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Moving Beyond Zero

Während man sich hierzulande noch Gedanken macht zur Bedeutung und Tragweite von „Vision Zero“, arbeitet die schwedische Regierung bereits an einer deutlichen Ausweitung des Programms. Im Zentrum stehen Gesundheit und aktive Mobilität. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Vor 22 Jahren hat Schweden mit großem Erfolg das Ziel „Vision Zero“, also null Schwerverletzte und Verkehrstote, als Verkehrs-Konzept eingeführt und damit nicht nur Maßstäbe gesetzt, sondern weltweit auch viele Nachahmer gefunden. Darunter auch die EU-Kommission, die wenige Jahre später das Ziel „null Verkehrstote bis 2050“ beschloss und Zwischenziele festlegte.
Aber erst rund 18 Jahre später einigte sich auch die Bundesregierung im Rahmen der letzten Koalitionsvereinbarung verbindlich darauf, sich den Zielen anzuschließen. Entsprechende Maßnahmen sind inzwischen zwar angekündigt, aber noch nicht final beschlossen. Und Experten bezweifeln, ob sie ausreichend wirksam sein werden. Angesichts der beengten Verhältnisse und dem hohen Verkehrsaufkommen in Städten halten sie zum Beispiel die Einführung von Tempo 30 bei Mischverkehren als Regelgeschwindigkeit für geboten, um die Reaktionsmöglichkeiten zu verbessern, die Unfallschwere abzumildern und das Todesrisiko abzusenken.

20x

Die gesundheitlichen Vorteile des Radfahrens
übertreffen die Ge­fahren um das 20-fache.

Neue Leitlinie: Bewegungsaktivierung

Während es bei Vision Zero darum ging, Leben zu retten und Verkehrstote und -verletzungen zu reduzieren, gehen die im Jahr 2017 von der schwedischen Regierung unter dem Titel „Moving Beyond Zero“ beschlossenen Ziele deutlich weiter. Im Kern geht es darum, ein Verkehrssystem zu realisieren, das die „aktive Mobilität in Form von Radfahren und Gehen fördert, um die Lebensqualität und die öffentliche Gesundheit zu verbessern“. Dabei stehen nicht Verbesserungen für Fahrzeuge im Vordergrund – nach Meinung der Schweden ein „falsches, flüchtiges Ziel“ – sondern bewegungsaktivierende Strukturen. Zielgruppen unter anderem: Kinder und Senioren, die sich wieder frei, sicher und mit Lust selbstständig zu Fuß oder mit dem Rad bewegen sollen. „Wenn wir aus der Perspektive eines Kindes arbeiten, erhalten wir eine Verkehrsumgebung, die uns allen zugutekommt“, betont dazu die schwedische Umweltministerin Karolina Skog. Mit dieser Auffassung sind die Schweden nicht allein. Verkehrssicherheit, Klima- und Umweltaspekte ergänzen sich bestens mit gesundheitlichen Vorteilen, darin sind sich die Fachleute einig. Denn die Haupttodesursache sind und bleiben Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Hier ist Bewegung unbestritten die beste Prävention und Medizin.
Mehr Informationen zum Konzept, Hintergründe und Informationen gibt es auf der Seite movingbeyondzero.com

Siegfried Brockmann:

Vision Zero als Paradigmenwechsel

Wie kaum ein anderer ist Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV), seit Jahrzehnten mit dem Thema Verkehrssicherheit befasst. Das neu gesetzte Ziel, die Zahl der Verkehrsopfer deutlich zu senken, bedeutet für ihn einen Paradigmenwechsel, den man seiner Meinung nach gar nicht hoch genug schätzen könne. Seit dem Zweiten Weltkrieg gelte „das Primat der Flüssigkeit und Leichtigkeit des Verkehrs“, so der Fachmann in einem Interview mit der Zeitschrift Bike Bild. „Sicherheit ja, aber den Autoverkehr dabei nicht behindern.“ Faktisch könne die Flüssigkeit des Verkehrs aber der Sicherheit entgegenstehen.

Ähnliche Ansätze aus Nordrhein-Westfalen

Zusammen mit dem Landessportbund Nordrhein-Westfalen hat die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW (AGFS) die Broschüre „Städte in Bewegung“ zum Thema bewegungsaktivierender Infrastrukturelemente in Städten veröffentlicht. Mit Analysen, Ergebnissen und konkreten Handlungsempfehlungen zur Gestaltung einer urbanen bewegungsaktivierenden Verkehrsinfrastruktur in der „Stadt als Bewegungs- und Lebensraum“.

Zum Bestellen oder zum Download www.agfs-nrw.de/service/mediathek

Annahmen von Moving Beyond Zero:

  • Die gesundheitlichen Vorteile des Radfahrens übertreffen die Gefahren um das Zwanzigfache.
  • Länder mit dem höchsten Anteil an Radfahrern und Fußgängern sind am wenigsten von Übergewicht betroffen.
  • Radfahren hat einen positiven Effekt auf die psychische Gesundheit: Verbesserung des Wohlbefindens, des Selbstvertrauens und der Stressresistenz, Reduzierung von Müdigkeit und Schlafstörungen und anderer medizinische Syndrome.
  • Radfahrer leben im Schnitt zwei Jahre länger als Nichtradfahrer und haben 15 Prozent weniger Fehltage am Arbeitsplatz aufgrund von Krankheit.
Handlungsbedarf:

Höchster Stand bei getöteten Radfahrern seit zehn Jahren

Vision Zero? Davon kann in Deutschland bei ungeschützten Verkehrsteilnehmern keine Rede sein. So ist die Zahl der tödlichen Fahrradunfälle zuletzt um 16,5 Prozent gestiegen. 445 Tote gab es 2018 bundesweit (2017: 382 Tote). Das ist der höchste Wert seit zehn Jahren. Nicht nur in den Medien wurde diese fatale Entwicklung prominent thematisiert, auch Politiker, Verbände und Experten wie Professor Walter Eichendorf, Präsident des Deutschen Verkehrssicherheitsrats zeigten sich betroffen: „Der Straßenraum muss so gestaltet werden, dass Rad- und Kraftradfahrer sicher ankommen können“, so Eichendorf. Das bedeute auch, dass die neu geplanten Empfehlungen zu Radverkehrsanlagen (ERA) dem gewachsenen Verkehr Rechnung tragen müssten.

Dramatische Unterschiede:

Schweden vs. Deutschland

In der schwedischen Hauptstadt Stockholm sind zwischen 2013 und 2017 zwölf Fahrradfahrer umgekommen. Zum Vergleich: In Köln starben bei vergleichbarer Einwohnerzahl allein im vergangenen Jahr acht Radfahrer. Im europäischen Vergleich hält Stockholm auch insgesamt bei den Verkehrstoten pro 100.000 Einwohnern einen Spitzenplatz.

Bild: ADFC Berlin