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Vergessener Schlüssel zur Mobilitätswende

Die Bewegungs- und Koordinationsfähigkeiten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland haben rapide abgenommen. Dr. Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule Köln zeigt in einem Gastbeitrag die Hintergründe auf und warnt vor einer Entwicklung, die ohne aktives Gegensteuern in eine Sackgasse führen könnte. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Radfahren schult die Bewegungs- und Koordinationsfähigkeit viel mehr, als den meisten bewusst ist.

Das Fahrrad boomt und Politiker fangen an, diese bewährte Mobilitätsform wahrzunehmen. Auch in den Visionen zur Verkehrswende spielt das Fahrrad eine bedeutende Rolle. Es könnte so weitergehen, doch am Horizont braut sich ein Szenario zusammen, das den meisten Verkehrsplanern völlig fremd scheint: Kinder fahren immer weniger und zunehmend schlechter Fahrrad. Doch die Kinder von heute sind die Radfahrer von morgen, und was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Radfahren bei Kindern rückläufig

„Kinder fahren weniger und schlechter Fahrrad als noch vor zehn Jahren.“ Diese Feststellung wird von Lehrkräften an Grund- und weiterführenden Schulen, von Verkehrssicherheitsberatern der Polizei sowie von Eltern oft geäußert. In der wissenschaftlichen Literatur findet sich zu dieser subjektiven Wahrnehmung von Experten als einzige Quelle eine Studie der Unfallforscher der Versicherer (UDV) zur Häufung von motorischen Schwierigkeiten. Auf Grundlage einer Befragung von 347 Verkehrserziehungsdienststellen (Polizei und Schulen) aus dem Jahr 2009 ergibt sich allerdings ein recht eindeutiges Bild: Während bei der gleichen Fragestellung im Jahr 1997 nur 45,6 Prozent der Befragten angaben, dass die Anzahl der Kinder mit auffallenden motorischen Schwierigkeiten zunähme, stieg der Wert bei der Befragung im Jahr 2009 auf 72 Prozent an. Besonders betroffen schienen Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund zu sein, insbesondere Mädchen, sowie Kinder aus sozial schwächeren Familien, überbehütete, übergewichtige Kinder und Kinder mit Bewegungsmangel. Auffällig auch: Die motorischen Schwächen sind bei Kindern in Großstädten und Städten stärker ausgebildet als bei Kindern auf dem Land. Heute, gut zwölf Jahre nach dieser Befragung, hat sich die Situation nochmals verschärft. Das radspezifische Fertigkeitsniveau der Grundschüler sinkt erkennbar weiter, während die Zahl der Kinder, die sehr schlecht oder gar nicht Fahrrad fahren, steigt.

„Kinder lieben das Radfahren und sind hoch motiviert.“

Angela Baker Price, Lehrerin und Fachberaterin für Mobilitätserziehung in Grundschulen

Große Unterschiede und viel Potenzial an Grundschulen

Das gleiche Bild zeichnen Lehrkräfte an Schulen. Angela Baker Price, Grundschullehrerin und Fachberaterin für Mobilitätserziehung für die Grundschulen der Städteregion Aachen, betont: „Die meisten Kinder fahren weniger und vor allem schlechter Rad als noch vor 15 Jahren.“ Allerdings gäbe es andererseits auch Kinder aus radaffinen Familien, die ihr Fahrrad schon in der Grundschule perfekt beherrschten. Die erfahrene Pädagogin unterrichtet schon seit über 30 Jahren Kinder im Radfahren und stellt fest, dass die Schere zwischen Nichtradfahrern und Radfahrern mehr und mehr auseinandergeht. Während es vor allem in bildungsnahen Schichten recht viele radaffine Familien gibt, sinkt der Anteil bei bildungsfernen Bevölkerungsschichten dagegen drastisch. „Das stellt die Lehrkräfte methodisch vor erhebliche Probleme, denn ich muss absolute Könner im Fahrradtraining mit herausfordernden Übungen beschäftigen und mich gleichzeitig um die Kinder kümmern, die noch nicht fahren können.” Aber Baker-Price sieht auch große Potenziale: „Trotz aller Probleme stelle ich immer wieder fest, Kinder lieben das Radfahren und sind hoch motiviert. Wenn wir diese Chance nicht nutzen, dann sind wir es selber schuld, dass Kinder weniger Rad fahren.“

Best-Practice-Ideen:

Kreis Euskirchen: Der Kreissportbund führt mit Mitteln der Bezirksregierung Fahrradangebote für Kinder und Jugendliche durch. Zusätzlich werden Fortbildungen für Lehrkräfte an Grundschulen angeboten.

Städteregion Aachen: Eine extra geschaffene Stelle für den Radverkehr kümmert sich hier auch intensiv um die Belange junger Radfahrer. So werden Radlernkurse angeboten, Fortbildungen organisiert, Materialien angeschafft und Maßnahmen in Gremien und AGs zur Verbesserung des Radverkehrs durchgeführt.

www.radfahreninderschule.de ist ein Portal für Lehrkräfte an Grund- und Weiterführenden Schulen zum Thema Fahrradunterricht. Hier werden mit Videos erprobte Unterrichtsübungen und Konzepte gezeigt, die einfach nachzumachen sind. Ziel ist, einen möglichst spaßbetonten Fahrradunterricht durchzuführen, der die Sicherheit der Kinder erhöht, indem er ihre Fahrfertigkeiten verbessert. Zudem finden sich hier alle rechtlichen Grundlagen und Termine für Fortbildungen in den Städten und Landkreisen in NRW.

Pumptracks: Der neueste Trend für Kinder und Jugendliche. Auf einer etwa tennisplatzgroßen Fläche versucht man sein Mountainbike ohne zu treten durch Pumpbewegungen mit Armen und Beinen in Schwung zu halten. Einige Kommunen in Deutschland haben schon Pump Tracks eingerichtet und geben radbegeisterten Kids somit eine Anlaufstelle. In Skandinavien ist man schon viel weiter, denn hier finden sich die kostengünstigen Anlagen in sehr vielen Kommunen.

Mehr unter velosolutions.com

Problem: Skepsis bei Lehrern und Eltern

Lehrkräfte äußern in Gesprächen immer wieder große Ängste und Bedenken gegenüber Unterrichtsangeboten, bei denen Fahrrad gefahren wird. Und während an Grundschulen deutschlandweit die Verkehrserziehung und damit das Radfahren verpflichtend auf dem Lehrplan steht, ist es an weiterführenden Schulen sehr schlecht um das schulische Radfahren bestellt. „Wandertage oder Klassenfahrten mit dem Rad sind die absolute Ausnahme“, sagt Prof. Helmut Lötzerich von der Deutschen Sporthochschule in Köln, der sich mit dem Thema im Rahmen einer Schulbefragung befasst hat.
Auch Eltern setzten seltener auf das Fahrrad als Transportmittel. „Das Radfahren mit den Kindern im Stadtverkehr ist uns zu gefährlich“, so Lars Schulz aus Köln, Vater von zwei Grundschulkindern. „Da fahren wir lieber mit dem Auto. Radtouren machen wir am Wochenende und im Urlaub.“ Damit steht er nicht alleine da. Das Verkehrschaos vor Schulen zeigt, dass viele Eltern ihre Kinder am liebsten bis in den Klassenraum fahren würden. Schulleitungen bitten die Eltern jedes Halbjahr schriftlich, auf das Elterntaxi zu verzichten, doch die modernen Helikoptereltern können oder wollen gerade diese Bitte anscheinend nicht erfüllen. Dabei verunglücken überdurchschnittlich viele Kinder in den chaotischen Situationen vor den Schulen. Im Widerspruch dazu steht das oft auch schriftlich formulierte Verbot, Kinder mit dem Rad in die Grundschule zu schicken. Eine gängige Praxis, obwohl den Schulleitungen dazu die gesetzliche Grundlage fehlt, denn der Schulweg ist Sache der Eltern. Die zentrale Frage lautet also: Wo und vor allem mit wem sollen Kinder Rad fahren, wenn sowohl die Eltern als auch die Lehrer vor dem Thema kapitulieren?

Auf „Pumptracks“ bewegt man sich durch Pumpbewegungen mit Armen und Beinen fort. Kostengünstig einzurichten und beliebt bei Klein und Groß.

Mit dem Fahrrad zur Schule: Früher eine Selbstverständlichkeit, heute vielen zu gefährlich.

Bewegungslos mit Smartphone

Mögliche Gründe für die skizzierte Entwicklung finden sich genug, harte Fakten in Form von wissenschaftlichen Studien gibt es jedoch kaum. Ein wesentlicher Treiber für die abnehmenden Radfertigkeiten in den letzten Jahren ist der ausgeprägte und zunehmende Bewegungsmangel von Kindern, der durch die Nutzung von Smart­phones und anderen digitalen Endgeräten noch verstärkt wird. Während vor wenigen Jahren noch Spielekonsolen und Fernseher die Kinder im Haus fesselten, sind das heute die immer verfügbaren Smartphones mit ihren hochattraktiven Inhalten. Kinder, die ein Smartphone bedienen, bewegen sich nicht. Schon im Kleinkindalter haben über 70 Prozent der Kinder Nutzungszeiten von über 30 Minuten pro Tag. Das wurde in einer repräsentativen Studie der Drogenbeauftragten des Bundestags ermittelt.

„Wo und vor allem mit wem sollen Kinder Rad fahren, wenn sowohl die Eltern als auch die Lehrer vor dem Thema kapitulieren?“

Dr. Achim Schmidt, Deutsche Sporthochschule Köln

Elterntaxi erschwert Bewegungskoordination

Der zweite wesentliche Treiber für weniger Radmobilität sind die Eltern bzw. deren Verhalten. Kinder werden zu einem hohen Prozentsatz zur Schule und zu Terminen mit dem Auto gefahren. Selbstgetätigte Wege durch eigene Muskelaktivität gehören im Alltag vieler Kinder zur Ausnahme. Die Gründe hierfür sind die Angst vor Kontrollverlust, Stichwort Helikoptereltern, sowie der zeitlich verdichtete Alltag der Familien. Und Kinder, die sich wenig bewegen, fahren auch weniger und schlechter Fahrrad. Die Transferwirkung von Bewegung auf die Koordination anderer Bewegungsarten ist in der Sportwissenschaft hinlänglich bekannt.

Corona zeigt: Es geht auch anders

Jeder, der mit offenen Augen im Verkehr unterwegs ist, nimmt die während der Schönwetter-Corona-Krise zunehmende Zahl von Kindern und Familien auf Fahrrädern wahr. Gleiches gilt für Rennradfahrer, Inlineskater und Jogger. Oftmals sind Erwachsene mit mehreren Kindern auf Rädern unterwegs, auch aus Bevölkerungsschichten, die man normalerweise nicht auf Rädern sieht. Manche Kinder fahren nunmehr täglich Rad und ihre Eltern unterstützen das.
Das wundert nicht, denn trotz aller Widerstände und hemmender Faktoren ist Radfahren bei Kindern und Jugendlichen außerordentlich beliebt. Bei 4- bis 17-jährigen Mädchen steht Radfahren an erster Stelle der Sportarten. Bei Jungen wird es ab dem Alter von elf Jahren von Fußball von Platz eins verdrängt. Dazu kommt: Kinder motivieren Eltern. Jeder, der Kinder hat, weiß, dass Kinder oftmals der Motor für neue Familienaktivitäten oder Verhaltensänderungen sind. So ist es auch beim Radfahren.

Nachahmenswert: Überall auf der Welt, wie hier in Seattle, USA, bilden Eltern begleitete Fahrradgruppen (Bike Bus/Bike Train) für den Schulweg.

Aktive Förderung gefragt

Es bleibt zu hoffen, dass einiges von dieser Aufbruchsstimmung in den Familien erhalten bleibt und künftig zunehmend mehr Menschen und vor allem Kinder und Jugendliche mit dem Rad im Alltag unterwegs sein werden. Aber auch Kommunen können viel tun, um aktiv steuernd einzugreifen. Die Liste der Fördermöglichkeiten für den Radverkehr von morgen ist lang. Jede Kommune muss für sich entscheiden, welche Maßnahmen Aussicht auf Erfolg haben und was realisierbar ist. Am Geld scheint es oftmals nicht zu mangeln, denn die Töpfe für Verkehrs- und Mobilitätserziehung und damit für das Radfahren von Kindern und Jugendlichen sind gut gefüllt. Wichtig ist, dass sich jemand engagiert kümmert. Denn die Verortung dieses Themas innerhalb der kommunalen Verwaltung ist sehr unterschiedlich. Sie reicht von Radverkehrsbeauftragten, Umwelt- oder Mobilitätsmanagern bis hin zu Verkehrsplanern.

Für mehr Fahrradmobilität von Kindern und Jugendlichen

  • kindgerechte Radinfrastruktur ausbauen
  • Umgestaltung von Kreuzungen zur Erhöhung der Sicherheit von „kleinen“ Radfahrenden
  • Arbeitskreis Schule ins Leben rufen (Grundschule, Sek I, Sek II)
  • Netzwerk Kinder- und Jugendmobilität aufbauen
  • Fortbildungen für Lehrkräfte an Schulen zum Thema Fahrrad
  • Fortbildungen für Erzieher*innen an Kitas
  • Erhebungen zur Radnutzung bei Kindern und Jugendlichen (ggf. als Projektarbeiten an weiterführenden Schulen)
  • Pro-Fahrrad-Kampagnen in Kommunen
  • gezielte Kinder- oder Familienangebote schaffen
  • „Bike Bus“-/„Bike Train“-Projekte fördern

Dr. Achim Schmidt

ist Sportwissenschaftler am Institut für Outdoor Sport und Umweltforschung der Deutschen Sporthochschule Köln und Fahrradexperte. Er befasst sich seit vielen Jahren unter anderem mit der Fahrradsozialisation von Kindern und Möglichkeiten zur Förderung von Bewegung und aktiver Mobilität.


Bilder: Dr. Achim Schmidt, www.pd-f.de / Luka Gorjup, Clint Loper, Klima-Bündnis – Laura Nickel