgelaufen und hat das irgendwann erfasst. Deshalb haben wir für das Nudafa-Projekt wesentliche Daten aus Open Street Map schrittweise in automatisierte Prozesse überführt. Die Ergebnisse stellen wir in einer Online-Plattform dar. Damit können wir die klassischen Schritte der Radnetzplanung vereinfachen.

Wie funktioniert das genau?
Da läuft eine Software mit einem Algorithmus durch, der sagt: Ich hätte gerne folgende Daten in einem bestimmten Gebiet. Aber nur zum Beispiel die „Points of Interest“, etwa die Einkaufsmöglichkeiten. Dann nimmt der sich noch die Ortsnamen und Einwohnerzahlen. Wir haben zusätzlich die Möglichkeit, Gebäude mit reinzuholen, die Barrieren wie Autobahnen, Eisenbahntrassen und Gewässer. Damit kann man die erste Quell- und Zielgeschichte bestimmen. Teilweise werden die Daten in einer Weise prozessiert, wo wir unterschiedliche Führungsformen zusammenführen – getrennt nach Mischverkehr. Das ist für die konkrete Radnetzplanung eine wichtige Unterstützung, um zu schauen, wo muss ich was machen. Ich habe hier eine Hauptstraße, da will ich vielleicht einen getrennten Radweg haben. Wir können sehen, wo es einen gemeinsamen straßenbegleitenden Geh- und Radweg gibt. Selbst die beidseitige Ausrichtung prozessieren wir. Außerdem haben wir in dem Atlas eine Prüffunktion, die ich abhaken kann unter der Frage: Stimmen diese Daten? Dann kann ich sie amtlich machen. Und ich kann alle paar Monate Änderungen nachverfolgen.

Welche Rückmeldungen bekommt das Projekt?
Die erste Rückmeldung ist immer: Super, dass wir endlich Daten haben! Und zwar auf einer Website, die intern von mehreren Personen genutzt werden kann. Aber auch: Erst jetzt haben wir gesehen, dass es kein Tempo 30 vor der Schule gibt. Hier fahren die ganzen Schüler lang, aber es gibt keinen Radweg. Da fühlen sie sich unsicher. Dort gibt es sogar Unfälle. Planerisch ist die Schulwegkarte vielleicht nicht so wichtig. Für die politische Überzeugungsarbeit jedoch schon. So hat man einen schnellen Effekt, über den man nicht lange diskutieren muss.

Wie geht es weiter?
Nudafa war sozusagen das Pilotprojekt. Das wird wahrscheinlich fortgeführt. Mittlerweile haben wir den Radverkehrsatlas neben der Gemeinde Eichwalde schon mit anderen Kommunen genutzt. Darunter in Bietigheim-Bissingen, Amt Treptower-Tollensewinkel oder Amt Woldegk. Den Radverkehrsatlas kann man unabhängig von Nudafa deutschlandweit nutzen. Es gibt eine Marketingseite, dort kann man sich auf die Warteliste setzen lassen. Wenn die Open-Beta-Version fertig ist, werden wir alle Interessenten anschreiben und freischalten. Das geht in wenigen Tagen. 


Bilder: Gemeinde Eichwalde, Planungsbüro BahnStadt, FixMyCity

Berlin hat eine neue Regierung. Die ersten Amtshandlungen der neuen Verkehrssenatorin brachten Radaktivist*innen in Aufruhr. Was steckt dahinter – und was ist zu erwarten? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Die Aufregung in der Hauptstadt vor den Sommerferien war enorm. „Die neue Senatorin entpuppt sich als Autoverkehrssenatorin, die zwar ‚Miteinander‘ propagiert, während ihr Herz aber eindeutig für die autogerechte Stadt schlägt“, kommentierte Ragnhild Sørensen die Aktivitäten der neuen Berliner Senatsverwaltung. Nicht nur die Sprecherin vom Verein Changing Cities, der seinerzeit den Volksentscheid zum Fahrradverkehr vorangetrieben hatte, Tausende waren in Berlin innerhalb weniger Tage mobilisiert worden und protestierten gegen den vermeintlichen Autopopulismus des neuen schwarz-roten Senats. Ende Juni feuerte Changing Cities aus vollem Rohr: „Verkehrssenatorin wickelt das Mobilitätsgesetz ab“, stand über einer Pressemitteilung. Die Medien der Hauptstadt berichteten über „mögliche Kürzungen beim Radverkehr“.

Neue Senatorin lässt Maßnahmen ruhen

Der konkrete Anlass für den Aufruhr war ein Verwaltungsvorgang, den selbst politische Widersacher der neuen Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) für eine legitime Maßnahme halten. Die Politikerin hatte am 16. Juni angekündigt, dass alle von der rot-grün-roten Vorgängerregierung beschlossenen Radwege-Bauprojekte überprüft würden. Während Schreiner von vornherein von einem „Ruhen“ der Maßnahmen und einer „Priorisierung“ mit dem Ziel eines funktionierenden Verkehrsmixes sprach, wähnten Vertreterinnen des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) ebenso wie grüne Politikerinnen in den Berliner Bezirken einen möglichen „Stopp“ des Radwege-Ausbaus. Der ADFC sah die Gefahr, dass „bewusst Politik gegen die Radfahrer“ gemacht werde.

Freigabe nach Check durch die „Task Force“

Faktisch war Folgendes geschehen: Senatorin Schreiner hatte mit ihrer Verwaltung 19 Radwege-Baumaßnahmen überprüft, die noch von der alten Regierung beschlossen worden und in den folgenden drei Monaten für die Umsetzung vorgesehen waren. Eine „Task Force“ im Verkehrssenat hatte die Aufgabe, diese Projekte zu prüfen. Wer genau sich hinter dieser „Task Force“ verbarg, beantwortet die Pressestelle des Verkehrssenats wie folgt: „Die Task Force ist eine kleine agile Einheit, die sich aus Expertinnen und Experten der Radwegeverkehrsplanung zusammensetzt. Die Gruppe prüft und plant ideologiefrei Radwege in der ganzen Stadt. Sie wird dies auch weiterhin machen.“ Die Ergebnisse kamen in den folgenden Wochen Stück für Stück an die Öffentlichkeit, in der längst eine Negativberichterstattung hohe Wellen schlug. Mit drei Ausnahmen gab die Senatorin schließlich die geplanten Vorhaben und die Finanzmittelzusagen wieder frei. Viel Lärm um nichts also? Stefan Gelbhaar, direkt gewähltes Bundestagsmitglied für Bündnis 90/Die Grünen im Bezirk Berlin-Pankow und Radpolitik-Vordenker, ordnet das Handwerk ein: „Wie das kommunikativ in die Wege geleitet wurde, wie an die Bezirke gegangen wurde, was die Bezirke teilweise daraus gemacht haben, das war jetzt nicht nur kommunikativ, sondern auch politisch: einfach sehr schlechte Governance.“

„Die Verkehrswende will keiner stoppen, auch nicht die Senatorin.“

Andreas Knie
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wahlkampfthema: „Politik gegen Autofahrer“

Die jüngste Eskalation zwischen Verkehrsaktivistinnen, Vertreterinnen der Bündnis-Grünen und der CDU-Senatsverwaltung geschah vor dem Hintergrund einer verankerten politischen Auseinandersetzung. Ein dankbares Wahlkampfthema für die CDU war die vermeintliche Ideologie, mit der wiederum die Grünen in der alten Regierung Mobilitätspolitik betrieben hätten. Das Motiv der leidenden Autofahrer schwang in Berlin ständig mit. Nach der Wahl sagte der neue Regierende Bürgermeister Kai Wegner, die Mehrheit in seiner Stadt sei es leid gewesen, dass laufend Politik gegen Autofahrer gemacht werde. „Dafür stehe ich nicht zur Verfügung.“ Allerdings kann kaum die Rede davon sein, dass Wegner mit einem harten Autofahrer-Wahlkampf agiert hätte, sagen die politischen Beobachter. „Die Grünen hätten im Mobilitätswahlkampf stärker und überzeugter auftreten können. So musste die CDU nicht einmal einen harten Auto-Wahlkampf machen“, sagt etwa Heinrich Strößenreuther, Radverkehrsaktivist mit CDU-Parteibuch. Auch Andreas Knie, Mobilitätsforscher beim Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, hielt die Aufregung für übertrieben. „Kontroversen werden schon mal gerne künstlich herbeigeschafft“, sagt Knie, „die große Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner weiß um die Situation, weiß um die Probleme mit versiegelten Flächen und dem Verkehr.“ Daher ist der Forscher sicher: „Um es klar zu sagen: Die Verkehrswende kann man gar nicht mehr stoppen und die will auch keiner stoppen, auch nicht die Senatorin.“

Gewachsene Unzufriedenheit trifft neuen Senat

Mit einem etwas distanzierteren Blick auf die Vorgänge des Sommers tritt ein spannendes Muster zutage. Eine neue, eher konservative, Regierung tritt das Erbe jener Politiker an, die wiederum vor einigen Jahren stark vom Erfolg der Radverkehrs-aktivistinnen angetrieben worden waren. Die Baumaßnahmen in der Hauptstadt haben auch überregional Aufsehen erregt. 130 Kilometer hatte die Vorgängerregierung nach Berechnungen von „Changing Citites“ als neue Radwege ausgewiesen, das war deutlich weniger als eigentlich angestrebt. „Außerdem war das sehr großzügig gerechnet und oftmals nicht in der Qualität, wie sie im Berliner Mobilitätsgesetz gefordert wird“, urteilt Strößenreuther. Aus seiner Sicht war der Protest, der sich nun im Sommer gegen die neuen Verant-wortungsträgerinnen entlud, länger schon gewachsen. „Der Boden für den Widerstand gegen die Verkehrssenatorin ist sehr fruchtbar“, sagt Strößenreuther, „denn die Unzufriedenheit hat sich bereits mit der rot-grün-roten Regierung aufgestaut, kann sich aber jetzt eher entladen, da die eigene Klientelpartei nicht mehr in der Regierung ist.“

Auch nach sechs Jahren rot-grün-rotem Senat gibt es in Berlin beim Radverkehrsausbau noch viel zu tun. Die Berliner Verwaltungsstruktur mit viel Entscheidungskompetenz in den Bezirken macht den Weg dabei nicht einfacher, sagen Beobachter.

„Ideale Voraussetzungen für Aktivisten“

Was das bedeutet, war in Berlin gut zu erkennen in den vergangenen Wochen. Fahrradvertreterinnen und Politikerinnen der Grünen gingen in Alarmismus über. Auch die SPD, Regierungspartnerin der CDU, schloss sich öffentlich dem Widerstand gegen vermeintliche Sparmaßnahmen beim Radverkehr an. So erbte Senatorin Schreiner einerseits den Frust, andererseits hat sie eine besonders aufmerksame Community um sich herum. „Als Aktivist“ sei er erstaunt gewesen, „dass das Mobilitätsgesetz so schnell und so stark auf der Agenda war, wie nur ein kleiner Funke eine verkehrspolitische Explosion entzündet – das sind optimale Voraussetzungen, um miteinander das Thema Verkehrswende voranzutreiben, den sonst bleiben alle in ihren Schützengräben“, sagt Strößenreuther.
Grünen-Abgeordneter Gelbhaar sieht die kritische Masse als wichtige Rahmenbedingung. Anderthalb Wochen nach der Bekanntgabe des Moratoriums für die Radwege habe es einen zwölf Kilometer langen Demonstrationszug von Radfahrenden gegeben. „Das ging sehr schnell“, sagt Gelbhaar: „Das hat CDU und SPD im Senat beeindruckt und richtigerweise aufgeschreckt.“ So lässt sich bislang auch zumindest in den Äußerungen der Politikerin Schreiner keinesfalls eine Abkehr vom Radwegeausbau erkennen. „Der neue Senat hat ein ganz klares Ziel: Mehr Radwegekilometer zu bauen als die Vorgängerregierung“, heißt es aus der Pressestelle des Verkehrssenats.

Was hinterließ der alte Senat?

Mobilitätsforscher Andreas Knie hat sich selbst ein Bild gemacht. Er urteilt positiv: „Die Senatorin will es richtig machen. Und da muss man auch tatsächlich selbstkritisch sagen, dass die bisherige Regierung im Kampf um diese Gebiete, im Kampf um die ersten Meter das eine oder andere Stückwerk hinterlassen hat.“ Am Plan, ist Knie sicher, werde nicht gerüttelt. Tatsache ist, dass die alte Regierung den Prozess zwar vorangetrieben hat, die Maßnahmen aber teilweise sehr schleppend vorankamen. Gelbhaar verteidigt hingegen die Arbeit der Vorgängerregierung. Auf Bezirks-ebene hätten vor sechs Jahren die Straßenbau-Fachleute den Radverkehr „mitgemacht“, auf Landesebene habe es „anderthalb Leute für ganz Berlin“ gegeben. „Das hat sich geändert. In jedem Bezirk gibt es Menschen, die für den Radverkehr zuständig sind. In der Senatsverwaltung ist eine ganze Abteilung aufgebaut worden.“
Heinrich Strößenreuther sieht eine Verwaltungsbeschleunigung als elementar an. Die Lage habe sich schon mit der neuen Staatssekretärin unter der Vorgängerregierung verbessert, nun sei mit Claudia Elif Stutz eine Fachfrau und erfahrene Beamtin aus dem Bundesverkehrsministerium in den Senat gewechselt. Wichtig: Elif Stutz fahre selbst ganzjährig Rad, sagt Strößenreuther. Die von Rot-Grün-Rot geschaffenen personellen Kompetenzen, etwa 80 Personen, reichten zwar eigentlich nicht aus, glaubt Strößenreuther. Aber es sei eben eine Beschleunigung der Verwaltungsarbeit relevant, um das Thema voranzutreiben.

„Für die Verkehrswende muss beständig nachgelegt werden. “

Stefan Gelbhaar
Bündnis 90/Die Grünen

Sorge vor Veröden der Radpolitik

Grünen-Radpolitiker Stefan Gelbhaar hingegen ist in Sorge. Klar könne man jetzt nicht offen gegen die Radverkehrspolitik agieren. „Nach diesen Vorgängen steht im Raum, dass die Abteilung eben politisch abgeschnitten wird, dass sie langsam verödet, relevante Entscheidungen nicht getroffen oder verzögert werden.“ Seine Sorge: Bei den Haushaltsberatungen könnte die neue Regierung eher Budgets für Großprojekte freiräumen, etwa den U-Bahn- und Straßenbau. „Dann fehlen Geld und Personal bei realistischen Projekten in Sachen Straßenbahn und Fahrrad.“ Er befürchtet, dass sich zwar auf dem Papier zunächst nichts ändern werde, aber die Priorität des Radverkehrs nach unten rücke. „Die Frage ist: Kommen weiter viele neue Projekte dazu oder wird das Thema entschleunigt? Derzeit sehen wir nur Projekte, die von der alten Regierung noch auf den Weg gebracht wurden. Für die Verkehrswende muss allerdings beständig nachgelegt werden.“

Senat „will“ Budget auch nutzen

Die neue Regierung kündigt an, dass sie nicht nur Gelder für den Radverkehr im Haushalt einstellen wolle (29,32 Mio. Euro 2024, 29,81 Mio. Euro 2025), sondern anders als die Vorgängerregierung diese Mittel auch tatsächlich ausgeben „will“. Dies ist ein bekanntes Problem ineffizienter, aber ambitionierter Politik. Und hier setzen die Beobachter auf die Kraft der neuen Führung. Für Heinrich Strößenreuther wird es besonders wichtig sein, an die S-Bahn-Stationen auch qualitativ hochwertige Bike-and-Ride-Anlagen zu bauen und gefährliche Kreuzungen zu entschärfen. Hier stockte der Fortschritt zuletzt. Forscher Andreas Knie weist auf ein spezifisches Thema der Hauptstadt hin: In Berlin kümmern sich abseits der großen Straßen die Bezirke um den Straßenbau. „Es bräuchte ein Landestiefbauamt, wo der Senat nicht nur anordnet, sondern auch baut – oder wo die Bezirke Anträge stellen können.“ Eine Verwaltungsreform wäre seiner Ansicht nach also geboten, um dem Radverkehr nachhaltig Schub zu verleihen.

„Verkehrsbuch ohne Autohass“

Radverkehrs-Aktivist Heinrich Strößenreuther schreibt derzeit gemeinsam mit Michael Bukowski und Justus Hagel ein neues Buch, das die nachhaltige Stadtentwicklung inspirieren soll und dabei das „Gegeneinander“ durch „Miteinander“ ersetzen soll. „Das Verkehrsbuch ohne Autohass – wie wir alle den Kulturkampf um die Straßen gewinnen“ heißt das Projekt, für das seit Anfang August auf der Crowdfunding-Plattform Startnext Geld gesammelt wird. Strößenreuther kündigt gegenüber VELOPLAN an, dass das Buch auf jeden Fall veröffentlicht werde. Mit dem Crowdfunding möchten die Autoren auch Aufmerksamkeit darauf lenken, dass „Verkehrsfrieden“ geschafft werde.

https://www.startnext.com/verkehrsbuch-ohne-autohass/blog/beitrag/crowdfunding-ohneautohass-super-angelaufen-p102201.html


Bilder: stock.adobe.com – Tobias Seeliger, Stefan Gelbhaar, Albert Herresthal, stock.adobe.com – Marco