Wie wollen wir leben?
Auf der jährlichen Velo-City-Konferenz tauschen sich internationale Experten mit Vertretern von Kommunen und Verbänden aus und werfen einen Blick auf den internationalen Radverkehr. Über 1300 Teilnehmer waren diesen Sommer in Dublin dabei und diskutierten vor allem die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen und werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)
Jahrelang, so der Eindruck, mühte man sich ab auf der Velo-City-Konferenz für mehr und besseren Radverkehr. Aber darum schien es in diesem Jahr gar nicht mehr hauptsächlich zu gehen. Angesichts der weltweiten Probleme in den Städten mit immer mehr und immer mehr älteren Einwohnern, akuten Platzproblemen und weiter zunehmenden Staus, höherer Luftverschmutzung, Bewegungsmangel und einer bedenklichen Zahl an Verletzten und Toten im Verkehr gehen die Gedanken viel weiter. Es geht nicht nur um Verkehr und Mobilität. Es geht auch nicht nur um den Klimawandel. Es geht darum, wieder lebenswerte Städte zu schaffen. Das Fahrrad kann hier ein wichtiger Teil der Lösung sein. Die vielfältigen Potenziale, so der Tenor vieler Speaker bei Velo-City, würden bislang aber noch viel zu wenig erkannt und genutzt.
Städte der Zukunft: Drohnen-Taxis oder eher grün?
In der Keynote zur Eröffnung des Kongresses stellte Philippe Crist, Berater für das International Transport Forum (ITF) bei der OECD, die Frage, wie die Anwesenden sich die Stadt der Zukunft in ihrer Kindheit vorgestellt hätten. Per App konnte sich das Publikum zwischen drei Alternativen entscheiden:
A) fliegende Autos, Roboter, Drohnen
B) keine Städte – die Menschen leben in Raumschiffen
C) shared spaces, grün und sicher
Jeder, der an Bücher und Science-Fiction-Filme aus der eigenen Kindheit und Jugend zurückdenkt, wird nicht erstaunt sein, dass Alternative A mit Abstand die meisten Stimmen (rund dreimal so viel wie C und achtmal so viel wie B) bekam. Die Reflektion der Frage zeigt, dass „modern und hochtechnisiert“ nicht grundsätzlich das wünschenswerteste Ergebnis liefert und sich unsere Vorstellung von einer zukunftsweisenden Stadt gerade in den letzten Jahren stark gewandelt hat. Vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen und den Entwicklungen und Herausforderungen formt sich gerade ein neues Bild. Ein Bild von Städten als urbane, lebenswerte Räume. Trotzdem bleibt das, was wir vor Jahrzehnten als wahrscheinlich und wünschenswert gesehen haben, immer noch in den Köpfen präsent. Kein Wunder also, wenn aus manchem Mund beim Thema Mobilität der Zukunft eher von neuen Antrieben, selbstfahrenden Autos oder High-Tech-Lösungen wie Hyperloops oder Flugtaxis die Rede ist, als vom über 200 Jahre alten Fahrrad.
Vorträge, Workshop-Formate und Austausch auf der Ausstellungsfläche, wo sich u.a. Lösungsanbieter und Dienstleister präsentierten.
Bestens angebunden: Blick aus dem Konferenzgebäude auf die Samuel Beckett Bridge, einer Schrägseilbrücke in Form einer Harfe.
Mit dabei bei der Bike-Parade durch Dublin: Die Gruppe „Freedom Machine“, die an Heldinnen der Dubliner Emanzipationsbewegung und die wichtige Rolle des Fahrrads erinnert.
Mobilitätsformen prägen das Zusammenleben
Das Ziel, wieder lebenswerte Städte zu schaffen, war quasi Dreh- und Angelpunkt einer kaum überschaubar wirkenden Menge an Informationen aus Vorträgen und Diskussionen bei Velo-City. Die zentrale Erkenntnis: So unterschiedlich die Mobilitätskulturen, regionalen und sozialen Gegebenheiten weltweit sind, Radfahren, Zufußgehen und ähnliche Mobilitätsformen haben nicht nur etwas zu tun mit Umwelt- und Klimaschutz, sondern ganz zentral mit den Menschen. Mit Gesundheit, Demokratie, sozialem Miteinander, Gleichberechtigung und sogar Kriminalitätsbekämpfung.
Städte und Gesellschaften verändern sich zum Negativen, wenn die Mehrheit isoliert hinter abgedunkelten Scheiben unterwegs ist, so eine weitere zentrale Erkenntnis, genau wie zum Positiven, wenn mehr Fußgänger und Radfahrer unterwegs sind, man kommuniziert, unterwegs Bekannte trifft oder Fremden freundlich zulächelt. Auch die Regierungen und Kommunen spielen dabei eine zentrale Rolle: Menschen nach dem Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“ in Eigenverantwortung zu belassen und damit die Stärkeren und Wohlhabenden zu fördern, habe genauso seine Wirkung, wie die bewusste Vorsorge und der Schutz der Schwächsten, also der Kinder und der Alten. Dazu Philippe Crist: „Es gibt eine Konstante in der Stadtentwicklung, die immer im Mittelpunkt der Diskussion stehen wird. Wir sind es. Es ist das, was wir als Menschen verkörpern.”
Mexico City:
Bis vor Kurzem brauchte man für den Führerschein
keine Qualifikation und Alkohol wird im Verkehr
ebenso geduldet wie grobe Verstöße gegen die Verkehrsregeln.
Südamerika: Radfahren vs. Autochaos und Kriminalität
Radfahren und Zufußgehen haben eine bedeutende soziale Komponente. Das wurde aus Vorträgen zur Millionen-Metropole Mexiko City und Queimados, einem Vorort von Rio de Janeiro, deutlich.
Hier werde sichtbar, was passiert, wenn der Staat auf wenig Regulation und weitgehende Selbstverantwortung setzt und sich aus der geregelten Verkehrsplanung und -überwachung zurückzieht. So sind in Mexico City nicht nur stundenlange Staus für wenige Kilometer Fahrtstrecke die Regel, die ein Familienleben neben der Arbeit oder einen Halbtagsjob in der Stadt praktisch unmöglich machen, sondern auch Laissez-faire und das Recht des Stärkeren Programm. Bis vor Kurzem brauchte man für den Führerschein keine Qualifikation und Alkohol wird im Verkehr ebenso geduldet wie grobe Verstöße gegen die Verkehrsregeln.
Das Fahrrad könnte in den dauerverstopften Straßen eine gute Alternative für Pendler sein. Aber es gibt zum einen keine Infrastruktur und zum anderen ist es für ungeschützte Verkehrsteilnehmer hier einfach lebensgefährlich. Laut Statistik entfällt auf Fußgänger, trotz geringem Anteil am Modal Split, rund die Hälfte der Verkehrstoten. Statistisch weniger Tote gibt es bei Radfahrern – aber nur deshalb, weil es kaum welche gibt. Daran und an der Sicherheit der Fußgänger arbeite man jetzt, wie die mexikanische Verkehrssicherheitsexpertin Clara Vadilio betonte.
Wie Radfahren auch zur Lösung sozialer Probleme beitragen kann, zeigt die brasilianische Stadt Queimados, nahe Rio de Janeiro – 2018 die Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate in Brasilien. Mit dem Projekt „Cycling for the future“ hat es sich die Stiftung „Pedal Queimados“ zum Ziel gesetzt, wieder soziale Perspektiven, zwischenmenschliche Kontakte und gemeinsame Ziele zu schaffen. Unter anderem mit Radtouren und Werkstätten, in denen Fahrräder repariert und Bambusräder neu gebaut werden. Die ersten Ergebnisse stimmen hoffnungsvoll: Mit der neugewonnenen Mobilität und neuen Aussichten gibt es laut Projektleiter Carlos Oliveira für viele Menschen einen Lichtblick und einen Weg heraus aus dem Kreislauf von Langeweile, Drogen und Bandenkriminalität.
Schweden: Sicherheit für Radfahrer an erster Stelle
Genau das Gegenteil von Laissez-faire verfolgt man in Schweden. Mit dem im Jahr 1997 verabschiedeten erfolgreichen Verkehrskonzept „Vision Zero“ haben die Schweden weltweit Maßstäbe gesetzt. Die aus dem Arbeitsschutz bekannte präventive Strategie folgt die Annahme, dass Menschen Fehler machen und Unfälle daher nicht gänzlich vermieden werden können. Es müsse jedoch dafür gesorgt und die Systeme so gestaltet werden, dass diese Fehler nicht zu ernsthaften Personenschäden führen. Ein Beispiel ist die Geschwindigkeitsreduktion und -überwachung gemäß der simplen Erkenntnis, dass die meisten Menschen, die von einem Fahrzeug mit 30 km/h angefahren werden, überleben, während es bei Tempo 50 dafür kaum eine Chance gibt. In der Öffentlichkeit vielfach unbeachtet blieb, dass die schwedische Regierung die erfolgreiche Strategie 2017 unter dem Motto „Moving Beyond Vision Zero“ deutlich erweitert und die Förderung von Gesundheit und Lebensqualität durch aktive Mobilität in den Mittelpunkt gerückt hat.
80 %
So viele Wege sollen in London
bis zum Jahr 2041 zu Fuß, mit dem Fahrrad
und mit öffentlichen Verkehrsmitteln durchgeführt werden.
London: Healthy Streets
Noch weiter geht die britische Hauptstadt London. Was Planern und Politikern in Deutschland noch als Zukunftsvision erscheinen mag, ist in London vielfach bereits Realität. Bereits 2014 wurde „Healthy Streets“ als Konzept in die städtische Planungspolitik aufgenommen. Das von Lucy Saunders entwickelte und auf der Konferenz vorgestellte Konzept verbindet die Gestaltung der Straßen mit Verkehrs- und Gesundheitsfragen, fördert die Akzeptanz von aktiver Mobilität und stellt das Wohlbefinden des Einzelnen und die positive Erfahrung mit der städtischen Umwelt in den Mittelpunkt der Stadtplanung. In der Konsequenz bedeutet das: Straßen sind nicht mehr primär für Fahrzeuge gedacht, sondern wieder für Menschen, wobei das grundlegende Element das tägliche Leben ist. Sie werden umgedeutet und umgestaltet zu Räumen, in denen die Londoner interagieren, in denen Kinder spielen, man entspannt einkaufen, verweilen, arbeiten und aktiv zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sein kann.
Die damit verbundenen Ziele: die Luftqualität verbessern, Staus verringern und die Londoner Gemeinden grüner, gesünder und attraktiver machen. Das Konzept, das inzwischen in die langfristigen Zielsetzungen von Politik und Verwaltung Eingang gefunden hat, sieht unter anderem vor, dass 80 Prozent aller Wege in London bis zum Jahr 2041 zu Fuß, mit dem Fahrrad und mit öffentlichen Verkehrsmitteln durchgeführt werden und alle Londoner pro Tag mindestens 20 Minuten aktive Mobilität leben.
Und Deutschland? Wortgewaltig beklagt ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork die Stagnation beim Radverkehr.
Und bei uns in Deutschland?
Offensichtlich bewegen wir uns hierzulande beim Radverkehr irgendwo im guten Mittelfeld. Aber als Vorbild taugt Deutschland bislang nur bedingt – auch wenn sich inzwischen einiges bewegt. Trotz gegenteiliger Bekenntnisse und einzelner Verbesserungsmaßnahmen sind wir bis heute weiter autozentriert und die Zuwächse beim Radverkehr bleiben in der Fläche überschaubar, wie ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork auf dem Podium betonte.
Zudem alarmierend: Entgegen dem sonstigen Trend steigt hierzulande seit Jahren die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Radfahrer. Allein im ersten Halbjahr 2019 kamen 158 Radfahrer ums Leben, was einen Anstieg um 11,3 Prozent und 16 Tote mehr als im Vorjahreszeitraum bedeutet. Laut Statistischem Bundesamt starben im Jahr 2018 insgesamt 445 Fahrradfahrer bei Unfällen. Im Jahr 2017 waren es noch 382 Radfahrer. Eine deutliche Reduktion wäre auch in Deutschland problemlos möglich, aber bis vor Kurzem habe bei der Abwägung zwischen Sicherheit und flüssigem (Auto-)Verkehr politisch gewollt das Auto gewonnen.
Aber nicht nur beim politischen Willen, auch beim Personal, beim Know-how und der Infrastruktur sind wir noch weit von den Vorbildern in Dänemark, den Niederlanden, Schweden oder London entfernt, wie Verantwortliche aus Deutschland hinter vorgehaltener Hand zugaben. Hier könnten wir deutlich stärker als bislang von international erfahrenen Experten lernen. Institutionen wie Copenhagenize oder die Dutch Cycling Embassy und Personen wie Philippe Crist oder Lucy Saunders verfügen über reiche Erfahrung und bieten überall auf der Welt ihre Beratung an. Vielleicht ja auch (öfters) mal bei uns. Wie gesagt, es geht nicht nur um mehr und sicheres Radfahren, sondern vor allem um lebenswertere Städte. Und wer will die nicht?
Zum Vertiefen: Buchtipp
„Man sollte nicht Korridore, sondern Wohnzimmer planen“, schreibt der dänische Architekt und Städteplaner Jan Gehl in seinem Buch „Städte für Menschen“. Auf der anderen Seite gäbe es kein effizienteres Mittel, um das Leben in einer Stadt zu ersticken, als Autos und Hochhäuser.
Jan Gehl:
Städte für Menschen,
Jovis Verlag, Berlin, 2015
Bilder: Velo-City 2019, Reiner Kolberg, Ebony & Pearl Photography