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Damit die Verkehrswende Fahrt aufnehmen kann, braucht nicht nur der Radverkehr deutlich mehr Platz auf der Straße. Hamburg will künftig mit 10.000 selbstfahrenden Shuttle-Diensten den privaten Autobesitz überflüssig machen. Aber noch ist das autonome Fahren längst nicht alltagstauglich. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Der Holon Mover (oben) soll in einigen Jahren als autonom fahrendes Shuttle durch die Straßen Hamburgs fahren. Den Fahrgästen wird mehr Komfort versprochen. Etwa mit besseren Sitzen wie im Moia-Taxi (unten).

Die Zahlen der neuesten Mobilitätserhebung klingen vielversprechend: In Hamburg fahren die Menschen weniger Auto. Im Jahr 2022 wurden 5 Millionen weniger Pkw-Kilometer gezählt als noch 2017. Im selben Zeitraum wuchs der Radverkehr: Rund 2 Millionen mehr Kilometer ist Hamburgs Bevölkerung im selben Vergleichszeitraum geradelt. Das hört sich nach viel an, jedoch ist im Stadtverkehr davon bislang kaum etwas zu spüren. Auf den Hauptrouten und an den Verkehrsknotenpunkten sind zwar mehr Radfahrerinnen unterwegs, aber auch dort bestimmen die Kraftfahrzeuge weiterhin das Stadtbild. Zum Beispiel am Dammtorbahnhof. Hier rauschen die Pkw permanent an den Radelnden vorbei, während die neuen Radwege und Aufstellflächen, kaum gebaut, schon wieder zu schmal sind für die vielen Fahrradfahrenden. Szenen wie am Dammtorbahnhof gibt es überall in Hamburg. Bis 2030 will der Hamburger Senat das Kräfteverhältnis auf den Straßen ändern. Dann sollen nur noch 20 Prozent der Wege mit dem Auto zurückgelegt werden, 12 Prozent weniger als zurzeit, und der Anteil des Radverkehrs soll im besten Fall auf 30 Prozent steigen. Die Ziele sind ehrgeizig. Um sie zu erreichen, setzt Hamburg auf ein neues Verkehrskonzept, den Hamburg-Takt. Damit soll der Umweltverbund – also der Bus-, Bahn- Rad- und Fußverkehr sowie das Sharing – so attraktiv werden, dass der eigene Wagen zunehmend überflüssig wird. Mit dem Hamburg-Takt gibt der Senat seinen Bürgerinnen ein Versprechen. Im Jahr 2030 sollen sie rund um die Uhr unabhängig vom Wohnort innerhalb von fünf Minuten das Mobilitätsangebot erreichen, das zu ihrer jeweiligen Lebenssituation passt. Das kann ein Car-Sharing-Auto für die Fahrt ins Grüne sein, ein Leihrad oder ein E-Scooter für die Fahrt zur U-Bahnstation oder eine neue Bus- oder Bahnhaltestelle, die zu Fuß in fünf Minuten erreichbar ist. Damit das klappt, wird der ÖPNV in der Hansestadt in den kommenden Jahren drastisch ausgebaut. Der Takt einiger U- und S-Bahn-Linien soll mithilfe der Digitalisierung auf einen 100-Sekunden-Rhythmus erhöht werden, einige Züge und Bahnsteige werden verlängert, damit mehr Menschen in einem Zug Platz finden, und außerdem werden neue Bahnlinien gebaut. Die wichtigste Stellschraube, um den Privatwagen zu ersetzten, soll in dem Mobilitätsmix aber ein komplett neues Angebot auf der letzten Meile werden.

„Autonome Autos müssen besser sein als menschliche Fahrer, bevor sie im Stadtverkehr eingesetzt werden.“

Philipp Kosok, Verkehrsforscher bei der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Berlin.

10.000 autonome Shuttle-Dienste

Die letzte Meile ist der neuralgische Punkt im Hamburg-Takt. Diese Lücke im ÖPNV-Angebot will der Senat bis 2030 mit autonomen On-Demand-Angeboten schließen. 10.000 selbstfahrende Robotaxis und Shuttle-Busse sollen dann im gesamten Stadtgebiet unterwegs sein und den Privatwagen überflüssig machen. Bei Bedarf sollen sie die Kunden abholen und zum gewünschten Ziel bringen. Im Prinzip funktionieren sie wie Sammeltaxis, nur orientieren sie sich preislich eher am ÖPNV.
Der Kopf und Treiber des Projekts der autonomen Shuttle-Dienste ist der Chef der Hochbahn, Henrik Falk. Er ist überzeugt, dass der Ausbau von Bussen und Bahn allein nicht ausreicht für die Mobilitätswende. „Selbst, wenn wir den ÖPNV bis zum Erbrechen ausbauen“, sagte er beim Stadtgespräch der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Hamburg, sei das System zu starr und unflexibel, um Autobesitzerinnen davon zu überzeugen, dass ihr Privatwagen überflüssig ist. Autonome Taxis und die neuen selbstfahrenden Shuttle-Busse hingegen seien flexibel und deutlich komfortabler als Bus oder S-Bahn und damit attraktiver für viele Autofahrerinnen. Sie könnten die Lücke zwischen ÖPNV und Privatwagen schließen.

Mit dem Robotaxi durch San Francisco

Aber ist die Technik fürs autonome Fahren überhaupt schon ausgereift? Aus Falks Sicht ja. Im Sommer war er auf Delegationsreise in San Francisco. Dort sind bereits Robotaxis unterwegs und Falk ist mitgefahren. „Die Technologie ist da“, sagt er. Die Software kutschierte ihn sicher durch den Stadtverkehr, beachtete Ampeln, bog mal nach rechts, mal nach links ab und das alles so sicher, dass sich der Hochbahn-Chef nach wenigen Minuten langweilte. Jetzt gehe es darum, der Technologie die „edge cases“ auszumerzen. Also die Grenzfälle zu finden, die vielen Situationen außerhalb der Norm, die zu Fehlern führen im Alltagsbetrieb. Dass die alles andere als trivial sind, zeigt ebenfalls der Blick nach San Francisco.
Seit Mitte August durften „Cruise“ von General Motors und der Google-Ableger Waymo in der kalifornischen Hafenstadt mit ihren Robotaxis rund um die Uhr einen kostenpflichtigen Taxiservice anbieten, ohne Operator an Bord. Die Entscheidung war umstritten. Den Vertreterinnen der Stadtregierung, den Rettungskräften und den Mitarbeiterinnen der Verkehrsbetriebe war das zu früh. Immer wieder hatten sie erlebt, dass technische Probleme die Fahrzeuge lahmlegten und den Verkehr blockierten. Wenige Tage nach der Einführung blieben dann auch gleich mehrere Cruise-Fahrzeuge liegen. Ein großes Musikfestival hatte das Mobilfunknetz in dem Stadtteil überlastet, weshalb die Fahrzeuge nicht per Funk umgeleitet werden konnten. Sie blieben stehen und blockierten die Straßen, ein weiteres Fahrzeug blieb im nassen Beton stecken.

Ein fahrerloses Auto der Robotaxi-Firma Cruise fährt im August durch die Straßen von San Francisco. Damit ist es vorerst vorbei.

Fehlerhafte Technik hat schwerwiegende Folgen

Das klingt noch nach Kinderkrankheiten. Doch im Oktober verletzte allerdings ein Cruise-Fahrzeug eine Frau schwer. Dem Unfallbericht zufolge wurde die Fußgängerin zunächst von einem von Menschen gesteuerten Fahrzeug angefahren und vor das selbstfahrende Auto geschleudert. Das Robotaxi blieb zwar sofort stehen, versuchte dann aber, an den Straßenrand zu fahren. Dabei sei die Frau einige Meter mitgeschleppt worden. Die kalifornische Verkehrsbehörde DMV hat der General-Motors-Tochter umgehend verboten, fahrerlose Taxis durch die Stadt zu schicken. Seitdem muss in den Fahrzeugen wieder ein Mensch am Steuer sitzen, der im Notfall eingreifen kann. Die Waymo-Fahrzeuge dürfen weiter fahrerlos durch San Francisco fahren.
„Autonome Autos müssen besser sein als menschliche Fahrer, bevor sie im Stadtverkehr eingesetzt werden und bevor die Gesellschaft die Technik akzeptiert“, sagt Philipp Kosok, Verkehrsforscher bei der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Berlin. Aktuell sei die Technik noch in der Entwicklungsphase, sie funktioniere nicht fehlerfrei. In der jetzigen Phase müssten die Fahrzeuge jede einzelne Sondersituation erlernen. Das heißt: Sie muss programmiert werden. „In der Regel überschätzen die selbstfahrenden Autos die Gefahren. Sie sind übervorsichtig, bleiben stehen, wenn eine Plastiktüte über die Straße weht, und blockieren den Verkehr“, sagt Kosok.

„Wir brauchen Radwege für eine Fahrradstadt.“

Anjes Tjarks
Senator für Verkehr und Mobilitätswende

Shuttlebusse auf festgelegten Routen

Er rechnet damit, dass die ersten selbstfahrenden Fahrzeuge in vier bis fünf Jahren in Deutschland zugelassen werden. „Aktuell gibt es noch kein Fahrzeug, das eine uneingeschränkte Zulassung fürs autonome Fahren auf deutschen Straßen hat“, sagt der Verkehrsforscher. Die rechtliche Grundlage sei aber bereits vorhanden. Im Jahr 2021 hat die Bundesregierung autonomes Fahren auf Level-4-Niveau erlaubt. Das heißt, dass kleine autonome Shuttle-Busse auf genau festgelegten Strecken oder in vorgegebenen Betriebsbereichen unterwegs sein dürfen.
Erste Versuchsfahrzeuge für Level 4 sind seit einigen Jahren mit einer Begleitperson an Bord in verschiedenen Kommunen in Deutschland unterwegs. Ein Sechssitzer pendelt beispielsweise seit dem Jahr 2017 im bayerischen Bad Birnbach im Halbstundentakt durch die Innenstadt. Zunächst nur mit acht Kilometern pro Stunde auf einem 700 Meter langen Streckenabschnitt. Mittlerweile ist er mit Tempo 17 unterwegs und fährt 2000 Meter zum Bahnhof. Seitdem hat sich die Zahl der Fahrgäste schlagartig verdoppelt.

Eine echte Alternative für ländliche Regionen

„Der Einsatz von autonomen Shuttles in ländlichen Gemeinden oder am Stadtrand ist ideal“, sagt Kosok. Wer dort wohnt, braucht rund um die Uhr einen verlässlichen Transport zum Bahnhof. Sei der gewährleistet, sei das Tempo des Fahrzeugs zweitrangig. „Es geht darum, den Menschen überhaupt einmal ein Angebot zu machen“, erklärt er. Und in dem Geschwindigkeitsbereich 15 bis 20 Kilometer pro Stunde könnten die autonomen Shuttle-Busse auf bekannten Routen inzwischen gut und zuverlässig agieren.
Wenn alles nach dem Plan der Senatsverwaltung geht, kurven 2024 die ersten selbstfahrenden Fahrzeuge mit einem Operator an Bord durch die Hansestadt. Die Hochbahn entwickelt mit ihren Projektpartnern, dem Unternehmen Holon und Volkswagen Nutzfahrzeuge (VWN), zwei eigene Fahrzeuge. Das Holon-Shuttle kann dem aktuellen Prototyp zufolge bis zu 15 Passagiere mitnehmen und über eine automatisierte Rampe auch Rollstuhlfahrer. Der Bund fördert das Projekt mit dem Namen ALIKE mit 26 Millionen Euro.
Ein Teil des Geldes soll auch dazu verwandt werden, die Akzeptanz der Bevölkerung für die neue Technik zu stärken. Das Thema polarisiert. Laut einer Statista-Erhebung fehlt 42 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger das Vertrauen in autonom fahrende Fahrzeuge. Sie sind skeptisch und wollen die Verantwortung beim Fahren nicht komplett an ein elektronisches System abgeben.

Die Mobilitätswende in Hamburg soll unter anderem mithilfe von Tausenden autonom fahrenden Kleinbussen gelingen. Dazu gehört auch der Sammeltaxidienst Moia.

Shuttle-Dienste können nur autonom fahren

Hier hat Hamburg noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Denn der Erfolg des Hamburg-Takts ist eng verknüpft mit dem Erfolg der selbstfahrenden Robotaxis und Shuttle-Dienste. Fest steht bereits heute: Mit Personal wird Hamburg die Fahrzeuge nicht auf die Straße schicken können. Das wäre zu teuer und außerdem fehlen die Fahrer.
Bewähren sich die autonomen Shuttles jedoch im Praxistest, bekommt der ÖPNV mit den On-Demand-Angeboten eine zusätzliche Säule und obendrein eine ganz neue Qualität. Die Dienste könnten nicht nur in den dünn besiedelten Randgebieten Autofahrten ersetzen, sondern auch im Stadtgebiet. In vielen Städten gibt es Lücken im ÖPNV-Netz. In Hamburg funktionieren die Querverbindungen zwischen manchen Stadtteilen nicht gut. Dort könnten die selbstfahrenden On-Demand-Angebote den Anwohner*innen lange Umwege mit dem ÖPNV ersparen. „Damit rückt der Service bei der Fahrtzeit und der Flexibilität deutlich näher an den privaten Pkw heran. Das autonome Shuttle kann also zu einem echten Gamechanger werden“, sagt Kosok.
Die kommenden Jahre werden zeigen, ob der Hamburg-Takt funktioniert und die autonomem On-Demand-Dienste tatsächlich die Pkw-Flotte reduzieren. Der Platz, den sie freiräumen könnten, wird in Hamburg dringend für die Verkehrswende gebraucht. Beispielsweise für mehr Grün, um Extremwetter abzupuffern, für mehr Fußverkehr, aber auch, um den Radverkehr zu steigern. Hamburgs Senator für Verkehr und Mobilitätswende Anjes Tjarks bringt es auf den Punkt: „Wir brauchen Radwege für eine Fahrradstadt“, sagte er beim Stadtgespräch der Denkfabrik Agora Verkehrswende in Hamburg. Nach den aktuellen Regelwerken könnten bestenfalls Radwege für eine weiterhin autozentrierte Stadt gebaut werden. Mit solchen Radwegen wird die Hansestadt ihr Ziel von einem Radverkehrsanteil von bis zu 30 Prozent womöglich nur schwer erreichen.


Bilder: Holan, Moia, Cruise, Daniel Reinhardt

Wer Verkehrswendeprojekte kommunikativ gestalten will, muss lokale Akteure und ihre Themen kennen. Um Konflikten vorzubeugen, sollten Bürger*innen rechtzeitig beteiligt werden. Die lauten ebenso wie die leisen Stimmen gehören dazu. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Konflikte zwischen Verkehrsplanung und Bürger*innen können laut und spektakulär werden. Mitunter werden Maßnahmen der Politik oder der Verkehrsplanung dann von Gerichten kassiert. So geschehen bei dem bekannten Beispiel Friedrichstraße, wo das Berliner Verwaltungsgericht die Sperrung des Kfz-Verkehrs für rechtswidrig erklärte. Geklagt hatte eine Geschäftsfrau vom Aktionsbündnis „Rettet die Friedrichstraße“. Umgekehrt gelten jene Beteiligungsverfahren als gelungen, von denen man seltener hört. „Die erfolgreichen Projekte sind die leisen“, sagt Christian Klasen von DialogWerke. Das Beratungsbüro konzipiert und moderiert Prozesse um nachhaltige Mobilität. Klasen begleitete erfolgreiche Bürgerbeteiligungen unter anderem in Freiburg, Köln und Dresden.

Am Anfang eines Verfahrens besteht oft geringes Interesse seitens der Bevölkerung, Einfluss zu nehmen. Im Zeitverlauf steigt der Wunsch nach Mitsprache. Zugleich sinkt die Möglichkeit einer wesentlichen Einflussnahme.

Das Beteiligungsparadoxon im Blick

„Die Beteiligung ist eine Art Versicherung“, sagt der Experte. „Macht man sie nicht, kann es richtig laut, teuer, zeitintensiv werden.“ Im Blick haben sollte man das Verhältnis von Interesse zu den Möglichkeiten der Einflussnahme im Zeitverlauf eines Verfahrens. Es wird im Beteiligungsparadoxon ausgedrückt. Demnach ist das Interesse von Bürger*innen am Anfang eines Projekts gering. Die Möglichkeiten auf Planungen Einfluss zu nehmen ist zu diesem Zeitpunkt jedoch hoch. Im Verlauf des Prozesses nimmt das Engagement der Bevölkerung zu. In der Umsetzungsphase erreicht es seinen Höhepunkt. Gleichzeitig nimmt die Möglichkeit der Einflussnahme dann ab. Wenn die Betroffenen das größte Interesse am Beteiligungsverfahren zeigen, besitzen sie nur noch geringe Einflussmöglichkeiten. Klasen: „In einem Koordinatenkreuz dargestellt, treffen sich irgendwann beide Linien. Spätestens dann müssen wir die Leute eingebunden haben.“

Positive Narrative versus Verlustängste

Hinter Protesten gegen Maßnahmen stehen oft Verlustängste bei den betroffenen Anrainerinnen. „Mobilität ist eine Gewohnheitssache“, erklärt Klasen. „Das hat mit Rationalität wenig zu tun. Bei der Mobilitätswende geht es darum, den Raum neu aufzuteilen. Egal in welcher Stadt wir arbeiten: Der meiste Ärger dreht sich um den Platz für den ruhenden und fahrenden Kfz-Verkehr.“ Als Konsequenz müssen die Vorteile einer Veränderung klar kommuniziert werden. So vollzog man in Hamburg eine Wende von der „autofreien“, zur „autoarmen“ Stadt. Darauf wies der ehemalige Projektleiter von „freiRaum Ottensen“ , Bastian Hagmaier Anfang dieses Jahres gegenüber der Tageszeitung taz hin: „Angefangen hat es mit dem Verkehrsversuch Ottensen macht Platz 2019/2020, in dem einzelne Straßenzüge als autofreier Raum erprobt worden sind. Auf Basis dessen hat die Bezirkspolitik im Februar 2020 den Beschluss gefasst, dass es eine Verstetigung geben soll, und auch schon den Terminus des autoarmen Quartiers statt wie im Verkehrsversuch den des autofreien genutzt.“ Als weiteres Beispiel nennt Christian Klasen die Vision des Hannoveraner Bürgermeisters Belit Onay. Der betonte, dass es für Menschen, die auf das Auto angewiesen sind, zukünftig leichter sein wird, ihre Ziele zu erreichen. „Er verpackt das in eine Geschichte und erläutert den Mehrwert. Das ist ein Erfolgsfaktor.“ Das alte Narrativ von der alleinerziehenden Nachtschwester, nach der sich die Regeln für alle übrigen Verkehrsteilnehmerinnen orientieren sollen, wird durch eine neue Story ersetzt. Immerhin gewann Onay mit seiner Vision der Verkehrswende den Wahlkampf.

In Freiburg hatten die Teilnehmenden der Auftaktveranstaltung vor Ort und online die Möglichkeit, sich mit ihren Fragen, Wünschen und Anregungen aktiv in den Klimamobilitätsplan einzubringen.

Von der Vorbereitungsphase bis zum Freiburger Gemeinderatsbeschluss wurden in einem zweijährigen Entstehungsprozess die fachliche Bearbeitung und die Öffentlichkeitsbeteiligung eng miteinander verzahnt.

Freiburger Mobilitätsplan vor Ort und im Livestream

Hilfreich ist eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung der Bürgerinnen. Sie beginnt mit der Kommunikation über eine Projektidee. „Man muss den Leuten sagen: Es ist noch eine Idee und noch nicht geplant. Sonst gibt es sofort Protest“, warnt der DialogWerke-Experte. Dazu gehören ein Ansprechkontakt sowie ein brauchbares Format. Ein gutes Beispiel für solche Formate ist der zweijährige Beteiligungsprozess zum Klimamobilitätsplan (KMP) 2023 in Freiburg. Darin geht es um Maßnahmen mit dem Ziel, mindestens 40 Prozent der Treibhausgase bis zum Jahr 2030 einzusparen. Am Anfang standen Interviews mit der Stadtgesellschaft, vom ADFC über die IHK bis hin zu Fridays for Future. Es folgte eine prominent besetzte Auftaktveranstaltung mit Landesverkehrsminister Winfried Hermann und Oberbürgermeister Martin Horn im Konzerthaus Freiburg. Damals unter Pandemie-Auflagen: „Rund 280 Teilnehmende vor Ort und im Livestream waren dabei“, erinnert sich Klasen. „Weil wir die Aufmerksamkeit hatten, folgte noch eine Online-Beteiligung zum Mobilitätsverhalten mit etwa 800 Leuten.“ Darin priorisierten Teilnehmende den Ausbau des Radnetzes, einen sicheren und umweltverträglichen Ausbau des Straßenverkehrs sowie des ÖV. Es folgten zwei Ein-Tages-Foren, auf denen mit Stakeholdern und zufällig ausgewählten Bürgerinnen über den KMP diskutiert wurde. Klasen findet: „Das war konkreter. Wir konnten verschiedene Maßnahmen nebeneinanderlegen und fragen: Was heißt das eigentlich, wenn wir die Parkpreise vervierfachen?“

„Wollen wir dreihundert Leute haben, schreiben wir drei- bis viertausend an. Die Rücklaufquote beträgt weniger als zehn Prozent.“

Christian Klasen, DialogWerke

Die Arbeit mit ausgewählten Zufallsbürgerinnen

Die Arbeit mit Zufallsbürgerinnen fußt auf einem möglichst heterogenen Auswahlfeld nach Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Einkommen, Wohnort oder Mobilitätsverhalten. Klasen: „Wollen wir dreihundert Leute haben, schreiben wir drei- bis viertausend an. Die Rücklaufquote beträgt weniger als zehn Prozent.“ In Freiburg wurden 550 Personen zufällig aus dem Melderegister gezogen und angeschrieben. Auf Basis der Rückmeldungen wurde eine Gruppe ausgewählt, welche die Breite der Stadtgesellschaft widerspiegelt. Im Alter von 23 bis 80 Jahren mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen und einem diversen Mobilitätsverhalten.
Man muss auch wissen: Je mehr Daten abgefragt werden, desto geringer die Rücklaufquote. Klasen sagt sogar: „Am besten wäre, man würde nur sagen: Es geht um die Gestaltung der Zukunft der Stadt.“ Dahinter steckt die Erfahrung, dass die eine Gruppe zum Thema Mobilität abwinkt und sagt: „Ist doch alles gut, ich will keine Veränderung.“ Die Menschen, die eine Veränderung wollen, neigen eher dazu, sich zu beteiligen. Dann wird es unausgewogen.

Um mit Bürger*innen über Mobilität zu reden, die durch herkömmliche Bewerbung nicht erreicht werden können, braucht es die aufsuchende Beteiligung wie hier in Köln.

Beteiligung braucht die richtigen Orte

Unter der Beteiligung der DialogWerke fanden ähnliche Foren in Dresden und Köln statt. Nach Klasens Erfahrung kann dabei ein besonderer Ort dem Thema Wertschätzung verschaffen. So lud die Kölner Oberbürgermeisterin anlässlich des Mobilitätsforums ins historische Rathaus. „Wer nicht gerade heiratet am Wochenende, kommt da nicht unbedingt rein. Das muss natürlich gut beworben werden.“ Geht es nur um eine Straßenraumgestaltung, reicht auch eine Schule oder Turnhalle. Ein Dialogangebot sollte man den Menschen immer machen und dabei etwas zum Anfassen mitbringen. „Am besten Pläne“, sagt Klasen. „Sich mit den Leuten zusammen darüberbeugen, um konkret zu verstehen, worum es geht.“

Laute Stimmen und andere Überraschungen

Für Verzerrung im Meinungsbild sorgen die lautstarken Stimmen. Auch wenn sie in Minderheit sind, lassen sie sich nicht einfach ignorieren. Sie müssen zu Wort kommen. Klasen rät: „Dazu muss man sagen, dass es sie in beide Richtungen gibt. Den einen gehen Maßnahmen nicht schnell genug. Die anderen sagen, jetzt bricht der ganze Wirtschaftsverkehr zusammen. Wichtig ist, gib ihnen einen klaren Rahmen, in dem sie zu Wort kommen können. Schaue aber auch, dass man die breite Mitte mitbekommt.“
Ein Diskussionspapier des Deutschen Instituts für Urbanistik DIfU („Bürgerinnen und Bürger an der Verkehrswende beteiligen“) empfiehlt, lautstarken Stimmen gegenzusteuern, indem Meinungen „vorab bzw. zu Beginn einer Bürgerversammlung z. B. per Punktabfrage erhoben werden, um unterschiedliche Positionen (Pro und Contra) auch quantitativ sichtbar zu machen.“ Auch „Fokusgruppendiskussionen“, eignen sich, um leise Stimmen zu erfassen.
Schließlich gibt es noch andere Überraschungen. Beispiel Hamburg-Bramfeld: Dort wollte die Stadtverwaltung Radwege ausbauen – und dafür alte Bäume fällen. Plötzlich stellten sich diejenigen Bürger*innen dagegen, die sonst für die Verkehrswende sind. „Wenn wir an ein Projekt rangehen, hängen wir eine Akteurs- und Themenlandkarte an die Wand“, erläutert Klasen. „Deswegen der Hinweis an die Planer: Führt gleich am Anfang ein paar Gespräche. Lernt das Thema und die Akteure kennen.“

„Mobilität ist eine Gewohnheitssache. Das hat mit Rationalität wenig zu tun. Bei der Mobilitätswende geht es darum, den Raum neu aufzuteilen.“

Christian Klasen, DialogWerke

Das Kölner Mobilitätsforum fand im historischen Rathaus in der Altstadt auf Einladung von Oberbürgermeisterin Henriette Reker statt. Ein angemessener Ort kann förderlich sein.

Erfolgreich trotz Push-Maßnahmen

In Freiburg stand am Ende des Beteiligungsprozesses die Verabschiedung des Klimamobilitätsplans. Er enthält 17 Maßnahmen, die sukzessive bis 2030 umgesetzt werden sollen. Darunter der geforderte Ausbau des Radnetzes und des ÖPNV. Aber auch Maßnahmen, die sonst viel Konfliktpotenzial mitbringen: Klasen sagt: „Da sprechen wir nicht nur von Pull-Maßnahmen: Wir machen alles schöner und laden die Leute ein, mehr Fahrrad zu fahren. Sondern über Push-Maßnahmen. Das heißt, wir drücken Fahrzeuge raus aus der Stadt.“ Obwohl der KMP ein massives Verteuern des Parkens, die Reduktion des Parkraums mit Schlüsselvorgaben für neue Siedlungen vorsieht, wurde er zum Erfolg. „Das war ein Prozess, der vom Gemeinderat am Ende über alle Parteigrenzen hinweg stark gelobt wurde,“ sagt Klasen.

Politischer Mut gehört dazu

Für den Experten von DialogWerke gehört politischer Mut zum Erfolg von Maßnahmen. Mit Blick auf Reallabore wie in Hamburg Ottensen sei es empfehlenswert, eine Sache einfach mal zu starten, gemäß dem Tenor „Ich hab euch das erklärt. Wir haben eure Bedenken ernst genommen. Wir machen das aber jetzt mal. In einem halben oder einem Jahr evaluieren wir das Ganze.“ Zwar kann es passieren, dass ein Projekt nicht funktioniert. Oder dass es das so noch nicht war. Was von Versuch und Irrtum übrig bleibt, wäre dennoch ein Lerneffekt. Der Haken daran, das weiß Klasen ebenso: „Politisch zu sagen, vielleicht machen wir auch einen Fehler, funktioniert häufig nicht.“
Mut braucht es auch am Ende eines Verfahrens, etwa bei der Frage, wo Kompromisse im Bürgerdialog eigentlich enden sollten. Klasen: „Viele Städte haben sich das Ziel einer Klimaneutralität bis 2035 gesetzt. Das werden wir allein mit Elektrofahrzeugen nicht schaffen. Also braucht es gewisse Maßnahmen in der Stadt. Da gibt es Modellierungen und Verkehrsmodelle. Am Ende, so sind unsere demokratischen Verhältnisse, entscheidet darüber in der Regel der Stadtrat, der Gemeinderat oder ein Verkehrsausschuss. Da sind dann irgendwo die Grenzen der Beteiligung gesetzt.“


Bilder: Stadt Köln – Thomas Banneyer, Grafik: Velobiz, Stadt Freiburg, Stadt Freiburg – Patrick Seeger, DialogWerke

Das Durcheinander auf der Venloer Straße in Köln war sehr gefährlich. Ein Verkehrsversuch sollte das ändern, schuf Verwirrung und lieferte dann doch „Verzauberung“. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Die Venloer Straße in Köln ist eine Arterie in einem äußerst lebhaften Organismus. Sie durchzieht mittig das boomende Stadtviertel Ehrenfeld, wo sich eine urbane Mischung aus Cafés und Restaurants, Kebab-Läden, Schnäppchen-Shops, Bio-Boutiquen mit einer dichten Wohnbesiedlung mischt. Die Venloer ist Hauptgeschäftsstraße, Pendler-Achse im Kölner Westen und Shopping-Meile, zudem steht hier Kölns wichtigstes islamisches Gotteshaus, die sogenannte Zentralmoschee des türkisch-islamischen Religionsvereins Ditib. Mit gut 10.000 Pkw am Tag war die Venloer seit Langem eine Hauptverkehrsachse, die auch die meistfrequentierte Fahrradstrecke der Millionenstadt ist. Die Dauerzählstelle dort zeigte 2022 5500 Fahrradfahrer*innen am Tag an. Bei diesem Treiben wundert es nicht, dass die Venloer einer der Unfallschwerpunkte Kölns ist – und in einer Analyse der „Allianz Direct“ sogar als einzige Straße in NRW unter den zehn gefährlichsten Straßen des Landes rangierte. „Wir sind da als Kommunalpolitik gefragt, das hat vordergründig auch gar nichts mit Verkehrswende zu tun. Wir mussten das entschärfen“, sagt Volker Spelthann (Bündnis 90/Die Grünen), Bezirksbürgermeister in Ehrenfeld.

Im Laufe des Jahres 2023 machte die Venloer Straße einen oft sehr unsortierten Eindruck, was auch an Baumaßnahmen in anliegenden Straßen lag. In Ehrenfeld war das Durcheinander Dauerthema.

Alles auf sechs Meter gequetscht

Die Problematik ist seit Langem bekannt. Die Venloer war, man kann es so klar sagen, ein Alptraum für alle Verkehrsteilnehmerinnen. Sie führte gleich neben dem Fußgängerweg einen baulich getrennten, schmalen Radweg neben der Fahrbahn, die einspurig in jede Richtung ausgelegt ist. 2009 brachte die Stadtverwaltung Piktogramme für Radfahrerinnen auf dem Asphalt auf, denn der Radweg war inzwischen in einem sehr schlechten Zustand. Ab 2010 dann ließ die Verwaltung die Straße umbauen. Am Rand ist die Straße mit vier Reihen Steinen gepflastert, daneben verläuft ein rot gefärbter Schutzstreifen für die Radlerinnen. Diese Gestaltung führte ein Maximum an Verkehrsteilnehmerinnen auf engen Raum. Über Jahre wuchsen der öffentliche Druck und die Unzufriedenheit mit dieser Lage. Bezirksbürgermeister Spelthann spricht von einer „Lebenslüge“ der vergangenen 15 Jahre. Hier habe die Verwaltung alles auf sechs Meter Breite gequetscht. „Politische Gremien und Verwaltung haben dann immer eine große Lösung aus einem Guss angestrebt, bei der alles passen sollte.“ Deswegen habe sich nichts bewegt in der Politik, und so gelinge auch Verkehrswende nicht.

„Ohne den Verkehrsversuch wären wir erst in fünf Jahren, wo wir sind.“

Volker Spelthann, Bezirksbürgermeister Ehrenfeld

„Realer Irrsinn“ Verkehrsversuch

Am 8. November 2023 traf man den Kommunalpolitiker aber an einem windigen Herbsttag in gelöster Stimmung an. Der Grüne, studierter Wirtschaftsgeogeograf, war Beobachter eines Pressetermins der Stadt Köln. Neben einer Kebab-Bude auf einem Platz neben der Venloer Straße und mitten im Mittagstrubel informierte die Stadtverwaltung über ein Projekt, das hohe Wellen geschlagen hat. Spelthann kam mit einer klaren Meinung: „Ohne den Verkehrsversuch wären wir erst in fünf, sechs Jahren da, wo wir jetzt sind“, sagte der gut gelaunte Bezirksbürgermeister. Und das ist schon erstaunlich, denn die Venloer Straße hatte gerade in den zurückliegenden Monaten noch einmal richtig viel Aufmerksamkeit erregt. Nicht nur die lokalen Medien hatten im Laufe des Jahres 2023 über ein großes Durcheinander berichtet, das hier ausgebrochen war. Im NDR gab es einen Bericht mit dem Titel „Realer Irrsinn“, Kabel 1 zog über „Chaos auf der Straße“ her. Wer die Venloer im Frühling oder Sommer nutzte, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die ohnehin überlastete Verkehrsmeile hatte noch chaotischere Züge angenommen als ohnehin schon. Einen erheblichen Anteil daran hatten die Behörden, die eigentlich für Orientierung sorgen sollten.

Vorstoß aus der Kommunalpolitik

Rückblende ins Jahr 2021. Damals gab es nach vielen Jahren der Auseinandersetzungen einen politischen Vorstoß in der Stadt. Der Verkehrsausschuss und die Bezirksvertretung 4 (Ehrenfeld) beauftragten die Verwaltung mit der Einrichtung eines Verkehrsversuchs. Vorausgegangen war in Ehrenfeld die Arbeit an einem Radverkehrskonzept, im Mai 2021 beschloss die Bezirksvertretung dann das neue Ziel: Die Venloer sollte zur Einbahnstraße werden. Zudem sollte ein „verkehrsberuhigter Geschäftsbereich“ eingerichtet werden, mit Tempo-20-Zone und „Shared Space“ an verschiedenen Schlüsselstellen auf der Straße zwischen Ehrenfeldgürtel und Innerer Kanalstraße. Dieser politischen Forderung lag die Einschätzung eines Gutachters zugrunde. Er hatte vor allem die Einrichtung dieses Tempo-20-Segments für einen großen Wurf gehalten: „Dies hat unter den Einzelmaßnahmen die höchste Entlastungswirkung und weist zudem, anders als bei der reinen Einbahnstraßenführung, weniger negative Auswirkungen in Bezug auf die kleinräumige Verlagerung in die umliegenden Wohnstraßen auf“, so lässt es sich in der Beschlussvorlage des Verkehrsausschusses nachlesen.

Vorschrift ist Vorschrift: Während der ersten Phase des Verkehrsversuchs hob die Verwaltung mit gelber Farbe die Wirkung vorheriger Verkehrszeichen auf. Das führte zu Fehlwahrnehmungen im Alltag.

Gelbe Farbe sollte es richten

Zwei Jahre später lässt sich feststellen, dass die Einschätzung des Gutachters und die Realität des Kölner Straßenverkehrs miteinander kollidiert sind. Der Verkehrsversuch, den die Verwaltung infolge des politischen Beschlusses startete, lieferte Durcheinander auf Stein und Teer. „Im Verfahren gab es auch immer wieder Überraschungen. So scheint es bei vielen Stellen eine ungenügende Kenntnis der Straßenverkehrsordnung gegeben zu haben“, kommentiert Christoph Schmidt, Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs in Köln. Er war es, der den Vorstoß zur Einbahnstraße im Facharbeitskreis des damaligen Radverkehrskonzepts Ehrenfeld ins Rollen brachte. Was sich dann in der Realität zeigte, war allerdings eher ein politischer Kompromiss, der die Menschen in Desorientierung stürzte. Schmidt erklärt, was falsch gedacht war: „Auch in einem verkehrsberuhigten Geschäftsbereich hat man keinen Shared Space, auch wenn das oft anders verstanden wurde.“ So war die Fahrbahn eben weiterhin Fahrbahn, aber viele Menschen verstanden das falsch. Die Tempo-20-Zone ging mit einer Rechts-vor-links-Regelung einher, doch auch das setzte sich nicht durch im Verkehrsgeschehen. Plötzlich rollten also Kraftfahrzeuge und Radler durch einen Verkehrsversuch, auf dem andere Regeln galten als zuvor – bei gleicher Verkehrslast. Es kam hinzu, dass die Straßenverkehrsbehörden der Bezirksregierung und der Stadt eher „konservativ“ (Schmidt) auf die Regeln der Straßenverkehrsordnung und der Verwaltungsverordnungen bestanden. Im Ergebnis waren die weißen Fahrradpiktogramme auf der Straße mit gelber Farbe überstrichen, Ampeln abgeschaltet, Verkehrsteil-nehmer*innen verwirrt. Die Logik dahinter: Gelb sticht Weiß. Was die Verwaltungsexperten dabei nicht im Blick hatten, war die Realität des Straßenraums. Die konkrete Umsetzung des Verkehrsversuchs brachte Hohn und Empörung. „Das hat sicher nicht dazu beigetragen, dass die Lage auf der Straße übersichtlicher wurde“, sagt Schmidt heute.

Mit Schildern, Zeichen und Farbe: Seit 23. Oktober gilt eine neue Einbahnstraßenregelung. Vorher überstrichene Verkehrspiktogramme wurden nun wieder freigelegt.

Zweite Stufe ab 23. Oktober

Inzwischen hat die Stadtverwaltung nachgesteuert. Der Verkehrsversuch, so hat man es aus dem Rathaus stets kommuniziert, ist eine zweistufige Angelegenheit. Stufe eins, so ließ sich schon nach kurzer Zeit feststellen, brachte Desorientierung in den Straßenraum. Der Verkehr blieb, wie er war; die durchgestrichenen Zeichen und die gelbe Farbe auf dem Asphalt verwirrten die Menschen ebenso wie auf der Fahrbahn aufgestellte Hindernisse, mit denen der Verkehrsfluss beruhigt werden sollte. Das Ergebnis war gerade für Radfahrende eine erheblich gefährlichere Lage auf der Straße. Nun aber, mit Stichtag 23. Oktober, hat sich das Bild auf der Venloer Straße vollständig gewandelt. „Das ist eine Verzauberung“, sagt Bezirksbürgermeister Spelthann, „wer die Straße vorher kannte, sieht nicht nur eine Verbesserung, der sieht quasi eine ganz andere Straße.“

Verbesserungen fallen ins Auge

Dem Orientierungsverlust der vergangenen Monate folgt nun eine zweite Versuchsphase, in der noch mal alles neu ist. Für den Kraftverkehr gilt zwischen dem Ehrenfeldgürtel und der Piusstraße seit dem 23. Oktober eine Einbahnstraßenregelung. Radfahrende dürfen weiter in beide Richtungen fahren. Die alten Zeichen gelten wieder, die Straße ist nun auch wieder mit Tempo 30 befahrbar, auch Ampeln sind wieder angeschaltet. Wer die Straße in den Wochen seither beobachtet, erkennt augenscheinlich verbesserte Bedingungen nicht nur für die Fahrradfahrer*innen, sondern auch entspanntere Zustände für die Menschen in Pkw und Lkw. Die Straße ist ruhiger, Hindernisse sind beseitigt, statt durchgestrichener Zeichen gibt es nun vor allem Hinweise auf die Einbahnstraßenregelung. In Aussicht gestellt hat die Stadtverwaltung auch, die Markierungen für den Radverkehr noch einmal zu verbessern – gerade entgegen der Einbahnstraße ist das relevant, um diese Verkehrsteilnehmenden vor dem Kraftverkehr zu schützen. Denn trotz aller Schilder und Öffentlichkeitsarbeit: Man kann nicht davon ausgehen, dass sich die Menschen schlagartig an neue Regelungen halten und sie auch verstehen.

„Wir brauchen Anpassungen, die uns in den Kommunen mehr Möglichkeiten geben.“

Ascan Egerer, Beigeordneter für Mobilität, Stadt Köln

Erste Zwischenbilanz: Im November zog Kölns Mobilitätsbeigeordneter Ascan Egerer (M.) mit Kolleginnen aus der Stadtverwaltung ein erstes positives Fazit der neuen Einbahnregelung. Dabei stellte die Verwaltung auch ihr Partizipationsmodell vor.

Verkehrsversuch in Deutz scheiterte vor Gericht

Zur Präsentation der zweiten Phase dieses Verkehrsversuchs war auch Ascan Egerer anwesend. Für den Mobilitätsdezernenten der Stadt Köln ist das Projekt eine wichtige Angelegenheit. Zwei Wochen nach Start der Einbahnstraßenregelung sah auch er ein deutlich reduziertes Verkehrsgeschehen: „Bei dem Ziel, die Verkehrssicherheit in diesem viel befahrenen Bereich der Stadt zu erhöhen, ist es ein Meilenstein.“ Mit Verkehrsversuchen hat die Stadtverwaltung unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Für viele Autofahrer überraschend hatte sie vor einiger Zeit Poller auf der Zülpicher Straße aufgestellt, um den Durchfahrtsverkehr zu stoppen – die Maßnahme war ein großer Erfolg für den innerstädtischen Verkehr. Im Herbst kassierte Egerers Behörde dann jedoch eine gewaltige Schlappe: Ein autofreier Verkehrsversuch in Köln-Deutz ist verwaltungsgerichtlich gestoppt worden – die Sache brachte der Verwaltung massive Negativschlagzeilen.

Botschaft nach Berlin: Lockerungen im Regelwerk gebraucht

Egerer sieht ein, dass die erste Phase des Verkehrsversuchs problematisch war. „Die Menschen haben manches nicht verstanden. Das hat zu Verwirrung geführt.“ Man habe darum sehr schnell nachgesteuert. Mitnichten gehe es seinen Leuten in der Verwaltung darum, überhaupt erst Verwirrung aufkommen zu lassen, um dann eine einfache Lösung durchzubekommen. Doch Egerer leitet daraus auch ein Problem ab. „Das ist genau der Punkt, den wir auch weitergeben müssen, auch in Richtung Berlin, dass wir da Anpassungen brauchen, die uns in den Kommunen mehr Möglichkeiten geben.“ Es brauche Lockerungen im Regelwerk, weil sonst lokale Verkehrswende-Maßnahmen nicht möglich oder in angestrebten Kombinationen „nicht vorgesehen“ sind. Und wenn die Fachleute aus der Verwaltung an Orientierung denken, sind sie vielleicht oft überrascht darüber, dass die Nutzer*innen der Straßen damit nicht klarkommen. So war es eben auch mit der Regel „rechts vor links“ während Stufe 1 – sie müsste eigentlich jedem bekannt sein, wurde aber nicht praktiziert. Egerer sieht das inzwischen ein. Das Beispiel zeige vielleicht auch, dass es auf der Venloer einfach zu unübersichtlich war. „Es ist ja ein lebhafter Raum hier. Hier ist viel los, hier ist es bunt, hier sind viele Menschen unterwegs. Da muss man genau hingucken, denn wir haben auch jetzt den Raum wirklich sicherer machen wollen.“

Erste Stufe als „politischer Zaubertrick“

Politisch lässt sich allerdings festhalten, dass erst Durcheinander herrschen musste, um zu der neuen Lösung zu gelangen. Die Stufe 1 mit „verkehrsberuhigtem Geschäftsbereich“ war ein bundesweites Kuriosum. Sie war aber, so sagt es Bezirksbürgermeister Spelthann, auch ein „politischer Zaubertrick“. Gern hätte man im grünen Milieu und bei Radfahrer*innen direkt die Einbahnregelung gehabt. Aber dafür hätte es keine Mehrheiten gegeben. Und so machten die Vorkämpfer für eine veränderte Venloer Straße Zugeständnisse, um ans Ziel zu kommen. Diejenigen, die einer Einbahnstraße gegenüber skeptisch waren, konnten mit dem zweistufigen Verfahren leben. Und nun, mit Stufe zwei, entfalte der eigentliche Plan seine Wirkung.

Erweiterte Beteiligung der Öffentlichkeit

Aber was halten die Menschen von diesem Ergebnis politischer Taktik? Die Verwaltung hat das, nach einer eher kritikwürdigen Beteiligung in der ersten Phase, jetzt zum wichtigen Thema gemacht. Das „Meinungs-Mobil“ der Verwaltung ist auf der Venloer anzutreffen, die Mitarbei-terinnen sammeln Rückmeldungen aus der Bevölkerung, auch online kommt Feedback an. Begleitet wird diese Phase von Workshops, in denen Bürgerinnen mitwirken. So soll der Versuch um sich greifen. Christoph Schmidt vom ADFC sieht das mit Genugtuung. „Vor der ersten Phase des Verkehrsversuchs hat man die Öffentlichkeit nicht gut mitgenommen“, sagt er, das habe sich nun wie schon seinerzeit beim Radverkehrskonzept geändert. „Die Verwaltung hat hier alle Akteure eingebunden, spricht die Öffentlichkeit an. Da wurde nichts durchgeboxt, es hat das Potenzial, dass sich so Legitimation erhöht.“ Und das geht natürlich nur, wenn die Leute sich auch auf der Venloer Straße zurechtfinden.


Bilder: stock.adobe.com – tashalex, Tim Farin

Gut gestaltete, schöne Räume beeinflussen das Verhalten der Menschen. Wege und Warteräume für Fußgänger, Radfahrer sowie Bus- und Bahnreisende sind jedoch im besten Fall praktisch. Mehr Schönheit im öffentlichen Raum kann ein Booster sein für den Umweltverbund. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Öffentliche Räume verwandeln: Vor der Gestaltung wurde die Unterführung als öffentliche Toilette missbraucht. Heute lassen sich dort Hochzeitspaare fotografieren.

Lange Zeit wurde die Unterführung des Brooklyn-Queens-Expressway in New York von den Besuchern der umliegenden Bars als öffentliche Toilette missbraucht. Das endete, als die Designer Stefan Sagmeister und Jessica Walsh die Tunnelseiten schick gestalteten, mit dem Schriftzug „Yes“ als Blickfang. Die Gestaltung veränderte die Atmosphäre des Ortes und gab ihm ein komplett neues Image. Die Unterführung ist bei Passanten und Touristen beliebt. Mittlerweile lassen sich sogar Hochzeitspaare vor dem Schriftzug fotografieren. Als Pissoir wird sie nicht mehr genutzt.
„Schönheit kann uns verwandeln. Sie kann verändern, wie wir uns fühlen und wie wir uns benehmen“, erklären Walsh und Sagmeister in ihrem Buch „Beauty“. Aus ihrer Sicht gilt das sowohl für Gegenstände des Alltags als auch für die Stadt- und Verkehrsplanung. In der Forschung, Planung oder dem Design von Mobilität taucht der Begriff „Schönheit“ jedoch praktisch nie auf. Er ist Wissenschaftlern zu unpräzise. Aber auch sie beobachten und erforschen sehr genau, wie Fuß- oder Radwege, Warteräume und auch Stadtmöbel wirken. Der Mensch mit seinen Bedürfnissen und seinen Emotionen rückt zunehmend in den Mittelpunkt, wenn es darum geht, aktive Mobilität zu fördern und zu steigern. Den Experten ist bewusst, dass das Angebot besser werden muss. Und vielleicht auch schöner.
Aber was macht Schönheit oder eine schöne Umgebung überhaupt aus? „Unsere Forschung zeigt, dass Schönheit unseren Blick anzieht und bindet. Unser Blick verweilt bei dem Schönen“, sagt Helmut Leder, Schönheitsforscher und Professor für Psychologie an der Uni Wien. Eine schöne Umwelt erzeuge automatisch eine Sequenz von glücklich machenden Momenten. „Sie wirkt wohltuend, dort bin ich gerne unterwegs, weil ich dort Impulse empfange, die mir guttun“, sagt Leder.
Wissenschaftler wie Helge Hillnhütter verwenden den Begriff der Schönheit nicht. Der Professor und Stadtplaner lehrt an der Norwegischen Universität für Naturwissenschaften und Technik und forscht seit Jahren zum Fußverkehr. Er untersucht, wann Menschen eine Umgebung oder einen Stadtraum als angenehm empfinden. Dazu gehören Aspekte wie: Sicherheit, Grünanlagen, Schaufenster, stimulierende Fassaden, andere Menschen und eine Gestaltung des Stadtraums. „Fußgänger reagieren am meisten auf das, was nicht weiter als fünf bis sechs Meter entfernt ist“, sagt Hillnhütter. Demnach ist ein interessanter Stadtraum nicht zu groß.
„Eine angenehme Stimulanz durch die Umgebung unterstützt positive Emotionen, die das Gehen zu einer angenehmen Erfahrung machen“, sagt Hillnhütter. Wer an großflächigen Fassaden entlanglaufe, empfinde den Weg schnell als langweilig und der Weg erscheint länger. Wenn es obendrein noch dunkel oder laut sei und es übel rieche, summierten sich die negativen Empfindungen. Das führe dazu, dass man beim nächsten Mal vielleicht nicht mehr zu Fuß gehe, sofern andere Optionen bestehen.

„Wir müssen in Netzen denken, die den gesamten Umweltverbund umfassen, aber auch stets ein Nachtnetz mitdenken.“

Katja Striefler, Fachbereich Verkehr, Region Hannover

Die Reisezeit zu Fuß und im ÖPNV sind identisch

Lange Zeit wurde der Fußverkehr von der Verkehrsforschung vernachlässigt. Hillnhütters Studien zeigen: Das ist ein Fehler. „Wir gehen überall und ständig zu Fuß“, sagt der Wissenschaftler. Selbst Autofahrer gehen vom Parkplatz zu einem Geschäft in einem Einkaufszentrum drei bis sechs Minuten zu Fuß. Eklatant sind jedoch die Wege, die Bus-, S- und U-Bahn-Nutzerinnen zurücklegen. Hillnhütter hat alle Wege-, Warte- und Umsteigezeiten addiert und festgestellt: „Die Reisezeit, die wir als Fußgänger zum Gehen, Warten und Umsteigen im öffentlichen Raum verbringen, ist fast genauso lang wie die Zeit als Passagier im Verkehrsmittel.” Für Städte und öffentliche Verkehrsbetriebe ist das eine wichtige Information. „Meistens wissen wir überhaupt nicht, was während des Teils der Reise passiert, der zu Fuß zurückgelegt wird“, sagt der Professor. Dabei ist die Qualität dieser Wege und auch die Wartesituation ausschlaggebend für die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs. Warten an Haltestellen und auf Bahnsteigen ist in Deutschland jedoch oft kein Vergnügen. Professor Peter Eckart und Prof. Dr. Kai Vöckler von der Hochschule für Gestaltung in Offenbach erforschen seit Jahren unter anderem, wie das Design von Bahnhofshallen, Bahnsteigen und Zu- und Ausgängen das Mobilitätsverhalten der Nutzerinnen beeinflusst. „Räume haben neben ihrer praktischen Dimension auch eine psychische Dimension mit symbolischen und ästhetischen Aspekten“, sagt Eckart. Das bedeutet, die Menschen sollen sich intuitiv in einem Bahnhofsgebäude zurechtfinden. Sie sollen sich aber auch willkommen fühlen, sich also wohl- und wertgeschätzt fühlen.

Vor dem Umbau prüfen Eckart und Vöckler ihre Ideen zu Sitz- und Anlehnmöbeln unter VR-Testbedingungen.

Mehr Komfort für Bahn- und S-Bahnnutzer in Hamburg: Im Bahnhof Harburg wurden bereits Holzmöbel installiert, ebenso an der neuen Vorzeigehaltestelle „Elbbrücken“.

Bessere Sitzmöbel für Warteräume

Für Eckart ist das ein wichtiger Aspekt. Er sagt: „Wenn ich als Kunde die U-Bahn oder S-Bahn nutze, möchte ich mit meinen unterschiedlichen Bedürfnissen wahrgenommen und wertgeschätzt werden.“ Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Viele Warteräume oder Zu- und Ausgänge von S- und U-Bahnhöfen sind vor allem praktisch. Das spiegeln die Sitzmöbel aus Gittergeflecht wider. „Das Gittergeflecht soll Obdachlose davon abhalten, sich dort auszuruhen, und ist zudem leicht zu reinigen“, sagt Eckart.
Mittlerweile hat bei der Deutschen Bahn ein Umdenken begonnen. Mit ihrem Projekt „Zukunftsbahnhof“ will das Unternehmen Fahrgästen und Besucherinnen die Zeit am Bahnhof angenehm gestalten. Vöckler und Eckart haben im Rahmen des Projekts „Zukunftsbahnhof Offenbach“ für eine S-Bahnhaltestelle vorgeschlagen, dort Sitzmöbel aus Holz zu installieren. „Der Pflegeaufwand ist zwar höher, aber bereits das hochwertige Material drückt die Wertschätzung gegenüber dem Kunden aus“, sagt der Professor. In einer Studie mit Kognitionspsychologinnen hat er festgestellt, dass Menschen gerne auf Holzmöbeln sitzen und sie sich wohlfühlen. Infolgedessen erscheint ihnen die Wartezeit kürzer. „Was wiederum die Kundenzufriedenheit steigert“, sagt Vöckler.
Dieser Anspruch muss aus ihrer Sicht auf den gesamten Umweltverbund angelegt werden. „Momentan wird er aber gar nicht als System zusammen gedacht“, sagt Eckart. Weder von der Politik noch von den Planern oder auf organisatorischer Ebene. Das sei aber für die Verkehrswende entscheidend. „Das Ziel muss sein, dass die Menschen, wenn sie aus der U- oder S-Bahn aussteigen, intuitiv erfassen, wo der Ausgang ist, und auf dem Weg dorthin erkennen, was sie in 100 bis 200 Metern an Mobilitätsangeboten vorfinden“, sagt Eckart.
Katja Striefler, zuständig für den Fachbereich Verkehr in der Region Hannover, stimmt dem zu: „Wir müssen in Netzen denken, die den gesamten Umweltverbund umfassen, aber auch stets ein Nachtnetz mitdenken“, sagt sie. Nur dann könne sichergestellt werden, dass Menschen jeden Alters und auch Frauen, den Umweltverbund nutzen. Wer bei der Planung dann noch den Schönheitsaspekt einbeziehe, habe eine lebenswerte Stadt, eine lebenswerte Gemeinde oder ein lebenswertes Dorf.

Clock Tower als Wegweiser

Ein Klassiker, der die Aspekte Ästhetik, Wegweisung und Mobilitätsknotenpunkt kombiniert, ist die Turmuhr an englischen Bahnhöfen. „Den Clock Tower findet man an fast jedem Bahnhof in England“, sagt Professor Eckart. Der Wiedererkennungswert sei immens. Jeder in England wisse: Beim Clock Tower ist der Bahnhof. Ein Forschungsprojekt hat laut Eckart gezeigt: Die große Uhr wirkt beruhigend, selbst auf die 18- bis 25-Jährigen. Zudem haben die Reisenden stets die Uhrzeit im Blick. Diesen Aspekt haben die beiden Wissenschaftler auf eine Station am Offenbacher Marktplatz übertragen. Die Ankommenden sehen auf dem digitalen Infowürfel sämtliche Abfahrten von Bus- und S-Bahn nebst Richtungsanzeigen. „Sie wissen sofort, ob sie den Zug noch erreichen oder laufen müssen“, sagt er.
Wie Menschen den dicht bebauten Stadtraum erleben, was ihnen gefällt oder wo ihr Blick hinfällt, wird schon lange untersucht. „Die Technologie ermöglicht uns zu messen, wie der Körper auf die Umgebung reagiert“, sagt Hillnhütter. Demnach brauchen wir eine Umgebung, die uns stimuliert. Eine zentrale Rolle spielt dabei, was wir sehen.
Deshalb sind laut Hillnhütter die Fußgängerzonen in Innenstädten so beliebt. Das bunte Treiben mit Straßenkünstlern, unterschiedlichsten Angeboten von Kunst bis zum Café wirke stimulierend. Wer dort unterwegs ist, schätzt Entfernungen deutlich kürzer ein. Die Distanzempfindung kann laut Hillnhütter in unterschiedlichen Stadträumen variieren und der Unterschied bis zu 30 Prozent betragen.

Vor dem Umbau war die High Line in New York ein vergessener Ort. Heute ist sie eine Oase inmitten der Metropole, die Anwohner und Touristen anzieht.

Ein schöner Verkehr funktioniert besser

Für den Schönheitsforscher Helmut Leder und die Verhaltensbiologin Elisabeth Oberzaucher steht fest: Schönheit und ästhetische Wertigkeit im öffentlichen Raum sind kein „nice to have“. „Mit ihnen funktioniert der Straßenverkehr besser“, sagt Elisabeth Oberzaucher. Ein klassisches Beispiel ist für sie die Mariahilfer Straße in Wien. In der neu geschaffenen Begegnungszone wurde die Fahrbahn mit großzügigen Blumenkübeln und weitläufigen Sitzecken so verjüngt, dass die Autos dort automatisch mit maximal 30 Kilometern pro Stunde oder langsamer unterwegs sind. „Dort funktioniert das Tempolimit über die Gestaltung, man braucht dort keine Schilder“, sagt sie. Die niedrige Geschwindigkeit erzeugt mehr Gleichheit unter den Verkehrsteilnehmern. „Sie begegnen sich eher auf Augenhöhe“, sagt die Wissenschaftlerin. Dieser Respekt setzt sich in der Fußgängerzone fort. Dort sind in den Sommermonaten rund 5000 Radfahrer unterwegs und das Miteinander zwischen Fuß- und Radverkehr funktioniert.
„Diese Begegnung auf Augenhöhe stärkt das individuelle Sicherheitsempfinden, aber erhöht auch die Sicherheit im Allgemeinen“, sagt Elisabeth Oberzaucher. Das sei gut für die Verkehrswende. Denn auf diese Weise entscheiden Menschen über die intuitive Ebene, sich eher aktiv zu bewegen, als ins Auto zu steigen.

„Alles, was uns in urbanen Räumen umgibt, ist mittlerweile von Menschen gestaltet.“

Helmut Leder, Schönheitsforscher und Professor für Psychologie an der Uni Wien

Die Nordbahntrasse ist ein Aushängeschild von Wuppertal. Sie ist Radlerparadies, Veranstaltungsort, Touristenmagnet und kurbelt zudem noch die Wirtschaft an.

Stimulierende Wirkung von Grünanlagen

Eines der bekanntesten Beispiele, wie die Umgestaltung eines Raums sein Umfeld zum Positiven verändern kann, ist die High Line in New York. Die 2,6 Kilometer lange stillgelegte Hochbahntrasse sollte eigentlich abgerissen werden. Seit ihrer letzten Fahrt Ende der 1980er-Jahre verkam die Trasse immer mehr und mit ihr die Viertel entlang der Strecke. Abfallberge, Kriminalität, Drogen und der Straßenstrich prägten die Gegend. Dann gründete sich eine Nachbarschaftsinitiative, die die Trasse begrünen wollte. Die Idee fand Zuspruch. Heute ist die High Line eine Oase am Rand Manhattans für die Anwohner. Zwischen den Grünflächen finden regelmäßig Veranstaltungen statt und es werden wechselnde Kunstobjekte ausgestellt. Mit der High Line veränderte sich auch ihre Umgebung. Die drei Distrikte, die sie quert, sind zu Szenevierteln geworden mit Galerien, Cafés und renovierten Straßenzügen.
Dass diese Erfolgsgeschichte reproduzierbar ist, zeigt die Nordbahntrasse in Wuppertal. Die Bürgerinnen und Bürger der Stadt haben die vergessene und zugewucherte Bahnlinie in den vergangenen 17 Jahren in eine 23 Kilometer lange Flaniermeile für Radfahrerinnen und Fußgängerinnen umgebaut. Heute verbindet der Freizeitweg im Norden der Stadt fünf Bezirke miteinander und beschert Wuppertal einen immensen Image-Wandel: von der Pleitestadt zum Radlerparadies. Seit ihrer Eröffnung haben sich entlang der Trasse Restaurants, Geschäfte und Freizeiteinrichtungen angesiedelt. Wer im Norden der Stadt lebt und arbeitet, nutzt die Flaniermeile zum Pendeln mit dem Fahrrad.
Die High Line und die Nordbahntrasse haben das Leben in den angrenzenden Vierteln verändert. Die Anwohnerinnen haben einen neuen Freiraum in Laufnähe. Menschen jeden Alters sind dort zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs und erleben gleich mehrere schöne Momente: die grüne Umgebung, die Ruhe durch den fehlenden Autoverkehr, den Blick aus der Vogelperspektive auf die umliegenden Stadtteile und immer wieder auch Kunstobjekte auf der Route. „Wenn die Bewegungsumgebung so attraktiv gestaltet ist, dann bedeutet das nicht nur, dass wir sie gerne für aktive Mobilität nutzen, sondern, dass wir uns dort auch lieber aufhalten. Das bedeutet, wir entschleunigen“, sagten Leder und Oberzaucher. Hinzu kommt: Es werden Freizeitfahrten mit dem Auto vermieden. Die Anwohnerinnen kommen zu Fuß oder per Rad zur Nordbahntrasse.
„Alles, was uns in urbanen Räumen umgibt, ist mittlerweile von Menschen gestaltet“, sagt Helmut Leder. Wir können durch eine schöne, ästhetische Gestaltung des öffentlichen Raums das Wohlbefinden der Menschen in der Stadt enorm heben. Er sagt: „Wenn wir es nicht tun, verschenken wir das eigentliche Potenzial unserer engen Städte.“


Bilder: Stefan Sagmeister, Maggie Winters, OIMD, Andrea Reidl, Friends of the High Line – Timothy Schenck, Friends of the High – Line Liz Ligon, Christa Mrozek – Wuppertalbewegung

Das Lastenrad City von Babboe ist in drei Versionen verfügbar. Als einspuriges Fahrzeug ist es praktisch im dichten Stadtverkehr und kann auch voll beladen jede Verkehrssituation spielend meistern. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Die Version Babboe City kommt als unmotorisiertes Lastenrad und ist damit für den Einsatz in urbanen Gebieten prädestiniert. Es kann mit einer zweiten Sitzbank ausgestattet werden, womit sich dann bis zu vier Kinder transportieren lassen. Die vorhandene Maxi-Cosi-Halterung in der Transportbox ermöglicht auch die Mitnahme eines Babys. Ein Zweibeinständer sorgt für sicheren Stand beim Ein- und Ausladen. Das Lastenrad ist ausgelegt auf Fahrerinnen und Fahrer ab einer Körpergröße von 1,57 Metern. Vorne und hinten wird mit einer Rollenbremse das Bike im Zaum gehalten.
Das Babboe City-E kommt mit einem Hinterradmotor, der mit seinen 40 Newtonmetern Drehmoment jeder Last den Schrecken nimmt. In vier bis sechs Stunden Ladezeit liefert der Akku, verfügbar in drei Varianten mit 375 Wh, 450 Wh und 500 Wh, eine Reichweite von 50 bis 70 Kilometern. Die große Box ist für die verschiedensten Nutzungsszenarien konfigurierbar. Wenn doch einmal geschoben werden muss, sorgt die integrierte Schiebehilfe auch dann für ein angenehmes Vorankommen.
Als Mountain-Version kommt das Babboe-Lastenrad City ausgestattet mit einem Yamaha-Mittelmotor und NuVinci-Gangschaltung. Wie bei der E-Version sorgen hy-draulische Scheibenbremsen vorne und hinten für eine sichere Verzögerung. Der Akku ist in zwei verschiedenen Größen mit 400 Wh oder 500 Wh Energiegehalt erhältlich, was dann für 40 bis 60 Kilometer Reichweite und größere Steigungen genügt. In allen Varianten ist der Rahmen durch seine stoßfeste Pulverlackierung besonders robust und innen mit einem Rostschutz vor Wettereinflüssen geschützt.


Bilder: Babboe

Wer den Verkehrsraum umgestalten und neu verteilen will, begegnet meist großen Widerständen, egal ob durch die Bevölkerung oder das ortsansässige Gewerbe. Albert Herresthal, Herausgeber des Informationsdienstes Fahrradwirtschaft, sprach mit Kirsten Pfaue, Leiterin des Amts Mobilitätswende Straßen in Hamburg, darüber, wie sie in der Hansestadt Akzeptanz für ihre Maßnahmen erzeugt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Verkehrspolitik ist immer ein Konfliktfeld, denn Veränderungen gefallen nicht jedem. Wie gelingt es Ihnen, vor Ort eine möglichst breite Akzeptanz für die Umgestaltungen zu schaffen?
Die Hamburger Radverkehrsförderung haben wir einerseits durch das stadtweite Erheben und Analysieren von Daten untermauert. Wir haben in Hamburg ein dauerhaftes und automatisiertes Radverkehrszählnetz aufgebaut. Die Daten von rund 100 Messquerschnitten mit Wärmebildtechnik sind online abrufbar. Darüber können wir Entwicklungen erläutern und konkrete Maßnahmen erklären. Zahlen, Daten, Fakten schaffen Akzeptanz und Verständnis. Denn am Ende bilden sie das Verhalten der Menschen selbst ab und diese gehören als Nutzerinnen und Nutzer in den Mittelpunkt. Außerdem haben wir einen guten Maßnahmen-Mix hinbekommen zwischen Marathon, also lang andauernden Projekten wie dem Netzausbau und Sprints, also schnell umzusetzenden Maßnahmen wie der Roteinfärbung von Kreuzungsbereichen, der Umsetzung von Pop-up-Bikelanes und der Schaffung von mehr Protektion. Letztlich ist es so, dass Maßnahmen Akzeptanz haben, wenn die Menschen merken, dass sie ihre tägliche Mobilität verbessern. Durch mehr Komfort und mehr Sicherheit.

Setzen Sie Planungen auch gegen Widerstände durch oder ist die Akzeptanz der unmittelbar Betroffenen für Sie eine Voraussetzung für die Umsetzung?
Mit dem Kopf durch die Wand ist keine gute Grundhaltung und sicher nicht meine. Ich bin überzeugt davon, dass in jeder Kritik auch eine Botschaft und eine Chance stecken. Deshalb gilt es, in einem ersten Schritt ernsthaft zuzuhören, die Belange in den Prozess einzubauen und dann abzuwägen.

„Mit dem Kopf durch die Wand ist keine gute Grundhaltung.“

Kirsten Pfaue, Leiterin des Amts Mobilitätswende Straßen in Hamburg

Vielerorts kämpfen ansässige Einzelhändler um jeden Parkplatz und eine optimale Anbindung mit dem Auto. Erleben Sie das in Hamburg auch so? Welchen Weg haben Sie im Gespräch mit den Händlern gefunden, Verständnis für Ihre Planungen zu erreichen?
Wir haben uns in unserem „Hamburger Bündnis für den Rad- und Fußverkehr“ einen Grundsatz gegeben und zwischen allen Partnern abgestimmt, der heißt, dass alle Beteiligten der Information von Bürgerinnen und Bürgern, Betroffenen, Politik und Interessenverbänden in ihren Zuständigkeiten einen hohen Stellenwert einräumen. Dies insbesondere dort, wo bereits artikuliertes öffentliches Interesse, eine Verknüpfung mit anderen Planungsprozessen im Stadtteil, hoher Einzelhandels- und Gewerbebesatz, Parkplatzmangel oder viele Straßenbäume in engem Straßenraum Konflikte möglich erscheinen lassen. Hier soll stets eine Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden. Unser Ziel in Hamburg ist es, ins Gespräch zu kommen und zu verdeutlichen, welche Chancen auch für Händlerinnen und Händler durch eine bessere Radverkehrsanbindung bestehen – vor allem in Kombination mit dem ÖPNV.

Gibt es Projekte, die am Widerstand gescheitert sind, und wie gehen Sie damit um?
Natürlich ist es auch schon vorgekommen, dass wir Projekte „on hold gestellt“ oder umgeplant haben, weil es Rückmeldungen und Diskurse gab, die uns veranlasst haben, Dinge zu überdenken. Wichtig ist, sich dann nicht festzubeißen, sondern die Dinge in Ruhe mit allen Stakeholdern zu erörtern.

Welche Rolle spielen Presse und Medien für Ihre Arbeit und wie gelingt es, dass sie eine konstruktive Rolle einnehmen?
Der gesellschaftliche Konsens, dass wir eine Mobilitätswende brauchen, der ist in Hamburg da, und die Zahlen zeigen dies auch eindrucksvoll. In 2022 wurden 68 Prozent aller Wege der Bevölkerung Hamburgs mit Verkehrsmitteln des Umweltverbunds, also im ÖPNV, mit dem Fahrrad und zu Fuß, zurückgelegt. Im Vergleich zu 2017 ist dieser Anteil um 4 Prozentpunkte gestiegen. Den größten Zuwachs erreichte dabei das Fahrrad, dessen Anteil in 2022 gegenüber 2017 um sieben Prozentpunkte auf 22 Prozent angestiegen ist. Das ist enorm! Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs sank von 36 Prozent in 2017 auf 32 Prozent in 2022. Dies gibt meiner Arbeit natürlich viel Rückenwind und letztlich wissen wir doch alle, auch Presse und Medien, dass ein „einfach weiter so“ nicht geht. Auch gegenüber den Medien ist es deshalb wichtig, und dies ist unser Bestreben, transparent und klar zu erläutern, was wir warum tun. Dies hilft enorm.

Zur Person

Kirsten Pfaue hat mit dem Thema Fahrrad eine erstaunliche Karriere gemacht: Von 2010 bis 2014 war sie Landesvorsitzende des ADFC Hamburg, 2015 wurde sie Radverkehrskoordinatorin der Freien und Hansestadt Hamburg und heute leitet sie das Amt „Mobilitätswende Straßen“. Doch auch bundesweit ist Kirsten Pfaue gefragt. So wurde sie 2022 zur Vorsitzenden des Beirats Radverkehr im Bundesverkehrsministerium gewählt.
Doch Posten sind nur das eine, spannender sind die tatsächlichen Ergebnisse auf der Straße. Und hier hat Hamburg in den letzten zehn Jahren große Fortschritte gemacht, wenn auch beginnend auf sehr niedrigem Niveau (Bewertung Fahrradklimatest 2012: Schulnote 4,4). Heute findet man Velorouten und Fahrradstraßen, gerade auch an sehr prominenten Stellen, etwa entlang der Außenalster. Zwar ist Hamburg von durchgängigen Netzen für den Radverkehr noch weit entfernt, aber es ist eine konsequente Strategie erkennbar, deren Umsetzung im Vergleich zu vielen anderen Städten relativ geräuscharm erfolgt.


Bild: bvm.hamburg

Wie gelingt Radverkehrsförderung in kleineren Kommunen? Die Gemeinde Eichwalde bei Berlin lernt in einem Reallabor, wie es mit datengestützter Planung und Zusammenarbeit mit den Nachbargemeinden besser vorangeht. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Auf kommunaler Ebene steckt der Teufel oft im Detail. Beispiel: der interkommunale Radweg von Eichwalde nach Königs-Wusterhausen. Jörg Jenoch, Bürgermeister von Eichwalde, kennt die Herausforderungen: „Wenn vier Kommunen so etwas planen und jeder seinen Teil ohne Fördermittel in seinem Haushalt einstellen muss, gibt es garantiert eine Kommune, die das in dem Jahr nicht macht.“ Etwa wenn es andere Budgetpräferenzen gibt. „Deswegen haben wir gesagt: Obwohl es vier Teilstücke sind, müssen wir uns gemeinsam auf den Weg machen.“ Das heißt unter anderem: gemeinsam einen Förderantrag stellen.
Damit willkommen vor Ort im Nudafa-Reallabor. Das Kürzel steht für „Nutzerdatengestützte Planung eines integrierten Fahrradverkehrsnetzes“. Das Projekt konzentriert sich auf die Erfordernisse kleiner und mittlerer Kommunen und sucht nach innovativen Ansätzen dafür. Nudafa-Verbundkoordinator Christoph Kollert, dessen Büro gleich neben dem des Bürgermeisters liegt, sagt: „Zwei Themen stehen bei uns im Fokus: Welche Rolle kann interkommunale Kooperation spielen? Der andere Aspekt ist, wie frei verfügbare OSM-Daten genutzt werden können, um Planungsprozesse mit digitalen Tools zu unterstützen.“

Erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit mittels Beteiligungsteppich. Die begehbare Karte zeigt die lokale Infrastruktur und lädt zur Diskussion.

Mit Radverkehrsdaten planen und überzeugen

Bei den Planungstools steht der Radverkehrsatlas im Mittelpunkt. Entwickelt wurde er von von FixMyCity. Mithilfe automatisierter OSM-Daten stellt er die Informationen und Karten für ein mögliches Zielnetz bereit. Besonders hilfreich für Kommunen, die sich erst auf den Weg begeben, ein Radverkehrskonzept zu entwickeln. Kollert erklärt: „Anders als in den Städten hat nicht jede Gemeinde 50.000 Euro für ein Fachplanungsbüro. Die Daten werden von Bürgern gesammelt. Man kann sie aktualisieren und anpassen. Und wir haben ein Tool, das diese Daten automatisiert auswertet. So hat man eine kostengünstigere Grundlage, vernünftig über ein Zielnetz zu diskutieren.“
Denn mit den kuratierten Karten lässt sich das komplexe Thema Radverkehrsplanung rasch für Fachfremde herunterbrechen. So wird ein lokaler Radnetzvorschlag problemlos an die Wand projiziert. Im Hintergrund wird die bestehende Infrastruktur angezeigt. Es kann über Details wie Kopfsteinpflaster oder geeignete Nebenstraßen gesprochen werden. „So treffen wir uns mit der Nachbarkommune, dem Bürgermeister, der Verwaltung. Oder mit den aktiven Bürgern“, sagt Kollert. Zugleich verbindet er den neuen Radverkehrsatlas mit der Hoffnung, von der teils hitzigen „Ihr-Wir“-Diskussion unter Verkehrsteilnehmenden wegzukommen. Zum Beispiel, wenn es um Ideen geht, die Bahnhofsstraße in Eichwalde fahrradfreundlich umzugestalten. „Es gibt mehr Platz. Die Läden können etwas rausstellen. Dabei sprechen wir über Stadtmöbel und eine Vermarktungsstrategie. Dann ist es nicht mehr Radfahrer gegen Auto, sondern eine Placemaking-Diskussion: Wie können wir unser Umfeld schöner machen?“

„ (…) Dann ist es nicht mehr Radfahrer gegen Auto, sondern eine Placemaking-Diskussion: Wie können wir unser Umfeld schöner machen?“

Christoph Kollert, Nudafa-Verbundkoordinator

Nudafa-Verbundkoordinator Christoph Kollert (links) und der Eichwalder Bürgermeister Jörg Jenoch (rechts) arbeiten gemeinsam im Reallabor für interkommunale Zusammenarbeit.

Ressourcen Geld, Mensch und Vertrauen

Technische Lösungen allein sind keine hinreichenden Erfolgsfaktoren für kleinere Kommunen. So wird das Nudafa-Projekt zu 100 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) über den Wettbewerb „MobilitätsWerkStadt 2025“ gefördert, flankiert von der Forschung der TU Berlin und TH Wildau. Insgesamt wurden 1,2 Millionen Euro für die ersten beiden Projekt-Phasen verteilt. Bürgermeister Jenoch betont: „Wir sind keine arme Gemeinde. Aber Kommunen im ländlichen Raum hätten sonst keine Chance, an so etwas teilzunehmen. Die können den Eigenanteil nicht aufbringen. Bekommen wir keine Mittel, begeben wir uns in den politischen Prozess, obwohl noch nichts entstanden ist. In der dritten Phase des Projekts sollen wir selbst etwas dazu beitragen. Aber da haben wir vorher Erfolge produziert. Dann heißt es: Wir haben das eingeworben, die restlichen Mittel haben wir auch noch.“
Der Nudafa-Koordinator ergänzt: „Weil Daten keine Radinfrastruktur bauen, sondern Menschen, Verwaltungen und Geldmittel, müssen wir uns viel breiter aufstellen.“ So wurde auch die Vollzeitstelle für den interkommunalen Radverkehrsmanager möglich, der die Projekte vor Ort vorantreibt. Bürgermeister Jörg Jenoch nennt ihn „unser wirklich existentes Reallabor“. Für erfolgreiche interkommunale Kooperationen reicht eine Stellenbeschreibung aber nicht aus. Vielmehr handelt es sich um eine Gemeinschaftsaufgabe. Kollert: „Unser Radverkehrsmanager macht als Fachplaner die Vergabeverfahren auf der Arbeitsebene. Als Verbundkoordination mache ich viel Vermittlungsarbeit. Manchmal kommen wir nicht weiter, ohne dass Herr Jenoch den Nachbarbürgermeister anruft.“
Neben Finanz- und Personalressourcen kommt bei der Zusammenarbeit mit den Nachbarkommunen ein weiterer Aspekt hinzu. „Es hat ganz viel mit Vertrauen zu tun“, findet der Bürgermeister. „Wir haben teilweise schon Verantwortung abgegeben, weil wir eine gemeinsame Vergabestelle haben. Dann ist der Kollege in Zeuthen dafür zuständig. Macht der in Schulzendorf genauso viel Radverkehrsförderung wie in Eichwalde? Das ist immer wieder schwer zu verstetigen. Dafür braucht es eine Übereinkunft.“

Konkrete und übertragbare Nudafa-Projekte wie der VBB-Modulbaukasten für ein Fahrradparkhaus sparen anderen Kommunen Zeit und Geld.

Ein Fahrradparkhaus als übertragbares Modell

Zu den Learnings gehört auch, wie man mit konkreten und vorzeigbaren Modellen überzeugt. Kollert: „Wir haben gesehen, die Kommunen brauchen etwas, wo man hingehen kann und sagen: So sieht das aus, so hoch ist das und so funktioniert das.“
In Eichwalde hat man im Rahmen von Nudafa eine Reihe konkreter Projekte angestoßen: vom Lastenrad über den interkommunalen Fahrradweg, einer begehbaren Karte für die Öffentlichkeitsarbeit („Beteiligungsteppich“) bis hin zur Dienstradleasing-Praxis. Als Paradebeispiel für die Übertragbarkeit könnte das modulare Fahrradparkhaus stehen. Es soll auf beiden Seiten des Bahnhofs Platz für jeweils 360 Stellplätze bieten. Gemeinsam mit dem Verkehrsverbund Berlin Brandenburg (VBB) und dem Planungsbüro Bahnstadt ist ein Baukastensystem mit durchgängigem Dach geplant. Nach dem erfolgreichen Bau soll eine Typengenehmigung beim Land Brandenburg beantragt werden. So muss nicht jede Kommune neu prüfen, ob ihr Vorhaben statisch genehmigungsfähig ist. Andere Gemeinden könnten nicht nur technisch das Eichwalder Parkhausmodell übernehmen. Mit dem vereinfachten Genehmigungsverfahren und Rahmenvertrag sparen sie ebenso Zeit und Geld.

Stärkung der Akteure vor Ort

Ob Parkhaus oder Beteiligungsteppich: Wichtig ist, dass der Funke auf die Nachbarkommunen überspringt. Denn dass die Verkehrswende zuerst über ethische und moralische Argumente funktioniert, daran glaubt Kollert nicht. Es muss anfassbar sein: „Und dann muss man die Antwort parat haben für die Leute, wenn sie es machen wollen.“ Sprich: die Akteure und Akteurinnen.
Die wissenschaftliche Begleitforschung des Nudafa-Projekts sorgt für eine qualitative Prozessanalyse und Akteurskartierung. Dabei schaut man, wer vor Ort aktiv ist und wertet das aus für Hemmnisse und Potenziale. „Am Anfang lag der Fokus noch auf der Bevölkerung“, erläutert Kollert. „Irgendwann haben wir gesagt: Wir werfen den Blick auf die Radverkehrsfördernden. Auf uns, den ADFC oder einzelne Personen, die Lastenräder pushen. So gibt es Leute, die sind auf Landkreisebene vernetzt und sorgen dafür, dass auch Planungskosten förderfähig sind. Jeder Tiefbaubearbeiter, der das nebenbei on top macht, ist ein Radverkehrsfördernder. Auch das haben wir gelernt: Wenn wir wirklich eine Radinfrastruktur und den strukturellen Wandel wollen, müssen wir die Leute in den Fokus nehmen, die das machen.“
So ist das Reallabor ein willkommener Anlass, die Akteure zu vernetzen und mit Ressourcen zu unterstützen. Herr Kollert weist darauf hin, dass das Engagement der zentralen Akteur*innen sind gut und richtig. Aber wir müssen es schaffen, dass die Radverkehrsfördernden vor Ort besser zusammenkommen, in weniger Zeit effektiver Arbeiten können. Und dass sie Spaß haben und die Erfolge sehen.“ Dafür setzt man einen Rahmen. Kollert: „Es hilft zu sagen, wir sind ein Reallabor. Wir machen innovative Dinge, werden gefördert und haben den Auftrag, das zu probieren. Wir haben sogar die Erlaubnis, scheitern zu dürfen.“

Der Radverkehrsatlas liefert die aktuellen Infrastrukturdaten, die Kommunen für ihre Verkehrsplanung brauchen. Die Darstellung nach Themenkarten hilft auch Laien beim Verständnis der Planungsvorhaben.

Von der Implementierung zum Wissenstransfer

Neben der Umsetzung des erarbeiteten Radnetzes vor Ort ist das Ziel des Nudafa-Projekts die Übertragbarkeit der durchgeführten Maßnahmen. Am Ende sollen konkrete Steckbriefe und Leitfäden formuliert werden, wie sich Prozesse der interkommunalen Radverkehrsförderung optimieren lassen. Und eine Art Cookbook für das Planungstool wie sonst in der IT-Branche üblich. „Darin steht relativ knapp: Das brauche ich, das kostet das“, erläutert der Verbundkoordinator. „So etwas fehlt ganz oft: Beschreiben, wie man es umsetzt. Und idealerweise ein Leistungsverzeichnis.“
Weniger die Idee von Reallaboren soll „übertragbar aufbereitet“ werden, sondern deren Erkenntnisse. Kollert nennt einige konkrete Beispiele, die überall funktionieren können: „Ein Dienstradleasing kann man sehr einfach und schnell mit einer einstufigen Vergabeverhandlung mit Online-Bietern besprechen. Überlegt euch eine Rahmenvereinbarung für Abstellanlagen. Meldet euch beim VBB, die helfen euch beim Fahrradparkhaus. Macht eine gemeinsame Radtour mit den Akteuren. Wollen wir den Radverkehr in die Fläche bringen, brauchen wir solche umsetzungsorientierten Lösungen. Wis-senstransfer ist immer, dass man Erfolg sieht. Das ist die Antwort, die wir für die Radverkehrswende brauchen.“
Wo Wissenschaft oft sehr systemisch arbeiten muss, ist es für die Umsetzung schließlich wichtig, das Projekt aus Sicht einer Kommune aufzubereiten. Sonst kann es zum Problem werden, etwa wenn ein Transfer von Externen eingeleitet wird, die nicht die Verwaltungsbedürfnisse kennen. Die Nudafa-Experten aus Eichwalde kennen diese Perspektive genau. Schon jetzt bieten sie anderen Kommunen ausdrücklich ihre Hilfe an und schauen sich die spezifische Situation gern vor Ort an.

„Wir können die Radnetzplanung vereinfachen“

Interview mit Heiko Rintelen

Herr Rintelen, wozu brauchen Kommunen einen Radverkehrsatlas?
Die meisten Kommunen besitzen keine guten Daten zu ihrer eigenen Radinfrastruktur. Punktuelle Daten wie aus Zählungen sind oft veraltet, nicht vollständig und nach diversen Standards verfasst. Meist ist ein Ingenieurbüro losgelaufen und hat das irgendwann erfasst. Deshalb haben wir für das Nudafa-Projekt wesentliche Daten aus Open Street Map schrittweise in automatisierte Prozesse überführt. Die Ergebnisse stellen wir in einer Online-Plattform dar. Damit können wir die klassischen Schritte der Radnetzplanung vereinfachen.

Wie funktioniert das genau?
Da läuft eine Software mit einem Algorithmus durch, der sagt: Ich hätte gerne folgende Daten in einem bestimmten Gebiet. Aber nur zum Beispiel die „Points of Interest“, etwa die Einkaufsmöglichkeiten. Dann nimmt der sich noch die Ortsnamen und Einwohnerzahlen. Wir haben zusätzlich die Möglichkeit, Gebäude mit reinzuholen, die Barrieren wie Autobahnen, Eisenbahntrassen und Gewässer. Damit kann man die erste Quell- und Zielgeschichte bestimmen. Teilweise werden die Daten in einer Weise prozessiert, wo wir unterschiedliche Führungsformen zusammenführen – getrennt nach Mischverkehr. Das ist für die konkrete Radnetzplanung eine wichtige Unterstützung, um zu schauen, wo muss ich was machen. Ich habe hier eine Hauptstraße, da will ich vielleicht einen getrennten Radweg haben. Wir können sehen, wo es einen gemeinsamen straßenbegleitenden Geh- und Radweg gibt. Selbst die beidseitige Ausrichtung prozessieren wir. Außerdem haben wir in dem Atlas eine Prüffunktion, die ich abhaken kann unter der Frage: Stimmen diese Daten? Dann kann ich sie amtlich machen. Und ich kann alle paar Monate Änderungen nachverfolgen.

Welche Rückmeldungen bekommt das Projekt?
Die erste Rückmeldung ist immer: Super, dass wir endlich Daten haben! Und zwar auf einer Website, die intern von mehreren Personen genutzt werden kann. Aber auch: Erst jetzt haben wir gesehen, dass es kein Tempo 30 vor der Schule gibt. Hier fahren die ganzen Schüler lang, aber es gibt keinen Radweg. Da fühlen sie sich unsicher. Dort gibt es sogar Unfälle. Planerisch ist die Schulwegkarte vielleicht nicht so wichtig. Für die politische Überzeugungsarbeit jedoch schon. So hat man einen schnellen Effekt, über den man nicht lange diskutieren muss.

Wie geht es weiter?
Nudafa war sozusagen das Pilotprojekt. Das wird wahrscheinlich fortgeführt. Mittlerweile haben wir den Radverkehrsatlas neben der Gemeinde Eichwalde schon mit anderen Kommunen genutzt. Darunter in Bietigheim-Bissingen, Amt Treptower-Tollensewinkel oder Amt Woldegk. Den Radverkehrsatlas kann man unabhängig von Nudafa deutschlandweit nutzen. Es gibt eine Marketingseite, dort kann man sich auf die Warteliste setzen lassen. Wenn die Open-Beta-Version fertig ist, werden wir alle Interessenten anschreiben und freischalten. Das geht in wenigen Tagen. 


Bilder: Gemeinde Eichwalde, Planungsbüro BahnStadt, FixMyCity

Berlin hat eine neue Regierung. Die ersten Amtshandlungen der neuen Verkehrssenatorin brachten Radaktivist*innen in Aufruhr. Was steckt dahinter – und was ist zu erwarten? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Die Aufregung in der Hauptstadt vor den Sommerferien war enorm. „Die neue Senatorin entpuppt sich als Autoverkehrssenatorin, die zwar ‚Miteinander‘ propagiert, während ihr Herz aber eindeutig für die autogerechte Stadt schlägt“, kommentierte Ragnhild Sørensen die Aktivitäten der neuen Berliner Senatsverwaltung. Nicht nur die Sprecherin vom Verein Changing Cities, der seinerzeit den Volksentscheid zum Fahrradverkehr vorangetrieben hatte, Tausende waren in Berlin innerhalb weniger Tage mobilisiert worden und protestierten gegen den vermeintlichen Autopopulismus des neuen schwarz-roten Senats. Ende Juni feuerte Changing Cities aus vollem Rohr: „Verkehrssenatorin wickelt das Mobilitätsgesetz ab“, stand über einer Pressemitteilung. Die Medien der Hauptstadt berichteten über „mögliche Kürzungen beim Radverkehr“.

Neue Senatorin lässt Maßnahmen ruhen

Der konkrete Anlass für den Aufruhr war ein Verwaltungsvorgang, den selbst politische Widersacher der neuen Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) für eine legitime Maßnahme halten. Die Politikerin hatte am 16. Juni angekündigt, dass alle von der rot-grün-roten Vorgängerregierung beschlossenen Radwege-Bauprojekte überprüft würden. Während Schreiner von vornherein von einem „Ruhen“ der Maßnahmen und einer „Priorisierung“ mit dem Ziel eines funktionierenden Verkehrsmixes sprach, wähnten Vertreterinnen des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) ebenso wie grüne Politikerinnen in den Berliner Bezirken einen möglichen „Stopp“ des Radwege-Ausbaus. Der ADFC sah die Gefahr, dass „bewusst Politik gegen die Radfahrer“ gemacht werde.

Freigabe nach Check durch die „Task Force“

Faktisch war Folgendes geschehen: Senatorin Schreiner hatte mit ihrer Verwaltung 19 Radwege-Baumaßnahmen überprüft, die noch von der alten Regierung beschlossen worden und in den folgenden drei Monaten für die Umsetzung vorgesehen waren. Eine „Task Force“ im Verkehrssenat hatte die Aufgabe, diese Projekte zu prüfen. Wer genau sich hinter dieser „Task Force“ verbarg, beantwortet die Pressestelle des Verkehrssenats wie folgt: „Die Task Force ist eine kleine agile Einheit, die sich aus Expertinnen und Experten der Radwegeverkehrsplanung zusammensetzt. Die Gruppe prüft und plant ideologiefrei Radwege in der ganzen Stadt. Sie wird dies auch weiterhin machen.“ Die Ergebnisse kamen in den folgenden Wochen Stück für Stück an die Öffentlichkeit, in der längst eine Negativberichterstattung hohe Wellen schlug. Mit drei Ausnahmen gab die Senatorin schließlich die geplanten Vorhaben und die Finanzmittelzusagen wieder frei. Viel Lärm um nichts also? Stefan Gelbhaar, direkt gewähltes Bundestagsmitglied für Bündnis 90/Die Grünen im Bezirk Berlin-Pankow und Radpolitik-Vordenker, ordnet das Handwerk ein: „Wie das kommunikativ in die Wege geleitet wurde, wie an die Bezirke gegangen wurde, was die Bezirke teilweise daraus gemacht haben, das war jetzt nicht nur kommunikativ, sondern auch politisch: einfach sehr schlechte Governance.“

„Die Verkehrswende will keiner stoppen, auch nicht die Senatorin.“

Andreas Knie
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wahlkampfthema: „Politik gegen Autofahrer“

Die jüngste Eskalation zwischen Verkehrsaktivistinnen, Vertreterinnen der Bündnis-Grünen und der CDU-Senatsverwaltung geschah vor dem Hintergrund einer verankerten politischen Auseinandersetzung. Ein dankbares Wahlkampfthema für die CDU war die vermeintliche Ideologie, mit der wiederum die Grünen in der alten Regierung Mobilitätspolitik betrieben hätten. Das Motiv der leidenden Autofahrer schwang in Berlin ständig mit. Nach der Wahl sagte der neue Regierende Bürgermeister Kai Wegner, die Mehrheit in seiner Stadt sei es leid gewesen, dass laufend Politik gegen Autofahrer gemacht werde. „Dafür stehe ich nicht zur Verfügung.“ Allerdings kann kaum die Rede davon sein, dass Wegner mit einem harten Autofahrer-Wahlkampf agiert hätte, sagen die politischen Beobachter. „Die Grünen hätten im Mobilitätswahlkampf stärker und überzeugter auftreten können. So musste die CDU nicht einmal einen harten Auto-Wahlkampf machen“, sagt etwa Heinrich Strößenreuther, Radverkehrsaktivist mit CDU-Parteibuch. Auch Andreas Knie, Mobilitätsforscher beim Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, hielt die Aufregung für übertrieben. „Kontroversen werden schon mal gerne künstlich herbeigeschafft“, sagt Knie, „die große Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner weiß um die Situation, weiß um die Probleme mit versiegelten Flächen und dem Verkehr.“ Daher ist der Forscher sicher: „Um es klar zu sagen: Die Verkehrswende kann man gar nicht mehr stoppen und die will auch keiner stoppen, auch nicht die Senatorin.“

Gewachsene Unzufriedenheit trifft neuen Senat

Mit einem etwas distanzierteren Blick auf die Vorgänge des Sommers tritt ein spannendes Muster zutage. Eine neue, eher konservative, Regierung tritt das Erbe jener Politiker an, die wiederum vor einigen Jahren stark vom Erfolg der Radverkehrs-aktivistinnen angetrieben worden waren. Die Baumaßnahmen in der Hauptstadt haben auch überregional Aufsehen erregt. 130 Kilometer hatte die Vorgängerregierung nach Berechnungen von „Changing Citites“ als neue Radwege ausgewiesen, das war deutlich weniger als eigentlich angestrebt. „Außerdem war das sehr großzügig gerechnet und oftmals nicht in der Qualität, wie sie im Berliner Mobilitätsgesetz gefordert wird“, urteilt Strößenreuther. Aus seiner Sicht war der Protest, der sich nun im Sommer gegen die neuen Verant-wortungsträgerinnen entlud, länger schon gewachsen. „Der Boden für den Widerstand gegen die Verkehrssenatorin ist sehr fruchtbar“, sagt Strößenreuther, „denn die Unzufriedenheit hat sich bereits mit der rot-grün-roten Regierung aufgestaut, kann sich aber jetzt eher entladen, da die eigene Klientelpartei nicht mehr in der Regierung ist.“

Auch nach sechs Jahren rot-grün-rotem Senat gibt es in Berlin beim Radverkehrsausbau noch viel zu tun. Die Berliner Verwaltungsstruktur mit viel Entscheidungskompetenz in den Bezirken macht den Weg dabei nicht einfacher, sagen Beobachter.

„Ideale Voraussetzungen für Aktivisten“

Was das bedeutet, war in Berlin gut zu erkennen in den vergangenen Wochen. Fahrradvertreterinnen und Politikerinnen der Grünen gingen in Alarmismus über. Auch die SPD, Regierungspartnerin der CDU, schloss sich öffentlich dem Widerstand gegen vermeintliche Sparmaßnahmen beim Radverkehr an. So erbte Senatorin Schreiner einerseits den Frust, andererseits hat sie eine besonders aufmerksame Community um sich herum. „Als Aktivist“ sei er erstaunt gewesen, „dass das Mobilitätsgesetz so schnell und so stark auf der Agenda war, wie nur ein kleiner Funke eine verkehrspolitische Explosion entzündet – das sind optimale Voraussetzungen, um miteinander das Thema Verkehrswende voranzutreiben, den sonst bleiben alle in ihren Schützengräben“, sagt Strößenreuther.
Grünen-Abgeordneter Gelbhaar sieht die kritische Masse als wichtige Rahmenbedingung. Anderthalb Wochen nach der Bekanntgabe des Moratoriums für die Radwege habe es einen zwölf Kilometer langen Demonstrationszug von Radfahrenden gegeben. „Das ging sehr schnell“, sagt Gelbhaar: „Das hat CDU und SPD im Senat beeindruckt und richtigerweise aufgeschreckt.“ So lässt sich bislang auch zumindest in den Äußerungen der Politikerin Schreiner keinesfalls eine Abkehr vom Radwegeausbau erkennen. „Der neue Senat hat ein ganz klares Ziel: Mehr Radwegekilometer zu bauen als die Vorgängerregierung“, heißt es aus der Pressestelle des Verkehrssenats.

Was hinterließ der alte Senat?

Mobilitätsforscher Andreas Knie hat sich selbst ein Bild gemacht. Er urteilt positiv: „Die Senatorin will es richtig machen. Und da muss man auch tatsächlich selbstkritisch sagen, dass die bisherige Regierung im Kampf um diese Gebiete, im Kampf um die ersten Meter das eine oder andere Stückwerk hinterlassen hat.“ Am Plan, ist Knie sicher, werde nicht gerüttelt. Tatsache ist, dass die alte Regierung den Prozess zwar vorangetrieben hat, die Maßnahmen aber teilweise sehr schleppend vorankamen. Gelbhaar verteidigt hingegen die Arbeit der Vorgängerregierung. Auf Bezirks-ebene hätten vor sechs Jahren die Straßenbau-Fachleute den Radverkehr „mitgemacht“, auf Landesebene habe es „anderthalb Leute für ganz Berlin“ gegeben. „Das hat sich geändert. In jedem Bezirk gibt es Menschen, die für den Radverkehr zuständig sind. In der Senatsverwaltung ist eine ganze Abteilung aufgebaut worden.“
Heinrich Strößenreuther sieht eine Verwaltungsbeschleunigung als elementar an. Die Lage habe sich schon mit der neuen Staatssekretärin unter der Vorgängerregierung verbessert, nun sei mit Claudia Elif Stutz eine Fachfrau und erfahrene Beamtin aus dem Bundesverkehrsministerium in den Senat gewechselt. Wichtig: Elif Stutz fahre selbst ganzjährig Rad, sagt Strößenreuther. Die von Rot-Grün-Rot geschaffenen personellen Kompetenzen, etwa 80 Personen, reichten zwar eigentlich nicht aus, glaubt Strößenreuther. Aber es sei eben eine Beschleunigung der Verwaltungsarbeit relevant, um das Thema voranzutreiben.

„Für die Verkehrswende muss beständig nachgelegt werden. “

Stefan Gelbhaar
Bündnis 90/Die Grünen

Sorge vor Veröden der Radpolitik

Grünen-Radpolitiker Stefan Gelbhaar hingegen ist in Sorge. Klar könne man jetzt nicht offen gegen die Radverkehrspolitik agieren. „Nach diesen Vorgängen steht im Raum, dass die Abteilung eben politisch abgeschnitten wird, dass sie langsam verödet, relevante Entscheidungen nicht getroffen oder verzögert werden.“ Seine Sorge: Bei den Haushaltsberatungen könnte die neue Regierung eher Budgets für Großprojekte freiräumen, etwa den U-Bahn- und Straßenbau. „Dann fehlen Geld und Personal bei realistischen Projekten in Sachen Straßenbahn und Fahrrad.“ Er befürchtet, dass sich zwar auf dem Papier zunächst nichts ändern werde, aber die Priorität des Radverkehrs nach unten rücke. „Die Frage ist: Kommen weiter viele neue Projekte dazu oder wird das Thema entschleunigt? Derzeit sehen wir nur Projekte, die von der alten Regierung noch auf den Weg gebracht wurden. Für die Verkehrswende muss allerdings beständig nachgelegt werden.“

Senat „will“ Budget auch nutzen

Die neue Regierung kündigt an, dass sie nicht nur Gelder für den Radverkehr im Haushalt einstellen wolle (29,32 Mio. Euro 2024, 29,81 Mio. Euro 2025), sondern anders als die Vorgängerregierung diese Mittel auch tatsächlich ausgeben „will“. Dies ist ein bekanntes Problem ineffizienter, aber ambitionierter Politik. Und hier setzen die Beobachter auf die Kraft der neuen Führung. Für Heinrich Strößenreuther wird es besonders wichtig sein, an die S-Bahn-Stationen auch qualitativ hochwertige Bike-and-Ride-Anlagen zu bauen und gefährliche Kreuzungen zu entschärfen. Hier stockte der Fortschritt zuletzt. Forscher Andreas Knie weist auf ein spezifisches Thema der Hauptstadt hin: In Berlin kümmern sich abseits der großen Straßen die Bezirke um den Straßenbau. „Es bräuchte ein Landestiefbauamt, wo der Senat nicht nur anordnet, sondern auch baut – oder wo die Bezirke Anträge stellen können.“ Eine Verwaltungsreform wäre seiner Ansicht nach also geboten, um dem Radverkehr nachhaltig Schub zu verleihen.

„Verkehrsbuch ohne Autohass“

Radverkehrs-Aktivist Heinrich Strößenreuther schreibt derzeit gemeinsam mit Michael Bukowski und Justus Hagel ein neues Buch, das die nachhaltige Stadtentwicklung inspirieren soll und dabei das „Gegeneinander“ durch „Miteinander“ ersetzen soll. „Das Verkehrsbuch ohne Autohass – wie wir alle den Kulturkampf um die Straßen gewinnen“ heißt das Projekt, für das seit Anfang August auf der Crowdfunding-Plattform Startnext Geld gesammelt wird. Strößenreuther kündigt gegenüber VELOPLAN an, dass das Buch auf jeden Fall veröffentlicht werde. Mit dem Crowdfunding möchten die Autoren auch Aufmerksamkeit darauf lenken, dass „Verkehrsfrieden“ geschafft werde.

https://www.startnext.com/verkehrsbuch-ohne-autohass/blog/beitrag/crowdfunding-ohneautohass-super-angelaufen-p102201.html


Bilder: stock.adobe.com – Tobias Seeliger, Stefan Gelbhaar, Albert Herresthal, stock.adobe.com – Marco

Das Segment der Falträder hat seine klapprigen Ursprünge bereits im letzten Jahrhundert hinter sich gelassen. Nicht nur die Branche selbst ist von ihrem Mobilitätskonzept überzeugt. Österreich fördert Falträder mit einer Kaufprämie. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Heißt es nun Falt- oder Klapprad? Ein Blick hinter die Kulissen der Fahrradbranche zeigt, dass beide Antworten begründbar sind. Der Begriff Klapprad geht ins letzte Jahrhundert zurück, wo die ersten Klappräder mit minderwertiger Qualität und unter Preisdruck aufkamen. „Das Wort Klapprad ist stark geprägt aus den 70er-Jahren, als das Auto ein Fortbewegungsmittel war und das Fahrrad ein Spielzeug. Da kam das Klapprad auf den Markt, um in den Kofferraum vom Auto zu passen, damit man am Wochenende raus ins Grüne fahren und dort seine Zwei-Kilometer-Tour machen konnte“, so Markus Riese, Gründer und Engineering-Mentor bei Riese & Müller. Der Hersteller, der heute in erster Linie für E-Bikes bekannt ist, hat seine Anfänge in einem Rad gehabt, das in Abgrenzung zu den Freizeiträdern des 20. Jahrhunderts seit 1995 als Faltrad Birdy vermarktet wird. Der Ansatz des Modells geht nicht vom Auto aus. Das Birdy soll ein vollwertiges Fahrrad sein, das man eben auch noch praktisch mitnehmen kann. Auch Valentin Vodev, Geschäftsführer des Österreicher Herstellers Vello sieht es als notwendig an, sich vom ersten Entwicklungsstadium der faltbaren Fahrräder abzugrenzen. „Ein Klapprad klappert und unser Faltrad klappert nicht.“ Dennoch wolle man online auch diejenigen ansprechen, die das Netz eben doch nach Klapprädern durchforsten.

Mit dem klapprigen Image der 70er-Jahre haben moderne Faltradmodelle wenig gemeinsam. Die kompakten Abmessungen der gefalteten Räder sind nicht nur beim Transport praktisch, sondern auch für die Lagerung.

Unvergleichlich multimodal

Sehr verbreitet sind die Räder mit den zwei Namen unter pendelnden Menschen. Das handliche Faltmaß, das die meisten Modelle mit sich bringen, prädestiniert sie zur Mitnahme in anderen Verkehrsmitteln. Wie gut Falträder als multimodales Werkzeug funktionieren, hat auch das österreichische Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (BMK) erkannt. Das BMK fördert seit März 2023 Falträder mit einem Zuschuss von 600 Euro. Förderfähig sind Betriebe, Privatpersonen, Vereine und Gemeinden. Für Privatpersonen setzt das Ministerium voraus, dass sie eine Jahreskarte des ÖV besitzen. Zudem darf das Faltrad die Gepäckmaße der Österreichischen Bundesbahn von 110 x 80 x 40 Zentimetern nicht überschreiten. Die Zielgruppe multimodal Reisender ist durch diese Details klar definiert. Felix Beyrer vom BMK erklärt: „Die Kombination von Fahrrad und Öffentlicher Verkehr ist essenziell für die klimafreundliche Mobilität der Zukunft. Neben dem Ausbau des Bike&Ride-Angebots und der Radverleihsysteme ist auch die Verbesserung der Fahrradmitnahme eine wichtige Maßnahme im österreichischen Masterplan Radfahren zur Verknüpfung von Fahrrad und ÖV. Falträder können als Gepäckstück kostenlos in den Öffis mitgenommen werden und bieten daher für unregelmäßige Fahrten eine platzsparende und kostengünstige Lösung für die letzte Meile an.“ Die Förderung in Österreich funktioniert und wird insbesondere für Falträder besonders gut angenommen, so das Ministerium. Zwischen März und Anfang August 23 wurden 2000 Anträge für deren Förderung gestellt. Am häufigsten kommen die Anträge aus Wien.
In Deutschland hat zumindest der Hersteller Brompton im vergangenen Jahr ein Pilotprojekt mit der Deutschen Bahn und dem Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart ins Leben gerufen. Für 29 Euro im Monat bekommen Jahresabonennt*innen ein Brompton zur Verfügung gestellt. Nach Ablauf der zwölf Monate gibt es einen Rabatt beim Kauf eines Faltrads.

„Falträder können als Gepäckstück kostenlos in den Öffis mitgenommen werden und bieten daher für unregelmäßige Fahrten eine platzsparende und kostengünstige Lösung für die letzte Meile an.“

Felix Beyrer, Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (BMK) Österreich

Nicht nur die Fahrer*innen von Falträdern des Wiener Herstellers Vello können in Österreich von einer staatlichen Förderung profitieren.

Nicht nur als Reiserad einsetzbar

Neben den verbreiteten multimodalen Nutzungsszenarien gibt es aber auch einige Nebenschauplätze, auf denen die Räder ihre Stärken ausspielen. Mit Reisefalträdern begann die Entstehungsgeschichte der Wiener Firma Vello im Jahr 2015. Valentin Vodev baute drei Prototypen für eine Reise nach Kuba, von der er begeistert berichtet. „Du kommst in Havanna mit einem Bus an, steigst aus, nimmst die Räder und dann zischst du in einer Stadt, wo du noch nie warst, mit deinem eigenen Rad davon. Das ist einfach so geil.“
Markus Riese bestätigt die Vorzügen der Räder, auch bei ungewöhnlicheren Reisen. „Ich kenne jemanden, der hat mit dem Birdy eine Kombinationstour gemacht aus Pack-Raft und Birdy. Zu Land hat er sein Boot auf dem Birdy und wenn er zum Fluss kommt, pumpt er sein Boot auf und lädt das Birdy auf. Das sind natürlich Möglichkeiten, die man mit einem normalen Rad überhaupt nicht hat.“
Nicht für alle Nutzer und Nutzerinnen ist das kompakte Faltmaß der ausschlaggebende Punkt, warum sie ein Faltrad kaufen. Manche Kund*innen benutzen das Birdy als Familienrad. Weil es leicht ist und der Verstellbereich der Sattelstütze groß, können sehr unterschiedliche, mitunter auch zierliche Personen das Fahrrad fahren. Falträder nicht zu falten, mag zunächst widersprüchlich klingen. Die Hersteller wissen aber, dass die kleinrädrigen Fahrräder auch deshalb in der Stadt genutzt werden, weil sie wendig sind und schnell beschleunigt werden können.
Auch wenn das Standing des Faltrads in Europa noch ausbaufähig ist, irrelevant ist das Segment nicht. Die Entwicklung des Faltradmarkts entspreche etwa der des gesamten Fahrradmarkts, gibt Jan Brinkmann von Brompton an. Die Firma bewegt sich bei den Absatzzahlen rund um die 100.000 Stück und blickt optimistisch in die Zukunft. Im vergangenen Jahr gab Brompton den Bauplan eines neuen Werks im Londoner Raum bekannt. In der futuristisch anmutenden Fabrik sollen ab 2027 200.000 Räder pro Jahr entstehen. „Der Stellenwert von Falträdern kommt ein bisschen aus der Nische raus. Wir sehen das auch an den Verkaufszahlen“, sagt Valentin Vodev. Analysten erwarten global betrachtet eine wachstumsgeprägte Zukunft des Segments. Eine Marktanalyse von Fortune Business Insights prognostiziert, dass der Markt von 820 Millionen US-Dollar im Jahr 2021 auf 1,61 Milliarden in 2028 anwachsen soll. Das klapprige Klischee des letzten Jahrhunderts hat die Mobilitätslösung hinter sich gelassen. Gerade in Zeiten des Umweltverbunds zeigt das Faltrad, wie zeitgemäß es ist.

Faltrad im Selbstversuch:

Mobilität in Höchstform

Das Faltrad ist das Gegenteil eines Autos. Es ist klein, leicht, platzsparend und umweltfreundlich. Überschätzen lässt sich die Mobilitätslösung in der Praxis nicht. Ein Versuch, das Lebensgefühl eines Faltrads zu vermitteln.

Hätte es die klapprigen Klappräder der 70er-Jahre nicht gegeben, wäre der Anteil der Falträder am Fahrradmarkt und ihre Rolle in der alltäglichen Wahrnehmung weitaus größer. So resümiere ich nach ein paar Monaten Selbstversuch, in denen ich ein Faltrad testen durfte und es mich im täglichen Leben begleitete.

Die Garderobe wird zum Stellplatz

Das Brompton-Rad, das mir die vergangenen Monate zur Verfügung stand, hat mich in erstaunlich diversen Situation begleitet. Das Fahrrad passt, wie die meisten Falträder, überall hinein, wo ein Koffer auch Platz findet. Dieser Vorteil geht weit über den Nahverkehr und die Züge der Deutschen Bahn hinaus. Das Brompton stand in Eingangsbereichen diverser Wohnungen, in Hotelzimmern oder neben dem Schreibtisch im Büro. Bei Konferenzen oder Theaterbesuchen lässt sich das Fahrrad einfach an der Garderobe abgeben. Die haften zwar meist nicht bei Verlust, das tun Fahrradständer im öffentlichen Raum aber auch nicht.
Auch im Kofferraum von Mitfahrgelegenheiten kam das kleine Fahrrad unter. Der Weg von der Wohnung zum Treffpunkt sowie vom Ausstiegspunkt zum Ziel war planbar und schnell erledigt. Diese Planbarkeit ist gut fürs Gemüt. Die Unzuverlässigkeit vieler öffentlicher Verkehrsmittel mit der Zuverlässigkeit des Radverkehrs ein Stück weit ausgleichen zu können, fühlt sich selbstermächtigend an. Der Zug fährt den Zielbahnhof nicht an? Faltradfahrerinnen können aussteigen und die Reise mit einer spontanen Radtour über die letzten zehn Kilometer vervollständigen. Am Bahnhof selbst oder in vollen Zügen hätte ich ab und an gern auf das zusätzliche Gepäck verzichtet. Mitgenommen habe ich den Mobilitäts-Booster dennoch fast immer. Öffentlicher Nah- oder Fernverkehr ohne Faltrad fühlt sich unvollständig an, wenn man einmal auf den Geschmack gekommen ist. Das Faltrad wird zur zweiten Natur. Wer das Zufußgehen vermisst, kann schieben. Die Falträder von morgen werden sich sicher von den heutigen unterscheiden. Ob der Sprung so deutlich sein wird, wie er es von früheren zu den heutigen Modellen war, wage ich zu bezweifeln. Moderne Falträder sind in erster Linie fahrbar und in zweiter Linie faltbar. In den 70er-Jahren war das noch andersherum. Mit dem Leih-Brompton habe ich mehr als 40 Kilometer lange Touren zu Berliner Badeseen gemacht. Die Anwendungsbereiche sind nicht auf den Alltag beschränkt. Mein Selbstversuch hat mir eine Sache besonders eindrücklich bewiesen. Nicht jeden Vorteil eines Konzepts kann man auf Anhieb erkennen. Mit dem Faltrad im Fahrradanhänger lassen sich sogar Besucherinnen vom Bahnhof abholen, mit denen man dann gemeinsam zurückradeln kann. Neue Mobilitätslösungen auszuprobieren, soviel lässt sich sogar verallgemeinern, ist klar empfehlenswert.

Bilder: Tern, Riese & Müller, Vello – Leonardo Ramirez Castillo, Brompton

Will Butler-Adams ist CEO des Faltradherstellers Brompton. Im Interview erklärt er, wie die Firma ihr eigenes Verleihsystem von Fahrrädern aufgebaut hat und welche Rolle die Fahrradindustrie in sich wandelnden Städten einnehmen sollte. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)


Sie sind seit 21 Jahren bei Brompton. Welche Entwicklungen der Industrie in dieser Zeit sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?
Ich war überall, auf der IFMA, der Eurobike, der Interbike etc. Auf der ganzen Welt habe ich mein Fahrrad auf- und eingefaltet. Für eine Weile hat sich die Industrie selbst verloren, glaube ich, und war auf Mode anstatt auf die Technik fokussiert. Sie war interessiert an sexy Postern und Werbung, kostenlosem Bier, riesigen Ständen und Partys auf der Eurobike. Der Technik-Fokus ist wieder zurückgekommen aufgrund des E-Bikes. Das hat Einnahmen erbracht, Innovationen gefördert und meiner Meinung nach die Branche gerettet.

Und welches derzeitige Branchen-Thema beschäftigt Sie und Ihr Team?
Wir haben eine Klima- und Gesundheitskrise. Es geht nicht um sexy Bilder, sondern darum, einige der globalen Probleme zu lösen. Ein großer Teil davon ließe sich durch das Fahrrad lösen. Wenn wir als Industrie Lobbyarbeit betreiben und zusammenarbeiten mit Stadtplanern, Bürgermeistern, Politikern, dann können wir diese Schande beenden, dass zwei Tonnen schwere Fahrzeuge für drei oder vier Meilen durch unsere Städte rollen. Wir müssen lauter und animierender sein und einen besseren Job dabei machen, die Politik zu verändern. Das muss passieren.

Wie sollten Unternehmen agieren in dieser Forderung nach Veränderung?
Wir müssen ehrlicher sein. Manchmal sind die Leute in der Wirtschaft zu höflich. Wir haben eine Klimakrise, weil wir zu viel konsumieren. Konsum führt zu CO2-Emissionen. Ich kann eine 100 Kilogramm schwere Person zehn Kilometer durch Berlin transportieren mit einem zehn Kilogramm schweren Rad. Ich brauche dafür keine über zwei Tonnen schweren Elektrofahrzeuge. Aber auf der Autobahn kann ich keine 120 km/h fahren und einen Unfall überleben. Dafür sind diese Fahrzeuge gemacht.
Auch Güter sollten in der Stadt mit leichten Elektrofahrzeugen transportiert werden, die keinen Überrollkäfig, keine Airbags und Co. brauchen, weil sie nur 25 km/h fahren. Städte müssen zu Inseln werden und die Menschen schützen, die in ihnen leben. Wir sollten uns mit dem öffentlichen und dem aktiven Verkehr fortbewegen. Aber Fahrzeuge, die für 120 km/h auf der Autobahn gebaut sind, sollten nicht in der Stadt erlaubt sein. Die sind dort nicht angemessen.

„Für uns ist es viel einfacher, jemanden von einem Scooter zum Fahrrad zu konvertieren als aus einem Auto oder aus einer Straßenbahn. “

Will Butler-Adams, CEO Brompton

In der 25-km/h-Kategorie sind E-Bikes aktuell besonders beliebt. Welche Rolle spielen die motorisierten Fahrräder für Brompton?
Wir denken immer darüber nach, was unsere Fahrräder für die Kunden und Kundinnen leisten können. E-Bikes sind wichtig, weil wir wollen, dass mehr Leute Fahrrad fahren. Es gibt eine gewisse Anzahl an Leuten, die das nicht tut. Wenn man sie auf ein elektrisch unterstütztes Fahrrad setzt, lächeln sie, sind glücklich und sagen: „Okay, jetzt verstehen wir uns!“ Wir können sie zum Radfahren zurückholen und das Radfahren inklusiv halten.
Für Brompton werden E-Bikes aber nie genauso wichtig sein wie für gewöhnliche Fahrräder. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Fahrrädern tragen wir unsere Räder. Das Gewicht ist wirklich wichtig. In den Märkten, wo wir die elektrischen Räder verkaufen, machen sie rund 30 Prozent aus. Wir verkaufen sie aber nur auf der Hälfte der Märkte. Wir bieten sie nicht an in China, Japan oder Südkorea, was einige unserer größten Märkte sind. An den Gesamtverkäufen machen die E-Bikes ungefähr 15 Prozent aus. Dieser Anteil wird vermutlich nie größer als 30 Prozent werden, weil die Elektronik je nach Einsatzzweck des Fahrrads zu viel wiegen kann.

Welche Märkte wird Brompton als Nächstes erschließen? Ist das Faltrad ein Produkt, das überall funktionieren kann?
Unser größter Markt weltweit ist aktuell China, das Land hat das Vereinigte Königreich überholt. Weitere große Märkte sind Japan, Südkorea, Singapur, Frankreich, Spanien, Benelux, Deutschland und die USA. Sie sind sehr divers, aber funktionieren allesamt. Ihre Gemeinsamkeiten sind größer als ihre Unterschiede, obwohl Städte sehr verschieden sind. Sogar Los Angeles, was ein seltsames flaches Konglomerat ist, hat mehr Gemeinsamkeiten mit New York oder Tokio als Unterschiede. Die Herausforderungen sind dieselben, etwa Gesundheit oder Bevölkerungsdichte. Unsere strategischen Schlüsselmärkte sind China, Deutschland, die USA und das Vereinigte Königreich. In die werden wir am stärksten investieren.

Gibt es Negativbeispiele, also Märkte, in die Sie nicht vordringen konnten?
Nicht wirklich. Als wir angefangen haben, Fahrräder in Indonesien zu verkaufen, erlebten wir aber eine spannende Situation. Niemand von uns war je in Indonesien gewesen, dennoch waren wir dort in drei Geschäften präsent. Die verkauften erst 200, dann 1000, dann 2500 Räder. Wir vermuteten, dass sie die Räder über den grauen Markt nach Japan oder Südkorea weiterverkaufen. Ich besuchte die Städte dort und verbrachte Zeit mit unseren Kunden. Bei einer Frühstücksausfahrt traf ich 750 Bromton-Besitzer und Besitzerinnen. Gerechnet hatte ich mit 20.

Brompton hat immer in London produziert. Andere Firmen arbeiten gerade am Reshoring, also daran, die Produktion nach Europa zurückzubringen. Was wären Ihre Tipps für diesen Schritt?
Um die Kosten lokaler Produktion zu rechtfertigen, braucht man geistiges Eigentum. Wenn ein Unternehmen nur mit Standardrahmen arbeitet, sollte man diese weiterhin aus Asien oder vielleicht aus Portugal beziehen. Der Grund, mit dem wir rechtfertigen, vor Ort zu produzieren, ist, dass der Rahmen voll von geistigem Eigentum steckt. Wir stellen ihn also nicht nur her, sondern schützen unser Knowhow. Wir folgen außerdem nicht der Mode. Die Industrie ändert ihre Rahmen alle zwei Jahre. Wir haben unser Rad und die Art, wie wir es herstellen, 50 Jahre lang optimiert. Wir sind dabei unglaublich effizient und haben sehr wenig Ausschussware. 99,5 Prozent der Räder sind im ersten Anlauf richtig.

Bike Hire ist die Leihradsparte des Londoner Herstellers Brompton. Bereits gezahlte Leihgebühren können Kund*innen sich beim Privatkauf zum Teil gutschreiben lassen.

Ein spezielles Geschäftsfeld Ihres Unternehmens in Großbritannien ist Brompton Bike Hire. Wie wichtig ist dieses Projekt für die Firma?
Bike Hire ist ein zwölf Jahre altes Projekt. Zu der Zeit waren wir eines der ersten Mietradkonzepte. Es war ein Desaster. Aber da das Projekt klein war, konnten wir uns das leisten. So lernt man dabei etwas.

Ist es denn immer noch ein Desaster?
Nein, es ist fantastisch! Wir haben das Projekt entwickelt, weil unser Fahrrad kontraintuitiv ist. Einem Ferrari sieht man an, dass er schnell ist. Wenn man ein Brompton ansieht, denkt man erst mal, dass es ein Rollstuhl ist. Dann glaubt man, dass das Rad kaputt gehen könnte oder die kleinen Räder stören. Man muss es ausprobieren, um es zu verstehen.
Der ganze Grund, warum wir Bike Hire gestartet haben, war, um den Leuten Tests zu geringen Preisen zu ermöglichen und das Fahrrad zu erleben. Dann kann man das Investment rechtfertigen. Wir sind außerdem die einzige Radvermietung der Welt, wo Leute ein Fahrrad von uns kaufen können, wenn sie nach dem Test davon überzeugt sind. Wir sorgen damit also für Einnahmen und haben ein profitables, landesweites Geschäft. Wir sind in 50 Städten in Großbritannien. Die Kosten liegen bei fünf Pfund pro Tag.

Bereits gezahlte Kosten können Mieter über einen Rabatt zurückerhalten, wenn sie sich ein eigenes Brompton kaufen. Wie viele Menschen nutzen dieses Angebot?
Das funktioniert für uns gut. Wir nutzen Bike Hire aber auch für soziale Zwecke. Wir können Communitys, die sich beim Radfahren eigentlich nicht wohlfühlen, die Möglichkeit geben, unser Rad umsonst zu testen. Außerdem können Menschen das Rad leihen, es mit nach Hause nehmen und mit dem Auto in einen Park bringen und es dort fahren. Dort fühlen sich die Leute sicher und können sich wieder mit dem Radfahren vertraut machen.

Gibt es Pläne, das Konzept auch in anderen Ländern einzusetzen?
Es hat elf Jahre gedauert, bis wir dieses Konzept zum Laufen gebracht haben. Wir planen, in den nächsten zwölf Monaten in Singapur an den Start zu gehen. Schöne ist, dass dort niemand etwas stiehlt. Dieses Problem zu lösen, war eine unserer größten Hürden. Jetzt haben wir ein System, dem wir vertrauen, und sind in der Lage, es in anderen Ländern auszurollen.

Multimodaler Transport ist eine der Kernstärken von Falträdern. Wie blicken Sie auf die Konkurrenz aus Leihrädern und Sharing-Scootern?
Ich sehe das eher als Chance, denn als Gefahr. Wir müssen mehr Leute auf Fahrräder aller Art kriegen. Der Haupttreiber ist, dass wir unser Leben in Städten falsch gestalten. Wir als Industrie, egal ob Fahrräder, E-Scooter oder andere elektrische Leichtfahrzeuge, tragen diese Verantwortung gemeinsam. Ich bin ein großer Fan von E-Scootern. Früher war es so, dass Menschen geboren wurden, mit vier Jahren ein Laufrad hatten, Fahrrad fuhren und es mit 13 nicht mehr so cool fanden. Dann nahmen sie lieber den Bus und irgendwann ein Motorrad oder Auto. Jetzt realisieren die Kinder mit Scootern, dass Autos und U-Bahnen langweilig sind. Scooter fahren ist cool und gibt ihnen einen kleinen Adrenalinrausch. Die Menschen verschwinden nicht ins Auto oder in die Straßenbahn, sondern bleiben auf der Straße. Wenn sie dann 25 oder 27 sind, überlegen sie, ob es nicht besser wäre, ein Fahrrad zu nutzen, weil es sicherer ist und sie sich bei der Fortbewegung mehr bewegen können. Für uns ist es viel einfacher, jemanden von einem Scooter zum Fahrrad zu konvertieren als aus einem Auto oder aus einer Straßenbahn. Außerdem erzeugen Scooter-Fahrer mehr Druck auf die Fahrradinfrastruktur und fordern hier Verbesserungen.

Österreich fördert das Mobilitätsmittel Lastenrad in Kombination mit einem ÖV-Abo. Sollten andere Länder solche Maßnahmen adaptieren?
Der wichtigere Punkt ist, dass Regierungen Autobesitz mit Milliarden von Euros subventionieren. Damit sollten sie aufhören und in Radinfrastruktur, die Radverkehrserziehung von Kindern, mehr Parks und bessere Gehwege investieren. Es geht nicht um das Fahrrad, sondern um unser Zusammenleben in Städten. Wir müssen uns unsere Städte zurückholen und zusammenhalten. Wir müssen Städte gemeinsam gestalten, anstatt von der Autoindustrie gespalten zu werden.


Bilder: Brompton