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Wer Verkehrswendeprojekte kommunikativ gestalten will, muss lokale Akteure und ihre Themen kennen. Um Konflikten vorzubeugen, sollten Bürger*innen rechtzeitig beteiligt werden. Die lauten ebenso wie die leisen Stimmen gehören dazu. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


Konflikte zwischen Verkehrsplanung und Bürger*innen können laut und spektakulär werden. Mitunter werden Maßnahmen der Politik oder der Verkehrsplanung dann von Gerichten kassiert. So geschehen bei dem bekannten Beispiel Friedrichstraße, wo das Berliner Verwaltungsgericht die Sperrung des Kfz-Verkehrs für rechtswidrig erklärte. Geklagt hatte eine Geschäftsfrau vom Aktionsbündnis „Rettet die Friedrichstraße“. Umgekehrt gelten jene Beteiligungsverfahren als gelungen, von denen man seltener hört. „Die erfolgreichen Projekte sind die leisen“, sagt Christian Klasen von DialogWerke. Das Beratungsbüro konzipiert und moderiert Prozesse um nachhaltige Mobilität. Klasen begleitete erfolgreiche Bürgerbeteiligungen unter anderem in Freiburg, Köln und Dresden.

Am Anfang eines Verfahrens besteht oft geringes Interesse seitens der Bevölkerung, Einfluss zu nehmen. Im Zeitverlauf steigt der Wunsch nach Mitsprache. Zugleich sinkt die Möglichkeit einer wesentlichen Einflussnahme.

Das Beteiligungsparadoxon im Blick

„Die Beteiligung ist eine Art Versicherung“, sagt der Experte. „Macht man sie nicht, kann es richtig laut, teuer, zeitintensiv werden.“ Im Blick haben sollte man das Verhältnis von Interesse zu den Möglichkeiten der Einflussnahme im Zeitverlauf eines Verfahrens. Es wird im Beteiligungsparadoxon ausgedrückt. Demnach ist das Interesse von Bürger*innen am Anfang eines Projekts gering. Die Möglichkeiten auf Planungen Einfluss zu nehmen ist zu diesem Zeitpunkt jedoch hoch. Im Verlauf des Prozesses nimmt das Engagement der Bevölkerung zu. In der Umsetzungsphase erreicht es seinen Höhepunkt. Gleichzeitig nimmt die Möglichkeit der Einflussnahme dann ab. Wenn die Betroffenen das größte Interesse am Beteiligungsverfahren zeigen, besitzen sie nur noch geringe Einflussmöglichkeiten. Klasen: „In einem Koordinatenkreuz dargestellt, treffen sich irgendwann beide Linien. Spätestens dann müssen wir die Leute eingebunden haben.“

Positive Narrative versus Verlustängste

Hinter Protesten gegen Maßnahmen stehen oft Verlustängste bei den betroffenen Anrainerinnen. „Mobilität ist eine Gewohnheitssache“, erklärt Klasen. „Das hat mit Rationalität wenig zu tun. Bei der Mobilitätswende geht es darum, den Raum neu aufzuteilen. Egal in welcher Stadt wir arbeiten: Der meiste Ärger dreht sich um den Platz für den ruhenden und fahrenden Kfz-Verkehr.“ Als Konsequenz müssen die Vorteile einer Veränderung klar kommuniziert werden. So vollzog man in Hamburg eine Wende von der „autofreien“, zur „autoarmen“ Stadt. Darauf wies der ehemalige Projektleiter von „freiRaum Ottensen“ , Bastian Hagmaier Anfang dieses Jahres gegenüber der Tageszeitung taz hin: „Angefangen hat es mit dem Verkehrsversuch Ottensen macht Platz 2019/2020, in dem einzelne Straßenzüge als autofreier Raum erprobt worden sind. Auf Basis dessen hat die Bezirkspolitik im Februar 2020 den Beschluss gefasst, dass es eine Verstetigung geben soll, und auch schon den Terminus des autoarmen Quartiers statt wie im Verkehrsversuch den des autofreien genutzt.“ Als weiteres Beispiel nennt Christian Klasen die Vision des Hannoveraner Bürgermeisters Belit Onay. Der betonte, dass es für Menschen, die auf das Auto angewiesen sind, zukünftig leichter sein wird, ihre Ziele zu erreichen. „Er verpackt das in eine Geschichte und erläutert den Mehrwert. Das ist ein Erfolgsfaktor.“ Das alte Narrativ von der alleinerziehenden Nachtschwester, nach der sich die Regeln für alle übrigen Verkehrsteilnehmerinnen orientieren sollen, wird durch eine neue Story ersetzt. Immerhin gewann Onay mit seiner Vision der Verkehrswende den Wahlkampf.

In Freiburg hatten die Teilnehmenden der Auftaktveranstaltung vor Ort und online die Möglichkeit, sich mit ihren Fragen, Wünschen und Anregungen aktiv in den Klimamobilitätsplan einzubringen.

Von der Vorbereitungsphase bis zum Freiburger Gemeinderatsbeschluss wurden in einem zweijährigen Entstehungsprozess die fachliche Bearbeitung und die Öffentlichkeitsbeteiligung eng miteinander verzahnt.

Freiburger Mobilitätsplan vor Ort und im Livestream

Hilfreich ist eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung der Bürgerinnen. Sie beginnt mit der Kommunikation über eine Projektidee. „Man muss den Leuten sagen: Es ist noch eine Idee und noch nicht geplant. Sonst gibt es sofort Protest“, warnt der DialogWerke-Experte. Dazu gehören ein Ansprechkontakt sowie ein brauchbares Format. Ein gutes Beispiel für solche Formate ist der zweijährige Beteiligungsprozess zum Klimamobilitätsplan (KMP) 2023 in Freiburg. Darin geht es um Maßnahmen mit dem Ziel, mindestens 40 Prozent der Treibhausgase bis zum Jahr 2030 einzusparen. Am Anfang standen Interviews mit der Stadtgesellschaft, vom ADFC über die IHK bis hin zu Fridays for Future. Es folgte eine prominent besetzte Auftaktveranstaltung mit Landesverkehrsminister Winfried Hermann und Oberbürgermeister Martin Horn im Konzerthaus Freiburg. Damals unter Pandemie-Auflagen: „Rund 280 Teilnehmende vor Ort und im Livestream waren dabei“, erinnert sich Klasen. „Weil wir die Aufmerksamkeit hatten, folgte noch eine Online-Beteiligung zum Mobilitätsverhalten mit etwa 800 Leuten.“ Darin priorisierten Teilnehmende den Ausbau des Radnetzes, einen sicheren und umweltverträglichen Ausbau des Straßenverkehrs sowie des ÖV. Es folgten zwei Ein-Tages-Foren, auf denen mit Stakeholdern und zufällig ausgewählten Bürgerinnen über den KMP diskutiert wurde. Klasen findet: „Das war konkreter. Wir konnten verschiedene Maßnahmen nebeneinanderlegen und fragen: Was heißt das eigentlich, wenn wir die Parkpreise vervierfachen?“

„Wollen wir dreihundert Leute haben, schreiben wir drei- bis viertausend an. Die Rücklaufquote beträgt weniger als zehn Prozent.“

Christian Klasen, DialogWerke

Die Arbeit mit ausgewählten Zufallsbürgerinnen

Die Arbeit mit Zufallsbürgerinnen fußt auf einem möglichst heterogenen Auswahlfeld nach Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Einkommen, Wohnort oder Mobilitätsverhalten. Klasen: „Wollen wir dreihundert Leute haben, schreiben wir drei- bis viertausend an. Die Rücklaufquote beträgt weniger als zehn Prozent.“ In Freiburg wurden 550 Personen zufällig aus dem Melderegister gezogen und angeschrieben. Auf Basis der Rückmeldungen wurde eine Gruppe ausgewählt, welche die Breite der Stadtgesellschaft widerspiegelt. Im Alter von 23 bis 80 Jahren mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen und einem diversen Mobilitätsverhalten.
Man muss auch wissen: Je mehr Daten abgefragt werden, desto geringer die Rücklaufquote. Klasen sagt sogar: „Am besten wäre, man würde nur sagen: Es geht um die Gestaltung der Zukunft der Stadt.“ Dahinter steckt die Erfahrung, dass die eine Gruppe zum Thema Mobilität abwinkt und sagt: „Ist doch alles gut, ich will keine Veränderung.“ Die Menschen, die eine Veränderung wollen, neigen eher dazu, sich zu beteiligen. Dann wird es unausgewogen.

Um mit Bürger*innen über Mobilität zu reden, die durch herkömmliche Bewerbung nicht erreicht werden können, braucht es die aufsuchende Beteiligung wie hier in Köln.

Beteiligung braucht die richtigen Orte

Unter der Beteiligung der DialogWerke fanden ähnliche Foren in Dresden und Köln statt. Nach Klasens Erfahrung kann dabei ein besonderer Ort dem Thema Wertschätzung verschaffen. So lud die Kölner Oberbürgermeisterin anlässlich des Mobilitätsforums ins historische Rathaus. „Wer nicht gerade heiratet am Wochenende, kommt da nicht unbedingt rein. Das muss natürlich gut beworben werden.“ Geht es nur um eine Straßenraumgestaltung, reicht auch eine Schule oder Turnhalle. Ein Dialogangebot sollte man den Menschen immer machen und dabei etwas zum Anfassen mitbringen. „Am besten Pläne“, sagt Klasen. „Sich mit den Leuten zusammen darüberbeugen, um konkret zu verstehen, worum es geht.“

Laute Stimmen und andere Überraschungen

Für Verzerrung im Meinungsbild sorgen die lautstarken Stimmen. Auch wenn sie in Minderheit sind, lassen sie sich nicht einfach ignorieren. Sie müssen zu Wort kommen. Klasen rät: „Dazu muss man sagen, dass es sie in beide Richtungen gibt. Den einen gehen Maßnahmen nicht schnell genug. Die anderen sagen, jetzt bricht der ganze Wirtschaftsverkehr zusammen. Wichtig ist, gib ihnen einen klaren Rahmen, in dem sie zu Wort kommen können. Schaue aber auch, dass man die breite Mitte mitbekommt.“
Ein Diskussionspapier des Deutschen Instituts für Urbanistik DIfU („Bürgerinnen und Bürger an der Verkehrswende beteiligen“) empfiehlt, lautstarken Stimmen gegenzusteuern, indem Meinungen „vorab bzw. zu Beginn einer Bürgerversammlung z. B. per Punktabfrage erhoben werden, um unterschiedliche Positionen (Pro und Contra) auch quantitativ sichtbar zu machen.“ Auch „Fokusgruppendiskussionen“, eignen sich, um leise Stimmen zu erfassen.
Schließlich gibt es noch andere Überraschungen. Beispiel Hamburg-Bramfeld: Dort wollte die Stadtverwaltung Radwege ausbauen – und dafür alte Bäume fällen. Plötzlich stellten sich diejenigen Bürger*innen dagegen, die sonst für die Verkehrswende sind. „Wenn wir an ein Projekt rangehen, hängen wir eine Akteurs- und Themenlandkarte an die Wand“, erläutert Klasen. „Deswegen der Hinweis an die Planer: Führt gleich am Anfang ein paar Gespräche. Lernt das Thema und die Akteure kennen.“

„Mobilität ist eine Gewohnheitssache. Das hat mit Rationalität wenig zu tun. Bei der Mobilitätswende geht es darum, den Raum neu aufzuteilen.“

Christian Klasen, DialogWerke

Das Kölner Mobilitätsforum fand im historischen Rathaus in der Altstadt auf Einladung von Oberbürgermeisterin Henriette Reker statt. Ein angemessener Ort kann förderlich sein.

Erfolgreich trotz Push-Maßnahmen

In Freiburg stand am Ende des Beteiligungsprozesses die Verabschiedung des Klimamobilitätsplans. Er enthält 17 Maßnahmen, die sukzessive bis 2030 umgesetzt werden sollen. Darunter der geforderte Ausbau des Radnetzes und des ÖPNV. Aber auch Maßnahmen, die sonst viel Konfliktpotenzial mitbringen: Klasen sagt: „Da sprechen wir nicht nur von Pull-Maßnahmen: Wir machen alles schöner und laden die Leute ein, mehr Fahrrad zu fahren. Sondern über Push-Maßnahmen. Das heißt, wir drücken Fahrzeuge raus aus der Stadt.“ Obwohl der KMP ein massives Verteuern des Parkens, die Reduktion des Parkraums mit Schlüsselvorgaben für neue Siedlungen vorsieht, wurde er zum Erfolg. „Das war ein Prozess, der vom Gemeinderat am Ende über alle Parteigrenzen hinweg stark gelobt wurde,“ sagt Klasen.

Politischer Mut gehört dazu

Für den Experten von DialogWerke gehört politischer Mut zum Erfolg von Maßnahmen. Mit Blick auf Reallabore wie in Hamburg Ottensen sei es empfehlenswert, eine Sache einfach mal zu starten, gemäß dem Tenor „Ich hab euch das erklärt. Wir haben eure Bedenken ernst genommen. Wir machen das aber jetzt mal. In einem halben oder einem Jahr evaluieren wir das Ganze.“ Zwar kann es passieren, dass ein Projekt nicht funktioniert. Oder dass es das so noch nicht war. Was von Versuch und Irrtum übrig bleibt, wäre dennoch ein Lerneffekt. Der Haken daran, das weiß Klasen ebenso: „Politisch zu sagen, vielleicht machen wir auch einen Fehler, funktioniert häufig nicht.“
Mut braucht es auch am Ende eines Verfahrens, etwa bei der Frage, wo Kompromisse im Bürgerdialog eigentlich enden sollten. Klasen: „Viele Städte haben sich das Ziel einer Klimaneutralität bis 2035 gesetzt. Das werden wir allein mit Elektrofahrzeugen nicht schaffen. Also braucht es gewisse Maßnahmen in der Stadt. Da gibt es Modellierungen und Verkehrsmodelle. Am Ende, so sind unsere demokratischen Verhältnisse, entscheidet darüber in der Regel der Stadtrat, der Gemeinderat oder ein Verkehrsausschuss. Da sind dann irgendwo die Grenzen der Beteiligung gesetzt.“


Bilder: Stadt Köln – Thomas Banneyer, Grafik: Velobiz, Stadt Freiburg, Stadt Freiburg – Patrick Seeger, DialogWerke

Online-Beteiligung hat gerade durch die Corona-Pandemie viel Aufwind erhalten. In den kommenden Jahren dürften bestehende und neue Methoden ihre Wirkung entfalten und Verwaltungen noch näher mit den Bürger*innen zusammenbringen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Ein Radwegenetz zu entwickeln kann echte Kleinstarbeit sein. Auch wenn dieses Netz instand gehalten werden soll, zeigen sich manchmal viele kleine Schwierigkeiten. Damit ein Radweg im täglichen Leben seine volle Wirkung entfaltet, muss er sich in ein Geflecht aus sozialen Gewohnheiten und baulichen Strukturen einfügen. Diese lassen sich vom planerischen Reißbrett aus nur bedingt überblicken. Umso nützlicher ist es, in der Planung nah an den Bürgerin-nen zu handeln. Bürgerbeteiligungen können Kommunen helfen, dieses Wissen zu heben und daran anzuknüpfen. „Die Radfahrer, die dort jeden Tag langfahren, wissen natürlich genau, wo es hakt“, sagt Christin Pfeffer. „Sie kennen die Schlaglöcher und Stolperstellen und wissen auch genau, wo noch Entwicklungsbedarf bei der Radmobilität besteht.“ Pfeffer ist für die Wer denkt was GmbH tätig. Das Darmstädter Unternehmen bietet unter anderem Partizipationsmaßnahmen an. Die gelebte Expertise der Menschen, die ein Wegenetz tagtäglich nutzen, lässt sich gerade durch bestimmte Online-Werkzeuge gut und niedrigschwellig nutzbar machen. Dazu zählen zum Beispiel sogenannte Mängelmelder. Das sind Online-Plattformen, auf denen Bür-gerinnen einer Stadt auf Mängel im Bestand hinweisen können. Das können etwa Glasscherben oder Schlaglöcher auf einer Strecke sein, die den Weg qualitativ abwerten. Die Lösung mängelmelder.de von Wer denkt was ist auch als App verfügbar. Sie ist nicht nur für den Radverkehr hilfreich, sondern steht den Bürger*innen als allgemeines Sprachrohr zur Verfügung. Auf der Karte lassen sich auch Einträge für illegal entsorgten Müll oder defekte Straßenbeleuchtung erstellen und mit einem Foto und dem genauen Standort des Mangels einreichen. Auf der Website sind Zuständigkeiten für bestimmte Ortsabschnitte oder organisatorische Bereiche hinterlegt. „Niemand muss die Anliegen einzeln sichten und entscheiden, ob für diesen Fall Kollege A, B oder C zuständig ist. Das wird alles im Rahmen der Einführung einer solchen Plattform definiert und im System hinterlegt. So erfolgt die Zuordnung anhand von Kategorie, Ortsposition etc. automatisch und das beschleunigt die internen Abläufe bei der Bearbeitung erheblich“, so Pfeffer.

Kartenbasierte Beteiligungsplattformen erlauben es, schnell Mängel zu erkennen und auf diese zu reagieren. Städte können sie aber auch für neue Planungen einsetzen.

Hinweisen und kommentieren

Mit Dialogplattformen können Städte einen anderen Fokus setzen, denn diese dienen eher dem Austausch. „Die Dialogplattform dient vor allem der Diskussion von Vorhaben oder der Ideensammlung für zukünftige Planungen. Hier geht es also um politische Entscheidungsprozesse. Die Mängelmeldeplattform dient dagegen der unmittelbaren Bearbeitung eines Anliegens und zielt auf direktes Verwaltungshandeln ab. Jede Meldung ist mit einer direkten Aktion in der Verwaltung verbunden. Es werden somit unterschiedliche Ebenen angesprochen. Das ist der große Unterschied“, erklärt Christin Pfeffer.
Auf dieser Art Online-Plattform können die Radfahrerinnen dann einbringen, wo sie schwer einsehbare Stellen wahrnehmen oder wo es immer wieder zu brenzligen Situationen mit Autofahrerinnen kommt. Während ein Mängelmelder meist auf unbestimmte Zeit zur Verfügung steht, ist eine Dialogplattform üblicherweise nur ein paar Wochen oder Monate offen. Nach Ende dieses Beteiligungszeitraums werden die Hinweise und Kommentare ausgewertet. Den Dialog können Planerinnen suchen, um Meinungen zu bereits geplanten Strecken einzuholen. Alternativ ist die Methode auch geeignet, um Meinungen zu sammeln und sie anschließend in ein Konzept zu überführen. Wie erfolgreich eine Beteiligungsphase abläuft, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Pfeffer erzählt von einem Beispiel aus Wuppertal, bei dem in drei Wochen Laufzeit 400 Beiträge und 1700 Bewertungen zustande kamen. Dieses Ergebnis sei relativ gut. Das hänge aber auch damit zusammen, dass Online-Beteiligungen dieser Art in der Stadt kein Novum mehr sind. Die Bürgerinnen kennen die Methode und konnten Vertrauen in das Verfahren entwickeln. Allgemein müssten Beteiligungen einen thematischen Nerv treffen, so Pfeffer. Wenn eine Idee dann doch nicht umgesetzt wird, sollte das ebenfalls erklärt werden. Das beeinflusse dann, wie die nächste Beteiligung läuft.

„Die Radfahrer, die dort jeden Tag langfahren, wissen natürlich genau, wo es hakt. Sie kennen die Schlaglöcher und Stolperstellen und wissen auch genau, wo noch Entwicklungsbedarf bei der Radmobilität besteht.“

Christin Pfeffer, Wer denkt was GmbH

Kommunikation ist Handarbeit

Besonders wichtig ist, dass die Bürgerschaft überhaupt mitbekommt, dass eine Beteiligung stattfindet. Maßnahmen sollten schon im Vorfeld angekündigt werden. Diese Informationen breit zu streuen, bedarf einigen Aufwands, weiß auch Hanna Kasper. Sie ist Geschäftsführerin des Unternehmens Translake GmbH, das sich mit Bürgerbeteiligung befasst. „Das ist auch ein bisschen Handarbeit, dass man das in die Stadtgesellschaft hineinverteilt“, so Kasper. Translake begleitet die Kommunikationsstrategien der Kommunen, die am besten breit aufgestellt sein sollten und viele Kanäle nutzen.
Geeignete Kommunikationswege gibt es viele, darunter Plakate, soziale Medien, Zeitungsbeiträge oder auch Aufkleber auf der Straße. Neben der breit gestreuten Kommunikation an die Bürgerschaft sollten bestimmte Akteure auch direkt angesprochen werden. „Die Stakeholder sind den Planungsorganisationen eigentlich immer schon bekannt“, meint Kasper. Dazu zählen Naturschutzverbände, die Landwirtschaft, Interessensvertretungen wie ADFC und VCD ebenso wie Unternehmen, die an der geplanten Strecke liegen.
Als sehr gelungen wertet Kasper die Beteiligungsprozesse zum Radverkehrsnetz in Tübingen. Dort begleitete Translake die Fortschreibung des bestehenden Radverkehrskonzepts unter anderem mit einer Beteiligungsstrategie und der digitalen Beteiligungskarte Mitmap. Auf dieser konnten Bürger*innen vier Wochen lang Ideen und Vorschläge für Routen, Radabstellplätze und zum Thema Sicherheit in die Planung einbringen. „Wir halten dann die Bürgerinnen und Bürger auf dem Laufenden. Bei einem Hinweis wird der Umsetzungsfortschritt angezeigt. Da reicht ein Zeitungsbericht nicht. Wenn wir die Leute schon dabeihaben, sollten wir sie einbinden.“ In Tübingen kamen dabei rund 3000 Feedbacks zusammen. Jeweils zur Hälfte handelte es sich dabei um Hinweise, zur anderen Hälfte um Kommentare. Besonders gut habe die Stadt Tübingen die Partizipationsformate kommuniziert.

Crowdmapping nutzt das Wissen der Bürger*innen. Diese sind sich nicht immer einig, können sich in den Kommentarspalten zu einzelnen Hinweisen aber austauschen.

Online-Beteiligungen mit einer Auftakveranstaltung zu beginnen, erzeugt einen Spannungsbogen, meint Hannna Kasper. Sie ist Geschäftsführerin des Unternehmens Translake GmbH.

Beteiligungswege kombinieren

Für die Plattformen gab es eine digitale Auftaktveranstaltung, an der rund 100 Bürgerinnen teilnahmen. „Dass man so einen gemeinsamen Auftakt hat, schafft in gewisser Weise einen Spannungsbogen und auch noch mal Aufmerksamkeit in den Medien“, erklärt Hanna Kasper. Auch in den Auftaktveranstaltungen können die Bürgerinnen das Crowdmapping direkt nutzen und die Beiträge sofort sehen. „Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass die Hinweise auf der Karte auch gleich zu sehen sind, weil das motiviert, wenn man sieht, was andere da gedacht haben. Man kann sich auch ein Bild machen, wie unterschiedlich die Perspektiven auf ein Thema sind. Eine leere Karte motiviert nicht zum Mitmachen.“
Dass passive Beteiligungsportale durch solche Begleitveranstaltungen nicht der einzige Partizipationsweg sind, hat gute Gründe. Selbst bei einer gelungenen Kommunikationsstrategie spricht Online-Partizipation Menschen, die nicht digitalaffin sind, einfach nicht an. Gleichzeitig haben Online-Formate ihre eigene Zielgruppe. „Leute in Schichtarbeit oder Familien mit kleinen Kindern, Leute, die man sonst nie bei Beteiligungen bekommt, die erreicht man hier eher“, so Kasper.
Unterschiedliche Formate haben ohnehin ihre spezifischen Eigenschaften. Beteiligungskarten sind zeit- und ortsunabhängig. Dadurch können die von einer Planung betroffenen Menschen sie flexibler nutzen. Eine Veranstaltung hingegen, egal ob online, vor Ort oder hybrid, gibt den Bürgerinnen die Möglichkeit, die Planungsvorhaben mit einem Gesicht zu verbinden. Außerdem können die Verwaltungen dort Input in die Bürgerschaft geben. Für gute Veranstaltungen, insbesondere im digitalen Raum, braucht es kurze, knackige und gut gebriefte Beiträge. Eine Schlüsselrolle komme außerdem der Moderation und dem Zeitmanagement zu. Komplexe Themen sollten die Referentinnen verständlich vermitteln können, so Kasper. Zugute kommt den digitalen Formaten sicher, dass die Abstandsregeln der Corona-Pandemie diese normalisiert und als Katalysator für sie gewirkt haben. „Online-Beteiligung gibt es schon länger. Aber mit dem Start der Pandemie ist das Interesse an digitalen Formaten spürbar angestiegen“, meint Christin Pfeffer.
Dass die Menschen in Zukunft noch digitalaffiner werden, ist ein realistisches Szenario. Neuere, verbesserte technische Möglichkeiten dürften dann auch in der Partizipation Einzug erhalten. Im Kontext des Smart-City-Trends dürften Crowdmappings in Zukunft mehr Daten einbeziehen, schätzt Christin Pfeffer. In den Karten ließe sich dann auch die Luftqualität und Verkehrsflüsse darstellen. Auch die sogenannte Gamification, also der Versuch, Prozesse spielerischer zu gestalten, dürfte vor Beteiligungsprozessen nicht Halt machen. „Ziel ist es, Bürgerinnen und Bürger zu motivieren und insbesondere schwierig zu erreichende Zielgruppen zu aktivieren“, erklärt Pfeffer. In einem Forschungsprojekt der TU Darmstadt, in welches auch die Wer denkt was GmbH eingebunden ist, wird zudem erforscht, wie Künstliche Intelligenz dazu beitragen kann, Sprachbeiträge auf crowd-basierten Plattformen automatisch zu verarbeiten und zu erstellen. Hier gibt es besonders im englischsprachigen Raum große Durchbrüche. Mit der deutschen Sprache scheinen diese noch etwas auf sich warten zu lassen.

„Der digitale Zwilling ist sehr breit aufgestellt. Wir haben begonnen mit dem Thema Mobilität, sind aber auch beim Thema Energie- und Wärmeplanung, Circular Economy und generell Stadtentwicklung und Stadtplanung längst angekommen.“

Markus Mohl, Kompetenzzentrum Digitaler Zwilling

Neben Filmen und einer Web-Anwendung kann die Münchner Kommunalverwaltung den digitalen Zwilling auch einsetzen, um Planungsvorhaben in der virtuellen oder erweiterten Realität zu zeigen.

Der digitale Zwilling ist mehr als ein 3D-Modell. Die Stadt setzt die „digitale Infrastruktur auf dem Weg zu einer klimaneutralen Stadt“ auch in der Planung ein.

Mehr als ein 3D-Modell

In drei deutschen Großstädten wird ein Teil der zukünftigen Entwicklungen bereits heute erprobt. 2021 begann das Pilotprojekt Connected Urban Twins, an dem neben den Städten Leipzig und Hamburg auch München beteiligt ist. Zum Einsatz kommt die Methode eines digitalen Zwillings. Dabei handelt es sich um ein virtuelles Abbild der Stadt, das deutlich über die Funktionen eines 3D-Modells hinausgeht. Der Münchener Projektleiter Markus Mohl erklärt, was dieses Modell besonders macht. „Digitaler Zwilling heißt eben noch viel mehr. Das bedeutet, wir rechnen damit auch Analysen und Simulationen, zum Beispiel Luft-Schadstoff-Modellierungen. Der digitale Zwilling ist sehr breit aufgestellt. Wir haben begonnen mit dem Thema Mobilität, sind aber auch beim Thema Energie- und Wärmeplanung, Circular Economy und generell Stadtentwicklung und Stadtplanung längst angekommen.“ Der Stadtrat sieht den Zwilling als digitale Infrastruktur, die München auf dem Weg zu einer klimaneutralen Stadt begleiten soll. „Wichtig dabei ist, dass der digitale Zwilling nutzerzentriert ist. Das sind natürlich bei der Öffentlichkeitsbeteiligung die Bürgerinnen und Bürger, aber es geht genauso auch um die Fachbereiche in der Verwaltung. Die sollen unterstützt werden, um ihr Vorhaben, das sie präsentieren möchten, besser darstellen zu können und auch besser intern darüber sprechen zu können.“
Bei Beteiligungsverfahren kommt das Modell als Web-Anwendung zum Einsatz. Es können aber auch Filme produziert werden, die zum Beispiel den Bestand und eine geplante Veränderung im Überflug nebeneinanderstellen. Ein Vorteil, so Mohl, ist, dass die gezeigten Bilder realistischer sind als sonstige Visualisierungen. „Es sind keine Pläne von einer Agentur, sondern es sind die Daten, mit denen die Verwaltung tatsächlich arbeitet“, erklärt er.
Der digitale Zwilling erlaubt es der Stadt München, bei der Öffentlichkeitsbeteiligung auch Augmented Reality (AR – erweiterte Realität) und insbesondere Virtual Reality (VR – virtuelle Realität) einzusetzen. Mohl erzählt von einem Beispiel aus dem vergangenen Sommer. „Es gab eine Informationsveranstaltung und wir sind mit VR-Brillen und Tablets rausgegangen und die interessierte Anwohnerschaft konnte die Brillen aufsetzen, sich ein wenig orientieren, wie es jetzt aussieht und dann umschalten, wie so eine Vision aussehen könnte.“ Die neue Technik steigere die Akzeptanz für Baustellen und rege den Austausch an, so Mohl. „Erst mal ist es natürlich auch nur Technik, aber es regt dazu an, darüber zu diskutieren, weil man es auch schnell versteht.“ Weitere Funktionen des digitalen Zwillings sollen in Zukunft ausgerollt werden. Denkbar ist viel, zum Beispiel könnte sich die Berufsfeuerwehr auf dem Weg zum Einsatz schonmal mit der Situation vor Ort vertraut machen. Zunächst scheint das Modell sich positiv auf den Planungsalltag und Beteiligungsprozesse auszuwirken. Bei einem Stadtteilfest im neu entstehenden Münchner Stadtteil Freiham brachten Mohl und seine Kolleg*innen drei VR-Brillen mit. „Die Bürgerinnen und Bürger haben sich bei uns bedankt, weil sie gesagt haben: ‚Okay, jetzt kann ich mir endlich mal vorstellen, was hier alles entsteht, weil ich sehe nur Baustelle“, erklärt Mohl.


Bilder: Stadt Tübingen, griesheim-gestalten.de, Wer denkt was GmbH, Landeshauptstadt München