Übertragbare Methoden für kleine Kommunen
Wie gelingt Radverkehrsförderung in kleineren Kommunen? Die Gemeinde Eichwalde bei Berlin lernt in einem Reallabor, wie es mit datengestützter Planung und Zusammenarbeit mit den Nachbargemeinden besser vorangeht. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2023, September 2023)
Auf kommunaler Ebene steckt der Teufel oft im Detail. Beispiel: der interkommunale Radweg von Eichwalde nach Königs-Wusterhausen. Jörg Jenoch, Bürgermeister von Eichwalde, kennt die Herausforderungen: „Wenn vier Kommunen so etwas planen und jeder seinen Teil ohne Fördermittel in seinem Haushalt einstellen muss, gibt es garantiert eine Kommune, die das in dem Jahr nicht macht.“ Etwa wenn es andere Budgetpräferenzen gibt. „Deswegen haben wir gesagt: Obwohl es vier Teilstücke sind, müssen wir uns gemeinsam auf den Weg machen.“ Das heißt unter anderem: gemeinsam einen Förderantrag stellen.
Damit willkommen vor Ort im Nudafa-Reallabor. Das Kürzel steht für „Nutzerdatengestützte Planung eines integrierten Fahrradverkehrsnetzes“. Das Projekt konzentriert sich auf die Erfordernisse kleiner und mittlerer Kommunen und sucht nach innovativen Ansätzen dafür. Nudafa-Verbundkoordinator Christoph Kollert, dessen Büro gleich neben dem des Bürgermeisters liegt, sagt: „Zwei Themen stehen bei uns im Fokus: Welche Rolle kann interkommunale Kooperation spielen? Der andere Aspekt ist, wie frei verfügbare OSM-Daten genutzt werden können, um Planungsprozesse mit digitalen Tools zu unterstützen.“
Erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit mittels Beteiligungsteppich. Die begehbare Karte zeigt die lokale Infrastruktur und lädt zur Diskussion.
Mit Radverkehrsdaten planen und überzeugen
Bei den Planungstools steht der Radverkehrsatlas im Mittelpunkt. Entwickelt wurde er von von FixMyCity. Mithilfe automatisierter OSM-Daten stellt er die Informationen und Karten für ein mögliches Zielnetz bereit. Besonders hilfreich für Kommunen, die sich erst auf den Weg begeben, ein Radverkehrskonzept zu entwickeln. Kollert erklärt: „Anders als in den Städten hat nicht jede Gemeinde 50.000 Euro für ein Fachplanungsbüro. Die Daten werden von Bürgern gesammelt. Man kann sie aktualisieren und anpassen. Und wir haben ein Tool, das diese Daten automatisiert auswertet. So hat man eine kostengünstigere Grundlage, vernünftig über ein Zielnetz zu diskutieren.“
Denn mit den kuratierten Karten lässt sich das komplexe Thema Radverkehrsplanung rasch für Fachfremde herunterbrechen. So wird ein lokaler Radnetzvorschlag problemlos an die Wand projiziert. Im Hintergrund wird die bestehende Infrastruktur angezeigt. Es kann über Details wie Kopfsteinpflaster oder geeignete Nebenstraßen gesprochen werden. „So treffen wir uns mit der Nachbarkommune, dem Bürgermeister, der Verwaltung. Oder mit den aktiven Bürgern“, sagt Kollert. Zugleich verbindet er den neuen Radverkehrsatlas mit der Hoffnung, von der teils hitzigen „Ihr-Wir“-Diskussion unter Verkehrsteilnehmenden wegzukommen. Zum Beispiel, wenn es um Ideen geht, die Bahnhofsstraße in Eichwalde fahrradfreundlich umzugestalten. „Es gibt mehr Platz. Die Läden können etwas rausstellen. Dabei sprechen wir über Stadtmöbel und eine Vermarktungsstrategie. Dann ist es nicht mehr Radfahrer gegen Auto, sondern eine Placemaking-Diskussion: Wie können wir unser Umfeld schöner machen?“
„ (…) Dann ist es nicht mehr Radfahrer gegen Auto, sondern eine Placemaking-Diskussion: Wie können wir unser Umfeld schöner machen?“
Christoph Kollert, Nudafa-Verbundkoordinator
Nudafa-Verbundkoordinator Christoph Kollert (links) und der Eichwalder Bürgermeister Jörg Jenoch (rechts) arbeiten gemeinsam im Reallabor für interkommunale Zusammenarbeit.
Ressourcen Geld, Mensch und Vertrauen
Technische Lösungen allein sind keine hinreichenden Erfolgsfaktoren für kleinere Kommunen. So wird das Nudafa-Projekt zu 100 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) über den Wettbewerb „MobilitätsWerkStadt 2025“ gefördert, flankiert von der Forschung der TU Berlin und TH Wildau. Insgesamt wurden 1,2 Millionen Euro für die ersten beiden Projekt-Phasen verteilt. Bürgermeister Jenoch betont: „Wir sind keine arme Gemeinde. Aber Kommunen im ländlichen Raum hätten sonst keine Chance, an so etwas teilzunehmen. Die können den Eigenanteil nicht aufbringen. Bekommen wir keine Mittel, begeben wir uns in den politischen Prozess, obwohl noch nichts entstanden ist. In der dritten Phase des Projekts sollen wir selbst etwas dazu beitragen. Aber da haben wir vorher Erfolge produziert. Dann heißt es: Wir haben das eingeworben, die restlichen Mittel haben wir auch noch.“
Der Nudafa-Koordinator ergänzt: „Weil Daten keine Radinfrastruktur bauen, sondern Menschen, Verwaltungen und Geldmittel, müssen wir uns viel breiter aufstellen.“ So wurde auch die Vollzeitstelle für den interkommunalen Radverkehrsmanager möglich, der die Projekte vor Ort vorantreibt. Bürgermeister Jörg Jenoch nennt ihn „unser wirklich existentes Reallabor“. Für erfolgreiche interkommunale Kooperationen reicht eine Stellenbeschreibung aber nicht aus. Vielmehr handelt es sich um eine Gemeinschaftsaufgabe. Kollert: „Unser Radverkehrsmanager macht als Fachplaner die Vergabeverfahren auf der Arbeitsebene. Als Verbundkoordination mache ich viel Vermittlungsarbeit. Manchmal kommen wir nicht weiter, ohne dass Herr Jenoch den Nachbarbürgermeister anruft.“
Neben Finanz- und Personalressourcen kommt bei der Zusammenarbeit mit den Nachbarkommunen ein weiterer Aspekt hinzu. „Es hat ganz viel mit Vertrauen zu tun“, findet der Bürgermeister. „Wir haben teilweise schon Verantwortung abgegeben, weil wir eine gemeinsame Vergabestelle haben. Dann ist der Kollege in Zeuthen dafür zuständig. Macht der in Schulzendorf genauso viel Radverkehrsförderung wie in Eichwalde? Das ist immer wieder schwer zu verstetigen. Dafür braucht es eine Übereinkunft.“
Konkrete und übertragbare Nudafa-Projekte wie der VBB-Modulbaukasten für ein Fahrradparkhaus sparen anderen Kommunen Zeit und Geld.
Ein Fahrradparkhaus als übertragbares Modell
Zu den Learnings gehört auch, wie man mit konkreten und vorzeigbaren Modellen überzeugt. Kollert: „Wir haben gesehen, die Kommunen brauchen etwas, wo man hingehen kann und sagen: So sieht das aus, so hoch ist das und so funktioniert das.“
In Eichwalde hat man im Rahmen von Nudafa eine Reihe konkreter Projekte angestoßen: vom Lastenrad über den interkommunalen Fahrradweg, einer begehbaren Karte für die Öffentlichkeitsarbeit („Beteiligungsteppich“) bis hin zur Dienstradleasing-Praxis. Als Paradebeispiel für die Übertragbarkeit könnte das modulare Fahrradparkhaus stehen. Es soll auf beiden Seiten des Bahnhofs Platz für jeweils 360 Stellplätze bieten. Gemeinsam mit dem Verkehrsverbund Berlin Brandenburg (VBB) und dem Planungsbüro Bahnstadt ist ein Baukastensystem mit durchgängigem Dach geplant. Nach dem erfolgreichen Bau soll eine Typengenehmigung beim Land Brandenburg beantragt werden. So muss nicht jede Kommune neu prüfen, ob ihr Vorhaben statisch genehmigungsfähig ist. Andere Gemeinden könnten nicht nur technisch das Eichwalder Parkhausmodell übernehmen. Mit dem vereinfachten Genehmigungsverfahren und Rahmenvertrag sparen sie ebenso Zeit und Geld.
Stärkung der Akteure vor Ort
Ob Parkhaus oder Beteiligungsteppich: Wichtig ist, dass der Funke auf die Nachbarkommunen überspringt. Denn dass die Verkehrswende zuerst über ethische und moralische Argumente funktioniert, daran glaubt Kollert nicht. Es muss anfassbar sein: „Und dann muss man die Antwort parat haben für die Leute, wenn sie es machen wollen.“ Sprich: die Akteure und Akteurinnen.
Die wissenschaftliche Begleitforschung des Nudafa-Projekts sorgt für eine qualitative Prozessanalyse und Akteurskartierung. Dabei schaut man, wer vor Ort aktiv ist und wertet das aus für Hemmnisse und Potenziale. „Am Anfang lag der Fokus noch auf der Bevölkerung“, erläutert Kollert. „Irgendwann haben wir gesagt: Wir werfen den Blick auf die Radverkehrsfördernden. Auf uns, den ADFC oder einzelne Personen, die Lastenräder pushen. So gibt es Leute, die sind auf Landkreisebene vernetzt und sorgen dafür, dass auch Planungskosten förderfähig sind. Jeder Tiefbaubearbeiter, der das nebenbei on top macht, ist ein Radverkehrsfördernder. Auch das haben wir gelernt: Wenn wir wirklich eine Radinfrastruktur und den strukturellen Wandel wollen, müssen wir die Leute in den Fokus nehmen, die das machen.“
So ist das Reallabor ein willkommener Anlass, die Akteure zu vernetzen und mit Ressourcen zu unterstützen. Herr Kollert weist darauf hin, dass das Engagement der zentralen Akteur*innen sind gut und richtig. Aber wir müssen es schaffen, dass die Radverkehrsfördernden vor Ort besser zusammenkommen, in weniger Zeit effektiver Arbeiten können. Und dass sie Spaß haben und die Erfolge sehen.“ Dafür setzt man einen Rahmen. Kollert: „Es hilft zu sagen, wir sind ein Reallabor. Wir machen innovative Dinge, werden gefördert und haben den Auftrag, das zu probieren. Wir haben sogar die Erlaubnis, scheitern zu dürfen.“
Der Radverkehrsatlas liefert die aktuellen Infrastrukturdaten, die Kommunen für ihre Verkehrsplanung brauchen. Die Darstellung nach Themenkarten hilft auch Laien beim Verständnis der Planungsvorhaben.
Von der Implementierung zum Wissenstransfer
Neben der Umsetzung des erarbeiteten Radnetzes vor Ort ist das Ziel des Nudafa-Projekts die Übertragbarkeit der durchgeführten Maßnahmen. Am Ende sollen konkrete Steckbriefe und Leitfäden formuliert werden, wie sich Prozesse der interkommunalen Radverkehrsförderung optimieren lassen. Und eine Art Cookbook für das Planungstool wie sonst in der IT-Branche üblich. „Darin steht relativ knapp: Das brauche ich, das kostet das“, erläutert der Verbundkoordinator. „So etwas fehlt ganz oft: Beschreiben, wie man es umsetzt. Und idealerweise ein Leistungsverzeichnis.“
Weniger die Idee von Reallaboren soll „übertragbar aufbereitet“ werden, sondern deren Erkenntnisse. Kollert nennt einige konkrete Beispiele, die überall funktionieren können: „Ein Dienstradleasing kann man sehr einfach und schnell mit einer einstufigen Vergabeverhandlung mit Online-Bietern besprechen. Überlegt euch eine Rahmenvereinbarung für Abstellanlagen. Meldet euch beim VBB, die helfen euch beim Fahrradparkhaus. Macht eine gemeinsame Radtour mit den Akteuren. Wollen wir den Radverkehr in die Fläche bringen, brauchen wir solche umsetzungsorientierten Lösungen. Wis-senstransfer ist immer, dass man Erfolg sieht. Das ist die Antwort, die wir für die Radverkehrswende brauchen.“
Wo Wissenschaft oft sehr systemisch arbeiten muss, ist es für die Umsetzung schließlich wichtig, das Projekt aus Sicht einer Kommune aufzubereiten. Sonst kann es zum Problem werden, etwa wenn ein Transfer von Externen eingeleitet wird, die nicht die Verwaltungsbedürfnisse kennen. Die Nudafa-Experten aus Eichwalde kennen diese Perspektive genau. Schon jetzt bieten sie anderen Kommunen ausdrücklich ihre Hilfe an und schauen sich die spezifische Situation gern vor Ort an.
„Wir können die Radnetzplanung vereinfachen“
Interview mit Heiko Rintelen
Herr Rintelen, wozu brauchen Kommunen einen Radverkehrsatlas?
Die meisten Kommunen besitzen keine guten Daten zu ihrer eigenen Radinfrastruktur. Punktuelle Daten wie aus Zählungen sind oft veraltet, nicht vollständig und nach diversen Standards verfasst. Meist ist ein Ingenieurbüro losgelaufen und hat das irgendwann erfasst. Deshalb haben wir für das Nudafa-Projekt wesentliche Daten aus Open Street Map schrittweise in automatisierte Prozesse überführt. Die Ergebnisse stellen wir in einer Online-Plattform dar. Damit können wir die klassischen Schritte der Radnetzplanung vereinfachen.
Wie funktioniert das genau?
Da läuft eine Software mit einem Algorithmus durch, der sagt: Ich hätte gerne folgende Daten in einem bestimmten Gebiet. Aber nur zum Beispiel die „Points of Interest“, etwa die Einkaufsmöglichkeiten. Dann nimmt der sich noch die Ortsnamen und Einwohnerzahlen. Wir haben zusätzlich die Möglichkeit, Gebäude mit reinzuholen, die Barrieren wie Autobahnen, Eisenbahntrassen und Gewässer. Damit kann man die erste Quell- und Zielgeschichte bestimmen. Teilweise werden die Daten in einer Weise prozessiert, wo wir unterschiedliche Führungsformen zusammenführen – getrennt nach Mischverkehr. Das ist für die konkrete Radnetzplanung eine wichtige Unterstützung, um zu schauen, wo muss ich was machen. Ich habe hier eine Hauptstraße, da will ich vielleicht einen getrennten Radweg haben. Wir können sehen, wo es einen gemeinsamen straßenbegleitenden Geh- und Radweg gibt. Selbst die beidseitige Ausrichtung prozessieren wir. Außerdem haben wir in dem Atlas eine Prüffunktion, die ich abhaken kann unter der Frage: Stimmen diese Daten? Dann kann ich sie amtlich machen. Und ich kann alle paar Monate Änderungen nachverfolgen.
Welche Rückmeldungen bekommt das Projekt?
Die erste Rückmeldung ist immer: Super, dass wir endlich Daten haben! Und zwar auf einer Website, die intern von mehreren Personen genutzt werden kann. Aber auch: Erst jetzt haben wir gesehen, dass es kein Tempo 30 vor der Schule gibt. Hier fahren die ganzen Schüler lang, aber es gibt keinen Radweg. Da fühlen sie sich unsicher. Dort gibt es sogar Unfälle. Planerisch ist die Schulwegkarte vielleicht nicht so wichtig. Für die politische Überzeugungsarbeit jedoch schon. So hat man einen schnellen Effekt, über den man nicht lange diskutieren muss.
Wie geht es weiter?
Nudafa war sozusagen das Pilotprojekt. Das wird wahrscheinlich fortgeführt. Mittlerweile haben wir den Radverkehrsatlas neben der Gemeinde Eichwalde schon mit anderen Kommunen genutzt. Darunter in Bietigheim-Bissingen, Amt Treptower-Tollensewinkel oder Amt Woldegk. Den Radverkehrsatlas kann man unabhängig von Nudafa deutschlandweit nutzen. Es gibt eine Marketingseite, dort kann man sich auf die Warteliste setzen lassen. Wenn die Open-Beta-Version fertig ist, werden wir alle Interessenten anschreiben und freischalten. Das geht in wenigen Tagen.
Bilder: Gemeinde Eichwalde, Planungsbüro BahnStadt, FixMyCity