Tempo-Reduzierungen in der Stadt
Erst seit den 1950er-Jahren gibt es hierzulande Geschwindigkeitsgrenzen in Städten und seit den 1980ern erste Tempo-30-Zonen. Ist es jetzt Zeit für eine weitere Neuordnung? Nicht nur Klimaargumente und das Ziel, mehr Sicherheit im Straßenverkehr zu schaffen, sprechen dafür, sondern auch die Themen Urbanisierung, körperliche und geistige Gesundheit und der demografische Wandel. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)
Für eine generelle Absenkung der Geschwindigkeiten im Straßenverkehr setzen sich viele Expertinnen schon seit Jahren ein. Handlungsbedarf sehen sie mit Blick auf die Verbesserung der Sicherheit und die Minderung der Schwere der Unfälle. Dazu kommen potenzielle Verbesserungen beim Energieverbrauch, CO2– und Schadstoffausstoß und bei der Geräuschentwicklung, wovon gerade die Bewohnerinnen der Städte und Gemeinden profitieren würden. So weit zu den technischen Aspekten. Erstaunlich wenig beachtet wurden in der Vergangenheit soziale und psychologische Faktoren, die mit dem Thema Geschwindigkeit zusammenhängen. Dabei geht es auf der einen Seite um Ängste und auf der anderen um ein deutlich sichereres Gefühl im öffentlichen Raum für Radfahrende ebenso wie zu Fuß gehende Menschen, Kinder, Eltern, Ältere und Frauen. Je intensiver man sich mit dem Thema befasst, desto weniger adäquat und zeitgemäß kommen einem die aktuellen Regeln vor. Anpassungen und Veränderungen gab es aber schon immer. „In den 1950er-Jahren haben wir deutschlandweit Tempo 50 in den Städten eingeführt, 1983 gab es die ersten Tempo-30-Zonen und jedes Mal gab es große Diskussionen, heute finden wir das normal“, sagt Prof. Dr. Markus Friedrich, Leiter des Lehrstuhls für Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik an der Universität Stuttgart. In der aktuellen Situation müssten wir uns seiner Meinung nach überlegen, wie die nächsten Schritte mit Blick auf eine Temporeduzierung aussehen könnten. Konkrete Ideen dazu hat er auch.
Initiativen für angemessene Geschwindigkeiten
Viele Kommunen stehen heute vor dem Problem, dass sie die Notwendigkeit sehen, in Teilen der Stadt oder generell die Regelgeschwindigkeit zumindest auf Nebenstraßen herunterzusetzen. Gesetzlich wird dem fließenden Verkehr jedoch auf Bundesebene weiterhin Vorrang eingeräumt. Selbst Experimentierräume sind bislang untersagt. Dagegen formiert sich aktuell breiter Widerstand. Im Juli 2021 startete zum Beispiel die Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“, organisiert von der Agora Verkehrswende mit Beteiligung des Deutschen Städtetags. Nach anfänglich sieben Initiativstädten sind es rund ein halbes Jahr später bereits 90 Städte und Gemeinden, die sich der Initiative angeschlossen haben. „Die Leistungsfähigkeit für den Verkehr wird durch Tempo 30 nicht eingeschränkt, die Aufenthaltsqualität dagegen spürbar erhöht“, heißt es dazu vom Deutschen Städtetag. Lebendige, attraktive Städte bräuchten lebenswerte öffentliche Räume. „Gerade die Straßen und Plätze mit ihren vielfältigen Funktionen sind das Aushängeschild, das Gesicht der Städte. Sie prägen Lebensqualität und Urbanität.“ Diesen Anspruch mit den Mobilitäts-, Erreichbarkeits- und Teilhabeerfordernissen von Menschen und Wirtschaft zu vereinbaren, sei eine zentrale Aufgabe.
Auch der ADFC setzt sich für Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit ein und hat dabei eine einheitliche Regelung für alle Städte und Gemeinden durch ein Bundesgesetz im Blick. Das zusätzliche Argument, das der Fahrradclub ins Feld führt: Radfahrende reagieren sensibel auf ihr Verkehrsumfeld. Das allerdings wird bislang negativ wahrgenommen. Nach den Erhebungen des Fahrradmonitors gibt fast die Hälfte der Radfahrenden an, sich nicht sicher zu fühlen, wenn sie mit dem Rad im Straßenverkehr unterwegs sind. Viele von ihnen fühlen sich durch hohe Kfz-Geschwindigkeiten regelrecht bedroht, vorwiegend dort, wo es keine separaten Radwege gibt. Viele Menschen nutzen deshalb lieber andere Verkehrsmittel.
Gefahren bei Tempo 50 sehr real
Mit dem zunehmenden Verkehr, Ablenkungen durch Smartphones und der höheren Zahl älterer Verkehrs-teilnehmer*innen kommt die Infrastruktur schnell an ihre Grenzen, vor allem, wenn es um Knotenpunkte und Mischverkehre geht, die entweder so gewollt oder aus Platzgründen unvermeidlich sind. Schon vor Jahren ist hier Prof. Dr. Bernhard Schlag, der im Bereich Verkehrspsychologie an der TU Dresden geforscht hat, zu einem klaren Ergebnis gekommen: „Situationen, in denen der Pkw- und Lkw-Verkehr den Radverkehr kreuzt, sind ohne eine deutliche Reduzierung der Geschwindigkeit gefährlich, weil sie zusätzliche Risiken schaffen“, so der Experte. „Denn das Gedränge und die Schnelligkeit der Situation überfordern die Verkehrsteilnehmer. So passieren Unfälle, und die sind dann oft richtig schwer.“ Eine Reduktion der Geschwindigkeit bietet nach seinen Forschungsergebnissen viele Potenziale: „In dem Moment, wo die Geschwindigkeiten niedriger sind, haben Sie nicht nur weniger Unfälle und geringere Unfallfolgen, sondern auch mehr Chancen, Fehler von sich oder anderen zu kompensieren.“
Viel zu wenig beachtet: soziale Faktoren
Die Mobilitätsexpertin, Aktivistin und Fachbuchautorin Katja Diehl schreibt in ihrem gerade erschienenen Buch „Autokorrektur: Mobilität für eine lebenswertere Welt“ (Verlag S. Fischer), dass es ihr nicht nur um die Klima-krise, sondern auch um das „Unmenschliche und Ungerechte bestehender Verkehrssysteme“ geht. Es gehe darum, den Menschen neu ins Zentrum zu stellen. Vielfältige Untersuchungen bestätigen den Zusammenhang zwischen den Verkehrsräumen, mit denen wir konfrontiert werden, und psychologischen und sozialen Wirkzusammenhängen. Einige Beispiele: Kinder an einer Tempo-50-Straße kennen und treffen hauptsächlich Kinder auf der eigenen Straßenseite. In Tempo-30-Zonen gibt es das Phänomen zwar auch, aber es ist längst nicht so stark ausgeprägt. Positiv durch niedrige Geschwindigkeiten beeinflusst (durch Tempo 30 und noch mehr durch Tempo 20) wird auch die Motivation, zu Fuß unterwegs zu sein und sich Zeit für einen Plausch zu nehmen. Damit steigt nicht nur die Lebensqualität der Be-wohner*innen, sondern auch der soziale Zusammenhalt im Quartier und mit ihm wiederum das Sicherheitsempfinden von Frauen und Eltern, die das Umfeld nicht mehr als bedrohlich, sondern freundlich empfinden. Mit als Erster erforscht und im Buch „Livable Streets“ beschrieben hat diese oft vergessenen Phänomene schon zu Beginn der 1980er-Jahre Donald Ap-pleyard, Professor of Urban Design an der Universität Berkeley. Menschen lernen sich demnach eher kennen, kommunizieren besser und sie übernehmen auch mehr Verantwortung für ihr Umfeld. Gerade Städte und Stadtviertel mit unterschiedlichen Altersgruppen, soziale Strukturen und Menschen mit Migrationsgeschichte können hier wesentlich profitieren. Davon ist auch die Organisationssoziologin Dr. Ute Symanski überzeugt, die den Kölner Kongress Radkomm und die Volksinitiative Aufbruch Fahrrad NRW mitinitiiert hat und prägt. „Was ich erlebe, ist, dass Stadtplanung und Verkehrsplanung die Stadt nur noch als Funktionsraum betrachtet und denkt“, sagt die Expertin. „Die Funktion, Menschen zusammenbringen, den Austausch und das Gespräch zwischen Menschen zu ermöglichen, das wird überhaupt nicht mitgedacht. Eine fatale Entwicklung.“ Durch den überbordenden und viel zu schnellen Autoverkehr würden die Menschen in ihre privaten Räume gedrängt. „Die Straße hat ihre ursprüngliche Funktion als Begegnungs- und Bewegungsraum längst verloren. Eigentlich ist es ein Wunder, dass Städte trotzdem noch einigermaßen funktionieren.“
„Parkplätze werden nur in geringen Umfang zurückgenommen, dafür gibt es niedrigere Geschwindigkeiten und Überholverbote von einspurigen Fahrzeugen.“
Prof. Dr. Markus Friedrich
Probleme für Kinder, Alte und Gebrechliche
Gesunde, eigenständige Mobilität als Selbstverständlichkeit zu erlernen, ist sicher genauso wichtig, wie die Möglichkeit, sie als älterer und ggf. gebrechlicher Mensch aufrechtzuerhalten. Katja Diehl hat in ihrem Buch Autokorrektur zu diesen Themen zahlreiche Fakten und Studien zusammengetragen. Kinder würden beispielsweise schon durch die Angstübertragung der Eltern lernen, dass es draußen auf der Straße lebensgefährlich ist. Eigene Wege würden so gemieden. Vermeidungsstrategien finden sich auch bei gebrechlichen Menschen. Sie geben früh das Radfahren auf, wagen sich seltener aus dem Haus und verschwinden so mehr und mehr aus dem für sie gefährlichen öffentlichen Raum. „Über 50 Prozent der Personen mit Gebrechlichkeit berichten, in der Woche allenfalls noch an zwei Tagen außerhalb der Wohnung oder des Hauses unterwegs zu sein“, so Katja Diehl. Viele seien beispielsweise bei längeren Fußwegen auf Pausen angewiesen, deshalb seien Bänke zum Ausruhen enorm wichtig. Die WHO hat das Thema inzwischen erkannt und das Programm „Age-friendly Cities“ etabliert. Dazu wurden unter anderem folgende Lebensbereiche priorisiert:
Verkehr, Wohnen, öffentlicher Raum, soziale Teilhabe sowie Mitsprachemöglichkeiten bei der Planung. Echte Gefahren durch höhere Geschwindigkeiten ergeben sich bei Kindern ebenso wie bei den Älteren. Sie sind zum einen verletzlicher und können zum anderen Geschwindigkeiten oder komplexe Situationen nicht gut abschätzen. Bei Älteren und Gebrechlichen kommt erschwerend dazu, dass sie körperlich nicht in der Lage sind, sich einer erkannten Gefahrensituation durch schnelles Gehen oder Laufen zu entziehen. Viele schwere und durch geringere Geschwindigkeiten vermeidbare Unfälle entstehen so beispielsweise beim Überqueren mehrspuriger Straßen, wo Fußgänger weder sicher vor noch zurück können. Allein der demografische Wandel, mit dem sich künftig mehr und mehr ältere Menschen zu Fuß, per Fahrrad, Pedelec und Pkw begegnen, lässt eine Reduktion der Geschwindigkeit als schnell und kostengünstig umsetzbare Maßnahme als geeignet erscheinen.
Tempo 40 und 25 für Haupt- und Erschließungsstraßen?
Prof. Dr. Angela Francke von der Universität Kassel, die eine der sieben neu eingerichteten Stiftungsprofessuren vom Bund für Radverkehr angenommen hat, plädiert für zuverlässige Wegeketten und auf Kurzstrecken für „viel mehr gesunde, aktive und klimafreundliche Mobilität“. Die Technologien und Produkte dafür seien ja mit Fahrrädern, E-Bikes, Lastenrädern oder E-Scootern längst vorhanden. Dafür ist die Infrastruktur im Mischverkehr allerdings bei hohen Geschwindigkeiten nicht geeignet, und eine bessere Separierung dauert meist sehr lange und ist oft auch gar nicht möglich. Für Prof. Dr. Markus Friedrich braucht es deshalb neue Kompromisse. Eine schnelle Lösung brächte aus seiner Sicht eine Geschwindigkeitsreduzierung in den Städten mit Tempo 40 statt 50 km/h auf den Hauptverkehrsstraßen und Tempo 25 in allen Erschließungsstraßen. Zusammen mit den niedrigeren Geschwindigkeiten gäbe es Überholverbote von einspurigen Fahrzeugen auf Tempo-25-Straßen. Damit würde einerseits eine gute Situation für Radfahrende, Lastenradverkehr und die Mikromobilität geschaffen, andererseits müssten so Parkplätze nur in einem geringen Umfang zurückgenommen werden. Damit Autofahrende die Situation intuitiv erfassen können, plädiert er hier zudem für bundesweit einheitliche Regeln. Ist das realistisch? Dort, wo niedrigere Geschwindigkeiten flächendeckend eingerichtet wurden, berichten die Verantwortlichen von einer deutlichen Verbesserung der Unfallsituation bezogen auf die Häufigkeit und Schwere. Landesweit einheitliche Regeln gibt es dazu inzwischen in Spanien mit Tempo 30 auf Erschließungsstraßen und Tempo 20, wenn es keine eigene Bürgersteigplattform gibt. Nur auf Straßen mit zwei oder mehr Fahrspuren pro Richtung bleibt die Grenze bei 50 Kilometer pro Stunde.
Bilder: stock.adobe.com – Trueffelpix, ADFC