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„Unsere Vision ist die einer gesunden Stadt“

Interview mit Christine Fuchs, Vorstand der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e. V. (AGFS) zu den Aussichten des Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetzes in Nordrhein-Westfalen (FaNaG) und der neuen Rolle der AGFS. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


„Wir vertreten die Auffassung, dass sich die Nahmobilität und die grüne und blaue Infrastruktur hervorragend ergänzen.“

Christine Fuchs, Vorstand der AGFS

Frau Fuchs, das von Nordrhein-Westfalen ausgegebene Ziel von 25 Prozent Radverkehrsanteil am Modal Split klingt sehr anspruchsvoll. Was tut sich im Land, um die Ziele zu erreichen?
Wir haben eine sehr dynamische Situation sowohl beim Land als auch in den Städten und Kommunen. Das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz, das im Januar in Kraft getreten ist, kam ja ursächlich durch eine Volksinitiative, also eine Bewegung von unten. Nicht zuletzt haben auch die Klimadiskussion und die Pandemie das Thema Nahmobilität und Radverkehr sehr befeuert. Das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz ist ein wichtiges Signal. Es hilft, unser Thema voranzutreiben und eine Aufbruchsstimmung zu erzeugen.

Wo gibt es aus Ihrer Sicht Entwicklungen und Probleme?
Viele Menschen wollen Fahrrad fahren und tun das auch gerne. Gleichzeitig haben viele erkannt, dass die Infrastruktur einfach nicht ausreichend ist und man sich unsicher fühlt. In den Kommunen und hier vor allem in den Mittel- und Großstädten hat man zudem inzwischen realisiert, dass es so einfach nicht weitergeht. Man erstickt regelrecht im Kfz-Verkehr. Autoparken dominiert die Straßenzüge. Die Notwendigkeit, eine gesunde Mobilität zu entwickeln, ist inzwischen deutlich in den Vordergrund gerückt. Umsetzungsdefizite in der Infrastruktur sind offensichtlich und die Umsetzung dauert. Lange Planverfahren und auch der Fachkräftemangel sind dabei die größten Hemmnisse.

Wie geht es weiter und was verändert sich für die Kommunen und die AGFS?
Der nächste wichtige Baustein ist der Aktionsplan zum Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz, der schon seit einiger Zeit in Arbeit ist und für den wir als AGFS eine ganze Reihe von Vorschlägen eingebracht haben. Wir erhoffen uns hier eine Reihe von Hilfestellungen und Unterstützungen für Kommunen, aber auch Möglichkeiten, um Hürden abzubauen bzw. Abläufe zu erleichtern. Neu ist, dass die AGFS mit dem Gesetz jetzt institutionell gefördert wird. Somit haben wir mehr Möglichkeiten, die Kommunen besser und vertiefter zu unterstützen. Wir werden Personal aufstocken und uns zukunftsfähig aufstellen.

Die AGFS ist ja schon lange als Ansprechpartner für die Kommunen aktiv. Worum geht es bei der der Neuausrichtung?
Das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz kann aufgrund der kommunalen Planungshoheit nur indirekt auf die Kommunen wirken. Deshalb sieht das Land eine wichtige Rolle für Netzwerke wie die AGFS, die die Kommunen unterstützen. Die AGFS hat seit jeher die Fachkompetenz im Bereich Nahmobilität und ist sehr gut mit den Kommunen vernetzt. Deshalb wird uns hier eine zentrale Funktion zugesprochen, für die wir vorbereitend gerade neue weitere Formate entwickeln.

AGFS-Kongress sonst immer mit vollem Saal; coronabedingt in diesem Jahr wieder online.

Können Sie schon etwas zur Ausrichtung und den Zielen der neuen Formate sagen?
Wir wollen zentral etwas auf zwei Ebenen anbieten: ein breites Angebot für alle Kommunen und ein intensives Vertiefungsangebot für die Mitglieder der AGFS.

Wie kann man sich solche Angebote konkret vorstellen?
Ein breites Angebot wollen wir zum Beispiel mit Blick auf den Fachkräftemangel von Planerinnen und Planern machen. Wir haben bereits eine Kampagne gestartet, die in Schulen aktiv für den Beruf Verkehrsplaner wirbt. Drüber hinaus möchten wir die Zusammenarbeit mit den Hochschulen verstärken und Absolventen mit den Kommunen zusammenbringen. Dafür haben wir bereits eine eigene Webseite gelauncht unter plane-deine-stadt.de.

Wie können vertiefende intensive Angebote für Mitglieder der AGFS aussehen und was bringen sie?
Wir versuchen den Kommunen viele Instrumente anzubieten, die sie bei der schnellen Umsetzung vor allem von Infrastrukturmaßnahmen unterstützen. Was direkt in die Kommunen wirkt, sind z.B. unsere Planungswerkstätten. Zusammen mit externen Experten werden hier sehr konzentriert an zwei Tagen rund acht Planungsfälle aus den Kommunen besprochen. Erste Pilotprojekte waren ein absoluter Erfolg und Arbeitsgemeinschaften aus anderen Bundesländern haben das Konzept inzwischen übernommen. Zwei Tage intensive Arbeit abseits der laufenden Geschäfte; danach hat man in den meisten Fällen echte Lösungsansätze.

Über das Parken in den Städten werden viele Auseinandersetzungen geführt. Wie sehen Sie das Thema?
Natürlich ist es erstrebenswert, dass sich die Anzahl der Autos reduziert. Aber von heute auf morgen wird das nicht möglich sein. Der Ansatz zu sagen, wir bieten keine Parkplätze oder deutlich weniger an, ist einfach nicht realistisch. Das erzeugt sofort Reaktanz. Trotzdem ist es letztlich so, dass wir den Platz für Wichtigeres brauchen. Für die Menschen. Für die aktive Mobilität. Für Grün und Aufenthaltsqualität. Das ist ein strategisches Thema der Kommunen. Es geht darum, das Thema Parken neu zu regeln und dabei trotzdem aufeinander zu- zugehen.

Was tun Sie beim Thema Parken und was kann das Land Nordrhein-Westfalen tun?
Wir haben das Thema bereits in der Vergangenheit intensiv behandelt und sind gerade dabei, ein umfassendes Handbuch zum Thema für die Kommunen zu erstellen, das voraussichtlich im Sommer vorgestellt wird. Auch das Land kann unterstützend tätig werden, zum Beispiel mit der finanziellen Förderung von Quartiersgaragen.

Warum sind Vorrangrouten für den Radverkehr wichtig?
Mit der heutigen Infrastruktur werden wir keine grundlegenden Steigerungen des Radverkehrs mehr erreichen. Ein geschlossenes Vorrangnetz in allen Kommunen und von Zentrum zu Zentrum mit einer hervorragenden Qualität, möglichst bevorrechtigt, mit ausreichenden Breiten und aufgewertet mit Grün hat die erste Priorität. Nur damit können wir das Potenzial des Radverkehrs wirklich ausschöpfen.

Mit was sollten die Städte und Kommunen anfangen und wo setzt die AGFS Prioritäten?
Die konkrete Rolle der AGFS wird sich aus dem Aktionsplan und unseren Gesprächen mit dem Land noch ergeben. Insgesamt sollte man immer fragen: Wo liegen die größten Potenziale, wo sind die größten Hebel und wo sind die wertvollen Kapazitäten am sinnvollsten eingesetzt? Aber auch welche wichtigen Maßnahmen dauern am längsten? Die müssen frühzeitig begonnen werden. Zudem müssen wir breit denken. Allein mit dem Bild einer fahrradfreundlichen Stadt kommen wir nicht weiter. Wir brauchen einen größeren Rahmen und eine echte Vision. In der Umsetzung allerdings müssen wir uns dann wieder fokussieren und gezielt auch Infrastruktur umsetzen.

Wohin sollte es konkret gehen? Welche Vision sollten die Städte über das Thema Fahrradfreundlichkeit hinaus verfolgen?
Unsere Vision ist die einer gesunden Stadt. Die Frage ist, wie vereinbaren wir die Bedürfnisse der Nahmobilität mit einer grünen Infrastruktur, also mehr Grün für ein gutes Klima durch Beschattung und Frischluftzufuhr vorzugsweise über die Achsen für Nahmobilität sowie einer blauen Infrastruktur, mit der wir für eine Bewässerung sorgen und Städte besser vor Hochwasser schützen. Nicht zu vergessen sind neben Umweltgesichtspunkten zudem auch Umfeld-Themen, also Aufenthaltsqualität, Stadt der kurzen Wege, Bewegung, Sicherheit etc. Wir vertreten die Auffassung, dass sich die Nahmobilität und die grüne und blaue Infrastruktur hervorragend ergänzen.

Wie schaut aus Ihrer Sicht die Zukunft auf dem Land aus?
Auf dem Land und in Kleinstädten haben wir eine große Aufgabe. Wir brauchen den öffentlichen Verkehr, wir brauchen Park-and-Ride-Stationen, Mobilitätsstationen und auch hier Vorrangnetze für den Radverkehr. Wichtig ist auch: Wir brauchen eine schnelle Wirksamkeit, zum Beispiel indem Wirtschaftswege so ertüchtigt werden, dass sie von Radfahrenden und Landwirten gemeinsam genutzt werden können. Das kann vergleichsweise schnell umgesetzt und dann weiter ausgebaut werden.

Können die aktuellen Aktivitäten der AGFS in NRW eine Art Blaupause für Deutschland werden?
Von einer Blaupause kann man nicht direkt sprechen. Wir sind aktuell dabei, uns horizontal mit den anderen Arbeitsgemeinschaften der Länder noch weiter zu vernetzen, und richten dazu auch eine Koordinierungsstelle ein. Das schafft zum einen Synergien und zum anderen wollen wir so unsere starke fachliche Expertise beim Bund besser einbringen. Damit bekommen die Arbeitsgemeinschaften insgesamt eine deutlich stärkere Rolle. Wir wachsen mit den Aufgaben und darauf freue ich mich.


Über die AGFS

Der Verein wurde 1993 als Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Städte von 13 Mitgliedern in Nordrhein-Westfalen gegründet. Die AGFS war die erste institutionalisierte Form der Zusammenarbeit von Kommunen in Deutschland für die Förderung des Fahrradverkehrs bzw. der Nahmobilität. Sie hat Vorbildcharakter für ähnliche Zusammenschlüsse, die sich auch in anderen Bundesländern gegründet haben. Seit 2007 vertritt die AGFS das Konzept der Nahmobilität, das die „Stadt als Lebens- und Bewegungsraum“ definiert. 2012 wurde deshalb auch der Fußgängerverkehr gleichrangig im neuen Namen aufgenommen. Die AGFS veranstaltet regelmäßig Fachtagungen und Kongresse, Exkursionen und Planerwerkstätten und hat eine Viel-zahl von Kampagnen für ihre Mitglieds-kommunen vorbereitet, organisiert und durchgeführt. Zudem ist sie Partner des Deutschen Fahrradpreises.

Bilder: AGFS, Peter Obenaus, AGFS – Andreas Endermann