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Konrad Otto-Zimmermann zählt zu den Erfindern des Konzepts der fahrradfreundlichen Stadt. Nun hat der Stadt- und Umweltplaner mit der „Feinmobilität“ eine neue Idee entwickelt, wie verschiedene Mobilitätsformen in einem zunehmend begrenzten Straßenraum in Einklang gebracht werden können. Planerinnen und Entscheiderinnen soll das Konzept ein Werkzeug an die Hand geben, um die Mobilität in der Innenstadt oder einzelnen Quartieren zu steuern. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Sie haben 1980 eines der ersten Bücher zur fahrradfreundlichen Stadt herausgegeben. Wie unterscheiden sich die damaligen Probleme und Forderungen für den Radverkehr von der aktuellen Situation?
Sie unterscheiden sich wenig. Ich arbeitete damals im Umweltbundesamt und wir haben wie heute den Flächenverbrauch und die Verkehrsplanung mit Priorität auf Autos scharf kritisiert. In den 80er-Jahren stand jedoch weniger das Weltklima im Fokus, sondern die Luftverschmutzung im Straßenraum und die Gesundheitsaspekte. Seinerzeit haben Autos noch deutlich mehr Stickstoffoxid und Partikel ausgestoßen als heute.

„Wir haben in unseren Straßen oft keinen Platz für weitere separate Spuren und müssen deshalb den Verkehr auf den Fahrbahnen sicher, stadt- und umweltverträglich organisieren.“

Welche Rolle hatte damals der Radverkehr und wieso stammen die Veröffentlichungen aus dieser Zeit ausschließlich aus dem Umweltbundesamt?
Radverkehr kam im Verkehrsministerium damals noch nicht vor. Mit dem Umweltbundesamt haben wir dafür gesorgt, dass er ernst genommen wurde. Das war damals eine besondere Zeit. Das Umweltbundesamt war erst 1974 gegründet worden und wir Mitarbeiter konnten Themen einbringen. Mein Vorschlag war, den Radverkehr zu fördern. Daraus entstand das Modellvorhaben „Fahrradfreundliche Stadt“. Über sieben Jahre haben wir im Team Projekte und Forschungsvorhaben initiiert und vergeben. Wir haben unter anderem eine Studie zum Fahrradrecht vergeben, die Rechtsanwalt Dieter Gersemann erstellt hat. Der Begriff war neu und viele konnten damit nichts anfangen. Die Studie wurde als Buch veröffentlicht und hat das Thema Fahrradrecht in der Fachwelt verankert.

Mittlerweile bauen erste Städte Protected Bikelanes, Radschnellwege und entwickeln zusammenhängende Radwegenetze. Sind Sie mit der Entwicklung zufrieden?
Auf das Gesamtbild bezogen sind diese Erfolge eher Kleinigkeiten. Entscheidend ist, ob weniger Kfz-Kilometer gefahren werden, weil die Leute aufs Rad umgestiegen sind. Es gibt sicherlich ein paar Städte oder Bezirke, die sehr weit sind bei der Radverkehrsförderung. Diese sind aber eher die Ausnahme. Die Situation für Radfahrer und Fußgänger hat sich über die Jahre in den Zentren zunehmend verschlechtert. Der Platz, der ihnen zur Verfügung steht, schwindet jedes Jahr, weil der Pkw-Bestand stetig wächst und immer mehr Straßenraum belegt. Hinzu kommt, dass die Autos mit jedem Modellwechsel wachsen, die Straßen aber nicht. Das heißt, Straßenräume sind zu Lagerräumen für aufgeblähte Stehzeuge verkommen. Das ist eine bedenkliche Entwicklung.

Nach der neuen GGG-Fahrzeugklassifizierung werden die drei S-Klassen (XXS, XS, S) als Feinmobilität definiert.
Feinmobilität ist nicht Mikromobilität. Sie schließt Elektro-Kleinstfahrzeuge, Fahrräder, Elektromobile, elektrische Leichtfahrzeuge und E-Minicars ein.

Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) passt jetzt das Bemessungsfahrzeug für Pkw und damit die Standards für Parkplätze an die stetig wachsenden Autos an. Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Weg?
Handwerklich ist das Vorgehen der FGSV sicherlich sauber. Aber die Philosophie dahinter ist meinem Erachten nach falsch. Die Forschungsgesellschaft ermittelt anhand des Fahrzeugbestands die Maße des Durchschnittsfahrzeugs, das von 85 Prozent aller Fahrzeuge nicht überschritten wird. Seine Abmessungen werden in der Praxis für den Bau von Straßen, Wendekreisen und Parkplätzen herangezogen. Weil die Fahrzeuge immer größer werden, übernimmt die FGSV unkritisch diesen Status und zementiert die Autoblähung für weitere Jahrzehnte, anstatt normativ zu denken und Anreize zum Flächensparen zu setzen. Wir sollten uns nicht vom Markt die Größe unserer Parkplätze diktieren lassen.

Wie können die Kommunen gegensteuern?
Der Stadtraum ist für Kommunen die wichtigste Stellschraube. Sie sollten entscheiden können, welchen Fahrzeugtypen sie wie viel Platz einräumen. Lassen sie in einem Straßenabschnitt wenige riesige Autos parken, oder ist es nicht flächengerechter, stattdessen mehr kleine Fahrzeuge dort parken zu lassen? Bislang fehlte den Kommunen dazu das Handwerkszeug. Mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Kassel, des VCD und der SRL (Verkehrsclub Deutschland und Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung, Anm. d. Red.) haben wir das Konzept „Feinmobilität“ entwickelt. Damit geben wir ihnen eine neue Fahrzeug-Klassifizierung nach Größe, Gewicht und Geschwindigkeit in die Hand. Wir haben eine Maßeinheit verwendet, die jeder kennt: die Kleidergröße. Wir unterscheiden sieben GGG-Klassen von XXS, XS und S über M bis zu L, XL und XXL.

„Die Situation für Radfahrer und Fußgänger hat sich über die Jahre in den Zentren zunehmend verschlechtert.“

Welche Fahrzeuge haben Sie für Ihr Konzept Feinmobilität erfasst?
Wir haben die gesamte Räderwelt vom Rollschuh über Fahrräder und elektrische Leichtfahrzeuge bis zum Geländefahrzeug betrachtet. Rund 100 Fahrzeuge wurden systematisch erfasst. Damit kommen auch all die Fahrzeuge oberhalb des Fahrrads und unterhalb des Autos mit einer sinnvollen Kategorie und einem Verkehrsraum zur Geltung. Die FGSV kennt nur ein Bemessungsfahrzeug Pkw und die Bemessungsfahrzeuge Fahrrad und Motorrad.

Der Begriff „Feinmobilität“ ist neu. Was wollen Sie damit bewirken?
Wir wollen ein Umdenken und ein Umhandeln anstoßen, eine Abrüstung im Verkehr von groben zu feineren Fahrzeugen. Feinmobile Fahrzeuge, zu denen auch leichte Elektrofahrzeuge gehören, können bis zu vier Sitzplätze haben und bis zu 120 km/h schnell fahren. Mit ihnen können Strecken bis zu 100 Kilometer Länge zurückgelegt werden und sie sind fernstraßentauglich. Damit eignen sie sich für Pendler-, Dienst- und Freizeitfahrten. Wissenschaftler vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt haben jüngst berechnet, dass leichte Elektrofahrzeuge mit bauartbedingter Höchstgeschwindigkeit bis 45 km/h rund 65 Prozent der Kfz-Wege übernehmen könnten. Das entspricht einem Drittel der Personenkilometer. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von 125 km/h sind es sogar 75 Prozent der Wege und die Hälfte der Fahrleistung. Feinmobile könnten 44 Prozent der CO2-Emissionen der Pkw reduzieren und Mobilität mit menschlichem Maß ermöglichen.

Der Architekt Jan Gehl hat den Begriff „Stadtplanung mit menschlichem Maß“ geprägt. Er stellt den Menschen in den Mittelpunkt der Stadtplanung. Wo ist das menschliche Maß in der Feinmobilität?
Feinmobilität bietet für alle und für jeden Fahrtzweck die jeweils feinste, also kleinste, leichteste und wendigste Option. Sie ist nachhaltig. Sie macht keinen Lärm und produziert keine oder kaum Schadstoffe. Bei Unfällen ist der Schaden gering, weil die Fahrzeuge leicht sind und mit maßvollen Geschwindigkeiten unterwegs sind. Außerdem behindern sie nicht das Blickfeld der Menschen. Wer heute im Erdgeschoss lebt und aus dem Fenster schaut, blickt, wenn er Pech hat, nur noch auf Autoseiten.

Zurück zu den Parkplätzen. Wie könnte die Steuerung mithilfe der Größe der Fahrzeuge erfolgen?
Immer mehr Kommunen möchten Parkgebühren an die Stadtraumbeanspruchung, also die Größe der Fahrzeuge koppeln. In Freiburg ist der Preis des Anwohnerparkausweises bereits an die Länge des Fahrzeugs gebunden. Unsere Kategorisierung macht es Kommunen leicht, eine Gebührenstaffelung auf der Grundlage unserer GGG-Klassifizierung einzuführen. Indem Kommunen oder Wohnungsbaugesellschaften Parkplätze verschiedener Größen anbieten, können sie Anreize für Feinmobilität im Quartier setzen. Wenn es mehr kleinere als wenige große Parkplätze im Wohngebiet oder in Tiefgaragen gibt, überlegen sich die Menschen, welches Fahrzeug sie kaufen und nutzen.

Autonutzerinnen verzwergen sich zunehmend, indem sie sich in Fahrzeuge hüllen, die 100- oder sogar 160-mal voluminöser sind als sie selbst. Der wahre Souverän ist, wer ein Fahrrad fährt, das nur ein Zehntel des Fahrerinnen-Volumens hat.

Sie wollen die Verkehrsflächen ebenfalls neu definieren. Wie soll das aussehen?
Wir schlagen vor, statt der Vielfalt von Straßentypen und Höchstgeschwindigkeiten acht Verkehrsflächen zu definieren, die sich nach Geschwindigkeitsniveaus unterscheiden: von Gehflächen mit Schrittgeschwindigkeit bis zu Fernstraßen mit Tempo 120. Für jede dieser Verkehrsflächen wird festgelegt, welche Fahrzeuge dort unterwegs sein dürfen.

Wie unterscheidet sich Tempo 30 heute von Tempo 30 nach dem Feinmobilität-Ansatz?
Wenig. Tempo 30 ebenso wie Schrittgeschwindigkeit in verkehrsberuhigten Zonen ermöglichen bereits heute Feinmobilität. Die kleinen und leichten Fahrzeuge können im Verkehr sicher mitschwimmen. Demzufolge braucht Feinmobilität nicht unbedingt eigene Fahrspuren. Auf mehrspurigen Fahrbahnen sollte nach unserem Ansatz jedoch für den äußersten Fahrstreifen grundsätzlich 30 Stundenkilometer gelten. Wobei die örtliche Straßenverkehrsbehörde dort die Benutzung auf Feinmobile beschränken kann. Dort wären dann keine Autos mehr unterwegs, sondern nur noch Feinmobile vom Fahrrad bis zum Elektromobil, das auch ein E-Bike mit Kabine oder ein E-Motorroller sein kann. Der Vorteil ist: Sämtliche Fahrzeuge, die dort unterwegs sind, sind aufgrund ihrer Masse, ihres Gewichts und ihrer Geschwindigkeit miteinander verträglich.

Radaktivist*innen fordern schon lange, die äußerste Fahrspur für den Radverkehr freizugeben.Wo ist der Unterschied zu ihrem Ansatz?
Wir denken über das Fahrrad hinaus und blicken auf die gesamte Feinmobilität. Unser Ansatz verlangt keinen Radweg im heutigen Sinne, sondern Verkehrsflächen, auf denen Verkehrsmittel verschiedener GGG-Klassen mit einem vergleichbaren Tempo unterwegs sind. Wir haben in unseren Straßen oft keinen Platz für weitere separate Spuren und müssen deshalb den Verkehr auf den Fahrbahnen sicher, stadt- und umweltverträglich organisieren.

Wie realistisch ist es, mit Fahrrädern und Elektrokleinstfahrzeugen die Alltagsmobilität zu ersetzen?
Dass es funktioniert, haben wir 2013 im Rahmen des „EcoMobility World Festivals“ in Suwon in Südkorea gezeigt. Damals war ich Generaldirektor von ICLEI, dem Weltstädtenetzwerk für Nachhaltigkeit, und habe das EcoMobility Festival in Suwon initiiert und geleitet. Im Rahmen dessen haben wir die 4300 Bewohner eines Quartiers dazu motiviert, ihre 1.500 Autos außerhalb des Wohngebiets zu parken und sich feinmobil fortzubewegen. Zu den Parkplätzen mussten sie fünf bis zehn Minuten laufen. Als Alternative für die Mobilität im Quartier hat die Stadtverwaltung ihnen Fahrräder und eine Vielzahl von Leichtfahrzeugen angeboten. Für ältere Menschen, Behinderte und den Warentransport der Geschäftsleute wurde zudem ein Shuttledienst mit kleinen Elektrofahrzeugen eingerichtet.

Wie ging es nach der autofreien Zeit in dem Bezirk weiter?
Einige SUV-affine Anwohner und Geschäftsleute haben mit Auslaufen des Projekts um Mitternacht ihre Fahrzeuge wieder vor der Haustür abgestellt. Aber der Bürgermeister hat nach Projektende mit den Anwohnern diskutiert, wie es für sie weitergehen soll. Nach verschiedenen Treffen und Diskussionsrunden wurde beschlossen, die Geschwindigkeit in ihrem Viertel auf 20 km/h zu reduzieren und das Parken entlang der Hauptgeschäftsstraßen zu verbieten. Das Parkverbot hat die Stadt umgesetzt, allerdings musste sie die Höchstgeschwindigkeit auf Tempo 30 anheben, weil es Tempo 20 in Südkorea nicht gibt. Aber das allein reichte, um den Durchgangsverkehr aus dem Viertel praktisch auszusperren. Das hat die Lebensqualität erheblich gesteigert. Der Nachteil war, dass die Immobilienpreise ebenfalls gestiegen sind, weil das autoarme Quartier zum angesagten Viertel wurde.

Was haben Sie von dem Projekt mitgenommen?
Wir haben gezeigt: Feinmobilität funktioniert. Das Leben geht auch ohne einen großen Privatwagen vor der eigenen Haustür weiter. Man kommt mit kleineren Fahrzeugen überallhin und muss auch nicht auf zügiges Fortkommen, Lastentransport oder Wetterschutz verzichten. Im Gegenteil. Man muss auf gar nichts verzichten, sondern man beendet Verzicht.

Welchen Verzicht meinen Sie genau?
Feinmobilität beendet den Verzicht auf Ruhe in den Städten, den Verzicht auf gute Luft, auf Aufenthaltsqualität, auf Übersichtlichkeit des Straßenraums und auf Spielflächen für Kinder. Feinmobilität ist ein Gewinn, ein Gewinn für die gesamte Stadt und die Stadtbewohner.

Zur Person:

Konrad Otto-Zimmermann ist Stadt- und Umweltplaner und Verwaltungswissenschaftler. Er hat beim Umweltbundesamt gearbeitet, bei der Stadt Freiburg, und ein Jahrzehnt lang das ICLEI-Weltsekretariat in Toronto/Kanada und Bonn geleitet. Fünfmal wurde er in den „Global Agenda Council on Urban Management“ des Weltwirtschaftsforums berufen. Mit seinem Büro „The Urban Idea“ setzt er von Freiburg aus weiterhin Projekte um. Dazu gehören auch die Freiburger Mobilitätsgespräche, die der Fachwelt seit Jahren innovative Mobilitätslösungen nahebringen.


Bilder: The Urban Idea, Projekt Feinmobilität, Projekt Feinmobilität

Jahrzehntelang wurden Fußgänger*innen mit Restflächen abgespeist. Das funktioniert nicht mehr. Wenn die Mobilitätswende gelingen soll, brauchen die Städte mehr Grün und attraktive Wege in jedem Quartier. In Köln soll nun Nico Rathmann als erster Fußverkehrsbeauftragter den öffentlichen Raum fit machen für mehr Fußverkehr. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Auch wenn die Autos ausgesperrt werden, wie hier in der Ehrenstraße, bedeutet das noch nicht das Ende der Konflikte zwischen Verkehrsteilnehmern. Auch Radfahrerinnen und Fußgängerinnen kommen sich dort immer wieder in die Quere.

Herr Rathmann, Sie sind Kölns erster Fußverkehrsbeauftragter. Gehört zu Fuß gehen zu Ihrer Jobbeschreibung?
Das fragt tatsächlich jeder. Aber nein, gehört es nicht. Ich lebe seit März wieder im Rheinland und lerne nun im Laufe der Zeit die Stadt besser kennen. In meiner Rolle als Fußverkehrsbeauftragter werde ich allerdings in den kommenden Monaten in verschiedenen Stadtteilen in Anlehnung an das Wiener Konzept der Geh-Cafés Stadtspaziergänge organisieren. Das sind Stadtrundgänge mit Experten, etwa vom Fuss e.V. (Fachverband Fußverkehr Deutschland, Anm. d. Red.) und mit Anwohner*innen. So verschaffe ich mir einen Überblick, wo es beim Fußverkehr in Köln hakt.

Wie geht man vor, wenn zügig ein flächendeckendes Fußverkehrsnetz für eine Großstadt wie Köln entstehen soll?
Um schnell in die Umsetzung zu kommen, müssen wir zunächst definieren, was guten Fußverkehr ausmacht. Daraus entwickeln wir Standards und Maßnahmen, die wir stadtweit umsetzen. Die Basis dafür ist eine gute Datengrundlage. Die haben wir aber noch nicht.

Welche Daten brauchen Sie?
Uns interessiert beispielsweise, wie viele Menschen täglich in den Straßen unterwegs sind und wie die Flächen verteilt sind. Paris erhebt unter anderem die Breiten der Gehwege seit Jahren. Sie haben ein sehr ausgeklügeltes System entwickelt. Auf digitalen Karten erkennen Planer*innen allein anhand der Farbe, wie breit der Gehweg vor Ort ist. Paris erfasst zudem das Stadtmobiliar. Also die Bänke und Pflanzkübel, aber auch Tische und Stühle, die Cafés und Restaurants auf Fußwegen platzieren. Das sind Basisdaten, um ein sinnvolles Fußverkehrsnetz zu erstellen.

Scanfahrzeuge und Software-Experten können diese Daten relativ zügig per Video erheben, indem sie die Straßen abfahren, die Straßenquerschnitte filmen und mithilfe Künstlicher Intelligenz das Videomaterial gezielt auswerten. Werden Sie dieses Vorgehen auch in Köln nutzen?
Das beschreibt eine Lösung. Wie wir vorgehen, werde ich mit dem neuen Amtsleiter besprechen, der im August sein Amt antritt.

Müssen sämtliche Daten erhoben werden, bevor in Köln erste Veränderungen pro Fußverkehr umgesetzt werden?
Der Wandel braucht tatsächlich Zeit. Aber wir arbeiten mehrgleisig. Ein wichtiger Baustein könnte hier zum Beispiel sein, zügig ein flächendeckendes digitales Schulwegenetz zu erstellen. Dazu brauchen wir zwar ebenfalls Daten, aber sie können relativ schnell erhoben und ausgewertet werden. Diese Daten können ganz klassisch durch eine Befragung an Grundschulen erhoben werden. Eine modernere Version, um Schulwege zu kartieren, hat der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg im Frühjahr mit dem Startup FixMyCity umgesetzt.

Wie hat FixMyCity das digitale Schulwegenetz erstellt?
Das Startup hat die anonymisierten Wohnorte von 17.000 Sechs- bis Dreizehnjährigen aus Friedrichshain-Kreuzberg mit den kürzesten Wegen zur nächstgelegenen Schule und zum nächsten Spielplatz verknüpft und auf einer Karte visualisiert. Im nächsten Schritt wurden weitere Parameter hinzugefügt wie etwa Ampeln, Ze-brastreifen, Unfallzahlen oder die erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Mit diesen Daten wurden verschiedene interaktive Karten erstellt, die Hauptrouten der Schüler*innen zeigen und an welchen Stellen der Handlungsbedarf am größten ist. Kinder verunfallen nämlich am häufigsten, wenn sie die Straße überqueren. Mit einer guten Datengrundlage kann der Bedarf für eine Querungshilfe besser abgeschätzt und schlussendlich auch transparent priorisiert werden.

Ist das nicht ein sehr eingeschränkter Blick auf den Fußverkehr? Wie repräsentativ ist die Auswertung der Schulwege für alle übrigen Alltagswege?
Die Erhebung von Schulwegen sollte immer ein integraler Bestandteil eines Fußwegenetzes sein. Kinder gehen täglich immer die gleichen Wege. Anders als Seniorinnen oder Pendlerinnen. Deshalb sind Schulwege eine gute Basis für ein Fußwegenetz. Köln hat fast 150 Grundschulen in 86 Stadtteilen. Erstellen wir für sie Schulwegenetze, decken wir eine große Fläche in der Stadt ab. Hinzu kommt, dass Grundschulkinder besonders schutzbedürftig sind. Aufgrund ihrer Größe haben sie einen schlechteren Überblick im Verkehr. Allein aus diesem Grund sollten wir sie auf ihren Wegen besonders schützen. Verbesserungen auf Schulwegen kommen schlussendlich allen Fußgänger*innen zugute.

Zurück zu den Stadtspaziergängen. Welche Daten werden Sie dort erhalten und wie wollen Sie sie nutzen?
Mir schwebt vor, einen Steckbrief zu erstellen, der den groben Zustand des Bezirks beschreibt und aufzeigt, welche Kosten entstehen und welchen Effekt eine Maßnahme auf den Fußverkehr hat. Mängel können beispielsweise zu hohe Bordsteine sein, fehlende Querungen, fehlende Bänke oder zugestellte Gehwege. Wichtig ist: Mir geht es nicht um individuelle Verbesserungen an einer Straßenecke oder um die Absenkung eines bestimmten Bordsteins in einem Bezirk. Wir agieren stadtweit. Wir müssen grundlegende Qualitätsstandards festlegen und ein Gesamtkonzept entwickeln. Dafür ist Transparenz wichtig. Die Menschen müssen verstehen, warum wir an manchen Kreuzungen Bordsteine absenken oder Zebrastreifen einrichten und an anderen nicht. Dafür brauchen wir Daten. Unsere Richtlinie, um Entscheidungen zu treffen, ist beispielsweise die Zahl der Menschen, die in den Straßen unterwegs sind, aber auch die Zahl der Autos, die Durchschnittsgeschwindigkeit, die dort herrscht, oder die Unfallhäufigkeit. Wir treffen keine individuellen Entscheidungen, sondern beschließen immer auf Basis der Datenlage vor Ort.

Gibt es eine Stadt, die beim Fußverkehr heute bereits viel richtig macht?
Paris. Wir kennen alle die schönen breiten Boulevards, wo Fußgänger*in-nen wirklich viel Platz haben. Wenn man dort durch die Innenstadt geht, findet man an fast jeder Kreuzung einen Zebrastreifen, selbst in den kleinen Seitenstraßen. Das macht den Menschen das Queren unkompliziert und komfortabel. Der Fußverkehr wird in Paris immer mitgedacht. Dort werden die Fußwege zudem konsequent freigehalten. Sharing-Fahrzeuge, vom Fahrrad bis zum Scooter müssen alle auf der Straße parken.

„Die Basis für Standards und Maßnahmen ist eine gute Datengrundlage. Die haben wir aber noch nicht.“

In Köln werden die Gehwege teilweise von Autos zugeparkt, sodass Fußgängerinnen auf die Straße ausweichen müssen. Gehen Sie mit der Fußverkehrsstrategie dagegen vor?
Wenn die Mindestbreiten für Fußgängerinnen nicht mehr eingehalten werden, könnte das Gehwegparken untersagt werden. Aus meiner Sicht wäre das ein faires Verfahren und außerdem eine sehr transparente Entscheidung.

Was verstehen sie genau unter Mindestbreiten?
Die genauen Standards werden wir für Köln noch festlegen. Aber Rollstuhlfahrer*innen oder auch Eltern mit Kinderwagen sollten auf Gehweg bequem unterwegs sein. Je nach Frequenz des Fußverkehrs in manchen Straßen könnte das Parken stellenweise auch komplett unterbunden werden. Aber auch für derlei Entscheidungen ist eine gute Datengrundlage notwendig. Diese Entscheidungen fallen auch nicht von heute auf morgen, sondern im Rahmen von Fünf- bis Zehnjahresplänen.

Köln hat bereits mit dem Umbau pro Fußgängerinnen in der Innenstadt begonnen. Beispielsweise in der Ehrenstraße, einer einspurigen beliebten Einkaufsstraße in Domnähe. Sie war immer stark befahren, inzwischen sind die Autos hier weitestgehend ausgesperrt und Radfahrerinnen und Fußgängerinnen teilen sich die Straße. Ist das für Köln ein Ansatz mit Zukunft?
Das beobachten wir gerade. Zur Ehrenstraße landen immer wieder Beschwerden von Fußgängern und Fußgängerinnen auf meinen Schreibtisch. Offiziell ist die Straße eine Fußgängerzone, in der Radfahren erlaubt ist. Momentan kommen sich Radfahrerinnen und Fußgänger*innen dort jedoch immer wieder in die Quere. Aus meiner Sicht ist dieser Konflikt bei temporären Maßnahmen ein zu erwartender Effekt, weshalb am Anfang die gegenseitige Rücksichtnahme noch mehr gefragt ist als sonst. Da der Raum noch nicht selbsterklärend ist, wird es noch eine Weile dauern, bis sich alle an die neue Situation gewöhnt haben. Dennoch ist die Maßnahme richtig: Den Menschen wird Raum zurückgegeben und genau das ist das Ziel.

Paris sperrt eine seiner Prunkstraßen, die Champs Élysées, einmal im Monat für den Autoverkehr. Dann gehört er ausschließlich den Menschen. Ist das auch in Köln denkbar?
In Paris ist das wahrscheinlich leichter umzusetzen. Die kurzzeitige Sperrung ist ein schönes Konzept, um Dinge auszuprobieren und den Menschen zu zeigen, wie viel Raum in der Stadt tatsächlich zur Verfügung steht. Bei solchen Angeboten ist die Regelmäßigkeit entscheidend. Die Menschen müssen die Gelegenheit bekommen, den Raum für sich zu entdecken und zu bespielen. Wenn wir den Fußverkehr stärken und attraktiver gestalten wollen, geht es genau darum: Attraktive Räume in der Stadt zu schaffen, die die Allgemeinheit in Besitz nimmt.

Köln hat im Zentrum sehr viele schmale Straßen. Am Friesenwall, einer Nebenstraße der Ehrenstraße, haben Ihre Kollegen mit einem Multifunktionsstreifen die Gehwege bereits frei geräumt. Werden Sie das Konzept weiterführen?
Das Konzept wird bereits auf weitere Fahrradstraßenabschnitte ausgeweitet, voraussichtlich noch in diesem Jahr wird der Mauritiuswall nach dem gleichen Prinzip umgestaltet.
Der Multifunktionsstreifen ist ein cleverer Schachzug für schmale einspurige Straßen wie den Friesenwall. Dort hatte vor dem Umbau niemand so richtig Platz. Anwohnerinnen und Besucherinnen haben in beide Richtungen am Fahrbahnrand geparkt und den Gehweg blockierten Fahrräder, Mülleimer und Parkscheinautomaten. Der Friesenwall ist Bestandteil des Fahrradstraßennetzes, deshalb musste die Fahrbahn frei geräumt werden. Dabei hat die Analyse der Parkdaten geholfen. Die Kolleginnen haben festgestellt: Selbst wenn die Zahl der Stellplätze halbiert würde, wären für die Anwohnerinnen noch ausreichend Stellplätze vorhanden. Gäste und Besucher*innen könnten in die umliegenden Parkhäuser ausweichen. Aufgrund dieser Analyse wurde das Parken am linken Fahrbahnrand abgeschafft und der Multifunktionsstreifen installiert.

Das ist ein etwa handtuchbreiter Streifen …
… am linken Fahrbahnrand, der alles beherbergt, was vorher auf dem Gehweg störte: Parkscheinautomaten, Verkehrsschilder und Mülleimer. Außerdem wurden dort Fahrradbügel aufgestellt, sowie Blumenkübel und Sitzmöglichkeiten. Jetzt sind die Gehwege frei und Falschparken unmöglich. Schöner kann man kaum Platz schaffen.

Vorher-Nachher: Ein Multifunktionsstreifen schafft auf dem Friesenwall mehr Platz auf dem Gehweg.

Köln hat im Zentrum recht wenig Grünflächen. Die vergangenen Wochen und Monate haben nochmals gezeigt: Die Sommer werden heißer und längere Hitzeperioden setzen den Städten besonders zu. Wie wollen sie Kölns Straßen für die Fußgängerinnen kühlen?
Sie haben recht: Die Sommer werden länger. Sie beginnen im Mai und enden im Oktober. Deshalb brauchen wir zukünftig mehr Grün in den Straßen. Allerdings müssen die Straßenquerschnitte den Umbau auch erlauben. Kölns Straßen sind an vielen Stellen sehr schmal. Dort, wo wir nicht begrünen können, müssen wir uns mit Alternativen, etwa mit Sonnensegeln behelfen. Wir werden langfristig darüber nachdenken müssen, Schattenwege in den einzelnen Quartieren zu schaffen. Damit die Fußgängerinnen auch im Hochsommer vor der Sonne geschützt unterwegs sein können. Trinkbrunnen können trotz der hohen hygienischen Anforderungen eine weitere Möglichkeit sein, um mit den zukünftigen Hitzewellen besser umzugehen.

Erfordern der Klimawandel und die notwendigen Anpassungen an große Hitze und Starkregen von Ihnen bei der Umsetzung einer Fußverkehrsstrategie noch mehr Tempo?
Auf jeden Fall. Wir wollen viele Wege ersetzen und vermeiden, die mit dem Auto zurückgelegt werden. Dafür muss zu Fuß gehen deutlich attraktiv werden. Es gibt also viel zu tun.

Infos zur Person

Nico Rathmann (38) arbeitet seit März als Fußverkehrsbeauftragter in Köln. Der Diplom-Geograf hat in Köln studiert. Zuvor war er bereits in Heidelberg (fünf Jahre) zuständig für den Fußverkehr beim Verkehrsmanagement der Stadt.


Bilder: Stadt Köln, Andrea Reidl, verenaFOTOGRAFIERT

Ob als Bestseller-Autorin oder vor fast 50.000 Twitter-Follower*innen, Katja Diehl setzt sich für die Lebensrealitäten jener Menschen ein, die in Mobilitätsdebatten zu selten zu Wort kommen. Im Veloplan-Interview erzählt sie, wie das System Auto so mächtig werden konnte, welche Eindrücke sie von ihrer Interrail-Reise mitnimmt und was sie sich von ihrem neuen Projekt erhofft. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Sie sind im Sommer einige Wochen per Interrail durch Europa gereist. Was hat Sie unterwegs besonders inspiriert?
Die pragmatische Art, mit der manche Länder agieren. Die baltischen Staaten sind nicht bekannt dafür, dass sie superreich sind. Ich war in Vilnius und in Tallinn. Gerade in Tallinn roch es überall nach Farbe, weil sie Radspuren markieren und Parkspuren zu Radspuren machen. Die sind da auch schon relativ komfortabel, gerade im Vergleich zu manchen deutschen Radstreifen, wo ich mal ein Fragezeichen dran machen und fragen würde „Ist das überhaupt ein Radstreifen?“. Es ist ja schnell so, dass es eher gefährlicher für Radfahrer wird, wenn man Farbe aufbringt, weil Autopersonen sich dann an diese Linie halten und nicht denken, ab der Linie sind nochmal 1,50 Meter Abstand einzuhalten.
Gestartet habe ich meine Reise in Paris. Dort habe ich mitbekommen, dass die Menschen der Oberbürgermeisterin Anne Hidalgo nicht nur wohlgesonnen sind. Wenn ich aber ins Gespräch kam, gerade in Straßen, die vorher vier Autospuren hatten und jetzt zwei Spuren Auto, zwei Spuren fürs Fahrrad, dann erkannten die Leute: „Na ja, es ist schon leiser geworden.“ Dennoch: Du hast am Anfang vom Gespräch gemerkt, wenn der Name Hidalgo fiel, war die Reaktion nicht positiv. Paris ist auch eine Autostadt, hat aber eine Führungskraft, die eine ganz klare Vision hat. Ich muss gestehen, dass alle Städte, die ich besucht habe, mehr Aufbruchsschwung vermittelt haben, als jede deutsche Stadt. Ich habe in Paris gesehen, dass alle Menschen E-Scooter nutzen: alte Menschen, junge Menschen, Frauen, Männer, alle Ethnien. Während das hier in Deutschland eher eine weiße, männliche Mobilität ist und das liegt meiner Meinung nach an der Infrastruktur. Und es gab eine gewisse Lässigkeit dabei, diese Angebote zu nutzen.

Sie schreiben in Ihrem Buch Autokorrektur „Die Verkehrswende hat in Deutschland noch nicht mal begonnen.“ Würden Sie das also immer noch unterschreiben?
Ja, weil das Gefühl von „Ich werde gesehen“ fehlt, was ich in diesen Städten hatte. In Hamburg gibt es Radwege, aber es ist nicht so, dass es sofort losgehen kann, sondern du musst dich erstmal orientieren. In anderen Städten gibt es das Gefühl, dass ich eine Person bin, um deren Sicherheit man sich bemüht, weil ich nun mal die Schwächste bin im System, nach den Fußgängern, Menschen, die ein bisschen älter sind, und so weiter.
Ich finde, dass die aktuellen Debatten zeigen, dass die Verkehrswende überhaupt nicht angefangen hat. Dass ein Verkehrsminister mit seinen Nachbesserungen gegen das Gesetz verstößt und ein Expertenrat sagt, wir beschäftigen uns nicht mal damit. Ich hatte die letzten Tage einen Hänger deswegen und habe auch bei Twitter geschrieben, dass ich einfach nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Ich will nicht in die Konfrontation, das zeigt das Buch hoffentlich auch. Allmählich komme ich aber in die Situation, dass ich sage, wir knacken bald 49 Millionen private Pkw, davon werden aktuell zwei Drittel gewerblich zugelassen, also viele Dienstwagen, auch über Boni. Muss ich da nicht auch meine Strategie mal ändern, weil der Verkehr die Emissionen noch mal gesteigert hat? Wie komme ich an die Leute ran? Nach dieser Tour – ich habe ja bis auf Südeuropa fast alles gesehen– würde ich sagen, alle sind schon anders unterwegs, als wir das sind. Der Bürgermeister von London hat gesagt, in 2030 fahren in meiner Stadt fast 30 Prozent weniger Pkw. Das ist eine Messlatte, das ist etwas, das er erreichen muss. Und das sehe ich bei uns halt einfach nicht, wir haben gar keine Ziele.

Wieso ist das System Auto denn so mächtig in Deutschland?
Porschegate habe ich natürlich auch mitbekommen im Urlaub, dass da einfach mal so die Autoindustrie anruft und in die Koalitionsverhandlungen eingreift. Das Buch Lobbyland von Marco Bülow habe ich auch gelesen, was auf diese Drehtüreffekte zwischen Politik, Lobby und Wirtschaft eingeht.
Ich finde auch, Volker Wissing als Digital- und Verkehrsminister hat einen guten Antritt gehabt und gesagt: mit mir keine E-Fuels, Plugin-Hybride machen keinen Sinn. Dann war er einmal beim VDA und bei den Autoherstellern und ist komplett umgedreht.

Die systematische Dominanz des Autos haben Sie ja selbst auch nicht vom Kindesalter an hinterfragt. Was hat Ihnen da die Augen geöffnet?
Es waren neben dem schon immer vorhandenen persönlichen Interesse an Nachhaltigkeit und vor allem auch Gerechtigkeit unter anderem die Jobs, die ich gemacht habe, zum Beispiel für die Deutsche Bundesstiftung Umwelt mit Förderprojekten in der Richtung. Von da aus bin ich dann in die Logistik und in die Verkehrsunternehmen, da ging es dann auch viel um Barrierefreiheit. Ich habe gelernt, wie wichtig das Thema für Betroffene zu Recht ist. Es gab in dem Prozess jetzt nicht den Punkt Y, aber ich habe gelernt, den Status quo zu hinterfragen, und bekam immer mehr dieses Gefühl, da ist etwas ungerecht und die Welt ist nicht so, wie Verkehrspolitik und Autoindustrie sie uns vorgaukeln. Die Klimakatastrophe ist furchtbar, aber dass wir sie als Anlass brauchen, um mal auf die Mobilität zu schauen, ist schade. Denn ich hätte mir gewünscht, dass wir eher solidarisch auf Mobilität gucken, denn Automobilität ist keine Lösung. Sie ist dann eine Lösung, wenn sie eine von ganz vielen gleichberechtigten Angebotsformen ist. Das ist sie aber nicht, da bin ich dann immer tiefer rein und habe dann gemerkt „Boah, fuck“.

Diese solidarische Brille habenSie auch aufgehabt, als Sie weniger privilegierte Menschen für Ihr Buch interviewt haben. Welche Erkenntnisse haben Sie da überrascht?
Ich habe da viel gelernt. Daniela, die im Buch vorkommt, hat mir deutlich vor Augen geführt, dass Automobilität eine unklare Kostengröße ist, weil du ja beim Öffi-Ticket einen festen Betrag zahlst und dann hast du einen Monat deine Ruhe. Sie sagt, dass sie an Tag 31 nicht weiß, was die Kosten sind, weil sie ein altes Auto fährt: Spritkosten, Reparatur und Wartung. Auch das, was die alleinerziehende Anästhesistin gesagt hat: Dass sie sofort die Karre abschaffen würde, weil sie weiß, dass die Zukunft ihrer Tochter darunter leidet, dass sie ein Auto fährt. Das sind prägende Momente gewesen. Es war nicht von Anfang an geplant, diese Interviews zu machen, die Idee kam zu Beginn des Buches.
Auch die unterschiedlichen Facetten von Sicherheit, dass vielen Menschen ein roter Knopf nicht ausreicht, wenn sie sich bedroht fühlen. Sondern dass es um Personal geht, um Aufenthaltsräume und Aufenthaltsqualität. Dann kommt man auch zum Thema Barrierefreiheit, die für viele Menschen auch sehr unterschiedlich ist. Menschen, die kognitiv nicht die Fähigkeiten haben, die die Mehrheitsgesellschaft erwartet, die sind schon mit Fahrplänen manchmal überfordert. Freie Wahl des Verkehrsmittels, Sicherheit, Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit, wenn diese Sachen da sind, dann kommt Klimagerechtigkeit ins Spiel.

Freie Wahl des Verkehrsmittels, Sicherheit, Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit, wenn diese Sachen da sind, dann kommt Klimagerechtigkeit ins Spiel.

Katja Diehl zählt aktuell sicher zu den gefragteren Persönlichkeiten der Mobilitätsbranche. Entsprechend oft ist die Autorin unterwegs, ob als Speakerin auf Messen und Kongressen oder auf Lesereise mit ihrem Buch.

Das sind viele Lektionen aus weniger privilegierten Perspektiven, die oft untergehen. Was muss denn geschehen, damit sie mitgedacht werden?
Der größte Faktor ist überhaupt nicht technisch, sondern es geht darum, dass wir zuhören. Dass wir auch aushalten, wenn Leute zu uns sagen „Das passt euch, mir aber nicht“. Das ist auch was, worauf ich bei Volker Wissing noch warte. Er hat, glaub ich, den Expertenrat von Andi Scheuer auch übernommen. Wenn Sie sich die Gruppe anschauen, auf dem Foto stehen erstens alle, sind zumindest optisch ohne Behinderung, sind weiß und haben wohl auch ein gewisses Bildungsniveau, das nicht alle in Deutschland erreichen können. Ich habe bei Twitter gesagt „Kann nicht jemand von den weißen Herren zurücktreten und jemanden vorschlagen, der nicht sich selbst entspricht?“

Ein erstaunlich kleiner Anteil, weniger als fünf Prozent der Führungskräfte in der Mobilitätsbranche, ist weiblich. Wie sollten wir dem begegnen?
Ich denke, es geht ganz viel auch um Sichtbarkeit. Das versuche ich ja auch mit dem Podcast SheDrivesMobility, dass ich da Frauen und andere Menschen, die nicht der weißen Mehrheitsgesellschaft entsprechen, zeige und zu Wort kommen lasse. Es geht nicht nur um Frauenförderung, sondern weit darüber hinaus. 50 Prozent gesunde, weiße Frauen in die Führung zu bringen, ist nicht das Endziel, das wir haben sollten. Der Bundestag ist da auch nicht das beste Beispiel. Was wichtig wäre, ist auch mal in die NGOs und in die Zivilgesellschaft zu schauen, welche Verbände da unterwegs sind, und dieses Silo-Denken zu sprengen. Wir sind in der Veränderungs-Bubble immer ganz gut darin, gegeneinander zu schießen. Es gibt die Autoindustrie und uns. Und wir sind halt dieses zerfledderte, heterogene Geflecht. Da gibt es den Fuss e.V., hier den VCD, da den ADFC und so weiter.

Sie kritisieren auch regelmäßig, dass der Mobilitätsbewegung Fantasie für neue Lösungen fehlt.Was kann diese Fantasie fördern?
Ganz viel friedliche Guerilla, zum Beispiel der Parking-Day. Und dann so was wie Jan Kamensky, ein guter Kumpel von mir, der solche Visualisierungen macht von Utopien ohne Auto. Ganz viel mit Bildern arbeiten und mit Beispielen aus dem Ausland.

Welches Bild soll denn vermittelt werden? Welche Faktoren machen Städte lebenswert?
Dass alle sich bewegen, vor der Haustür. Dass ich alle, die in einem Viertel leben, auch wahrnehme. Und dass der Raum zwischen den Häusern, wie Jan Gehl so schön gesagt hat, wieder den Menschen gehört, dass da Bänke sind und viel Grün. Viel Ruhe und muskelbetriebene, wenn überhaupt elektrische Mobilität. Die Stadt wird wieder zum Begegnungsort.

Gibt es bei der Frage nach einer lebenswerten Stadt etwas, das noch zu wenig Beachtung findet?
Was mir gespiegelt wird, ist, dass die Frage „Musst du oder willst du Auto fahren?“ überhaupt nicht thematisiert wird. Leute denken, das Auto ist eine Lösung. Aber ist es eine Lösung, wenn man keine Wahl hat? Oder ist es nicht vielmehr eine fatale Abhängigkeit? Viele Menschen sind gar nicht aktiv autofahrend, das sind 13 Millionen Erwachsene ohne Führerschein und 13 Millionen Kinder. Das haben mir viele Leute zurückgespiegelt, dass sie an diese große Gruppe nie denken, oder aber denken: Kinder können doch gefahren werden. Nein! Kinder sollten selbst aktiv mobil sein dürfen – das entlastet letztlich auch den Kalender der Eltern. Viele Leute denken in ihrer eigenen Mobilität. Und übersehen dabei die Bedürfnisse der Menschen neben ihnen.

Wie kommen wir denn zu einer Mobilität, in der sich niemand zum Autofahren gezwungen fühlt?
Es braucht erst mal Angebote, aber es braucht auch, dass das Auto sich einreiht in die Möglichkeiten der Mobilität. Und seine Privilegien verliert.Dazu gehört, Parkraum in der Stadt zu verknappen und zu bepreisen. Dass die Leute in vorhandene Parkgaragen fahren, die es ja auch gibt. Dass Ladeinfrastruktur nicht auf Gehwege gebaut wird, sondern in Parkgaragen und auf Supermarktparkplätze. Der Raum in der Stadt darf nicht mehr als Abstellraum für Stehblech missbraucht werden. Dann braucht es auf jeden Fall, gerade wenn ich noch mal auf meine Interrail-Reise gucke, Entschleunigung, also auf 30 km/h und darunter. In dem Moment wirst du auch im Auto wieder zum Mensch, weil dich Leute auch erkennen, und es gibt einen anderen Verkehrsfluss. Außerdem braucht es eine bauliche Trennung, damit meine ich aber nicht den Bau von neuer Infrastruktur, sondern sich die Fläche vom Auto zu holen. Das Ganze, was da als Schmerz empfunden wird in der Auto-Bubble, das ist ja der Schmerz, den alle anderen schon seit Jahrzehnten erleiden. Da kann man, finde ich, auch mal wieder was zurückgeben.

Das Auto ist nicht erfolgreich, sondern es ist in einem System, das komplett privilegiert ist.

Wie hat das Auto es in der Straßenhierarchie ganz nach oben geschafft?
Ich fand es während der Recherche total erstaunlich, dass wir aus dem Zweiten Weltkrieg mit so vielen Autobahnen rausgegangen sind. Auch in den 40ern und 50ern wurden viele Autobahnen gebaut. Dabei gab es da noch gar nicht so viele Autos, alle sind eher Mopeds gefahren und Fahrräder, weil es billiger war und auch einfacher zu reparieren. Das fand ich echt krass, diesen vorauseilenden Gehorsam, weil Adolf Hitler ja auch den Kraft-durch-Freude-Wagen mit Volkswagen gebaut hat. Dass Wolfsburg sogar mal „Stadt des KdF-Wagens“ hieß. Uff. Das Auto ist nicht erfolgreich, sondern es ist in einem System, das komplett privilegiert ist und andere Mobilitätsformen unattraktiv gemacht hat.

Erfahren Sie zum Beispiel auf Ihrer Buch-Tour eigentlich viel Ablehnung, weil Sie dem Auto an den Kragen wollen? Wie sind die Reaktionen?
Es gibt ganz viele im Publikum, die schon aufgegeben haben. Die sagen, nur wegen dir fange ich jetzt noch mal an, mich da zu engagieren. Ich würde sagen, jede zweite Lesung kommt hinterher ein Mensch, der oder die weint, weil sie sagen, „Ich kann das nicht mehr ab, ich will nicht Auto fahren“ oder „Ich fühle mich auf dem Rad so unsicher“. Da entstehen dann auch so kleine Selbsthilfegruppen, an manchen Orten haben die Leute auch Mail-Adressen ausgetauscht und wollten in Kontakt bleiben. Aber viele sind auch so richtig am Ende ihrer aktivistischen Kraft, die sind müde. Das ist dann auch anstrengend für mich, weil es so emotional wird. An manchen Orten sind wir gar nicht zur Lesung gekommen, weil wir direkt losdiskutiert haben. Das ist schon interessant, was das Buch auslöst.

Wie nehmen Sie auf Twitter die Diskussionskultur wahr?
Ich habe noch nie so viele tolle Menschen kennengelernt wie über Twitter. Es ist schon so, dass bei Twitter die positiven Dinge überwiegen. Es gibt natürlich auch Eskalation, aber das ist normal, wenn man etwas verändern will. Ich werde da auch von links und rechts gebasht. Den Linken bin ich zu wenig Autofeindin und zu industriefreundlich, für die anderen bin ich die, die Autos und Menschen, die diese fahren, hasst. Das kommt vielleicht auch aus der Vielschichtigkeit des Themas heraus, weil ich intersektional arbeite und diesen Wunsch nach Gerechtigkeit in mir habe.

Sollten Menschen, die mit Radverkehr und Mobilität zu tun haben, beruflich Zeit auf Twitter verbringen?
Wenn man nur lesen will und gar nicht in die Interaktion gehen, ist das ein total gutes Informationsmedium, finde ich. Gerade wenn man auch bestimmte Hashtags verfolgt, sich bestimmte Listen macht mit Begriffen oder bestimmten Personen, die man auf dem Schirm behalten möchte, finde ich schon, dass man da auch mal ein bisschen Abseitigeres mitbekommt.

Autokorrektur erschien im Februar 2022 und landete schon in der ersten Woche auf der Bestseller-Liste des Spiegels. Diehl schreibt darin nicht über Menschen, sondern lässt von Armut betroffene Menschen, Menschen mit Einschränkungen oder Transpersonen selbst zu Wort kommen.

Was ist deine Sicht auf Partizipationsverfahren, die lokale Bedürfnisse und Themen aufzeigen sollen?
Ich bin der Meinung, dass man bei der Beteiligung nicht unbedingt von null anfangen sollte. Ich habe das bei den Superblocks in Barcelona zum Beispiel gelernt, dass die mit einer gewissen Vorstellung kommen, was sie machen wollen, und dann mit den Leuten, die vor Ort wohnen, in die konkrete Planung gehen: Wollt ihr Bänke, wollt ihr Sportgeräte, was wollt ihr? Weil das in deren Lebensbereich stattfindet. Da hat die Bürgermeisterin sehr positive Erfahrungen gemacht. In manchen Bereichen gibt es mehr Seniorinnen, in anderen mehr Kinder. Das finde ich zum Beispiel echt cool, weil da auch festgestellt wurde, dass zum Beispiel, wenn Parklets gebaut werden, sich auch drum gekümmert wird. Die verlottern nicht, sondern schaffen eine Identifikation. Bei U-Bahn- oder S-Bahn-Bauten bin ich mir nicht so sicher, ob das immer über Bürgerinnenentscheide gemacht werden kann, weil die nicht so die Kenntnisse haben. Aber fortwährende und transparente Information ist wichtig, denn meist machen Baustellen ja erst mal große Pro-bleme, deswegen ist es so wichtig, immer auch zu zeigen, was da gerade gebaut wird – was der Gewinn der anstrengenden Zeit ist.
Beispiel: Wenn man jetzt sagt, man macht ein halbes Jahr einen Versuch, wie jetzt im Graefekiez in Berlin. Da werden Parkplätze rausgenommen und der frei werdende Platz wird anderweitig genutzt. Das wird sowohl wissenschaftlich begleitet als auch durch die Anwohner*innen mitgestaltet. Es wäre sicher auch positiv, dass Menschen, die in anderen Stadtvierteln leben, sich so etwas mal ansehen können.

Sie moderieren seit Neustem für den Hamburger Verkehrsverbund die Serie „Your Turn“ auf Youtube. Worum geht es Ihnen und euch dabei?
Gerade haben wir das Format vorgestellt, mit dem Verkehrssenator von Hamburg und der Geschäftsführerin vom HVV. Morgen drehen wir die nächste Folge. Das sind immer Leute, die in Hamburg oder dem Hamburger Umland wohnen und aus ganz anderen Bereichen kommen. Die erste Gästin war eine Fitness-Influencerin, die auch als Model arbeitet und berichtet hat, dass sie viel StadtRad nutzt und auch viel durch Hamburg joggt. Sie hat ihre eigene Sicht, auch in die Zukunft.
Ich gehe sehr konkret mit denen in die Verkehrsmittel, unterhalte mich über verschiedene Bereiche von Hamburg. Die dritte Folge werden wir auch im Umland drehen, weil es um jemanden geht, der eher die umländische Mobilität von Hamburg kennt. Also es geht sehr stark natürlich ums konkrete Produkt, aber wir thematisieren auch, wo es eigentlich hingeht mit dem Nahverkehr in Hamburg. So eine Fitness-Influencerin oder ein Sänger oder andere, die wir besuchen werden, haben ja auch immer andere Leute, die sie kennen, sodass man da auch ein bisschen diese Verkehrs-Bubble verlässt.

Worauf kommt es an, wenn Mobilitätsfragen blasenübergreifend stattfinden?
Mir wäre es wichtig, dass wir uns nicht mit Verkehrsmitteln identifizieren, auch nicht übermäßig mit dem Fahrrad. Sondern dass wir unseren Blick weiten, auch immer im Sinne von Barrierefreiheit und im Sinne davon, die Bedürfnisse alter oder ganz junger Menschen mitzudenken. Und dass wir da, die wir alle eigentlich ja den Platz vom Auto wiederbekommen wollen, viel mehr zusammenarbeiten. Das zeigt uns die Autoindus-trie. Da gibt es keine Marken mehr, die arbeiten zusammen und das sollten wir auch tun.


Bilder: Amac Garbe

Interview mit Christine Fuchs, Vorstand der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e. V. (AGFS) zu den Aussichten des Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetzes in Nordrhein-Westfalen (FaNaG) und der neuen Rolle der AGFS. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


„Wir vertreten die Auffassung, dass sich die Nahmobilität und die grüne und blaue Infrastruktur hervorragend ergänzen.“

Christine Fuchs, Vorstand der AGFS

Frau Fuchs, das von Nordrhein-Westfalen ausgegebene Ziel von 25 Prozent Radverkehrsanteil am Modal Split klingt sehr anspruchsvoll. Was tut sich im Land, um die Ziele zu erreichen?
Wir haben eine sehr dynamische Situation sowohl beim Land als auch in den Städten und Kommunen. Das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz, das im Januar in Kraft getreten ist, kam ja ursächlich durch eine Volksinitiative, also eine Bewegung von unten. Nicht zuletzt haben auch die Klimadiskussion und die Pandemie das Thema Nahmobilität und Radverkehr sehr befeuert. Das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz ist ein wichtiges Signal. Es hilft, unser Thema voranzutreiben und eine Aufbruchsstimmung zu erzeugen.

Wo gibt es aus Ihrer Sicht Entwicklungen und Probleme?
Viele Menschen wollen Fahrrad fahren und tun das auch gerne. Gleichzeitig haben viele erkannt, dass die Infrastruktur einfach nicht ausreichend ist und man sich unsicher fühlt. In den Kommunen und hier vor allem in den Mittel- und Großstädten hat man zudem inzwischen realisiert, dass es so einfach nicht weitergeht. Man erstickt regelrecht im Kfz-Verkehr. Autoparken dominiert die Straßenzüge. Die Notwendigkeit, eine gesunde Mobilität zu entwickeln, ist inzwischen deutlich in den Vordergrund gerückt. Umsetzungsdefizite in der Infrastruktur sind offensichtlich und die Umsetzung dauert. Lange Planverfahren und auch der Fachkräftemangel sind dabei die größten Hemmnisse.

Wie geht es weiter und was verändert sich für die Kommunen und die AGFS?
Der nächste wichtige Baustein ist der Aktionsplan zum Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz, der schon seit einiger Zeit in Arbeit ist und für den wir als AGFS eine ganze Reihe von Vorschlägen eingebracht haben. Wir erhoffen uns hier eine Reihe von Hilfestellungen und Unterstützungen für Kommunen, aber auch Möglichkeiten, um Hürden abzubauen bzw. Abläufe zu erleichtern. Neu ist, dass die AGFS mit dem Gesetz jetzt institutionell gefördert wird. Somit haben wir mehr Möglichkeiten, die Kommunen besser und vertiefter zu unterstützen. Wir werden Personal aufstocken und uns zukunftsfähig aufstellen.

Die AGFS ist ja schon lange als Ansprechpartner für die Kommunen aktiv. Worum geht es bei der der Neuausrichtung?
Das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz kann aufgrund der kommunalen Planungshoheit nur indirekt auf die Kommunen wirken. Deshalb sieht das Land eine wichtige Rolle für Netzwerke wie die AGFS, die die Kommunen unterstützen. Die AGFS hat seit jeher die Fachkompetenz im Bereich Nahmobilität und ist sehr gut mit den Kommunen vernetzt. Deshalb wird uns hier eine zentrale Funktion zugesprochen, für die wir vorbereitend gerade neue weitere Formate entwickeln.

AGFS-Kongress sonst immer mit vollem Saal; coronabedingt in diesem Jahr wieder online.

Können Sie schon etwas zur Ausrichtung und den Zielen der neuen Formate sagen?
Wir wollen zentral etwas auf zwei Ebenen anbieten: ein breites Angebot für alle Kommunen und ein intensives Vertiefungsangebot für die Mitglieder der AGFS.

Wie kann man sich solche Angebote konkret vorstellen?
Ein breites Angebot wollen wir zum Beispiel mit Blick auf den Fachkräftemangel von Planerinnen und Planern machen. Wir haben bereits eine Kampagne gestartet, die in Schulen aktiv für den Beruf Verkehrsplaner wirbt. Drüber hinaus möchten wir die Zusammenarbeit mit den Hochschulen verstärken und Absolventen mit den Kommunen zusammenbringen. Dafür haben wir bereits eine eigene Webseite gelauncht unter plane-deine-stadt.de.

Wie können vertiefende intensive Angebote für Mitglieder der AGFS aussehen und was bringen sie?
Wir versuchen den Kommunen viele Instrumente anzubieten, die sie bei der schnellen Umsetzung vor allem von Infrastrukturmaßnahmen unterstützen. Was direkt in die Kommunen wirkt, sind z.B. unsere Planungswerkstätten. Zusammen mit externen Experten werden hier sehr konzentriert an zwei Tagen rund acht Planungsfälle aus den Kommunen besprochen. Erste Pilotprojekte waren ein absoluter Erfolg und Arbeitsgemeinschaften aus anderen Bundesländern haben das Konzept inzwischen übernommen. Zwei Tage intensive Arbeit abseits der laufenden Geschäfte; danach hat man in den meisten Fällen echte Lösungsansätze.

Über das Parken in den Städten werden viele Auseinandersetzungen geführt. Wie sehen Sie das Thema?
Natürlich ist es erstrebenswert, dass sich die Anzahl der Autos reduziert. Aber von heute auf morgen wird das nicht möglich sein. Der Ansatz zu sagen, wir bieten keine Parkplätze oder deutlich weniger an, ist einfach nicht realistisch. Das erzeugt sofort Reaktanz. Trotzdem ist es letztlich so, dass wir den Platz für Wichtigeres brauchen. Für die Menschen. Für die aktive Mobilität. Für Grün und Aufenthaltsqualität. Das ist ein strategisches Thema der Kommunen. Es geht darum, das Thema Parken neu zu regeln und dabei trotzdem aufeinander zu- zugehen.

Was tun Sie beim Thema Parken und was kann das Land Nordrhein-Westfalen tun?
Wir haben das Thema bereits in der Vergangenheit intensiv behandelt und sind gerade dabei, ein umfassendes Handbuch zum Thema für die Kommunen zu erstellen, das voraussichtlich im Sommer vorgestellt wird. Auch das Land kann unterstützend tätig werden, zum Beispiel mit der finanziellen Förderung von Quartiersgaragen.

Warum sind Vorrangrouten für den Radverkehr wichtig?
Mit der heutigen Infrastruktur werden wir keine grundlegenden Steigerungen des Radverkehrs mehr erreichen. Ein geschlossenes Vorrangnetz in allen Kommunen und von Zentrum zu Zentrum mit einer hervorragenden Qualität, möglichst bevorrechtigt, mit ausreichenden Breiten und aufgewertet mit Grün hat die erste Priorität. Nur damit können wir das Potenzial des Radverkehrs wirklich ausschöpfen.

Mit was sollten die Städte und Kommunen anfangen und wo setzt die AGFS Prioritäten?
Die konkrete Rolle der AGFS wird sich aus dem Aktionsplan und unseren Gesprächen mit dem Land noch ergeben. Insgesamt sollte man immer fragen: Wo liegen die größten Potenziale, wo sind die größten Hebel und wo sind die wertvollen Kapazitäten am sinnvollsten eingesetzt? Aber auch welche wichtigen Maßnahmen dauern am längsten? Die müssen frühzeitig begonnen werden. Zudem müssen wir breit denken. Allein mit dem Bild einer fahrradfreundlichen Stadt kommen wir nicht weiter. Wir brauchen einen größeren Rahmen und eine echte Vision. In der Umsetzung allerdings müssen wir uns dann wieder fokussieren und gezielt auch Infrastruktur umsetzen.

Wohin sollte es konkret gehen? Welche Vision sollten die Städte über das Thema Fahrradfreundlichkeit hinaus verfolgen?
Unsere Vision ist die einer gesunden Stadt. Die Frage ist, wie vereinbaren wir die Bedürfnisse der Nahmobilität mit einer grünen Infrastruktur, also mehr Grün für ein gutes Klima durch Beschattung und Frischluftzufuhr vorzugsweise über die Achsen für Nahmobilität sowie einer blauen Infrastruktur, mit der wir für eine Bewässerung sorgen und Städte besser vor Hochwasser schützen. Nicht zu vergessen sind neben Umweltgesichtspunkten zudem auch Umfeld-Themen, also Aufenthaltsqualität, Stadt der kurzen Wege, Bewegung, Sicherheit etc. Wir vertreten die Auffassung, dass sich die Nahmobilität und die grüne und blaue Infrastruktur hervorragend ergänzen.

Wie schaut aus Ihrer Sicht die Zukunft auf dem Land aus?
Auf dem Land und in Kleinstädten haben wir eine große Aufgabe. Wir brauchen den öffentlichen Verkehr, wir brauchen Park-and-Ride-Stationen, Mobilitätsstationen und auch hier Vorrangnetze für den Radverkehr. Wichtig ist auch: Wir brauchen eine schnelle Wirksamkeit, zum Beispiel indem Wirtschaftswege so ertüchtigt werden, dass sie von Radfahrenden und Landwirten gemeinsam genutzt werden können. Das kann vergleichsweise schnell umgesetzt und dann weiter ausgebaut werden.

Können die aktuellen Aktivitäten der AGFS in NRW eine Art Blaupause für Deutschland werden?
Von einer Blaupause kann man nicht direkt sprechen. Wir sind aktuell dabei, uns horizontal mit den anderen Arbeitsgemeinschaften der Länder noch weiter zu vernetzen, und richten dazu auch eine Koordinierungsstelle ein. Das schafft zum einen Synergien und zum anderen wollen wir so unsere starke fachliche Expertise beim Bund besser einbringen. Damit bekommen die Arbeitsgemeinschaften insgesamt eine deutlich stärkere Rolle. Wir wachsen mit den Aufgaben und darauf freue ich mich.


Über die AGFS

Der Verein wurde 1993 als Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Städte von 13 Mitgliedern in Nordrhein-Westfalen gegründet. Die AGFS war die erste institutionalisierte Form der Zusammenarbeit von Kommunen in Deutschland für die Förderung des Fahrradverkehrs bzw. der Nahmobilität. Sie hat Vorbildcharakter für ähnliche Zusammenschlüsse, die sich auch in anderen Bundesländern gegründet haben. Seit 2007 vertritt die AGFS das Konzept der Nahmobilität, das die „Stadt als Lebens- und Bewegungsraum“ definiert. 2012 wurde deshalb auch der Fußgängerverkehr gleichrangig im neuen Namen aufgenommen. Die AGFS veranstaltet regelmäßig Fachtagungen und Kongresse, Exkursionen und Planerwerkstätten und hat eine Viel-zahl von Kampagnen für ihre Mitglieds-kommunen vorbereitet, organisiert und durchgeführt. Zudem ist sie Partner des Deutschen Fahrradpreises.

Bilder: AGFS, Peter Obenaus, AGFS – Andreas Endermann

Digitalisierung in der Radverkehrsplanung – wie sieht das eigentlich aus? Katja Krause, Geschäftsführerin von infraVelo in Berlin, erklärt im Interview, wie digitale Lösungen in der Stadt helfen, den Radverkehr voranzubringen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Was macht infraVelo in Berlin? Wer steht hinter dem Unternehmen?
infraVelo wurde Mitte 2017 als Tochtergesellschaft der landeseigenen Grün Berlin GmbH gegründet. Wir unterstützen das Land Berlin dabei, neue Radinfrastruktur zu schaffen und den Umweltverbund zu stärken. Diese Aufgabe ist im Mobilitätsgesetz festgeschrieben. Hier ist auch die Unterstützung durch ein landeseigenes Unternehmen für die überbezirklichen Projekte enthalten. Wir entwickeln, planen und bauen neue Radwege und Fahrradabstellanlagen und kümmern uns auch nach der Fertigstellung um den Betrieb und den Unterhalt. Damit trägt infraVelo zur neuen Mobilität und zur Verkehrswende bei.

Wo liegen die besonderen Herausforderungen in Berlin für die Planenden?
Berlin ist in Bezirken organisiert, die sehr eigenständig sind. Gleichzeitig müssen sie sich mit dem Senat abstimmen, wenn es um größere Projekte geht. Zudem hat die Stadt in den letzten Jahren einen sehr starken Personalzuwachs für den Radverkehr bekommen. Das erfordert erst einmal, sich zusammenzufinden, alle Vorhaben zu koordinieren und auf ein gemeinsames Ziel auszurichten.

Warum braucht es überhaupt Digitalisierung bei der Radverkehrsplanung?
Digitalisierung ist zwingend erforderlich, um die wachsende Komplexität zu bewältigen. Berlin will noch grüner, mobiler und klimafreundlicher werden. In Berlin wird mit dem Mobilitätsgesetz und dem Radverkehrsplan eine deutliche Ausweitung des Radverkehrsnetzes geplant. Stellen Sie sich vor, dass 360 Kilometer nun zu 865 Kilometern werden. Das ist mehr als eine Verdopplung nur der Haupt- beziehungsweise Vorrangwege und dabei soll noch der Querschnitt der Radwege deutlich verbreitert werden. Das ist ein großes Arbeitspaket, für das es Lösungen braucht – wie beispielsweise eine direkte und gemeinsame Datenbasis. Dafür bietet sich eine Business-Intelligence-Softwareentwicklung an, wie wir sie für Berlin umgesetzt haben. Eine Information kann damit mehrfach und für verschiedenste Zwecke genutzt werden. Das kann ein Bericht sein oder Kennzahlen für die Öffentlichkeitsarbeit. Wir können Daten sammeln, auswerten und einheitlich darstellen. Der Kern ist, zusammen und cloudbasiert in einer Datenbank zu arbeiten.

Wie viele Projekte laufen derzeit über infraVelo?
Unsere Datenbank umfasst derzeit mehr als 500 bezirkliche Projekte. Dazu kommen 37 aktuelle Projekte von infraVelo. Damit schaffen wir einen hohen Grad an Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch der Verwaltung, den Haushaltsausschüssen und allen anderen, die sich dafür interessieren.

Berlin will mehr Radwege. Mit zahlreichen Projekten soll das Netz von 360 auf 865 Radwegekilometer wachsen.

Welche Effekte können bisher erzielt werden?
Es geht darum, im Projektmanagement-Geschäft schnell zu agieren, Effizienz zu steigern, Transparenz herzustellen, Einheitlichkeit zu fördern und Fehler zu minimieren. Das Datenmanagement hilft bei zahlreichen Projekten immens. Wir haben beispielsweise auch Schnittstellen geschaffen, um Karten, Bilder und Informationen zusammenzuführen. Das schafft einen leichten Überblick.
Die Digitalisierungen, die wir geschaffen haben, wirken sich auf vielerlei Prozesse aus, wie beispielsweise auf Abstimmungen. Bei Besprechungen zwischen Senat und Bezirk sehen wir, dass sich der Gesprächsaufwand halbiert hat. Da kommt schon eine Menge eingesparte Arbeitszeit zusammen.
Zeitgleich entstehen weitere Effekte durch die Zusammenführung von Informationen. So können Projekte priorisiert werden. Bei ungefähr 2000 Projekten für die Umsetzung des Vorrangnetzes und des Radverkehrsplans in Berlin muss man überlegen, wo man anfängt. Zur Bewertung und Auswahl von Straßen sind objektive Kriterien notwendig. Eine hoch digitalisierte Datenbank macht das möglich.

Wie lange braucht Berlin aktuell, um ein Radverkehrsprojekt umzusetzen?
Dazu gibt es keine Standardantwort, denn es kommt sehr darauf an, um welche Art von Radverkehrsanlage es sich handelt. Wenn wir als Bauherr gesetzlich verpflichtet sind, bestimmte Verfahren einzuhalten und Dritte einzubinden, sind mindestens zwei Jahre erforderlich, um eine Anlage zu planen, Genehmigungen einzuholen und zu bauen. Bei den sogenannten Pop-up-Bikelanes geht es schneller, aber um eine dauerhafte Anlage daraus zu machen, braucht es weitere Prozesse. Wir haben in diesem Jahr auch mehrere Radwegsverbreiterungen, Protektionen und Grünmarkierungen innerhalb von mehreren Monaten ausgeführt, aber da hatten wir schon Rahmenverträge mit ausführenden Bauunternehmen, und besondere Genehmigungen waren hierfür nicht erforderlich.

„Bei ungefähr 2000 Projekten […] muss man überlegen, wo man anfängt.“

Katja Krause, Geschäftsführerin von infraVelo

Wer kann alles auf das neue Datenbank-Tool zurückgreifen?
Bei infraVelo arbeiten 50 Personen, die darauf zugreifen. Dazu kommen Verantwortliche im Senat und in den Bezirken, die einen sehr engen Austausch pflegen müssen. In den zwölf Bezirken gibt es jeweils mehrere Personen, die mit dem Radverkehr beauftragt sind, in der Senatsverwaltung ebenfalls. All diese Menschen nutzen die Datenbank.

So eine Datenbank muss auch gepflegt und gespeist werden. Ist das ein großer Aufwand und wie gut funktioniert das?
Der Aufwand gehört für unsere Projektmanagerinnen und -manager dazu und sie sehen auch den Mehrwert. Denn wenn eine Information, wie gesagt, für unterschiedliche Zwecke oder Anfragen genutzt werden kann, spart das viel Aufwand an anderer Stelle.

Auch die Öffentlichkeit kann den Fortschritt der Arbeiten verfolgen. Wie wichtig ist das?
Das ist unglaublich wichtig. Die Informationen aus der Datenbank werden direkt auf eine Karte auf unserer Website übertragen. Das hilft, um Projekte besser verständlich und transparenter zu machen. Diese Rückmeldung haben wir auch im Rahmen unserer Beteiligungsprozesse von Teilnehmenden bekommen. Die Karte liefert detaillierte Informationen über anstehende, laufende und vergangene Maßnahmen. Auch Machbarkeitsstudien, Planungsunterlagen oder Ergebnisse von Bürgerbeteiligungen stehen allen zur Verfügung. Letztendlich wollen wir Transparenz schaffen und die komplexen Prozesse nachvollziehbarer machen, denn es gibt hohe Erwartungen der Berlinerinnen und Berliner, dass ihre Stadt noch fahrradfreundlicher und lebenswerter wird.

infraVelo Berlin:
Ordnen, Digitalisieren, Priorisieren, Umsetzen


Bis 2030 soll der Radverkehr in Berlin auf einen Anteil von 23 Prozent aller zurückgelegten Wege steigen. Um das zu erreichen, soll nach den Plänen des Senats ein Radverkehrsnetz durch die Stadt mit einer Gesamtlänge von 2371 Kilometern festgelegt werden. Davon bilden 865 Kilometer ein Vorrangnetz auf den wichtigsten Verbindungen für Radfahrerende – überwiegend aus baulich vom übrigen Verkehr getrennten Radwegen oder geschützten Radfahrstreifen und mit einer Regelbreite von 2,50 Metern. Vor der Um-setzung kommt die systematische Planung.
Seit 2020 unterstützt die infraVelo Digitalisierungsaktivitäten des Landes Berlin. Zusammen mit der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz und den Bezirksämtern arbeitet das Unternehmen am digitalen Management der Projekte, um Prozesse effizienter und transparenter zu machen und die Mobilitätswende zu beschleunigen. Herausgekommen ist eine cloudbasierte Datenbank – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer modernen Verwaltung. Das Vorhandene zu sammeln und zu systematisieren ist dabei die Basis für weitere Auswertungen, Projektmanagement und Controlling.


Bilder: infraVelo – Thomas Rafalzyk, Peter Broytman

Interview: Stefan Gelbhaar MdB, Verkehrspolitiker bei Bündnis 90/Die Grünen
und ehemaliger Sprecher für Verkehrspolitik und Radverkehr


Herr Gelbhaar, kommt es mit der Ampelkoalition zu einer Mobilitätswende?
Eins ist klar: Die Ampelkoalition muss sich unterscheiden. Darin waren wir uns in den Koalitionsgesprächen alle einig. Und wir alle sehen die Probleme und Herausforderungen. Die Verkehrswende ist nach der Energiewende mit das wichtigste Projekt, um das wir uns kompetent und intensiv kümmern müssen. Das ist nun mit dem FDP-Verkehrsministerium in beständiger Zusammenarbeit nach vorne zu entwickeln. Einfach wird das mit so unterschiedlichen Partnern natürlich nicht – aber dass es einfach wird, hat ja auch niemand gedacht.

Inwiefern wird es Unterschiede geben zur alten Bundesregierung?
Die Ziele, die sich die Bundesregierung in den vergangenen Jahren gesetzt hat, sind nicht ansatzweise erfüllt worden. Wir haben, je nachdem, wie wir es interpretieren wollen, die letzten vier, acht oder zwölf Jahre verschenkt. Das betrifft auch, aber nicht nur den Bereich Verkehr. Es ist in den Gesprächen klar geworden, dass es nicht ausreicht, nur hier und da einen Akzent zu setzen.

Welche konkreten Ziele sehen Sie mit der Ampelkoalition in Reichweite?
Im Bereich Verkehrssicherheit sind wir beispielsweise nah beieinander, was die Zielbeschreibung Vision Zero angeht. In der Vergangenheit haben sich die Hersteller erfolgreich um die Insassensicherheit in Fahrzeugen gekümmert. Vernachlässigt wurde allerdings die Umfeldsicherheit. Da gibt es ganz viele Ansatzpunkte auf der Bundes-, aber auch auf der EU-Ebene. Was die Sicherheit angeht, ist die EU ja normalerweise Treiber. Bei Technologien wie Lkw-Abbiegeassistenten kann und sollte die Bundesregierung – auch in der EU – mehr Druck machen.

Wo sehen Sie allgemeine Schwerpunkte in der Verkehrspolitik?
Viele Punkte finden sich im Koalitionspapier. Ein wichtiges Feld, das zu bearbeiten ist, ist neben der Verkehrssicherheit und der Antriebswende die Vernetzung der Mobilität. Bei der geteilten Mobilität etwa besteht die gemeinsame Einschätzung: Das ist ein großer Baustein der künftigen Mobilität. Die Zeit ist reif, die vorhandenen Angebote viel stärker zu vernetzen. Wir müssen uns generell fragen: Was haben wir schon? Was können wir wie besser nutzen?

Was braucht es konkret?
Wir brauchen bessere rechtliche Regelungen, Zuschüsse, mehr Personal, mehr Forschungsgelder und mehr Freiheiten für die Kommunen. Wir müssen ran an das Verkehrsrecht und den Bußgeldkatalog, und wir brauchen Forschungsgelder, nicht nur, wie in der Vergangenheit, für die Belange des Autos, sondern beispielsweise auch beim ÖPNV und im Bereich Mikromobilität. Natürlich brauchen wir auch mehr Radinfrastruktur, zum Beispiel entlang von Bundesstraßen, und eigenständige Radnetze. Und ganz wichtig: Wir müssen die Kommunen befreien und empowern.

Wo liegen die Herausforderungen in den Kommunen?
Alle sind sich beispielsweise über die Probleme im Klaren mit dem zunehmenden Wirtschaftsverkehr im städtischen Raum. Dazu kommt, dass wir auch die Infrastruktur schnell anpassen müssen, wenn wir mehr Radverkehr wollen. Der Bund kann beispielsweise bei der Finanzierung von Fahrradbrücken, Radparkhäusern oder beim Aufbau von zentralisiertem Know-how helfen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Förderung und der Kompetenzaufbau bei der DB für Fahrradparkhäuser an Bahnhöfen.

Wie stehen Sie als Berliner zur Zunahme der E-Kickscooter in der Stadt?
Ich denke, E-Scooter sind in der Mobilität eine gute Ergänzung, und oft habe ich das Gefühl, dass die Debatte schief ist. Wir empfinden über 1,2 Millionen zugelassene Pkw in Berlin als normal, einige Tausend E-Scooter sind dagegen ein Aufreger. Was wir aus meiner Sicht aber brauchen, ist eine gute Evaluation, aus der wir dann gezielt Maßnahmen ableiten können.

Welche Aufgaben sehen Sie in der Bundespolitik über das Verkehrsministerium hinaus?
Wir sehen aktuell beispielsweise die Versorgungsengpässe der Fahrradindus-trie. Hier könnte es eine Aufgabe des Wirtschaftsministeriums sein, dabei zu helfen, Teile der Produktion wieder nach Deutschland oder in die EU zu holen. Auch das betriebliche Mobilitätsmanagement und das Thema Mobilitätsbudget gehören mit auf die bundespolitische Agenda. Umweltfreundliche Mobilität sollte beispielsweise nicht länger steuerlich benachteiligt werden.

Was sagen Sie Kritikern, denen es nicht schnell genug geht?
Wir haben die Wahl nicht mit 51% gewonnen. Deshalb geht es darum, immer wieder Wege und auch zufriedenstellende Kompromisse mit den Ampelpartnern zu finden. Das gehört mit zur Wirklichkeit und es ist klar, dass wir da auch einen seriösen Umgang mit Konflikten finden. Mit zur Wirklichkeit gehört aber genauso: Mobilität ist nicht statisch. Das Thema ist schon aus Klimasicht enorm wichtig. Wir sind in der Pflicht. Paris, die 1,5-Grad-Grenze gelten für diese Ampelkoalition, das müssen wir gestalten – und wir werden den künftigen Verkehrsminister dabei unterstützen, den Pfad zum Klimaschutz seriös und zügig zu beschreiten.


***

Das Interview mit Stefan Gelbhaar hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im November 2021 geführt. Erschienen in Ausgabe 4/21.

Bild: Stefan Kaminski

Deutschland will Fahrradland werden. Im Winter scheint dieser Vorsatz aber vergessen zu werden: Schnee türmt sich auf den Radwegen, der Pendelverkehr mit dem Bike geht um die Hälfte zurück, auch aus Angst vor Stürzen. Roland Huhn, Verkehrsexperte des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC), erklärt, woran das liegt und was sich ändern muss. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


Der Verkehrsexperte und Jurist Roland Huhn ist seit 2004 hauptamtlicher Rechtsreferent des ADFC.

Herr Huhn, laut verschiedenen Erhebungen reduziert sich der Fahrradverkehr hierzulande im Winter um mindestens 50 Prozent. Woran liegt das?
Untersuchungen zeigen, dass in Städten mit gut ausgebauter Radin-frastruktur der Alltagsradverkehr bei schlechtem Wetter nur wenig zurückgeht. In Oldenburg oder Münster sind es zum Beispiel weniger als fünf Prozent. In Städten mit schlechten Radwegen sind es dagegen bis zu 30 Prozent. Auch der Rückgang im Winter ist beim Alltagsverkehr generell gar nicht so hoch, nur kommt in den Sommermonaten der enorme Freizeitverkehr dazu. Das lässt darauf schließen, dass noch viel mehr Menschen das ganze Jahr über mit dem Rad fahren würden, wenn es gute Radwege gibt, die im Winter zuverlässig geräumt werden.

Tatsächlich hat laut Umfragen jeder Zweite, der im Winter fährt, Angst vor Stürzen durch Glätte und Rollsplitt. Wie lassen sich Fahrradwege effektiv und für die Fahrenden sicher winterfest machen?
Am sichersten ist ein schwarz geräumter oder trockener Radweg. Das erreicht man am besten, wenn man frischen Schnee mit der Kehrmaschine beseitigt. Das muss allerdings schnell gehen: Wenn die Schneedecke dicker und festgefahren wird und gefriert, wird es aufwendiger. Das beste Streumittel ist Sole. Im Vergleich zu Streusalz hat sie viel weniger Salzanteil, sie haftet gut, verweht nicht und kann vorbeugend eingesetzt werden. Und man kann nicht ausrutschen wie auf Rollsplit. Der sollte nach frostigen Phasen sofort entfernt werden.

Wäre hier die Stadt zuständig, wie weit geht deren Räumpflicht für Radwege?
Radwege werden hier oft zuletzt geräumt, obwohl Kommunen nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs dazu verpflichtet sind, verkehrswichtige innerörtliche Radwege an gefährlichen Stellen zu räumen und zu streuen. Eis und Schnee sind für Radfahrerinnen und Radfahrer aber gefährliche Rutschfallen. Kommunen sollten daher Radwegen ebenso wie Fußwegen beim Winterdienst Priorität einräumen. Für ungeschützte Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer sind rutschige Wege eine viel größere Gefahr als für Autoinsassen. Wenn Deutschland ein Fahrradland werden will – und das ist politisch gewollt – dann müssen wir den Spieß umdrehen. Die Wege der verletzlicheren Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer müssen als Erstes geräumt werden.

Wie sieht es auf dem Land aus? Sind auch private Anwohner, vor deren Haustür ein Radweg verläuft, dafür verantwortlich, dass dieser geräumt und nutzbar ist?
Für Radwege über Land gibt es keine Streupflicht, allenfalls am Stadtrand. Auf Gehwegen vor Häusern müssen die Anwohnerinnen und Anwohner auch auf dem Dorf für den Winterdienst sorgen. Das gilt aber nicht für Radwege. Bei gemeinsamen Geh- und Radwegen muss nur ein Streifen für den Fußverkehr geräumt werden.

Oft sieht man, dass das so gehandhabt wird – und der Schnee von Gehweg oder Straße auf den Radweg geschoben wird. Woran liegt es, dass anscheinend nicht einmal der offizielle Winterdienst Radwege als Verkehrswege auf dem Schirm hat?
Die oft angewandte Praxis, Schnee von den Autospuren auf Rad- und Fußwege zu räumen, ist absolut inakzeptabel. Es liegt oft an mangelnder Koordinierung durch die Kommune, wenn nach dem kleinen Räumfahrzeug für Radwege der Schneepflug für die Autospuren kommt. Das muss dringend besser werden.

Warum ist das so? Hat das Fahrrad zu wenig Relevanz?
Bei manchen hält sich das Vorurteil, Radverkehr sei verzichtbarer Freizeitverkehr. Es ist aber andersherum: Wenn die Radwege bequem und auch im Winter sicher zu befahren sind, entscheiden sich mehr Menschen fürs Rad, zum Beispiel zum Pendeln zur Arbeit, Schule oder Ausbildung.

Können Radfahrer, die auf einen dieser Art blockierten Radweg treffen, dies irgendwo melden?
Melden kann man nicht geräumte Radwege bei den Kommunen, und das sollten Radfahrende auch nutzen, um auf Gefahren aufmerksam zu machen.

Welche Rolle spielt Infrastruktur wie Beleuchtung der Fahrradwege, witterungsgeschützte Unterstellmöglichkeiten an U- und S-Bahnhöfen dabei, dass die Menschen auch bei Kälte, Nässe und Schnee Rad fahren?
Überdachte und gut beleuchtete Abstellanlagen sind für Pendlerinnen und -pendler, die zum Bahnhof fahren, zu allen Jahreszeiten ein Muss. Im Winter fallen die Spitzenzeiten des Schüler- und Berufsverkehrs in dunkle Tagesstunden, daher sollten Radwege angemessen beleuchtet sein. Die Fahrradbeleuchtung hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Sie ist heller geworden und fällt nur noch selten aus.

In anderen Ländern, z. B. Finnland, Holland oder Dänemark, fahren deutlich mehr Menschen im Winter mit dem Fahrrad. Was machen diese Länder bzw. Städte wie Oulu, Amsterdam oder Kopenhagen anders?
Die Niederlande zum Beispiel zeigen, dass man mit einem fantastischen Radwegenetz und einem sehr guten Winterdienst das Fahrrad zu einem Ganzjahresverkehrsmittel für alle machen kann. Da muss Deutschland noch aufholen und von der „Auto-first“-Denke wegkommen.

Was ist der Status quo in Sachen Winterradfahren in Deutschland?
Es gibt schon einige gute Beispiele: In Hannover existiert bereits seit einigen Jahren ein Beschluss, dass 200 Kilometer Radwege in erster Priorität geräumt werden müssen, und dafür wird auch Geld bereitgestellt. Rostock und Karlsruhe haben ebenfalls erkannt, dass das Fahrrad auch im Winter ein großes Potenzial hat, Autoverkehr zu verlagern. Kommunen können hier viel beitragen.
Wichtig ist aber auch die Bundesebene: Das Straßenverkehrsgesetz muss dringend modernisiert werden, damit Städte und Dörfer fahrradfreundlich werden können. Denn eine gute Infrastruktur ist der Schlüssel zu mehr Radverkehr – im Sommer wie im Winter.


Bilder: stock.adobe.com – vbaleha, ADFC – Clemens Bilan

Was tut sich hinter den Kulissen Richtung Mobilitätswende und wie kann man das Tempo in der Verkehrsplanung potenziell beschleunigen? Nils Weiland, der bis Juni dieses Jahres in Bremen das Referat für Strategische Verkehrsplanung leitete und aktuell als Projektingenieur beim Hamburger Planungsbüro „ARGUS Stadt und Verkehr“ tätig ist, sieht große Potenziale. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Herr Weiland, vielfach drängt sich der Eindruck auf, dass eine Mobilitätswende zwar gewollt ist, aber nur sehr langsam vorangeht, Beispiel StVO-Reform. Stimmt der Eindruck?
Zum Teil. Es tut sich einiges – in den Kommunen, aber auch bei Bund und Ländern. Ich kann allerdings auch verstehen, dass es vielen Menschen zu langsam geht. Auf kommunaler Ebene, in den Ländern und auch beim Bund gibt es noch viele Potenziale, um die Verkehrswende anzukurbeln.

Inwieweit können aus Ihrer Sicht Prozesse in der Verwaltung beschleunigt werden?
Die Verwaltungsspitzen können zum Beispiel Prozesse bündeln, eine klare Richtung vorgeben, eindeutige Prioritäten definieren und in der Praxis öfters auf temporäre Lösungen setzen. Bremen hat dabei durch die besondere Situation als kleiner Stadtstaat mit kurzen Wegen natürlich viele Vorteile. In Hamburg und Berlin ist es durch die zusätzliche Verwaltungsebene der Bezirke schon viel komplizierter.
Daneben ist die Organisationsstruktur der kommunalen Verkehrsverwaltung entscheidend. Oft fließen viel Zeit und Energie in die verwaltungsinterne Abstimmung zwischen der Verkehrsplanung und der Straßenverkehrsbehörde. Wenn man hier kurze Wege – im Idealfall in der gleichen Organisationseinheit – schafft und klare politische Vorgaben macht, sodass die Menschen zusammen an einem Strang ziehen, dann lässt sich viel bewegen. Für mich ist das einer der größten Hebel, die Verwaltungen haben, um Prozesse zu beschleunigen. Einige Städte setzen das auch erfolgreich um. Wie die Verwaltung aufgebaut ist, hat einen großen Einfluss darauf, wie schnell, effizient und in welcher Qualität Dinge umgesetzt werden.

„Wir brauchen auch effizientere Strukturen in der Verwaltung.“

Nils Weiland

Wie sehen Sie die Rolle der Kommunen? Brauchen sie mehr Entscheidungsspielräume?
Auf jeden Fall. Die Kommunen wissen ja am besten, wo die kritischen Stellen oder Lücken in ihren Verkehrsnetzen sind. Bei der Umsetzung geeigneter Maßnahmen sind sie aktuell noch viel zu sehr von den Vorgaben des Bundes abhängig. Zudem legen die einzelnen Straßenverkehrsbehörden den heutigen Rechtsrahmen teilweise sehr unterschiedlich aus. Oft werden die bestehenden Möglichkeiten nicht genutzt, weil sie nicht schwarz auf weiß in der Verwaltungsvorschrift stehen. Hier würden andere Formulierungen in der StVO und in den Regelwerken Klarheit schaffen.

Dafür müsste wohl die StVO ein Update bekommen, richtig? Sie haben im Rahmen einer Arbeitsgruppe im Auftrag der Verkehrsministerkonferenz mit Blick auf den Fußverkehr ja einige Vorschläge gemacht.
Auf einen Antrag von Bremen hin wurde bei der Verkehrsministerkonferenz im Oktober 2020 beschlossen, dass eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe eingesetzt wird, die Vorschläge erarbeiten soll, wie das Bundesrecht angepasst werden kann, um den Fußverkehr zu fördern. Anfang Februar 2021 haben wir ein Papier mit 18 Punkten vorgelegt. Im April hat die Verkehrsministerkonferenz das Bundesverkehrsministerium gebeten, die Vorschläge zu prüfen und bei der anstehenden Novellierung des Rechtsrahmens zu berücksichtigen. Vor der Bundestagswahl wird das nicht mehr passieren, aber ich bin guter Hoffnung, dass Mitte 2022 eine entsprechende Novelle der StVO und der dazugehörigen Verwaltungsvorschriften verabschiedet wird. Der Bedarf ist erkannt und das geflügelte Wort „Nach der Novelle ist vor der Novelle“ hört man regelmäßig auch aus dem Bundesverkehrsministerium.

Begegnungszonen und geschützte Radwege lassen sich vergleichsweise schnell einrichten und ausprobieren und dann in einem zweiten Schritt schön gestalten.

Sie haben ja als Vorsitzender der Arbeitsgruppe an den Vorschlägen zur Förderung des Fußverkehrs mitgewirkt. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Punkte?
Unsere Änderungsvorschläge beschäftigen sich zum einen mit dem Verhältnis der Verkehrsteilnehmenden untereinander, zum Beispiel damit, dass Kraftfahrzeuge an Kreuzungen, Einmündungen und Querungshilfen nur noch so geparkt werden dürfen, dass sie kein Sichthindernis beim Queren der Fahrbahn darstellen. Andere Punkte richten sich an die Kommunen mit dem Ziel, deren Entscheidungsbefugnisse entweder zu verdeutlichen oder zu erweitern. Heute ist es zum Beispiel nicht ohne Weiteres möglich, einen Zebrastreifen in einer Tempo-30-Zone anzulegen, selbst wenn Entscheiderinnen und Entscheider das aufgrund der Situation vor Ort für geboten halten.

Müsste die StVO nicht auch grundsätzlich anders ausgerichtet werden?
In der Arbeitsgruppe haben wir uns auf Punkte beschränkt, die aus unserer Sicht zeitnah umgesetzt werden können. Eine grundlegende Neuausrichtung der Straßenverkehrsordnung oder eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h innerorts wären zwar hilfreich, aber mit einem längeren Vorlauf verbunden. Die Arbeitsgruppe hat sich aber dafür ausgesprochen, einen Modellversuch zur Umkehrung der Regelgeschwindigkeit durchzuführen.

Inwieweit berühren die vorgeschlagenen Punkte auch den Radverkehr?
Es gibt viele Vorschläge, die auch dem Radverkehr zugutekommen, wie zum Beispiel die Verbesserung der Sichtbeziehungen. Davon profitieren natürlich auch Radfahrende. Ein weiterer Punkt ist die Reduzierung der Geschwindigkeit. Hier wird vorgeschlagen, die Anordnung von Tempo 30 auf Schulwegen und als Lückenschlüsse zu ermöglichen. Ein weiterer Vorschlag ist die Einführung der Begegnungszone mit Tempo 10 oder Tempo 20. Das würde eine Lücke in der StVO schließen und den Kommunen deutlich mehr Flexibilität in der Straßenraumgestaltung geben.
Damit das auch funktioniert, haben wir wiederkehrende Gestaltungselemente sowie Sicherheitsaudits als Qualitätskontrollen empfohlen. All das fördert sowohl die subjektiv gefühlte wie auch die objektive Sicherheit, zu Fuß und auf dem Fahrrad.

Warum sind gestalterische Änderungen wichtig und welche Möglichkeiten gibt es?
Wir bewegen uns im Verkehr in der Regel intuitiv. Verkehrsschilder werden oft gar nicht bewusst wahrgenommen. Ein ständiger Wechsel der Geschwindigkeitsvorgaben kann die Verkehrsteilnehmenden schnell überfordern. Deshalb müssen wir selbsterklärende Straßenräume schaffen. Eine Straße umzubauen dauert aber gerne mal fünf Jahre oder länger. Für temporäre Maßnahmen sind dagegen nur wenige Monate Vorlauf nötig. Berlin und andere Städte zeigen sehr gut, was mit geschützten Pop-up-Radwegen, Blumenkübeln, transportablen Parklets und ähnlichen Elementen alles erreicht werden kann.

Erfolgreiche temporäre Lösung: Warnbaken, Farbe und mobile Module genügen, um die Friedrichstraße in Berlin testweise umzubauen.

Mehr Qualität und neue Funktionalität: die Favoritenstraße und die Lange Gasse in Wien nach dem Umbau.

Das heißt, Sie plädieren für mehr temporäre und Pop-up-Lösungen in der Verkehrsplanung? Welche Vorteile bieten sie?
Temporäre und provisorische Lösungen sind aus verschiedenen Gründen ganz hervorragende Werkzeuge in der Verkehrsplanung. Das sicher wichtigste Argument: Man vermeidet unendlich lange Diskussionen, weil allen klar ist, dass es erst mal nur ein Projekt auf Zeit ist. Viele Menschen tun sich mit Veränderungen schwer, deshalb sind sie erst mal dagegen. Bei temporären Projekten ist der Widerstand aber viel geringer. Mit der Zeit entsteht so zudem eine neue Realität. Wir sehen immer wieder, dass die Menschen dann den neuen Zustand mit großer Mehrheit befürworten und nicht mehr zum früheren Zustand zurückwollen.
Ein wichtiges Argument für uns als Planende ist zudem, dass wir nicht nur kurzfristig auf Erfordernisse reagieren können, sondern auch in die Lage versetzt werden, Dinge auszuprobieren und bei Bedarf mit wenig Aufwand zu verändern oder zurückzubauen. Das schafft ganz neue Möglichkeiten. Für den eigentlichen Umbau kann sich die Planung an den gewonnenen Erkenntnissen orientieren und das Ganze quasi in Schön gestalten.

Was erwarten Sie konkret von der kommunalen Politik und wie kann sie Prozesse beschleunigen?
Da es um langfristige Prozesse geht, sind eindeutige Ziele notwendig. Zudem muss klar sein, dass wir nicht alle Probleme auf einmal angehen können. Deshalb ist es wichtig, Prioritäten zu setzen, und diese dann auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern zu kommunizieren, also auch zu sagen, dass bestimmte Maßnahmen nicht die höchste Priorität haben. Das stärkt den Planerinnen und Planern den Rücken, um die beschlossenen Projekte voranzutreiben. Letztlich brauchen Projekte häufig auch so lange, weil die Zielsetzung variabel ist, die Beteiligten zu viele Themen parallel bearbeiten müssen oder ständig neue Projekte zwischendurch reingeschoben werden.

Vielfach ist von einem deutschlandweiten Mangel an Verkehrsplaner*innen die Rede. Welche Möglichkeiten gibt es, die Prozesse trotzdem vor Ort zu beschleunigen?
Verkehrsplanerinnen und -planer sind im Arbeitsalltag mit einer Vielzahl von Tätigkeiten befasst, für die sie nicht ausgebildet sind und für die andere sicher kompetenter wären. Verkehrswende ist aus meiner Sicht zu 80 Prozent Kommunikation. Bürgerbeteiligung ist aber wahnsinnig aufwendig und nicht nebenbei zu leisten. Ebenso, die Planungen und Arbeitsergebnisse gut zu verkaufen. Aber wir haben bis auf wenige Stabsstellen in der Verwaltung keine Kommunikationsexpertinnen und -experten. Wichtig können auch andere Disziplinen wie Datenanalyse und User Experience Design sein. Für all das wären mehr fachlich interdisziplinäre und arbeitsteilige Teams in meinen Augen genauso wichtig wie mehr reine Verkehrsplanerinnen und -planer. Vorteil ist auch, dass durch den Austausch einer gewissen Betriebsblindheit vorgebeugt und neue Ideen entwickelt werden können.

„Die Frage ist immer, was vor Ort die wichtigsten Maßnahmen sind.“

Nils Weiland

Wo gibt es bislang zu wenig beachtete Themen?
Wenn wir Routinen verändern wollen, dann brauchen wir Push-Maßnahmen. Die erfordern aber ein sehr breites politisches Rückgrat. Bei den Pull-Maßnahmen können neben der gebauten Infrastruktur auch neue, niedrigschwellige Angebote helfen. Die Frage ist immer, was vor Ort die wichtigsten Maßnahmen sind. In Paris hat beispielsweise das breit angelegte Fahrradverleihsystem einen entscheidenden Anteil daran gehabt, dass das Fahrrad überhaupt als Verkehrsmittel wahrgenommen worden ist. Weiterhin können zum Beispiel attraktive kostenlose und einfach zugängliche Bike&Ride-Systeme, wie in den Niederlanden, eine wichtige Maßnahme sein. Gerade in Regionen mit bewegter Topografie ist es sicher auch sinnvoll, einen E-Bike- oder E-Cargobike-Verleih aufzubauen oder den Menschen die Chance zu geben, die Möglichkeiten für ein bis zwei Monate kostengünstig auszuprobieren. Mit solchen Angeboten gibt es sehr gute Erfahrungen.

Wie können die Kommunen den Aufbau von Bike&Ride-, Leih- und Sharing-Angeboten finanzieren?
Die Frage ist, wie eine tatsächliche Verkehrswende gezielt gefördert werden kann. Vom Bund werden bis zu 6.000 Euro an Subventionen für die Anschaffung eines Elektroautos gezahlt. Es wäre sicher wünschenswert, wenn parallel dazu Angebote, die Menschen zum Umstieg vom privaten Pkw motivieren, deutlich stärker finanziell auf Bundesebene gefördert würden. Mit der Fördersumme eines einzigen Elektroautos könnten wir so viel mehr erreichen.

Was kann der Bund noch beitragen für eine schnellere Mobilitätswende?
Mit der Anhebung der Bußgelder ist ein wichtiger Punkt inzwischen abgehakt, der die Kommunen in die Lage versetzt, hier zumindest kostendeckend zu kontrollieren – dank der Vermittlung der Bremer Mobilitätssenatorin Maike Schäfer, die zurzeit Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz ist. Was ich auf Bundesebene vermisse, ist ein übergreifender Ansatz für eine Verkehrswende, möglichst differenziert nach Stadt, Umland und ländlichem Raum. Zudem ist es wichtig, die Kommunen zu unterstützen und ihnen mehr Freiheiten einzuräumen. Zum Beispiel bei der Möglichkeit, die Parkraumbewirtschaftung als Steuerungsinstrument einzusetzen und vielen anderen Dingen.
Und ganz wichtig: Wir brauchen nicht nur eine Novelle der StVO und der dazugehörigen Verwaltungsvorschriften, sondern auch effizientere Strukturen in der Verwaltung. Die Straßenverkehrsbehörde in die Verkehrsplanung zu integrieren, ist dabei entscheidend. Das klingt erst mal unspektakulär, aber so bekommen wir einen großen Hebel für gute und schnelle Veränderungen an die Hand. Es gibt also noch viele Potenziale, beim Bund, den Ländern und natürlich auch in den Kommunen selbst.


Nils Weiland

… ist studierter Bauingenieur und Umwelttechniker mit Schwerpunkt Verkehrsplanung und hat bis Juni 2021 das Referat Strategische Verkehrsplanung inBremen geleitet. Dabei war er unter anderem mit den Themen autofreie Innenstadt, Parken in Quartieren, der ÖPNV-Strategie und dem Stadt-Regionalen Verkehrskonzept befasst. Als Vorsitzender einer von der Verkehrsministerkonferenz eingesetzten Ad-hoc-Arbeitsgruppe mit dem Ziel, den Fußverkehr zu fördern, hat er 2020 und 2021 an Vorschlägen zur Änderung des Bundesrechts mitgearbeitet. Seit Juli 2021 ist er als Projektingenieur beim Hamburger Planungsbüro „ARGUS Stadt und Verkehr“ tätig.


Bilder: Nils Weiland, Qimby.net – Philipp Böhme, Dirk Schmidt, Qimby.net – Benedikt Glitz

Nordrhein-Westfalen setzt Signale für den Mobilitätswandel. Im November 2019 stimmte der Verkehrsausschuss im Landtag einstimmig einem Antrag der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ für das erste Fahrradgesetz in einem Flächenland zu. Die Zeit für einen Umbruch scheint reif und die breite Zustimmung in der Bevölkerung mit über 200.000 gesammelten Unterschriften hatte Eindruck hinterlassen. Im Interview erläutert Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU) Hintergründe und Ziele im Hinblick auf die Förderung des Radverkehrs und der Nahmobilität in NRW.


Herr Minister Wüst, Umfragen im Rahmen der NRW-Kommunalwahlen haben gezeigt, dass den Bürgerinnen und Bürgern die Themen Umwelt und Klima und in den Städten vor allem der Verkehr bzw. eine Verkehrswende sehr wichtig sind. Sehen Sie hier eine Zäsur?
Mobilität ist Lebensqualität und Standortfaktor. Mobilität muss besser, sicherer und sauberer werden. Wir erreichen die Klimaziele nur, wenn wir die Mobilität vielfach neu denken. Dazu müssen wir die Chancen der Digitalisierung für die Mobilität konsequent nutzen, den ÖPNV zum Rückgrat vernetzter Wegeketten machen, die Chancen der Elektrifizierung des Fahrrades nutzen und das Fahrrad überall im Land für die Pendler nutzbar machen. Und Deutschland muss wieder Bahnland werden. Die Zäsur besteht darin, dass das alles nicht nur von breiten Schichten der Bevölkerung mitgetragen wird, sondern dass jetzt auch sehr viel Geld dafür da ist und wir umsetzen.

Ihre Heimat und ihr Wahlkreis liegen in Rhede, direkt an der niederländischen Grenze. Was machen die Niederländer aus Ihrer Sicht besser und was würden Sie gerne übernehmen?
Unsere Nachbarn in den Niederlanden machen seit Jahren eine sehr pragmatische Verkehrspolitik. Davon haben wir uns viel abgeguckt, denn lange Zeit war das in Nordrhein-Westfalen politisch nicht gewollt. In den Niederlanden ist es zum Beispiel selbstverständlich, dass in Infrastruktur für jeden Verkehrsträger investiert wird. In Nordrhein-Westfalen wurde viel zu lange Parteipolitik zulasten der Infrastruktur gemacht. Jetzt müssen wir große Rückstände bei der Sanierung und Modernisierung aufholen. Auf der Schiene. Auf der Straße. Und bei Wasser- und Radwegen.

Angesichts von Kämpfen um Platz für Fahrrad und Auto verweisen Sie in Interviews gerne auf intelligente Verkehrskonzepte aus den Niederlanden. Was kann man sich aus Ihrer Sicht hier konkret abschauen?
In den Niederlanden wird pragmatisch nach Lösungen gesucht, nicht um jeden Preis nach Konflikten. Bei unseren Nachbarn wird jedem Verkehrsträger nach seinen Stärken Raum gegeben. Es wird in langen Linien gedacht und dann Schritt für Schritt konsequent umgesetzt.

Aus dem Umfeld des Landesministeriums ist zu hören, dass das Fahrradgesetz mit hoher Priorität vorangetrieben wird, warum ist Ihnen das Thema wichtig?
Ich komme aus dem Münsterland. Da ist das Fahrrad schon immer Teil der Alltagsmobilität. Mit digital vernetzten Wegeketten wird das Fahrrad – ganz besonders mit E-Bikes und Pedelecs – zu einem vollwertigen alltagstauglichen Allround-Verkehrsmittel, das das Klima schont und auch noch gesund ist. Wir wollen in Nordrhein-Westfalen Fahrradland Nummer 1 bleiben. Deswegen investieren wir Hirn und Herz in das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz. Radverkehr ist ein elementarer Bestandteil moderner Mobilitätskonzepte.

Mitte Juni dieses Jahres haben Sie bereits Eckpunkte für ein Gesetz zur Förderung des Radverkehrs und der Nahmobilität (FaNaG) vorgestellt. Wie geht es jetzt weiter?
Zurzeit wird der Referentenentwurf erstellt, dann geht’s in die Ressortabstimmung und ins Kabinett. Danach wird es die Verbändebeteiligung geben. Anschließend soll der Gesetzentwurf in den Landtag eingebracht werden, damit er dieses Jahr verabschiedet werden kann und das Gesetz Anfang 2022 in Kraft tritt.

Radverkehr ist ein elementarer Bestandteil moderner Mobilitätskonzepte.

NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst

Sie haben die Forderung der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“, dass künftig 25 Prozent des Verkehrsaufkommens in NRW auf das Rad entfallen sollen, als Ziel übernommen. Ist das realistisch?
Ja. Wir sind überzeugt, dass sich mit den angestrebten Verbesserungen für den Radverkehr so viele Menschen fürs Radfahren entscheiden, dass ein Radverkehrsanteil von 25 Prozent im Modalsplit erreicht wird. Der Modalsplit liegt im Münsterland im Durchschnitt schon jetzt deutlich über 25 Prozent. In Bocholt bei 38 Prozent, in Borken bei 30, in Coesfeld bei 32 Prozent. Mit E-Bikes und Pedelecs und besserer Infrastruktur geht das überall.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass es bei neuer Radinfrastruktur, wie Radschnellwegen, nicht richtig vorwärtsgeht. Woran liegt das?
In Nordrhein-Westfalen wurden seit dem Regierungswechsel 2017 485 Kilometer neue Radwege gebaut. Der Bau eines Radschnellweges ist nicht weniger aufwendig als der Bau einer Straße. Bis auf Lärmschutzgutachten gelten dort dieselben Regeln. Aber klar ist: Ich will mehr! Und es muss schnell vorangehen. Deshalb erhöhen wir seit Jahren die Haushaltsmittel für den Radverkehr. Standen 2017 noch 29 Millionen Euro zur Verfügung, werden es 2021 54 Millionen Euro sein. Zusätzlich stellt auch der Bund insgesamt 900 Millionen Euro Bundesmittel bis 2023 für den Radverkehr bereit.

Der passionierte Alltagsradler Hendrik Wüst bei der Eröffnung eines Teilstücks des Radschnellwegs RS1 in Mülheim an der Ruhr im Jahr 2019.

Wie wollen Sie die Prozesse künftig verbessern und beschleunigen?
Wir forcieren seit dem Regierungswechsel 2017 einen Planungs-, Genehmigungs- und Bauhochlauf. Und zwar für alle Infrastrukturen: Schiene, Straße, Wasser- und Radwege. Konkret heißt das: Neben unserer eigenen „Stabsstelle Radverkehr und Verkehrssicherheit“ im Verkehrsministerium haben wir zehn Planerstellen beim Landesbetrieb und fünf Stellen bei den Bezirksregierungen für mehr Tempo bei Planung, Genehmigung und Bau der Radinfrastruktur geschaffen.
Bei der Akquise der Fachleute gehen wir neue Wege. In Kooperation mit der AGFS starten wir eine Fachkräfteinitiative, um junge Menschen für das Berufsfeld der Radwegeverkehrsplanung zu begeistern. Flankiert wird das von einer Stiftungsprofessur „Radverkehr“ des Bundes bei uns an der Bergischen Universität Wuppertal.
Wir haben zudem das Landesstraßen- und Wegegesetz geändert, in dem auch die Planung der Radschnellwege geregelt ist, und dort überflüssigen Planungsaufwand herausgenommen.

Welche Änderungen sind mit dem Fahrradgesetz konkret in der Fläche zu erwarten?
Mit dem Gesetz werden wir unter anderem ein Radvorrangnetz in Nordrhein-Westfalen etablieren. Auf Premium-Radschnellverbindungen bieten wir den Menschen Routen für schnellen, sicheren und störungsfreien Radverkehr an. Mit dem Gesetz soll zudem die Möglichkeit geschaffen werden, verstärkt Wirtschaftswege für den Radverkehr zu nutzen. Durch Verbesserung von Wirtschafts- und Betriebswegen kann das Radwegenetz schnell durch zusätzliche Kilometer erweitert werden. Außerdem vernetzen wir das Fahrrad mit anderen Verkehrsträgern und schaffen so die Voraussetzung, dass das Rad mindestens für einen Teil der Wegstrecke zu einer echten Alternative für Pendlerrinnen und Pendler wird.

Die Mitinitiatorin der Volksinitiative Dr. Ute Symanski hofft auf starken Rückenwind durch das Gesetz für die Verantwortlichen in den Kommunen. Was sagen Sie ihr?
Ich mache gerade in einer digitalen Veranstaltungsreihe mit den Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern, Landrätinnen und Landräten, Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern auf die erhöhte Förderung für den Radwegebau, auf unsere Zwei-Milliarden-Euro ÖPNV-Offensive und andere Fördermöglichkeiten aufmerksam. Im Wahlkampf war Mobilität oft Thema, jetzt müssen Taten folgen.

Anfang Februar 2020 stand der Minister auf der „RADKOMM Quarterly“ in Köln Rede und Antwort zu den Zielen und Problemen der aktuellen Mobilitätspolitik.

Weit nach vorne gedacht: Wie sieht die Mobilität am Ende der nächsten Legislaturperiode, also im Jahr 2027 in NRW aus?
Wir nutzen die Chancen der Digitalisierung für eine bessere Vernetzung aller Verkehrsmittel. Mobilität wie wir sie heute kennen, wird sich deutlich verändern. Wir werden vernetzte Verkehre mit digital buchbaren Wegeketten haben.
Die Mobilität der Zukunft ist multimodal, vernetzt und automatisiert – und im Mittelpunkt stehen immer die Mobilitätsbedürfnisse der Nutzer nach flexibler und sauberer Mobilität. Das Fahrrad wird zu einem alltäglichen, alltagstauglichen Verkehrsmittel – überall im Land! Dafür wird Nordrhein-Westfalen ein gut ausgebautes, lückenloses Fahrradnetz aus Radvorrangrouten und weiteren Radverbindungen haben.
Intermodale Wegeketten werden effizienter, umweltfreundlicher und attraktiver für Pendler und Reisende. So schaffen wir in Nordrhein-Westfalen ein Mobilitätsangebot, in dem die unterschiedlichen Verkehrsträger mit ihren jeweiligen Stärken kombiniert werden.
Mobilstationen sind die Schnittstelle der Verkehrsträger. Hier steigen Pendler und Reisende vom (Leih-)Fahrrad, E-Scooter, Car-Sharing-Auto um auf Bus, Bahn und On-Demand-Verkehre. Tarifkenntnisse und aufwendige Planung von Wegeketten sind Geschichte. 2021 werden wir in Nordrhein-Westfalen einen landesweiten eTarif ohne Verbundgrenzen einführen. Einfach mit dem Smartphone einchecken, am Ziel auschecken. Bezahlt wird ein Grundpreis plus die Luftlinien-Kilometer zwischen Start und Ziel. Das geht einfach, ist transparent und bequem. Solche Angebote werden für das Verkehrsverhalten der Menschen entscheidend sein.
Vielleicht werden schon 2027 Hauptbahnhöfe und Flughäfen, Messen und Universitäten, aber auch suburbane Regionen mit bezahlbaren, elektrisch betriebenen Flugtaxis erreichbar sein. In der Logistik werden auf der letzten Meile emissionsfreie und automatisierte Fahrzeuge eingesetzt. In Nordrhein-Westfalen werden viele dieser Innovationen bereits heute erforscht, entwickelt – und sind teilweise auch jetzt schon erlebbar!

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Das Interview mit NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im Februar 2021 geführt. Erschienen in Ausgabe 1/21.

Hendrik Wüst

wurde 1975 in Rhede an der niederländischen Grenze geboren und lebt dort zusammen mit seiner Familie. Der gelernte Jurist und Rechtsanwalt war von 2000 bis 2006 Landesvorsitzender der Jungen Union Nordrhein-Westfalen und ist seit 2005 für die CDU im Landtag vertreten. Seit Juni 2017 ist Hendrik Wüst Minister für Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen. Medienberichten zufolge hat er gute Chancen, Nachfolger von NRW Ministerpräsident Armin Laschet zu werden.


Bilder: NRW-Verkehrsministerium, Anja Tiwisina; RADKOMM, Diane Müller

Was bürgerliches Engagement alles für eine Stadt bewegen kann, das hat Reinhold Goss, frisch gewählter „Bicycle Mayor“ in Köln, bereits als Mitinitiator und Sprecher der Initiative #RingFrei bewiesen, die 2019 mit dem Deutschen Fahrradpreis ausgezeichnet wurde. Aber das soll erst der Anfang sein. Für ihn kann und sollte Köln mithilfe von breitem zivilgesellschaftlichen Engagement bis 2025 Fahrradhauptstadt werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


In seiner Freizeit ist Reinhold Goss gerne auf dem Rad unterwegs – hier auf der Critical Mass mit einem E-Cargobike des Kölner Sharinganbieters Donk-ee.

Wie kommt man zum Ehrenamt als Bicycle Mayor von Köln und was sind Ihre Ziele?
Es gab viele Menschen, die mich dabei unterstützt haben. Ich freue mich sehr, für zwei Jahre diesem global agierenden Netzwerk anzugehören, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Ausbau des Radverkehrs in Städten zu beschleunigen, indem die Rolle der Zivilgesellschaft besonders hervorgehoben wird. Ich bin übrigens zusammen mit Dr. Ute Symanski, die als Mitinitiatorin der Radkomm-Konferenz und der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ bekannt ist, als Doppelspitze für dieses Amt angetreten. Leider war das aber aus formalen Gründen nicht möglich. Zu den Zielen: Das größte ist sicherlich, Köln bis 2025 zur deutschen Fahrradhauptstadt zu machen.

Köln ist nicht nur als Standort für Automobilbauer und Motorenproduzenten, sondern auch sonst als Autostadt bekannt. Ist das Ziel Fahrradhauptstadt nicht sehr ambitioniert?
Köln hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer autogerechten Stadt entwickelt. Damals wurden die engen Straßen radikal verbreitert und der Autoverkehr hatte Vorrang vor allem anderen. Inzwischen sehen das die Menschen in der Innenstadt anders, über 60 Prozent der Haushalte haben kein eigenes Auto mehr. Dazu kommt, wenn wir den Klimaschutz und die vereinbarten Ziele ernst nehmen, dann sind wir praktisch zum Erfolg verdammt. 2019 war das heißeste Jahr in der Geschichte Europas und Köln war, gemessen an der Durchschnittstemperatur, der wärmste Ort in Deutschland. Wir müssen die Stadt also für die Zukunft konsequent umbauen, unter anderem mit mehr als 50 Prozent Radverkehr und doppelt so vielen Bäumen.

Die gleiche Stelle an den Kölner Ringen. Nach der Umgestaltung gibt es einen klar sichtbaren geschützten Raum für Radfahrende.

Wie würden Sie Ihre Ziele als Fahrradbürgermeister am besten beschreiben?
Fortbewegung muss Spaß machen oder zumindest als angenehm empfunden werden, egal ob es um den Weg zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen oder zu Freunden geht. Dafür brauchen wir eine Infrastruktur, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt – eine solche Infrastruktur verzeiht Fehler. Das ist wirklich wichtig! Außerdem kennt jeder das Sprichwort: „Man kann einem alten Hund keine neuen Tricks beibringen“ – es beschreibt ganz gut unsere besondere Verantwortung, sichere Möglichkeiten für Kinder zu schaffen, ihre Stadt zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu entdecken.

Wollen die Menschen in der Stadt überhaupt mehr Radverkehr?
In den letzten Jahren hat sich hier eine Menge für den Radverkehr getan. Die laufende Umgestaltung der Kölner Ringe auf 7,5 Kilometern mit breiten Fahrradwegen und durchgehend Tempo 30 war sicher ein wichtiger Meilenstein. Wen ich heute mit den Menschen spreche, dann ist mein Eindruck, niemand will zurück. Die allermeisten wollen sogar, dass es schneller vorangeht beim Umbau hin zu mehr Radwegen, auf denen sich auch Schüler und Senioren sicher fühlen, und hin zu mehr Lebensqualität.

Vielfach wird darüber geklagt, dass die Stadt unattraktiver würde, wenn man das Autofahren zurückdrängt.
Das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen intelligenter mit dem zur Verfügung stehenden Raum umgehen. Ein Beispiel: Vielfach wird die potenziell mangelnde Erreichbarkeit von Geschäften per Auto als kritisch angesehen. Dabei zeigen die Daten, dass ein bedeutender Teil des Verkehrs in der Innenstadt reiner Durchgangsverkehr ist. Im Klartext: Wenn es auf der Autobahn einen Stau gibt, leitet das Navi die Autofahrer mitten durch die Stadt. Und was die Parkplätze angeht. zeigen Untersuchungen, dass die Parkhäuser nicht ausgelastet sind, während auf der Straße auch Fahrradstreifen und Lieferzonen zugeparkt werden. Hier spielen sicher das oft geringe Entdeckungsrisiko und niedrige Bußgelder eine Rolle.

Manche Geschäfte klagen, ihr Kunden könnten sie nicht mehr erreichen.
Für mich gehört das mit zu den immer wieder gerne wiederholten Mythen. Kurz vor einem Ladengeschäft zu parken, ist auch heute legal praktisch unmöglich und andere Städte wie Maastricht zeigen, dass die Menschen sehr gerne vom Parkhaus zu Fuß zum Geschäft gehen und die Aufenthaltsqualität genießen. Auch hier ändert sich inzwischen einiges, denn die Ladenbesitzer registrieren sehr genau, dass ein besseres Umfeld zu höheren Umsätzen führt. Dazu kommt, dass sie auch selbst gerne mit dem Fahrrad kommen und die Situation damit durch eine neue Brille sehen.

„Wir müssen die Stadt für die Zukunft konsequent umbauen, unter anderem mit mehr als 50 Prozent Radverkehr und doppelt so vielen Bäumen.“

Mehr Platz für Radfahrende durch bis zu 2,50 m statt 0,95 m Breite und mehr für zu Fuß Gehende durch die Führung auf der Straße.

Aktuell hat man den Eindruck, dass Konflikte zwischen Autofahrenden und Radfahrenden, aber auch zwischen Radfahrenden und zu Fuß Gehenden zunehmen. as kann man dagegen tun?
Grundsätzlich geht es meiner Erfahrung nach vor allem darum, mehr gemeinsame Sache zu machen und nicht zu spalten. Konkret verzeichnen wir in der Pandemie einen starken Anstieg im Rad- und Fußverkehr. Das führt natürlich zu Konflikten, wenn es nicht mehr Raum gibt. Das haben wir übrigens auch vorher schon auf den Kölner Ringen so gesehen. Wichtig ist auch, zu realisieren, dass wir alle Fußgänger sind und viele sowohl Auto- und Radfahrer. Lösungen wären relativ schnell möglich. So könnten zum Beispiel schnell Pop-up-Radwege eingerichtet werden, um die Situation auf gemeinsam genutzten Wegen zu entspannen. Für mehr Sicherheit könnte Tempo 30 angeordnet werden und mehr Fahrradstraßen könnten entstehen.

Damit würde dem Autoverkehr allerdings wieder Platz weggenommen. Ist das akzeptabel?
Neben verkehrstechnischen Belangen wird es immer wichtiger auch ökologische, stadtklimatische, ökonomische, gesundheitspolitische und soziale Aspekte zu berücksichtigen. Dazu muss man natürlich zuerst Daten erheben und mit Zielen verknüpfen. Ein Beispiel aus der Praxis: ehrenamtliche Aktivisten erstellen regelmäßig auf Basis öffentlich verfügbarer Daten Analysen. So entstand erstmals eine Karte, auf der die Bildungseinrichtungen im Umfeld der Kölner Ringe erfasst wurden.

„Es gibt eine Menge an fachlichem Know-how und den Willen, sich in die Materie einzuarbeiten. Zudem kennen Bürger die Situation vor Ort oft am besten.“

Wie viele Bildungseinrichtungen gibt es entlang der Kölner Ringe und welche Schlüsse kann man daraus für den Verkehr ziehen?
Bei der Analyse kam man auf über 80 Bildungseinrichtungen, darunter die Technische Hochschule, eine Gesamtschule, Gymnasien, Berufsschulen und verschiedene private Bildungsträger. Viele Schüler, Studenten und Lehrkräfte kommen aus dem Nahbereich mit dem Fahrrad. Trotzdem wurde dem Durchgangsverkehr bislang eine deutlich höhere Priorität eingeräumt. Das müssen wir schnell ändern.

Brauchen Städte mehr Mitarbeit von ehrenamtlichen Aktivisten?
Wenn man schnelle Veränderungen anstrebt, und die brauchen wir, wenn wir auf die Klimaziele schauen, dann auf jeden Fall. Die Kommunen haben einen Schatz an Menschen und Ideen. Es gibt eine Menge an fachlichem Know-how und den Willen, sich in die Materie einzuarbeiten, zum Beispiel beim ADFC, beim VCD oder beim Verein Fuß e. V. Zudem kennen Bürger die Situation vor Ort oft am besten.

Wie kann man das ehrenamtliche Engagement mit einbinden?
Unsere Oberbürgermeisterin Henriette Reker hat eine Verwaltungsreform angeschoben, die vieles verbessert. Darüber hinaus gibt es die berechtigte Forderung nach mehr Offenheit der Verwaltung nach außen, um das enorme Potenzial zu heben und deutlich schneller voranzukommen bei der Planung und Umsetzung. Es lohnt sich, mit möglichst vielen Gruppen, Parteien und Organisationen in den Dialog zu treten und zu bleiben. Man könnte zum Beispiel Aktivisten ein Planungsbüro zur Seite stellen, um zu konkreten und fachlich fundierten Vorschlägen zu kommen.

Weltweites Netzwerk der Fahrradbürgermeister

Das Bicycle Mayor Network ist nach eigener Definition eine globale Initiative, um den Fortschritt des Radverkehrs in Städten zu beschleunigen, indem es die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Durchsetzung dauerhafter, gemeinschaftlich getragener Veränderungen hervorhebt und unterstützt. Bicycle Mayors sollen „Change-Maker“ und das „menschliche Gesicht und die Stimme der Radverkehrsförderung“ in einer Stadt sein. Dabei geht es nicht nur um Mobilität, sondern auch darum, die Umweltverschmutzung zu bekämpfen, die Zahl der Verkehrstoten zu senken, Gemeinschaften zu stärken, soziale Barrieren abzubauen und einen besseren Zugang zu wichtigen Dienstleistungen und wirtschaftlichen Möglichkeiten zu gewährleisten. Das Netzwerk wurde 2016 mit Amsterdams erstem Fahrradbürgermeister ins Leben gerufen und ist seitdem auf über 100 Botschafter aus Städten in mehr als 30 Ländern angewachsen.

Reinhold Goss

ist selbstständiger IT-Consultant und war lange Zeit Vorsitzender der Kölner Stadtschulpflegschaft, also der Vereinigung der Elternvertretungen aller Kölner Schulen. Zum Thema Sicherheit für Radfahrer kam der passionierte Amateur-Rennradfahrer durch mehre schwere und zum Teil tödliche Unfälle in der Kölner Innenstadt, verursacht durch abbiegende Lkws und Imponierfahrten von Autofahrern und illegale Straßenrennen. Zu den prominentesten Raseropfern gehört dabei der Sohn des damaligen Kölner Oberbürgermeisters Fritz Schramma, der 2001 an den „Ringen“, der überregional bekannten Amüsier- und Flaniermeile, als unbeteiligter Fußgänger ums Leben kam.
Er ist Mitinitiator und Sprecher der mit dem Deutschen Fahrradpreis ausgezeichneten Initiative #RingFrei, die sich für Tempo 30 und einen umfassenden fahrrad- und fußgängerfreundlichen Umbau der Ringstraße entlang der ehemaligen Stadtmauer einsetzt und ist bestens auch über die Radverkehrsszene hinaus vernetzt. Als Bicycle Mayor für Köln hat sich der engagierte und ausdauernde Netzwerker unter anderem vorgenommen, den Dialog mit Organisationen zu suchen, die dem Radverkehr eher skeptisch gegenüberstehen, neue Projekte wie die Fahrradrikscha-Initiative „Radeln ohne Alter“ voranzutreiben und die Themen Vision Zero und sichere Schulwege für Kinder und Jugendliche als Ziele zu verankern.


Bilder: Radkomm – verenafotografiert.de, Reinhold Goss – privat, Reinhold Goss – #RingFrei, Qimby – Reinhold Goss – #RingFrei, Screenshot bycs.org, Reinhold Goss – privat