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Die Vision der autogerechten Stadt drückt dem aktuellen Verkehrsrecht immer noch ihren Stempel auf. Verkehrsexperten und kommunale Entscheider fordern schon lange eine Reform von Straßenverkehrsgesetz (StVG) und Straßenverkehrsordnung (StVO), um die darin enthaltenen Blockaden für einen nachhaltigeren Verkehr zu lösen. Der Experte für Umweltrecht Prof. Dr. Stefan Klinski hat nun einen kleinen Eingriff mit großer Wirkung ins Spiel gebracht. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2023, März 2023)


Seit Jahren blockiert das Verkehrsrecht nach gängiger Meinung den Umbau von Straßen für mehr Klimaschutz und nachhaltigeren Verkehr. Bürgermeisterinnen, Verbandsvertreterinnen und anderen Verkehrsexpert*innen warten deshalb schon länger auf einen Reformvorschlag zum Straßenverkehrsgesetz (StVG) und zur Straßenverkehrsordnung (StVO). Vor Kurzem hat nun Prof. Dr. Stefan Klinski als einer der führenden Rechtsexperten auf dem Gebiet einen Regulierungsvorschlag veröffentlicht, der mit vergleichsweise wenigen Worten beschreibt, was sich in StVG und StVO ändern sollte, damit Länder und Kommunen zügig die Rahmenbedingungen für einen nachhaltigen Verkehr schaffen können. Der entscheidende Hebel ist dabei aus Sicht von Prof. Dr. Klinski, den Aspekt der „Prävention“ im StVG zu verankern. „Das wäre ein Richtungswechsel in der Verkehrspolitik“, sagt der Experte für Umweltrecht. Prävention, also die vorsorgende Verkehrsplanung bedeutet, dass Planer frühzeitig Maßnahmen ergreifen können, um mögliche Gefahren abzuwenden, die der Autoverkehr verursacht. Das betrifft Unfälle, aber auch Schäden, die Autos durch ihren Platzverbrauch, Lärm oder Emissionen verursachen, sowie mögliche Folgeschäden fürs Klima, die Umwelt oder die Gesundheit. Hinzu kommt, dass die Verkehrsbehörden damit auch die Weichen für den nichtmotorisierten Verkehr stellen können. Etwa indem sie Busspuren einrichten oder bedarfsgerechte Radnetze entwerfen. Auch städtebauliche Belange gehören laut Klinski zu einer vorsorgenden Verkehrsplanung, wie die Umwandlung von Stellflächen in Grünanlagen, um einzelne Standorte besser an die Folgen des Klimawandels anzupassen.
All das sei bislang nicht möglich, weil der fließende Verkehr immer Vorrang hat. „Das Verkehrsrecht von heute entspringt den Visionen der autogerechten Stadt der 1950er- Jahre“, sagt Klinski. „Es ist konsequent darauf ausgerichtet, auf den Straßen möglichst viel Autoverkehr zu ermöglichen“. Diese Philosophie der Verkehrsplanung wurde bereits in den 1980er-Jahren kritisiert. In dieser Zeit setzten erste Initiativen Spielstraßen und verkehrsberuhigte Zonen durch. Ende der 1990er-Jahre wurde die Entwicklung eines beruhigteren Verkehrs immer wichtiger. „Im Jahr 2011 hat der Verordnungsgeber dann den existierenden Paragrafen 45 Absatz 9 StVO verschärft“, sagt Klinski. Seitdem darf der fließende Autoverkehr nur beschränkt werden, wenn eine ganz besondere Gefahrenlage vorliegt, die zudem belegt werden muss.

Schneller zu mehr Busspuren, zusammenhängenden Radnetzen und mehr Grün in der Stadt. Eine vorsorgende Verkehrsplanung macht das möglich.

§ 6 Absatz 1 StVG

(1) Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur wird ermächtigt, soweit es zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen erforderlich ist, Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates über Folgendes zu erlassen:

(4) Rechtsverordnungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 2, 5 und 8 oder Absatz 2, jeweils auch in Verbindung mit Absatz 3, können auch erlassen werden

1. zur Abwehr von Gefahren, die vom Verkehr auf öffentlichen Straßen ausgehen,

2. zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen, die von Fahrzeugen ausgehen, oder

3. zum Schutz der Verbraucher.

Vorrangstellung des Autos beenden

In Kombination mit besagtem Paragrafen der Straßenverkehrsordnung wird das Straßenverkehrsgesetz vielerorts zum Knebel für die Verkehrsplanung. „Das Straßenverkehrsrecht zielt momentan allein auf die Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs“, sagt Klinski (siehe Kasten § 6 Absatz 1 StVG, einleitende Formel). Wollen die Planer an Hauptstraßen beispielsweise lokal begrenzt Tempo 30 anordnen, um die Sicherheit von Radfahrenden, Fußgängerinnen oder Kindern zu erhöhen, scheitern sie an der Rechtslage. „Es ist momentan nicht möglich, in den Verkehrsfluss einzugreifen, wenn mit besonderen Gefahren zu rechnen ist, sondern nur, wenn die Gefahrenlage bereits besteht“, sagt der Rechtsexperte. Es müssen also schwere Unfälle stattgefunden haben, um nachträglich regelnd eingreifen zu können. „Die Flüssigkeit des Verkehrs wird damit im Einzelfall über die Sicherheit und über die Sicherheitsvorsorge gestellt“, so Klinski. Um diese Verkehrspolitik pro Auto aufzubrechen, schlägt er vor, den § 6 StVG anzupassen. Normalerweise regelt ein Gesetz die wesentlichen Grundzüge eines Rechtsbereichs. Anders § 6 StVG: Dort werde nicht festgelegt, was den Straßenverkehr ausmachen soll, sondern er enthalte eine Vielzahl von ganz unterschiedlichen Verordnungsermächtigungen, die sich auf Fahrerlaubnis, Fahrzeugtechnik und das Verkehrsgeschehen beziehen. Obwohl erst im Jahr 2021 angepasst, ist der Paragraf sehr unübersichtlich. Seitdem regelt der erste Absatz ausschließlich das Interesse von Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs. Interessant ist für den Rechtsexperten § 6 Absatz 4 StVG: Dort geht es erstmals auch um die Auswirkungen des Verkehrs auf andere Belange. „Allerdings in sehr schwach ausgeprägter Form“, sagt Klinski. An dieser Stelle will der Rechtsexperte den Hebel ansetzen. Werde hier der Aspekt der Vorsorge systematisch ergänzt, entfalte er schnell eine weitreichende Wirkung. Beispielsweise könnten die Kommunen an Hauptstraßen Tempo 30 anordnen, wenn die Geschwindigkeit zu mehr Lärm, Abgasen oder Unfällen führt. „Der Alexanderplatz in Berlin ist einer der Unfallschwerpunkte der Hauptstadt“, sagt Prof. Klinski. Tempo 30 würde die gesamte Verkehrssituation dort entspannen. Aber momentan ist es laut StVO nicht möglich, an Hauptstraßen im Kreuzungsbereich Tempo 30 anzuordnen. Den Ver-kehrsplanerinnen sind die Hände gebunden. Ebenso bei Busspuren: „Momentan dürfen sie nur angeordnet werden, wenn mindestens 18 Busse pro Stunde eine Stelle passieren“, sagt er. Mit einer vorsorgenden Verkehrsplanung könnte der Busverkehr vor einem Bahnhof oder einem Einkaufszentrum priorisiert und der Autoverkehr ausgesperrt werden.
Der Professor weiß, für Laien klingt die Platzierung der Änderungen in § 6 Absatz 4 StVG unspektakulär. Dort werden nur die sogenannten „Nebenzwecke“ der StVO behandelt. Aber deshalb werden sie nicht unbedeutender. Im Gegenteil. Dort platziert seien sie deutlich wirkungsvoller, als in die Allgemeinklausel des § 6 zu schreiben „sämtliche Absätze dienen auch dem Klimaschutz“. Davor warnt er. „Das klingt zwar gut, hat aber keine unmittelbare Wirkung“, sagt Klinski. Das Verkehrsministerium könnte auf die Antriebswende verweisen und sämtliche weiteren Änderungen ablehnen.
Klinskis Vorschlag dagegen wirke sofort. „Die Regelung kann bereits auf die bestehende StVO ergänzend angewandt werden“, sagt er. § 45 Absatz 9 StVO, der bislang alle vorsorgenden Maßnahmen blockiert, würde mit einer neuen Formulierung im § 6 Absatz 4 StVG wirkungslos. Die Straßenbehörden könnten eine Mobilitätswende beschleunigen, die aktive Mobilität, den Umweltverbund und klimagerechte Straßen fördert.

§ 6 Absatz 4 StVG

Änderungsvorschlag vom Prof. Dr. Stefan Klinski

Rechtsverordnungen nach Absatz1 Satz 1, durch die oder auf deren Grundlage durch Anordnungen der zuständigen Straßenverkehrsbehörde bestimmt wird, wie öffentliche Straßen benutzt werden können, dienen auch

1. zur Minderung von nachteiligen Auswirkungen durch die Benutzung von Fahrzeugen im Straßenverkehr auf die Umwelt einschließlich des Klimas sowie auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Menschen, insbesondere im räumlichen Umfeld der Straßen,

2. zur Schaffung günstiger Bedingungen im Straßenverkehr für einen künftig zunehmenden nichtmotorisierten Verkehr, insbesondere für die Nutzung von Fahrrädern sowie für die Mobilität zu Fuß und für Menschen mit Beweglichkeitseinschränkungen,

3. zur Sicherstellung eines flüssigen, erforderlichenfalls vorrangigen Verkehrs mit öffentlichen Verkehrsmitteln,

4. zur zeitlich und räumlich differenzierenden Ordnung des Verkehrs in Rücksichtnahme auf Bedürfnisse der Nacht-, Feiertags- und Sonntagsruhe, auf Ferienzeiten und auf kulturelle, sportliche, religiöse oder sonstige nicht verkehr-liche Anlässe sowie

5. zur Berücksichtigung städtebaulicher Belange auf Initiative der Gemeinde, auch bezogen auf einzelne der in Nummer 1 bis 5 angesprochenen Zwecke und Maßnahmen, und können durch die zuständigen Straßenverkehrsbehörden ohne weitere Voraussetzungen für Anordnungen auf Grundlage der Rechtsverordnungen angewendet werden, soweit dies im Einzelfall zu einem dieser Zwecke erforderlich ist und Belange der Sicherheit des Verkehrs oder zwingende sonstige öffentliche oder private Belange nicht entgegenstehen. Für Anordnungen im Sinne von Satz 2 ist in den Rechtsverordnungen vorzusehen, dass Gemeinden Anträge auf solche Maßnahmen stellen können und diese pflichtgemäß zu
bescheiden sind.

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Hersteller von Transporträdern fühlen sich in einer rechtlichen Grauzone, was die Erlaubnis zur Personenbeförderung anbelangt. Die StVO muss hier deutlicher werden. Der Zweirad-Industrie-Verband soll dabei helfen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Wer auf neue Mobilität, spricht also auch auf Fahrrad-Mobilität setzt, der denkt auch an Familien, an das Fahrrad-Taxi und an touristische Beförderung. Die Straßenverkehrsordnung sagt jedoch offiziell zum Thema „Personenbeför­­derung auf Fahrrädern“ in § 21, Abs. 3: „Auf Fahrrädern dürfen nur Kinder bis zum vollendeten siebten Lebensjahr von mindestens 16 Jahre alten Personen mitgenommen werden, wenn für die Kinder besondere Sitze vorhanden sind (…).” Tatsächlich war es Rikscha-Unternehmen in einigen Städten bislang nur mit einer Sondergenehmigung zum Personentransport der Gemeinde möglich, ihr Geschäft zu betreiben. War die nicht vorhanden, kassierte die Polizei auch Bußgelder.

Passagiere im Laufe der Geschichte verloren

Allerdings widersprachen schon lange Rechtsexperten der Auslegung der StVO, dass Erwachsene nicht auf Fahrrädern transportiert werden dürften. Und es gab auch einen Freispruch eines Rikscha-Betreibers, der ein Bußgeld wegen unerlaubter Personenbeförderung zahle sollte. Dieses Urteil (Auszug s. Kasten) schuf einen Präzedenzfall.
Hintergrund: In der ursprünglichen StVO von 1937 hieß es, „auf einsitzigen Fahrrädern dürfen Radfahrer Personen nicht mitnehmen.“ Das Wort „einsitzig“ fiel in späteren Versionen unerklärt weg. So entstand – wohl versehentlich – ein Verbot der Personenbeförderung für Fahrräder (mit Ausnahme der separat genannten Kinderbeförderung).
Bleibt das „einsitzig“ erhalten, lässt sich kein Verbot für die Personenbeförderung auf einem Fahrrad, welches mit einem oder mehreren geeigneten Sitzen etc. ausgerüstet ist, ableiten – was auch der Präzedenzfall bestätigt.

„Wir setzen uns dafür ein, dass die Personenbeförderung ganz konkret Inhalt der StVO-Novelle wird“

Siegfried Neuberger, ZIV-Geschäftsführer

ZIV zählt auf die Novelle

Von einer Rechtsverordnung wie der StVO erwartet man klare Aussagen. Der jetzige Status Quo ist zumindest missverständlich und keine explizite Erlaubnis, sondern eher eine Ausnahme von einem Verbot. Der deutsche Zweirad-Industrieverband ZIV drängt daher auf eine klare, positive Aufnahme der Personenbeförderung in die Novelle der StVO; diese soll in Kürze verabschiedet werden.
„Wir setzen uns dafür ein, dass die Personenbeförderung ganz konkret Inhalt der StVO-Novelle wird“, erklärt dazu ZIV-Geschäftsführer Siegfried Neuberger. „Man kann sich das etwa so vorstellen, dass die Anzahl der Sitze eines der Kriterien für die Personenbeförderung ist. Das ist wichtig, weil es immer mehr sinnvolle Fahrzugkonzepte im Fahrradbereich gibt, die den Personentransport vorsehen.“ Kaum vorstellbar: Ein Land, das auf moderne Mobilität – auch auf das Fahrrad – setzt, dabei aber nicht festlegt, wie das im jeweiligen Fall aussehen darf. Natürlich sollten dabei auch andere Details zur Sicherheit des Passagiers wie ein Schutz vor Verletzung der Füße durch die Speichen oder ähnliches genannt werden. Diese Bedingungen gibt es aber schon in der Erklärung zur Beförderung von Kindern in der aktuellen StVO.
Ob es dieser Inhalt wirklich, wie es der ZIV empfiehlt, in die neue StVO schafft, ist unklar. Bis Redaktionsschluss unseres Magazins konnte der der ZIV als offizieller Vertreter der Zweirad-Industrie jedenfalls keinen Einblick in die Textentwürfe nehmen. Das war noch vor der Anhörung der Novelle durch die Länder – die dieses Regelwerk obligatorisch passieren muss – geplant.
Klar ist: In der Verkehrsplanung der Zukunft kann das Fahrrad und das in der StVO rechtlich weitgehend gleichgestellte Pedelec in verschiedensten Varianten durch sein enormes Potenzial auch in der Personenbeförderung eine große Rolle spielen. Dem sollte auch die StVO mit einer klaren Aussage Rechnung tragen.

Kleiner Absatz, große Wirkung

Der entscheidende Auszug aus dem Urteil des OLG Dresden vom 11.10.2004 besagt, dass eine Rikscha nicht unter das Beförderungsverbot fällt (und damit auch keine anderen Räder mit mehreren geeigneten Sitzmöglichkeiten): „Leitsatz § 21 Abs. 3 StVO kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass hierunter auch eine dreirädrige, mehrspurige und durch Muskelkraft angetriebene Fahrradrikscha fällt.“

Wir danken Lothar Könekamp vom Radlager Nirala in Köln für den Hinweis auf das Urteil.

Bilder: Yuba Bicycles, Siegfried Neuberger