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London, Sydney, Waltrop … Lucy Saunders hat kein Problem damit, neben den internationalen Metropolen auch die 30.000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen zu besuchen. Eingeladen wurde sie vom verkehrspolitisch engagierten Fahrradhersteller Hase Bikes. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2023, Juni 2023)


Lucy Saunders lebt in London, berät Städte auf der ganzen Welt und spricht auf internationalen Kongressen. Ihre Vision sind „Healthy Streets“, also „gesunde“ Straßen. Straßen dienen aus ihrer Sicht nicht nur der Fortbewegung, sondern sind Lebensräume und Begegnungsorte von Menschen. Deren Gesundheit und Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt ihres Ansatzes. Wie groß oder klein eine Stadt ist, spielt dabei keine Rolle: „Veränderungen sind überall möglich. Entscheidend ist immer, dass es Menschen gibt, die sie anstoßen“, sagt sie im Interview beim Fahrradhersteller Hase Bikes. Dessen Geschäftsführerin Kirsten Hase hat die Verkehrsvisionärin nach Waltrop eingeladen. Hase Bikes ist spezialisiert auf Delta Trikes und Tandems, die im Freizeitsport, auf Radreisen, im Familienalltag und im Reha- und Handicap-Bereich auf der ganzen Welt gefragt sind. Hergestellt wird jedes einzelne davon in der Manufaktur auf dem alten Zechengelände in Waltrop wo das Unternehmen von Kirsten und Marec Hase seit 20 Jahren ansässig ist.
Die beiden engagieren sich seit Langem für verkehrspolitische Themen, haben Fahrraddemos organisiert und veranstalten eigene Events. „Obwohl wir überzeugt sind vom Fahrrad als Fortbewegungsmittel, gehen wir jetzt einen Schritt weiter, weg von der Konzentration auf ein Verkehrsmittel hin zu einer ganzheitlichen Stadtplanung“, beschreibt Kirsten Hase ihre Motivation zum Projekt „Lebendige Stadt“. „Waltrop wird, wie so viele Städte, an wichtigen Stellen vom Individualverkehr dominiert. Und weil wir hier leben und arbeiten, möchten wir hier etwas bewegen.“ Insgesamt geht das Ziel von Kirsten und Marec Hase aber über Waltrop hinaus. Sie möchten den Menschen Visionen geben und zeigen, dass der öffentliche Raum lebenswerter gestaltet werden kann. „Healthy Streets kann unserer Meinung nach die oftmals sehr aggressive Diskussion über die Verkehrswende komplett entschärfen“, sagt Kirsten Hase.
Das ist auch Lucy Saunders Bestreben: „Das Wichtigste ist, miteinander ins Gespräch zu kommen und dabei Menschen unterschiedlichen Alters, mit verschiedenen Bedürfnissen und Lebenssituationen einzubeziehen. Ich weiß, dass es einen langen Atem braucht, bis etwas geschieht und Veränderungen spürbar werden, aber es lohnt sich.“ Saunders ist Expertin für öffentliche Gesundheit, außerdem Stadt- und Verkehrsplanerin und hat über viele Jahre den Zusammenhang zwischen städtischen Räumen und menschlicher Gesundheit erforscht. Hieraus hat sie „Healthy Streets“ entwickelt und schon in vielen Städten weltweit angewendet. In London wird gerade ein Konzept, das sie im Auftrag des Bürgermeisters zusammen mit ihrem Team erarbeitet hat, sukzessive umgesetzt. In Vorträgen und Schulungen inspiriert sie Menschen auf der ganzen Welt dazu, Straßen und Städte als Lebensraum zu betrachten und sie gesünder, sicherer und attraktiver zu gestalten. Jetzt ist sie in Waltrop.

Gesunde Straßen, lebendige Stadt

Los geht es an der Sydowstraße, die vom Hase-Bikes-Standort auf dem alten Zechengelände zum Stadtzen-trum führt. Hier gibt es auf den ersten Blick wenig auszusetzen: Bäume am Straßenrand, bepflanzte Vorgärten, Fußwege auf beiden Seiten der recht breiten Straße, auf der an diesem Freitagvormittag nicht viel los ist. Nach 200 Metern bleibt Lucy stehen und fragt: „Was kann man hier verbessern?“ Darauf, dass es keinen Radweg gibt, kommen alle, aber Lucy geht es um etwas anderes: „Können Menschen auf den Fußwegen nebeneinander gehen und sich unterhalten?“ Nein, die Erfahrung haben der Waltroper Bürgermeister, mehrere Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung, ein Vertreter der Sparkasse, die den Besuch von Lucy Saunders mitfinanziert hat, Kirsten und Marec Hase und einige Waltroper Bürgerinnen schon gemacht. Der Fußweg ist schmal und wird an mehreren Stellen durch die Bäume, die die Straße säumen, zusätzlich verengt. Unterhalten kann man sich hier nicht. Aber ist dieser Anspruch nicht zu hoch gegriffen? Nein, sagt Lucy: „Eine gesunde Straße ist ein Ort, an dem sich Menschen gerne aufhalten.“ Das heißt für die Sydowstraße ganz konkret: „Wer hier zu Fuß geht, sollte die Möglichkeit haben, sich auszuruhen und mit anderen ins Gespräch zu kommen. Breitere Gehwege und ein paar Bänke würden die Straße für alle sehr viel angenehmer machen und letztlich dafür sorgen, dass man das Auto öfter mal stehen lässt.“ Wir sind knapp zwei Kilometer vom Ortszentrum entfernt, eine Strecke, die man als fitter Fußgänger in 20 Minuten zurücklegt. Seniorinnen mit und ohne Gehhilfen brauchen länger, ebenso Eltern mit Kindern im Kinderwagen oder auf Laufrädern, Rollstuhl-fahrerinnen, Hundehalterinnen oder Spaziergängerinnen, die einfach miteinander plaudern möchten. Den Fußweg zu verbreitern, wäre an der Sydowstraße kein großes Problem und hätte einen weiteren positiven Effekt: „Im Moment lädt die sehr breite Straße regelrecht zum Rasen ein. Auf einer schmaleren Fahrbahn hätten Autofahrer noch genügend Platz, würden aber vorsichtiger fahren und könnten ihrerseits sicher sein, niemanden zu gefährden“, sagt Lucy. Das ist einer der Punkte, die Kirsten Hase so begeistern und auch die Teilnehmerinnen des Rundgangs überzeugen: „Bei Healthy Streets geht es um eine lebendige Stadt, in der sich alle wohlfühlen, und nicht um die Konkurrenz verschiedener Fortbewegungsmöglichkeiten.“ Dazu braucht es nicht immer gleich die ganz großen und teuren Baumaßnahmen. Lucy Saunders macht auch einfach umzusetzende Vorschläge. Private Anwohnerinnen, Gastro-nominnen oder Einzelhändler einladen, Bänke vor die Tür zu stellen oder Bäume im Vorgarten zu pflanzen, die mittelfristig Schatten spenden. Bordsteine absenken, damit Menschen im Rollstuhl, mit Rollator oder Kinderwagen die Straße leichter überqueren können. Selbst Blumen an Balkonen und Gartenzäunen machen einen Weg einladender.

Kirsten Hase hatte sichtliche Freude an der Besucherin aus London, die es sich auch nicht nehmen ließ, die Ruhrgebietsstadt Waltrop mit der kommunalen Verwaltung zu begehen.

Achtung, Durchgangsverkehr!

An der Berliner Straße in Waltrop ist die Situation zunächst komplizierter. Hier donnert der Durchgangsverkehr – Lkw, Busse und Autos – durch die Stadt. Während in vielen Städten jahrelang um eine Ortsumgehung gestritten wird, hat Lucy auch hier leichter umzusetzende Ideen, um diese Situation zu entschärfen. Für einen weiteren Fußgängerüberweg, der automatisch auch den Durchgangsverkehr verlangsamen würde, müsste man am Straßenrand nur wenige Parkplätze wegnehmen. Bürgermeister Marcel Mittelbach und die Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung greifen diese Idee dankbar auf. Jeder in Waltrop weiß, wie gefährlich es ist, von der Sparkasse auf der einen Seite zu der gegenüberliegenden besten Bäckerei der Stadt und zurück zu kommen. Hier kommt allerdings ein Thema zur Sprache, das auch in der Podiumsdiskussion am nächsten Tag eine Rolle spielen wird: Die Berliner Straße ist eine Landesstraße. Hierfür ist das Land NRW zuständig und muss Veränderungen begutachten, genehmigen und letztlich auch finanzieren. Andere Straßen und Plätze „gehören“ dem Kreis oder der Stadt. Die Zuständigkeiten sind nicht immer klar, die Genehmigungsverfahren oftmals langwierig. Da kann man schon mal die Geduld verlieren.

Unternehmerisch denken?

Fast 100 Menschen sind am nächsten Tag zur Podiumsdiskussion ins „Schaltwerk“, den Ausstellungs- und Veranstaltungsraum von Hase Bikes, gekommen. Kirsten Hase geht in ihrer Begrüßung gleich ans Eingemachte: „Ich bin Unternehmerin und gewohnt, Entscheidungen zu treffen und zügig umzusetzen. Ich freue mich, dass hier heute Entscheiderinnen und Bewohnerinnen unserer Stadt miteinander beraten, was wir in Waltrop verändern können.“ Auf dem Podium sitzen neben Lucy Saunders der Bürgermeister Marcel Mittelbach und Landrat Bodo Klimpel. Eigentlich sollte auch das Verkehrsministerium von NRW vertreten sein, doch dessen Staatssekretär hat kurzfristig abgesagt. Die gute Nachricht: An diesem Nachmittag wird eine weitere Ortsbesichtigung an der Berliner Straße beschlossen, zu dem auch das Ministerium eingeladen werden soll. Drei Tage später sagt der Minister zu. Das freut Marcel Mittelbach, den Bürgermeister, sehr. „Es ist wichtig, Vereinbarungen zu treffen, wie wir weiter vorgehen wollen, selbst wenn wir mit langwierigen Prozessen rechnen müssen.“ Er hat sich viel Zeit genommen für das Projekt „Lebendige Stadt“, weil er weiß, wie wichtig die Verkehrssituation für die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger ist. Demnächst wird er die erste Fahrradstraße der Stadt eröffnen. „Lucy Saunders hat uns weitere, neue Möglichkeiten gezeigt, wie wir das Leben in Waltrop attraktiver machen können.“ Viele Gäste sind ebenfalls begeistert, auch Teilnehmer aus Ratsfraktionen, die die Aktion im Vorfeld sehr kritisch betrachtet haben. Bodo Klimpel, der Landrat des Kreises Recklinghausen, gibt zu bedenken, dass in Deutschland viele Normen und Vorschriften berücksichtigt werden müssen und man nicht einfach mal etwas ausprobieren kann. Den Vorschlag hat Lucy am Marktplatz gemacht. Hier sind Parkplätze für mehr als 150 Autos, nur zweimal in der Woche findet tatsächlich ein Lebensmittelmarkt statt. Der Platz liegt in der prallen Sonne und heizt sich durch die vielen Autos zusätzlich auf. Nur 200 Meter entfernt gibt es weitere Parkmöglichkeiten, die kaum genutzt werden. „Wenn man diese Fläche in einem Parkleitsystem vorrangig anbietet, wird nicht der ganze Marktplatz für den ruhenden Verkehr gebraucht. Vielleicht lässt sich dieses Konzept einmal für ein paar Monate ausprobieren.“ Das ist gar nicht so unrealistisch, weil der Platz mehrmals im Jahr für Feste genutzt wird und die Besucher dann an anderen Stellen parken.
Im Schaltwerk bei Hase Bikes vereinbaren die Gesprächspartner*innen, sich erst einmal mit der Berliner Straße zu beschäftigen. Kirsten Hase: „Wir haben erreicht, was wir im ersten Schritt erreichen wollten: Lucy hat uns konkrete Vorschläge gemacht. Die Menschen haben miteinander geredet und eine Vereinbarung getroffen, wie wir weiter vorgehen möchten. Wir starten mit einer Ortsbesichtigung mit dem Verkehrsminister.“ Das ist auch aus Lucys Sicht ein gutes Ergebnis ihres Besuchs. Zu viele Themen auf einmal führen nur dazu, dass sich die Beteiligten überfordert fühlen. Ihre Tipps für alle, die in ihrer Stadt etwas erreichen möchten: „Fangt mit einer realisierbaren Maßnahme an. Holt möglichst viele Menschen für eine Sache ins Boot. Überfordert die Entscheider nicht mit unterschiedlichen Anfragen. Feiert jeden noch so kleinen Erfolg. Führt immer wieder Gespräche mit allen Gruppen in eurer Stadt. Und das Wichtigste: Stellt euch darauf ein, dass es viel Zeit kosten wird. Aber steter Tropfen höhlt den Stein.“

Lucy Saunders‘ 10 Punkte
für Healthy Streets

1. Jede*r soll sich willkommen fühlen

Deshalb müssen Straßen einladende Orte sein, an denen jede*r spazieren gehen, Zeit verbringen und sich mit anderen Menschen austauschen kann. Das ist wichtig, damit wir alle durch körperliche Aktivität und soziale Interaktion gesund bleiben.

2. Leicht zu überqueren

Menschen möchten ihr Ziel schnell und direkt erreichen. Das dürfen wir ihnen nicht erschweren, sondern müssen unsere Straßen entsprechend gestalten. Frustrierte Menschen machen die Stimmung in einer Stadt immer schlechter.

3. Schatten und Schutz

Sie werden benötigt, damit jede*r die Straße bei jedem Wetter nutzen kann: Wenn die Sonne scheint, brauchen wir Schutz vor der Sonne. Bei Regen und Wind sind wir alle froh über einen Unterschlupf. Schutz und Schatten lassen sich mit Bäumen, Markisen, Kolonnaden etc. leicht realisieren.

4. Orte zum Ausruhen

Viele Menschen empfinden es als anstrengend, längere Strecken zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückzulegen. Sitzgelegenheiten sind daher unerlässlich. Und: Wo Menschen sitzen und sich unterhalten, möchte man auch gerne wohnen.

5. Nicht zu laut, bitte!

Lauter Straßenverkehr ist eine Belastung für die Menschen, die an einer Straße leben, arbeiten oder unterwegs sind, und wirkt sich in vielerlei Hinsicht negativ auf unsere Gesundheit aus. Die Reduzierung des Straßenverkehrslärms schafft eine angenehmere und gesündere Umgebung.

6. Die beste Entscheidung: Laufen und Radfahren

Um gesund zu sein, müssen wir Bewegung in unseren Alltag einbauen. Menschen entscheiden sich zum Laufen oder Radfahren, wenn das für sie die angenehmste Option ist. Gehen und Radfahren oder öffentliche Verkehrsmittel müssen attraktiver sein, als das Auto zu nutzen.

7. Menschen fühlen sich sicher

Fußgänger*innen oder Radfahrende fühlen sich sicher, wenn der motorisierte Verkehr ihnen genügend Raum, Zeit und Aufmerksamkeit gibt. Wir können den Verkehr so beeinflussen, dass Autofahrende rücksichtsvoll und langsam fahren. Wenn Wege beleuchtet und freundlich gestaltet sind, haben Menschen weniger Angst, angegriffen zu werden.

8. Was kann ich erledigen, was gibt es zu sehen?

Straßen und Plätze müssen optisch ansprechend sein und es muss Gründe geben, sie zu besuchen: lokale Geschäfte und Dienstleistungen, Gastronomie und Möglichkeiten, mit Kunst, Natur und anderen Menschen in Kontakt zu kommen.

9. Entspannung!

Straßenumgebung macht Angst, wenn sie schmutzig und laut ist, wir uns unsicher fühlen, zu wenig Platz haben oder nicht leicht dorthin gelangen, wo wir hinwollen. Einladende und attraktive Straßen helfen, sich zu entspannen.

10. Saubere Luft

Die Luftqualität wirkt sich auf die Gesundheit jedes Einzelnen aus, besonders aber auf Kinder und Menschen, die bereits gesundheitliche Probleme haben. Die Verringerung der Luftverschmutzung kommt uns allen zugute.


Bilder: Hase Bikes

Mehr Raum in den Städten und Kommunen für Bewegung, Menschen und ein gutes Leben. Wie soll das gehen? Die Stadt London hat dazu das Konzept Healthy Streets zusammen mit der inzwischen weltweit tätigen Beraterin Lucy Saunders entwickelt und in die Planung implementiert. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Der Ansatz, aktuelle Entwicklungen sorgfältig zu analysieren, in die Zukunft zu denken und langfristig gesellschaftlich wünschenswerte Richtungen vorzugeben, hört sich nach einem sinnvollen Plan an. London hat genau das gemacht und dafür zusammen mit Lucy Saunders, einer Spezialistin für öffentliche Gesundheit und Verkehr, eine neue Leitlinie entwickelt, die sich an der Gesundheit der Bewohner und nicht mehr nur an der Leistungsfähigkeit des Verkehrs orientiert. Im Jahr 2014 wurde der sogenannte Healthy Streets Approach in den ersten Gesundheitsaktionsplan der Organisation Transport for London (TfL) aufgenommen, die sich in der Stadt um alle Belange des Verkehrswesens kümmert – inklusive denen der Radfahrer und Fußgänger.

Unterschätzt: Verkehr und Gesundheit

Um den Sinn des Ansatzes verständlich zu machen, geht Lucy Saunders in ihren Vorträgen zuerst auf fünf große Faktoren ein, die im Bereich Verkehr unser Umfeld und unsere Gesundheit beeinflussen: Physische Aktivität, Verletzungen, Luftqualität, Lärm und Trennungen/Abschneiden des direkten Zugangs. Alle fünf Faktoren würden uns im Hinblick auf unseren Lebensstil, unser Wohlbefinden, unsere Leistungsfähigkeit und körperliche und seelische Erkrankungen stark beeinflussen. Dazu kommen vielfältige Wirkzusammenhänge: Ein Beispiel ist die Verletzung durch Verkehrsunfälle, die nicht nur die physische Gesundheit betrifft, sondern auch das Umfeld traumatisiert und darüber hinaus allgemeine Ängste auslöst und damit unser Verhalten mitbestimmt. Ängste seien ein wesentliches Entscheidungskriterium für die bevorzugte Art der Fortbewegung. Ein anderer im Hinblick auf die Gesundheit zentraler und trotzdem stetig unterschätzter Faktor sei der grundlegende Mangel an Bewegung. Er tauche in der Statistik zwar nachgeordnet als Ursache für Erkrankungen und vorzeitige Todesfälle auf, sei aber ursächlich mitverantwortlich für viele schwere Erkrankungen wie Fettleibigkeit, Herzkrankheiten, Schlaganfälle, hoher Blutdruck, Diabetes oder auch Depressionen. Der Mangel an körperlicher Aktivität sei derzeit die größte Bedrohung für die Gesundheit der Londoner, heißt es dazu bei Transport for London.

Britische Langzeitstudie mit 300.000 Pendlern vorgestellt

Eine kürzlich veröffentlichte, groß angelegte Langzeitstudie, die mehr als 300.000 Pendlern in England und Wales im Zeitraum von 1991 bis 2016 untersuchte, hat ergeben, dass ein aktiver Lebensstil das Risiko, schwer zu erkranken oder frühzeitig zu sterben, deutlich senken kann. Grundlage für die Untersuchungen der Wissenschaftler der Cambridge University und des Imperial College London war die Begleitung verschiedene Pendler über einen Zeitraum von 25 Jahren: 66 Prozent fuhren mit dem Auto zur Arbeit, 19 Prozent nutzten öffentliche Verkehrsmittel, 12 Prozent gingen zu Fuß und nur 3 Prozent fuhren mit dem Fahrrad. Nach den Machern der Studie ergänzen die Ergebnisse vorhandene Erkenntnisse über die positiven gesundheitlichen Auswirkungen von körperlich aktiven Pendelverkehrsmitteln, insbesondere Radfahren und Zugfahren, und legen nahe, dass alle sozioökonomischen Gruppen davon profitieren könnten. Festgestellt wurde unter anderem, dass diejenigen, die mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhren, eine um 20 Prozent geringere Rate vorzeitiger Todesfälle aufwiesen. Zudem sahen die Forscher eine um 24 Prozent reduzierte Sterblichkeitsrate bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zu denen Herzinfarkt und Schlaganfall gehören, sowie eine um 16 Prozent reduzierte Sterblichkeitsrate bei Krebs und eine um 11 Prozent reduzierte Rate bei der Krebsdiagnose. Weniger positive Auswirkungen gab es bei den Fußgängern. Die Krebsdiagnosen lagen hier aber immer noch um 7 Prozent niedriger als bei den ÖPNV- oder Autopendlern.

Mehr Informationen thelancet.com

Von der Erkenntnis zum Konzept

Wie soll man diese komplexen Probleme lösen? „Nicht mit einfachen Antworten“, so Lucy Saunders. Der Healthy Streets-Ansatz sei ein komplexes System von politischen Entscheidungen und Strategien zur Schaffung einer gesünderen, integrativeren Stadt, in der die Menschen zu Fuß gehen, Rad fahren und öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Im Wesentlichen gehe es dabei nicht nur darum, Menschen Mobilität zu ermöglichen, sondern sie einzuladen und Anreize zu schaffen für einen anderen Lebensstil. Was hierzulande zwar oft diskutiert, bislang aber nur in einem geringen Maß als Leitlinie festgeschrieben oder umgesetzt wird, ist in London längst ein von Bürgermeister und Verwaltung beschlossenes Konzept, das die Zielrichtung bis zum Jahr 2030 vorgibt. So heißt es in der Strategie von Transport for London: „Unser Zweck als integrierte Verkehrsbehörde ist es, London mobil zu halten, zu wachsen und das Leben vor Ort zu verbessern.“ Die Qualität der Gesundheit sei untrennbar verbunden mit der Form der Mobilität und den Anreizen, Wahlmöglichkeiten und Angeboten für die Art und Weise der Fortbewegung.

Zehn Indikatoren für eine gesündere Stadt

Immer wieder betont Lucy Saunders, dass Healthy Streets keine idealisierte Vision für Modellstraßen sei. Beim Konzept ginge es vielmehr um einen langfristigen Plan, um die Wahrnehmung der Bevölkerung und der Besucher zu verbessern und allen dabei zu helfen, aktiver zu sein und von den gesundheitlichen Vorteilen zu profitieren. Da 80 Prozent des Verkehrs in London auf den Straßen stattfänden, sei es wichtig Straßen zu schaffen, die angenehm, sicher und attraktiv sind. Auf der anderen Seite dürften Faktoren wie Lärm, Luftverschmutzung, schlechte Zugänglichkeit, fehlende Sitzgelegenheiten oder mangelnder Wetterschutz keine Barrieren aufbauen für Menschen und hier insbesondere die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. Um die Qualität messbar zu verbessern, hat die Expertin in ihrem Konzept zehn evidenzbasierte Indikatoren dafür entwickelt, was Straßen zu attraktiven, gesunden und integrativen Orten macht. Die Arbeit in Bezug auf diese Indikatoren trage dazu bei, eine gesündere Stadt zu schaffen, in der alle Menschen einbezogen seien, gut leben könnten und in der Ungleichheiten abgebaut würden.

Milliarden-Investitionen und hoher Nutzen

Mobilitätswende in Zeiten von Corona? Wir haben Lucy Saunders, die Erfinderin des Healthy-Streets-Konzepts zu ihrer Einschätzung und Notwendigkeiten für die Zukunft befragt.

Frau Saunders, Sie sind mit Experten auf der ganzen Welt vernetzt und beobachten die Situation nicht nur in London sehr genau. Was verändert sich gerade?
Wir haben aktuell sehr viele unerfahrene und unsichere Radfahrer, die für lange Zeit nicht Rad gefahren sind, oder die jetzt damit anfangen wollen. Was jetzt in vielen Ländern dringend nötig wäre, ist, dass wirklich große Anstrengungen unternommen werden, um den Menschen genug sicheren Raum zu geben.

Vielerorts werden ja neue Räume für Radfahrer freigemacht, Stichwort Protected Bikelanes.
Was wir aktuell sehen, das sind viele kleine Lösungen in verschiedenen Städten mit ganz viel Publicity drum herum. Aber wenn wir genau hinschauen, dann sehen wir, dass es wirklich nur sehr kleine Teile der In­frastruktur sind, die jetzt für das Fahrrad freigemacht werden. Es wird bislang nicht realisiert, dass Radfahrer überall und auf jeder Straße sichere Räume brauchen. Ich sehe selbst jetzt nicht, dass das passiert. Zudem bin ich auch besorgt, dass die Menschen nach der Corona-Krise sagen, okay ihr habt doch jetzt eure Fahrrad-Infrastruktur, also seid jetzt einfach still und hört auf, immer weiter über Radfahren zu reden. Wir wollen doch jetzt zurück zum Business-as-usual.

Sehen Sie die aktuellen Entwicklungen trotzdem positiv oder gibt es hier Risiken?
Wir haben ein großes Risiko von viel mehr Autos auf den Straßen, weil den Menschen empfohlen wird, keine öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen, und sie meinen, dass sie keine andere Option haben. Auf den Fußwegen ist viel zu wenig Platz und der Umstieg aufs Rad sieht für sie nicht leicht aus. Sie wissen nicht, was für ein Fahrrad sie kaufen oder welche Kleidung sie tragen sollen. Dazu brauchen sie unterstützende Informationen und vielfach auch Trainings, damit sie lernen, dass Radfahren wirklich eine Option ist als echtes Verkehrsmittel.

Was ist ihre Empfehlung in Bezug auf eine bessere Gesundheit?
In allen Ländern kann man sehen, dass nur ein Bruchteil der empfohlenen physischen Aktivität erreicht wird. Da, wo Menschen ihre Bewegung durch Sport bekommen, sehen wir einen großen Einbruch im Alter von Anfang 30, also dann, wenn andere Dinge wichtiger und zeitraubend werden, wie die Familie und der Job. Auf der anderen Seite wissen wir, dass Menschen ihren Lebensstil anpassen, wenn sie in einer bewegungsfördernden Umgebung leben, wo das Radfahren und Zufußgehen zur täglichen Routine gehört und das dann auch für ihr Leben beibehalten. Wenn wir also mehr Bewegung über das ganze Leben bis ins Alter haben wollen, dann müssen wir auf Zufußgehen und Radfahren als tägliche Aktivität setzen.

Erläuterungen zu den zehn Indikatoren für Healthy Streets

Everyone feels welcome
Straßen müssen ein einladender Ort sein, an dem jeder gehen, Zeit verbringen und sich mit anderen Menschen austauschen kann. Der beste Test dafür ist, ob die gesamte Gemeinschaft, insbesondere Kinder, ältere Menschen und Behinderte, diesen Raum gerne nutzen.

People choose to walk and cycle
Die Menschen werden zu Fuß gehen und Rad fahren, wenn dies für sie die attraktivsten Optionen sind. Das bedeutet, dass Gehen und Radfahren sowie öffentliche Verkehrsmittel bequemer, angenehmer und attraktiver sein müssen als die Nutzung des privaten Autos.

People feel relaxed
Die Straßenumgebung kann uns beunruhigen – wenn sie schmutzig und laut ist, wenn sie sich unsicher anfühlt, wir nicht genug Platz haben, oder wenn wir nicht leicht dorthin gelangen können, wo wir hinwollen. All diese Faktoren sind wichtig, um unsere Straßen einladend und attraktiv zu machen.

Easy to cross
Unsere Straßen müssen für alle leicht zu überqueren sein. Das ist wichtig, weil die Menschen es vorziehen, direkt und schnell dorthin zu gelangen, wo sie hinwollen. Wenn wir ihnen das schwermachen, werden sie frustriert aufgeben. Das hat Auswirkungen auf unsere Gesundheit, auf unsere Städte und Kommunen und lokale Unternehmen.

Clean air
Die Luftqualität wirkt sich auf die Gesundheit eines jeden Menschen aus, besonders aber auf einige der verletzlichsten und am stärksten benachteiligten Menschen – Kinder und Menschen mit gesundheitlichen Problemen.

Not too noisy
Straßenverkehrslärm beeinträchtigt unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden in vielerlei Hinsicht. Die Verringerung des Lärms schafft ein Umfeld, in dem die Menschen bereit sind, sich Zeit zu nehmen und miteinander zu interagieren.

Places to stop and rest
Regelmäßige Möglichkeiten zum Anhalten und Ausruhen und Sitzgelegenheiten sind unerlässlich, um Umgebungen zu schaffen, die für alle Menschen integrativ sind, und um Straßen zu einladenden Aufenthaltsorten zu machen.

People feel safe
Der motorisierte Straßenverkehr kann dazu führen, dass sich Menschen zu Fuß oder mit dem Fahrrad unsicher fühlen. Die Menschen müssen sich aber auch vor unsozialem Verhalten, unerwünschter Aufmerksamkeit, Gewalt und Einschüchterung sicher fühlen.

Things to see and do
Straßenumgebungen müssen für Menschen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind, visuell ansprechend sein, sie müssen den Menschen Gründe bieten, sie zu nutzen – lokale Geschäfte und Dienstleistungen, Möglichkeiten zur Interaktion mit Kunst, Natur und anderen Menschen.

Shade and shelter
Schatten und Schutz kann es in vielen Formen geben – Bäume, Markisen, Kolonnaden – und sie sind notwendig, um sicherzustellen, dass jeder bei jedem Wetter die Straße benutzen kann. Bei heißem Wetter benötigen Menschen genauso Schutz wie bei Regen und Wind.

Lucy Saunders

ist Spezialistin für öffentliche Gesundheit, Urbanistin und Verkehrsplanerin. Sie schuf den Healthy Streets Approach, einen evidenzbasierten Rahmen für die Entscheidungsfindung auf allen Ebenen, um das Thema Gesundheit im Stadtverkehr, im öffentlichen Bereich und in der Planung zu verankern. Aufbauend auf ihrem Erfolg in London teilt sie nun ihr Fachwissen mit Städten und Regionen weltweit. Der Name Healthy Streets ist rechtlich geschützt.

Mehr Informationen unter healthystreets.com


Bilder: www.brompton.de – pd-f, Lucy Saunders