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„Wir müssen schneller werden“

Verkehrsexperten empfehlen den Blick über die Landesgrenzen hinaus. Über die Situation in Deutschland im internationalen Vergleich hat unsere Autorin Andrea Reidl mit Stefan Wallmann gesprochen. Der Diplomingenieur und Infrastrukturexperte ist Deutschlandchef von Ramboll, eines der größten internationalen Ingenieur-, Planungs- und Beratungsunternehmen mit Hauptsitz in Dänemark. In Deutschland beschäftigt Ramboll 500 Mitarbeiter an zehn Standorten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Herr Wallmann, Deutschland galt im Ausland lange als fortschrittliche Industrienation. Gilt das noch für die Verkehrsinfrastruktur?
Nein, Deutschland hat massiv den Anschluss an andere Länder verloren. Viele Brücken sind marode, der Schienenverkehr ist am Limit und in den Ballungsgebieten droht der Verkehrskollaps. Wenn man die vergangenen 30 Jahre betrachtet, habe ich das Gefühl, uns ist nach dem Aufschwung Ost die Luft ausgegangen.

Welche Länder sind fortschrittlicher, wenn wir nur den Aspekt nachhaltige Mobilität betrachten?
Die skandinavischen Länder sind deutlich weiter als wir. Sie wollen den Menschen den Umstieg leicht machen. Die Regierungen fördern den Umweltverbund, die E-Mobilität mit Fahrrad und Auto, bauen massiv ihr Radwegenetz aus und sind mit der Digitalisierung viel weiter als wir.
In Finnlands Hauptstadt Helsinki wurde mit „Whim“ die zurzeit modernste Mobilitäts-App der Welt entwickelt. Whim heißt so viel wie „nach Lust und Laune“ und vereint das gesamte Mobilitätsangebot der Stadt – Busse und Bahnen, Fähren, Mietwagen alles bis hin zu Taxis und Leihrädern. Über die App lassen sich verschiedene Abos buchen, man kann aber auch einzelne Fahrten darüber abrechnen.
Die Politik unterstützt diese Entwicklung. Mit dem neuen Transportgesetz haben sie dieses umfassende Angebot überhaupt erst möglich gemacht. Seit es 2018 eingeführt wurde, sind alle Verkehrsunternehmen dazu verpflichtet, ihre Daten offenzulegen. Sie stellen ihre Fahrpläne, die Echtzeitdaten und ihre API-Schnittstellen zur Verfügung, damit tatsächlich alle Angebote in einer App gebündelt werden können.

In Städten wie München oder Hamburg geht zur Hauptverkehrszeit oft nichts mehr. Busse und Bahnen sind überfüllt und ebenso die Straßen. Wie konnte es so weit kommen?
Die Politik hat das Zeitfenster verstreichen lassen, um das Angebot dem Bedarf anzupassen. Die Urbanisierung, wie wir sie gerade in den Innenstädten erleben, ist im Wesentlichen so eingetroffen, wie man sie bereits Ende der Neunzigerjahre prognostiziert hat. Der heutige Bedarf war absehbar.

Also hat die Politik ihre Aufgabe der Grundversorgung nicht erfüllt?
Richtig, und sie hat zu sehr auf den Privatwagen gesetzt. Die Menschen organisieren ihre Mobilität fast nur noch mit dem eigenen Wagen, weil der öffentliche Verkehr mit Bus, Bahn und S-Bahn zunehmend ausgedünnt oder den Bedürfnissen nicht mehr angepasst wurde.

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer will massiv in den Verkehr investieren. Holt Deutschland gerade auf?
Es ist gut, dass Mittel bereitgestellt werden. Aber Geld allein reicht nicht aus. Neben der Infrastruktur fehlt die Kapazität in vielen anderen Bereichen. Wir brauchen mehr Personal in den Verwaltungen, bei den Bauherren und selbst bei den Gerichten. Außerdem müssen die Prozesse stärker vereinheitlicht werden. Das Planungs- und Baurecht ist in Deutschland nicht nur wahnsinnig komplex, es ist auch noch divers. In jedem Bundesland gelten andere Regeln. Wir brauchen einen einheitlichen Standard, der bundesweit gilt. Das hilft uns dabei, schneller zu werden.

Eine schnellere Umsetzung von Bauvorhaben wünschen sich viele Menschen. Gleichzeitig fürchten Verbände und Initiativen, dass eine Zeitersparnis zu Lasten ihrer Mitbestimmung geht.
Das muss nicht sein. In Deutschland wird immer noch viel mit Papier gearbeitet. Eine digitale Prozesskette von der Planung über die Bürgerbeteiligung bis hin zur Freigabe des Bauvorhabens spart Zeit und erleichtert vielen Menschen die Teilhabe.

„Die skandinavischen Länder sind deutlich weiter als wir. Sie wollen den Menschen den Umstieg leicht machen.“

Stefan Wallmann

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Ich habe mir kürzlich den Bebauungsplan für ein neues Vorhaben in meinem Stadtteil in Berlin angesehen. Das ging nur zwischen 10 und 15 Uhr an einem bestimmten Wochentag. Ich musste meinen Ausweis vorlegen und konnte die Unterlagen nur mit dem Smartphone fotografieren. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Die skandinavischen Staaten stellen ihren Bürgern und Bürgerinnen sämtliche Unterlagen online bereit. So kann sich die gesamte Bevölkerung jederzeit barrierefrei informieren. Das ist zeitgemäß.

Sie arbeiten für ein dänisches Unternehmen. Setzt Dänemark Bauvorhaben schneller um?
Auf jeden Fall. Dort sind an den Planungsprozessen vom ersten Tag an alle beteiligt, die in irgendeiner Form an und von dem Vorhaben betroffen sind – auch Vertreter von Verbänden und Initiativen. In diesen Runden wird jeder gehört und ernst genommen. Das gehört zur Kultur. In skandinavischen Unternehmen herrschen flache Hierarchien. Es ist normal, dass Mitarbeiter mit ihren Vorgesetzten auf Augenhöhe kommunizieren, sie hinterfragen und ihnen widersprechen. In den Runden zu den Bauvorhaben wird das Thema so lange diskutiert, bis möglichst alle mit der Lösung zufrieden sind. Das dauert in der ersten Phase länger, zahlt sich aber über den gesamten Prozess aus.

Inwiefern?
Das Ergebnis wird von einer breiten Bevölkerung getragen. In Dänemark herrscht eine große Konsenskultur. Es kommt deutlich seltener zu Klagen als in Deutschland.

Wer müsste so einen Wandel anstoßen?
Die Politik. Zugegeben, das ist kein leichtes Vorhaben, aber es steigert die Effizienz ungemein. Und das sollte unser Ziel sein. Wir müssen schneller werden. Schauen Sie nach China. Dort wurde in der Hafenstadt Xiamen innerhalb von nur sechs Monaten der sieben Kilometer lange Skycycle-Highway geplant und gebaut, der auf Stelzen über der Autostraße und unter der Buslinie verläuft.

Radverkehr 2.0 in China mit Know-how aus Dänemark: Den Bicycle Skyway in Xiamen entwarf das Kopenhagener Architekturbüro Dissing & Weitling, mit dem auch Ramboll zusammenarbeitet.

In China wird über den Bau von Radwegen oder Autobahnen nicht diskutiert, sie werden einfach angeordnet …
Das stimmt. So etwas funktioniert nicht in unseren Demokratien und ist für uns sicherlich nicht erstrebenswert. Trotzdem lohnt sich der Blick nach Xiamen. Denn es weist uns darauf hin, was möglich ist. Dafür haben wir den Blick verloren. Wir sind unglaublich langsam geworden. Um schneller zu werden, müssen wir die Planungs- und Genehmigungsprozesse drastisch verkürzen. Diese Phase bremst uns aus. Das zeigt das Beispiel der Dresdner Bahn in Berlin. Die Planungen wurden nach der Wende begonnen. Aber erst 2015 gab es – nach 20 Jahren Auseinandersetzung – einen Planfeststellungsbeschluss. Gegen den wurde dann von einer Bürgerinitiative geklagt, wie gegen nahezu alle vergleichbaren Beschlüsse zuvor ebenfalls. Seit September wird nun endlich gebaut.

„Es ist gut, dass Mittel bereitgestellt werden. Aber Geld allein reicht nicht aus“

Stefan Wallmann

Von welchem Zeitraum sprechen Sie, wenn Sie fordern, den Planungs- und Genehmigungsprozess drastisch zu verkürzen?
Wir sollten versuchen, von zehn Jahre auf zwei Jahre zurückzukommen. Das Beispiel Dänemark zeigt, dass beides geht: Die Menschen am Prozess beteiligen und schneller werden. Die Politik ist gefordert, einen klar strukturierten Prozess vorzugeben, in dem alle zu Wort kommen, der aber die Dauer des Planungs- und Genehmigungsprozesses reduziert.

In Berlin dauert der Bau eines Radwegs von der Planung bis zur Fertigstellung zurzeit vier Jahre. Wie schnell geht das in Dänemark?
Der Prozess ist dort sehr effizient. Nach Einschätzung unserer dänischen Kollegen braucht man, wenn der Prozess von Anfang an gut läuft, sechs Monate vom Anfang der Planung bis zu dem Moment, wo der tatsächliche Bau anfängt. Da wir selbst nicht bauen, ist es schwierig, eine belastbare Aussage für die Bauphase zu treffen. Hinzu kommen manchmal Zeiten für die Bürgerbeteiligung oder politische Entscheidungsfindungen. Alles in allem dauert die Planungsphase aber selten länger als sechs bis neun Monate. In Deutschland kann das durchaus rund 24 Monate dauern, obwohl wir hier gerade, zum Beispiel konkret in Berlin, durchaus positive Signale der Entscheidungsträger sehen, dies deutlich zu beschleunigen.

Über Ramboll

Mit mehr als 15.000 Mitarbeitern und 300 Offices in 35 Ländern gehört das Ingenieur-, Planungs- und Managementberatungsunternehmen Ramboll (dänisch Rambøll) zu den größten internationalen Beratungs­­gruppen. Geschäftsbereiche sind Hochbau und Architektur, Transport und Infrastruktur, Stadtplanung und -gestaltung, Wasser, Umwelt und Gesundheit, Energie sowie Management Consulting. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Ramboll beraten auch Regierungen und Kommunen, unter anderem auf dem Weg zu fossilienfreien / CO2-neutralen Städten. In den vergangenen vier Jahrzehnten hat Ramboll nach eigenen Angaben jeden zweiten Radweg in Kopenhagen geplant. Aktuell berät die Unternehmensgruppe auch Berlin beim Ausbau der Radinfrastruktur.


Bilder: Stefan Wallmann, Dissing+Weitling Architecture, Ma WeiWei