Keine weiteren Lippenbekenntnisse, sondern mehr Raum fürs Rad und zwar sofort fordert Verkehrsforscher Prof. Dr. Andreas Knie. Der Berliner Politologe und Soziologe sieht gute Chancen für eine Rad-Verkehrswende. Die Bevölkerung in den Großstädten sei hier schon viel weiter als die Politik. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Herr Professor Knie, die Länder wollen mehr Radverkehr, die Kommunen wollen es und selbst der Verkehrsminister hat sich kürzlich zum Fahrradminister erklärt. Man fragt sich also, wo gibt es eigentlich ein Problem?
Das Problem ist, dass das alles Lippenbekenntnisse sind. Wenn man mehr Fahrradverkehr haben will, dann muss man dem Rad mehr Raum einräumen. Das heißt schlicht, wenn man den Raum nicht erweitern kann, dann muss man den bestehenden Verkehrsmitteln Raum wegnehmen. Da geht es um das Automobil. Und da traut sich kein Verkehrsminister und kaum ein Bürgermeister in Deutschland ran.

Bevor man nach einer filigranen Lösung sucht, am besten einfach machen.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach grundlegend ändern?
In den letzten Jahrzehnten ist dem Auto immer mehr Platz eingeräumt worden. Und auch der unter anderem durch die StVO gesetzlich definierte Rahmen gibt dem Auto
quasi unbeschränkte Freiheit. Das muss man neu diskutieren, eine klare Position finden und diese auch in den politischen Alltag überführen. Das Fahrrad ist ein ideales Verkehrsmittel. 15 bis 20 Prozent der Wege könnten mit dem Rad oder dem E-Bike zurückgelegt werden.

Die Forderung nach weniger Raum für das Auto hört sich nicht besonders populär an. Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass es hier zu Veränderungen kommt?
Es gibt unseren Erkenntnissen nach die begründete Aussicht, dass der Kampf um mehr Platz fürs Rad aussichtsreich ist und dass er gewonnen werden kann. Wir behaupten, dass zwei Drittel der Menschen in den Großstädten bereit sind, dem Auto Raum zu nehmen und dem Fahrrad mehr Raum zu geben.

Wie kommt es zur wachsenden Bereitschaft für eine Rad-­Verkehrswende?
Es ist eine Entwicklung, die schon sehr lange vor sich hin wuchert. Langsam ist das Bewusstsein immer breiter geworden, dass das Rad gut ist, dass wir mehr Rad brauchen und dass tatsächlich auch immer mehr Menschen Rad fahren. Das Fahrrad ist einfach ein ideales Verkehrsmittel. Seit ein bis zwei Jahren ist den Menschen in der Stadt klar: Die Verkehrswende muss kommen. Das Signal ist so stark, dass das Thema in den letzten Jahren auch politisch diskutiert wird.

Vor welchen Herausforderungen stehen die Verkehrsplaner und die Politik vor Ort konkret?
Zum einen muss man bereit sein, den politischen Kampf zu führen und Menschen zu überzeugen. Denn es müssen Parkplätze weggenommen und Fahrbahnen verengt werden. Im Weiteren geht es darum, Fahrradwege, Fahrradstraßen und Kreuzungen so zu führen und zu gestalten, dass sie sicher sind. Und zum Dritten muss das Problem angegangen werden, dass es auf Planerseite kapazitive Engpässe gibt. Planer und gerade Fahrradplaner sind heute selten.

Man muss bereit sein, den politischen Kampf zu führen und Menschen zu überzeugen.

Prof. Dr. Andreas Knie

Sollten die Verantwortlichen mehr auf Nachbarländer schauen und sich von ausländischen Experten beraten und unterstützen lassen?
Unbedingt! Denn das Gespräch, das wir jetzt führen, haben die Holländer zum Beispiel schon in den 1960er Jahren geführt und seitdem viel Erfahrung darin, wie es geht und was nicht geht. Holland ist das Mutterland des Radverkehrs. Hier kann man sich umschauen und Erfahrung schöpfen.

Wann sind Ihrer Meinung nach Veränderungen nötig?
Sofort! Das Klima duldet keinen Aufschub; die Probleme, die wir in den Städten haben, dulden keinen Aufschub. Es ist dringend nötig, hier sehr schnell zu agieren. Wir müssen jetzt ran an den Speck. Wir haben keine Zeit zu warten, sondern müssen dem Fahrrad jetzt den Raum geben, der diesem Verkehrsmittel auch gebührt.

Das Klima duldet keinen Aufschub; die Probleme, die wir in den Städten haben, dulden keinen Aufschub.

Prof. Dr. Andreas Knie

Verkehrsplanung dauert aber Jahre, oder?
Wir haben keine Zeit zu warten. Wir müssen das Fahrrad deshalb aus dem engen Korsett des Radwegs herausnehmen und auf die Straße stellen. Bevor man nach einer filigranen Lösung sucht, also am besten einfach machen und zum Beispiel eine Fahrspur oder Parkplätze für den Radverkehr umwidmen. Wichtig ist auch Tempo 30 in den Straßen, die keine Ausfallstraßen sind. All das lässt sich sehr schnell umsetzen.

Laut Prof. Knie sollten Kommunen „am besten einfach machen“ und zum Beispiel eine Fahrspur oder Parkplätze für den Radverkehr umwidmen.

Wie sehen Sie das Problem der vielen parkenden Autos in der Stadt?
Es gibt eine klare Flächenkonkurrenz. Dabei muss man sich klarmachen, dass das praktisch kostenlose private Abstellen des Autos im öffentlichen Raum eine politische Entscheidung war, um das Auto zu popularisieren und seine Attraktivität zu fördern. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass man diese Entscheidung jederzeit wieder ändern kann.

Wie sollten Veränderung in den Städten mit Bezug auf das Parken konkret aussehen?
Städte und Kommunen haben die Möglichkeit zu sagen, dass das Abstellen auf öffentlichem Grund nicht mehr erlaubt ist. Parkplätze können so beispielsweise problemlos in Radwege umgewandelt werden. Weitere wichtige Maßnahmen sind auch die flächendeckende Parkraumbewirtschaftung und das deutliche Anheben der Kosten für das Abstellen eines Pkws im öffentlichen Raum.

Im Regelfall ist ein Auto ja nur mit einer Person besetzt, das heißt, es sind noch vier Plätze verfügbar. Jedes private Auto kann so quasi zu einem kollektiven Bus werden.

Prof. Dr. Andreas Knie

Was sagen Sie zu den Menschen, die auf das Auto angewiesen sind? Zum Beispiel auf dem Land?
Viele haben von ihrer Biografie her nur das Auto im Kopf, wenn es um Mobilität geht. Aber auch auf dem Land kann man das Fahrrad oder für längere Strecken das E-Bike als Verkehrsmittel sehr gut nutzen, wenn man die passende Infrastruktur dafür schafft. Auf einer Bundesstraße zu fahren ist natürlich gefährlich, aber ein guter Radweg daneben schafft eine echte Mobilitätsalternative.

Intermodal und in seiner Heimat Berlin viel per „Call a Bike“-Rad unterwegs. Seinen Privat-Pkw hat Prof. Knie längst abgeschafft.

Und wenn man doch ein Auto braucht?
Die digitalen Plattformen bieten heute viele Möglichkeiten, Autos zu kollektivieren. Auch auf dem Land. Im Regelfall ist ein Auto ja nur mit einer Person besetzt, das heißt, es sind noch vier Plätze verfügbar. Jedes private Auto kann so quasi zu einem kollektiven Bus werden. Dazu kommt, dass sich im Zuge von Digitalisierung und Social Media das Verhältnis der Menschen zur Privatsphäre stark verändert hat. Mit Fremden nebeneinander im gleichen Fahrzeug zu sitzen, ist heute kein Problem mehr.

Prof. Dr. phil. Andreas Knie

Der Berliner Politik- und Sozialwissenschaftler zählt hierzulande zu den bekanntesten Verkehrsforschern. Im Jahr 2006 gründete Knie das Innovationszentrums für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) und ist heute unter anderem Leiter der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Professor für Soziologie an der TU Berlin. Bis 2016 verantwortete er als Bereichsleiter Intermodale Angebote und Geschäftsentwicklung der Deutschen Bahn AG zudem die Einführung des DB ­Carsharing und des Radverleihsystems Call a Bike.


Bilder: Reiner Kolberg (Portrait Prof. Andreas Knie) , A. Bueckert/stock.adobe.com

Seit 2019 gibt es beim Sharing-Anbieter Tier, der neben E-Tretrollern auch 45-km/h-Motorroller im Programm hat, das unabhängige Netzwerk „Women of Tier“. Warum gerade bei neuen Mobilitätsformen mehr weibliche Perspektiven wichtig sind, haben wir die Tier-User-Researcherin Nastya Koro gefragt und Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan, die Micromobility-Anbieter und Kommunen zu geschlechterspezifischen Unterschieden in der Mobilität berät. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Mehr Frauen: Wer sich durch die Pressebilder von Tier klickt, stellt fest, dass hier sehr oft junge Frauen zu sehen sind. Dem Selbstbild von Tier folgend fast immer auch mit Helm.

Warum braucht es auch oder mehr weibliche Perspektiven in der Mikromobilität?
Ines Kawgan-Kagan: Weibliche Perspektive fehlt leider immer noch häufig in der Verkehrsplanung und in den Projekten. Der „Standard“ ist eher den männlichen Bedürfnissen und Anforderungen angepasst. Das hat den Effekt, dass die Lebensrealität vieler Frauen nicht ausreichend berücksichtigt wurde und wird.

Warum ist das aus Ihrer Sicht so?
Nastya Koro: Historisch gewachsen sind in Berufen rund um Mobilität und Verkehr erheblich mehr Männer tätig. In der EU zum Beispiel sind gerade einmal ein Fünftel der Arbeitskräfte weiblich. Das führt dazu, dass die Mobilitätsprodukte immer noch sehr männerzentriert sindInes Kawgan-Kagan: Die Themen sind stark von technischen Details und Infrastruktur geprägt. In diesen Bereichen finden wir mehr Männer als Frauen. Dass sich mehr Männer als Frauen für diese Themen interessieren, ist übrigens nichts, was uns „in den Genen liegt“. Bereits Kinder werden so von der Gesellschaft sozialisiert, dass es eher männliche Themenfelder gibt und eher weibliche. Alles rund ums Auto ist sehr männlich konnotiert in unserer Gesellschaft.

Was sind konkrete Unterschiede in der Mobilität?
Ines Kawgan-Kagan: Frauen zeigen typischerweise ein anderes Verkehrsverhalten, haben andere Bedürfnisse, Erfahrungen und andere Erwartungen an ihre Mobilität. Unterschiedliche Aufgaben im Alltag auch aufgrund von der Kinderbetreuung, die immer noch meistens von Frauen übernommen wird, haben da einen sehr großen Einfluss. Aber nicht nur Kinder sind ein Faktor; Sicherheit, Barrierefreiheit und der Einsatz von Technik sind für Unterschiede verantwortlich. Wir sprechen auch immer über statistisch nachweisbare Unterschiede und keine Stereotype oder Klischees.

„Der Standard ist eher den männlichen Bedürfnissen und Anforderungen angepasst.“

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan, AEM Institute

Wie steht es um die weibliche Perspektive im Bereich Mikromobilität?
Nastya Koro: Gerade in den innovativen Bereichen sehen wir sehr viel mehr Männer als Frauen. Der Fokus liegt dabei meist darauf, was mit einer bestimmten neuen, skalierbaren Technik möglich ist, und weniger darauf, die Mobilität strategisch nachhaltig zu gestalten. Dadurch kommt es auch dazu, dass sehr viel mehr Männer an Micromobility interessiert sind und diese dann auch eher nutzen als Frauen.
Ines Kawgan-Kagan: Bei diesen Unterschieden steckt wieder sehr viel unterschiedliche Sozialisation drin, die dazu führt, dass Frauen sich auch tendenziell wenig mit mobilitätsbezogenen Themen beschäftigen. Das in Kombination mit einer Start-up-Kultur führt zu einem geringen Anteil an Frauen.

Sollten es spezielle Angebote für Frauen geben?
Ines Kawgan-Kagan: Jein! Das Angebot selbst sollte nicht speziell Frauen ansprechen, also zum Beispiel ein Roller speziell für Frauen ist nicht zielführend. Es muss für so viele Menschen wie möglich nutzbar sein. Um das aber zu erreichen, sollte es Maßnahmen geben, die Frauen gezielt ansprechen und deren Bedürfnisse decken. Es geht darum, einen inklusiven Ansatz zu verfolgen, der sich mit den Bedürfnissen und Anforderungen verschiedener Personengruppen befasst. Dazu müssen diese bekannt sein, um sie dann zu berücksichtigen.
Nastya Koro: Genau das haben die „Women of Tier“ mit einem Moped-Fahrtraining speziell für Frauen getan. In einem geschützten Raum konnten Frauen unsere Mopeds ausprobieren. Frauen antizipieren viel mehr, wenn es um die Sicherheit neuer Angebote geht. Wir konnten so die Hemmschwelle abbauen, sich zum ersten Mal auf ein Moped zu setzen.

„Gerade in den innovativen Bereichen sehen wir sehr viel mehr Männer als Frauen“

Nastya Koro, Tier

Wie kann die weibliche Perspektive besser integriert werden?
Ines Kawgan-Kagan: Durch die Förderung von Frauen in den Arbeitsbereichen. Diverse Teams bieten genau diese vielen unterschiedlichen Perspektiven, die es braucht, um Angebote inklusiv zu gestalten. Wichtig ist dabei auch, dass Frauen auch in Entscheidungspositionen sein müssen, damit diese Perspektiven dann tatsächlich Einfluss nehmen können. Um das zu erreichen, sollten Frauen in der Branche sichtbar gemacht und typische Arbeitskulturen, die Frauen eher abschrecken, geändert werden.
Nastya Koro: Ein hervorragender Ansatz sind dabei Netzwerke für Frauen in der Branche, damit sie sich austauschen, vernetzen und voneinander lernen können. Mit nur 22 Prozent beschäftigten Frauen in der Mobilitätsbranche werden ihre Stimmen oft nicht gehört. Also dachten wir – Ligia, Galuh, Sadie und ich – wir sollten an unserem Arbeitsplatz etwas dagegen tun, und haben unsere Grassroots-Initiative „Women of Tier“ aus diesem Bedürfnis heraus gegründet. Im Laufe der Zeit war das Management mehr und mehr überzeugt, der Einstellung von Frauen für Führungspositionen Vorrang einzuräumen, was zu einer diverseren Verteilung in der Führung und einem empathischeren Verständnis für die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer führte. Darüber hinaus wurde mit Moped-Trainings, Veranstaltungen und Podcasts mit weiblichen Vorbildern eine Community geschaffen, um Frauen in der Mobilität ins Rampenlicht zu rücken und mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Belegschaft und in der Nutzer*innen-Basis zu thematisieren.

Es geht also nicht nur um mehr Frauen, sondern um ein anderes Verständnis?
Ines Kawgan-Kagan: Am Ende bleibt festzuhalten, dass allein mehr Frauen hier nicht automatisch mehr Kompetenz schaffen. Es geht vielmehr darum, dass alle, die in diesem Bereich arbeiten, die Unterschiede kennen und berücksichtigen. Immerhin handelt es sich um die Hälfte der Bevölkerung.


Nastya Koro

… ist User Researcherin bei Tier. Zu ihren Aufgaben gehört die Nutzerforschung im Hinblick auf urbane Mobilität, Multimodalität, Zukunftstrends und geschlechtsspezifische Unterschiede. Bei der Initiative „Women of Tier“ befasst sie sich unter anderem mit Webinaren, Podcasts und Veranstaltungen zur Stärkung von Frauen in der Mobilität.

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan

… ist Mitgeschäftsführerin AEM Institute. Das Unternehmen unterstützt bei der Umsetzung von gerechter und umweltfreundlicher Mobilität, mit dem Schwerpunkt Gender- und Accessibility-Beratung – unter anderem mit Inhouse-Trainings und interaktiven E-Kursen.


Bilder: AEM Institute, Tier