Während viele Entscheider*innen aus Verwaltung und Politik noch über mehr Radverkehr oder weniger Autos nachdenken, überholen die hochdynamischen Entwicklungen alte Realitäten. Vieles spricht dafür, dass verschiedenste Formen von Mikromobilität und Mobility as a Service (MaaS) dabei sind, unsere Gewohnheiten und Routinen und auch Märkte gründlich zu verschieben.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, Sept. 2021)


Selbst in hochkarätig besetzten Diskussionspanels geht es meist um die gleichen Themen. Verkürzt gesprochen: Wie kann man Verkehr (meist gemeint: Autoverkehr) flüssiger und umweltfreundlicher gestalten, wie lässt sich Radverkehr störungsfrei und einigermaßen sicher in diese Strukturen integrieren und wie kann der ÖPNV dazu beitragen, Straßen vom Autoverkehr zu entlasten?

Mikromobilität bei Entscheidern unterschätzt


Wie wenig bislang neue Mobilitätsformen mitgedacht werden, zeigte exemplarisch kürzlich eine Runde der Bundesregierung zum Thema „Mobilität der Zukunft“ und die Antworten auf die Frage, warum auf der einen Seite private Elektroautos und mutmaßlich eher umweltschädliche Hy-brid-Fahrzeuge gefördert und auf der anderen Seite deutlich umweltschonendere Mikromobilität ausgespart würde. Die Antwort: Erst Ratlosigkeit, ausgerechnet aus dem Bundesumweltministerium, und dann die Ergänzung einer Vorständin von Continental, dass man ja wisse, welche Pro-bleme mit den Tretrollern verbunden wären und dass diese gerne in Gewässer geworfen würden. „Die Unkenntnis und Ignoranz der Politik beim Thema Mikromobilität ist ein absoluter Skandal“, sagt dazu der Experte Dr. Hans-Peter Kleebinder, der mit den Schwerpunkten Mobilität, Smart Cities, strategische Markenführung sowie Innovationsmanagement unter anderem als Lehrbeauftragter der Universität St. Gallen und als freier Berater tätig ist.

Mikromobilität ist viel mehr als nur E-Kick-scooter. Marktreife Pkw-Alternativen stehen bereit zum Kauf, als Miet-Abo oder als Sharing-Fahrzeuge.

Bereits die Reduktion auf das Thema E-Tretroller spricht wohl dafür, dass das Thema entweder nicht verstanden oder bewusst in eine bestimmte Ecke gedrängt wird. Harsche Kritik kommt von ihm auch zur Verteilung der Fördermittel: „Die Förderpraxis ist absurd und die Umweltprämie de facto reine Wirtschaftsförderung. Das meine ich als Bürger und Beirat bei Microlino“ (red. Anm.: neues Microcar, Kategorie Light Electric Vehicle LEV).

E-Kickscooter als „Feindbild“?


Viele neue Technologien und Produkte bleiben nicht ohne Risiken, Nebenwirkungen oder handfeste Pro-bleme. Vor allem in der Anfangsphase. Neben berechtigter Kritik gibt es zudem oftmals aber auch eine Reihe von Vorurteilen, die sich, bewusst oder unbewusst mit verschiedenen Motiven und Ängsten vermischen – in der Steigerung bis hin zu Ächtungs- und Verbots-Szenarien.

Perfekte Basis für multimodale Mobilität. Alternative Angebote werden, wie bei Free Now (ehemals MyTaxi), direkt in die App integriert.

Mit Blick auf die im Grunde ja eher harmlosen E-Kick-scooter stellt man schnell fest, dass es inzwischen fast schon zum guten Ton gehört, sie samt den Nutzerinnen pauschal abzuwerten oder zu verdammen. Zu den Vorwürfen gehören sowohl das Fehlverhalten, sicher auch bedingt durch mangelnde Fahrfertigkeiten und sonstige Kenntnisse der Nutzerinnen, wie auch allgemeine gesellschaftliche Phänomene wie Vandalismus, Formen von unsozialem oder ignoranten Verhalten oder ganz simpel Platzprobleme. Was hilft, ist eine differenzierte Sichtweise und sicher auch ein Blick in die Vergangenheit. Denn Ähnliches hat man schon zu Karl von Drais‘ Erfindung, der Draisine gesagt, zu den folgenden „Hochrädern“ und den deutlich sichereren „Niederrädern“, dem E-Bike oder den „unsportlichen“ E-Mountainbikes. Auch Autos und ihren Fahrer*innen stand man lange skeptisch gegenüber. Teils musste sogar ein Mensch mit roter Flagge als Warnung vorauslaufen. Jede Menge Kritik kennt man auch mit Blick auf Skifahrerinnen, den Snowboard-Trend, Skateboarder etc. Was die Sichtweise mit Blick auf E-Kickscooter betrifft, kann man immer wieder feststellen, dass hier viele Fragen in den Fokus gerückt werden, die man umgekehrt bei Autos oder Motorrädern so nur selten oder gar nicht stellt: Werden sie eher als Freizeitfahrzeuge oder echte Transportmittel genutzt? Wo sollen sie bloß parken? Wie sieht es mit der Umweltfreundlichkeit aus? Wie mit der Sicherheit? Was ist mit der Befolgung der StVO? (…)
Beim Thema Parken kann man sich beispielsweise fragen, warum von offiziellen Stellen in Diskussionen einerseits beklagt wird, dass Städte „mit E-Scootern vollgemüllt“ würden, während andererseits Autos großflächig auf Fußwegen geduldet werden und in der Politik um jeden (Auto-)Parkplatz, der umgewidmet werden soll, gerungen wird.

Die E-Kickscooter machen hier als Vorreiter schlicht ein Problem deutlich, das auch andere Mobilitätsformen, wie 45-km/h-E-Scooter, Lastenräder, Mikromobile für Senioren oder Carsharer teilen: Platz wäre da, aber die Kapazitäten sind durch die schiere Menge an privaten Pkws faktisch längst erschöpft. Wenig hilfreich erscheinen auch Diskussionen darüber, welche Wege im Einzelnen substituiert werden, denn letztlich entscheiden die Menschen aus vielfältigen Motiven, wie, warum und wohin sie sich bewegen.

Herausforderungen für Politik und Verwaltung


Tatsächlich gibt es für die Politik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene viel zu tun, was den Rahmen und die Infrastruktur für die neuen Mobilitätsformen und den Wandel hin zu Mobility as a Service als Türöffner der Mobilitätswende angeht. Die E-Kickscooter-Anbieter setzen sich mit dafür ein und sie entwickeln die Technik in rasantem Tempo weiter. Die Scooter selbst werden immer langlebiger, sicherer und beispielsweise durch Akkuwechselsysteme und den Einsatz von Schwerlastenrädern oder Wechselstationen für den Tausch deutlich umweltfreundlicher. Auch die eingesetzte Software wird immer ausgefeilter. Mit ihr lassen sich in definierten Zonen schon heute automatisiert Park- und Fahrverbote oder Geschwindigkeitsreduzierungen umsetzen. So wird beispielsweise das Parken in der Nähe von Gewässern unmöglich, damit sie nicht von Fremden hineingeworfen werden. Auch Bildaufnahmen des ordentlich geparkten Scooters via App gehören bei vielen Anbietern inzwischen zum Standard. Möglich sind künftig noch viele weitere Anwendungen, beispielsweise, um alkoholisiertes Fahren, Mehrfach-Spaßfahrten, die Nutzung von Fußwegen oder Fahrten mit zwei Personen zu erkennen und möglichst auszuschließen. Neben den Innovationen setzen die Anbieter auch auf eine gute Zusammenarbeit mit den Städten. Einige, wie Voi, Tier oder die Ford-Tochter Spin, setzen sich dabei inzwischen öffentlich für eine stärkere Regulierung und limitierte Ausschreibungsverfahren ein. „Städte sollten sich gezielt auf einen oder einige wenige Partner einlassen und lokalspezifische Maßnahmen entwickeln“, heißt es dazu von Voi. Das sieht auch Tier so: „Ziel sollte es sein, den besten Anbieter auszuwählen, und so die höchste Qualität für Nutzer*innen sowie eine optimale Zusammenarbeit mit der Stadt sicherzustellen.“ In europäischen Metropolen habe man damit gute Erfahrungen gemacht. In Deutschland ist der Markt dagegen bislang weitgehend unreguliert. Hier sieht man Nachholbedarf, ebenso wie bei der Infrastruktur und fehlenden Stellplätzen. In einem offenen Brief fordert das Branchenbündnis „Dialog Mikromobilität“ beispielsweise mehr Stellflächen für Fahrräder und E-Kleinstfahrzeuge, Flächen für Microhubs, breitere und sichere Radwege sowie Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Innenstädten.

Türöffner für Neudefinition von Mobilität


Vor Problemen steht zunehmend auch der öffentliche Verkehr. Wie gehen die Anbieter mit der neuen Konkurrenz um? Bezieht der ÖV sie mit in sein Angebot ein oder lässt er sie links liegen? „Ohne neue Partnerschaften, die eine flexible Nutzung von E-Trotties (Schweizerisch für E-Kickscooter) bis Cargobikes ebenso inkludieren wie Taxis und Mietwagen, wird der ÖV in vielen Zielgruppen nicht erfolgreich sein“, meint der Züricher Mobilitätsexperte Prof. Dr. Thomas Sauter-Servaes mit Blick auf die Zukunft. Vorreiter in der Integration ist aktuell Google Maps.

„Ohne neue Partnerschaften wird der ÖV in vielen Zielgruppen nicht erfolgreich sein.“

Prof. Dr. Thomas Sauter-Servaes

Der Kartenanbieter integriert seit Kurzem nicht nur den öffentlichen Verkehr, sondern auch die Angebote von Mikromobilitäts-Anbietern in seiner App. So können Nutzer*innen zum Beispiel sofort entscheiden, ob sich beispielsweise der Fußweg zur Haltestelle oder das Warten auf die nächste Bahn lohnt, oder ob man lieber einen Scooter in der Nähe mietet. Auch andere Anbieter, wie die aus dem Joint-Venture zwischen BMW und Daimler hervorgegangene Marke Free Now (ehemals MyTaxi) bieten seit Kurzem eine umfassende Mobilitätspalette, vom Taxi über Ride- und Carsharing, bis hin zu E-Kickscootern oder E-Scootern der 45-km/h-Klasse.
Ungeachtet der negativen Berichte spricht aktuell vieles dafür, dass sich E-Kickscooter als tatsächlicher Türöffner oder „Enabler“ einer neuen Mobilität und Mobility as a Service entwickeln. Nach einer Schätzung des Mobility Market Outlook von Statista werden in diesem Jahr in Deutschland rund elf Millionen Menschen E-Scooter-Sharing genutzt haben. Der Umsatz wird im Jahr 2021 demnach etwa 140 Millionen Euro betragen. Damit ist Deutschland der weltweit zweitgrößte Markt für den Verleih von E-Kickscootern – vor Frankreich und nach den USA. Laut Prognose wird im Jahr 2025 in Deutschland ein Marktvolumen von 228 Millionen Euro erreicht; dies entspricht einem erwarteten jährlichen Umsatzwachstum von 13 Prozent.

Innovative Angebote und neue Geschäftsmodelle


Der Erfolg und die Wachstumsprognosen im Mikromobilitätsmarkt, den die Berater von McKinsey bereits 2019 auf 100 bis 150 Milliarden US-Dollar in Europa schätzten, lassen Investorengelder sprudeln. Absehbar werden sie in der Folge neben Wachstum in der Fläche auch eine ganze Reihe neuer Produkte, Services und innovativer Geschäftsmodelle mit sich bringen. Einige Beispiele: Der E-Kickscooter-Sharer Bird hat eigene Modellserien für den Verkauf aufgelegt, integriert inzwischen auch hochmoderne E-Bikes als Sharing-Modell und zum Verkauf in sein Programm und arbeitet aktuell an innovativen Mobilitätshilfen für Gehbehinderte und Senioren. Ein großer Trend sind Akkuwechselstationen für Schwerlasträder, zum Beispiel von Swobbee und für E-Motorroller.

In einem unregulierten Markt platzieren Sharing-Anbieter quasi über Nacht Tausende Fahrzeuge. Führende Anbieter setzen sich inzwischen für mehr Regulation in Deutschland und Ausschreibungen ein.

Bei Zweitem gehören sie, beispielsweise in Taiwan mit Anbietern wie Gogoro und Kymco, inzwischen zum Standard. Auch bei Lastenrädern stellt sich grundsätzlich die Frage, ob diese nicht vielfach besser im Rahmen von Abo- oder Sharing-Modellen genutzt werden. Für diesen Markt hat sich der spezialisierte Sharinganbieter Sigo ein System einfallen lassen und andere rücken schnell nach. Konzerne, wie die französische PSA-Gruppe mit „Free2Move“ (Mobility as a Service/Microcars), Ford mit „Spin“ (E-Kickscooter) oder die niederländische Pon-Gruppe machen sich mit VW daran, den neuen Markt zu gestalten. Die Pon-Gruppe, zu der unter anderem renommierte Fahrradmarken gehören, bietet dabei seit Kurzem unter dem Namen „Dockr“ Abo-Angebote für elektrische Transportfahrzeuge an, von E-Cargobikes über Personenwagen bis hin zu großen Lieferwagen. Was die Anbieter und Geschäftsmodelle besonders macht, ist das Bestreben, Märkte disruptiv zu verändern, sie in kurzer Zeit als Marktführer zu erobern und mit hohem Aufwand gegen Konkurrenten abzusichern und weiterzuentwickeln. Was das konkret bedeutet, ist noch nicht ausgemacht. Einige Parameter des Wandels scheinen allerdings bereits festzustehen: Sowohl die finanziellen Ressourcen, über die die Anbieter verfügen, wie auch der Konkurrenzdruck werden immer größer. Der Wandel lässt sich wohl nicht aufhalten und das Tempo nimmt weiter zu. In Frankreich haben die Verkaufszahlen der E-Kickscooter zum Beispiel bereits die der E-Bikes überholt. Mit den Technologien und Tools verändern sich auch die Nutzungsgewohnheiten. Andere Bereiche, wie die Film- und Musikbranche, haben solche Umbrüche in wenigen Jahren erlebt. Ob man in zwei, drei Jahren auf Konferenzen noch über das Thema „Fahrrad versus Auto“ spricht und ob es in zehn Jahren noch separate Automobil-, Fahrrad- und Motorrad-Industrien und MaaS-Anbieter gibt? Zweifel scheinen angebracht.


Bilder: Microlino, Bird, Dockr; Free Now (Screenshot Werbung); stock.adobe.com – Trygve; Qimby.net; Birdstock.adobe.com – hanohiki

Die Mobilitätsalternativen für den ländlichen Raum sind da. Von Pedelec- und Carsharing-Systemen, neuer Mikromobilität bis hin zu Coworking-Spaces. Kommunen, Unternehmen und Bürgervereine zeigen, wie weniger Auto auf dem Land funktioniert. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Während die Mobilitätswende in der Stadt an Fahrt gewinnt, scheint das Land auf den ersten Blick abgehängt. Bleibt das Auto dort zwingend? Welche rasch umsetzbaren Alternativlösungen leben die Regionen jetzt schon vor?
Der Befund der BMWI-Mobilitätsstudie 2017 mag noch ernüchtern: 70 Prozent der Wege im ländlichen Raum werden mit dem Auto zurückgelegt. Laut IAB-Kurzbericht 10/2018 beträgt die durchschnittliche Pendlerstrecke mit ländlichem Hintergrund 13,2 km (Stadt: 8,8 km). Die muss bewältigt werden, während gleichzeitig das ÖPNV-Angebot mancherorts bis zu 80 Prozent auf Schulverkehre reduziert ist.
Doch Land ist nicht gleich Land. So weist Constantin Pitzen in einer Handreichung der Heinrich-Böll-Stiftung „Umweltfreundlich mobil im ländlichen Raum“ darauf hin, dass die Abhängigkeit vom Auto nach Siedlungstyp variiert. Da ist der Metropolen-Speckgürtel mit Pendlerströmen und lückenhafter Fahrradinfrastruktur. Zerstreute Wohn- und Gewerbegebiete mit Einkaufszentren in Randlagen verhindern dort einen wirtschaftlichen ÖPNV. In Städten ländlich geprägter Regionen über 20.000 Einwohnern werden Wege noch gut zu Fuß, mit dem Fahrrad oder Stadtbus erreicht.
Abseits größerer Verkehrsachsen leidet allerdings die Lebensqualität: Der Besuch von Freund*innen, Weiterbildungs- sowie Freizeiteinrichtungen oder Kulturveranstaltungen ist eingeschränkt. Für die ländliche Verkehrswende setzt Pitzen auf eine „integrierte Nutzung von Bahn, Bus, Fahrrad und Füßen“. Und: „Vielfach wird auch das Auto – sowohl das private als auch das geteilte – in die Wegeketten eingebaut werden müssen.“

70 %

der Wege im ländlichen Raum
werden bislang mit dem Auto zurückgelegt.

Einfache Maßnahmen, Potenziale beim Pedelec

„Die pauschale Lösung gibt es nicht“, erklärte auch ADAC-Umwelt- und Verkehrsreferent Christian Laberer auf einem digitalen Forum des ADAC Mittelrhein e.V. Dort stellte er eine Betroffenen-Befragung aus 2018 vor. Die zeigten sich zwar mehrheitlich zufrieden mit ihrer Mobilität. Aber nur solange sie mit dem eigenen Pkw unterwegs sind. Mit Blick auf Jugendabwanderung, Überalterung oder Abnahme von Versorgungseinrichtungen warnte Laberer: „Es brennt in den ländlichen Räumen. Man muss etwas tun, um sie attraktiv zu halten.“ Und zwar mit einfach umsetzbaren Mobilitätsmaßnahmen: von der Mitfahrbank über Bürgerbus, Rufbus, Anruf-Sammeltaxen bis hin zu Sharing-Modellen. Potenziale sieht er auch im Radverkehr. Besonders im Pedelec: „Damit lassen sich topografische Hürden sehr leicht überwinden. Und es ist eine weitere Mobilitätsalternative, um größere Distanzen zurückzulegen.“ Für all das brauche man einen „Kümmerer“. „Eine zentrale Stelle vor Ort. Mindestens auf Landkreisebene oder ideal auf Gemeindeebene. Der ein finanzielles Budget hat, die Situation vor Ort kennt. Der weiß, wer die Akteure sind, die man mitnehmen muss, um das Ganze den Bürgern schmackhaft zu machen.“

„Vorfahrt für Jes­berg“ – der Mobilitätsverein kümmert sich um Carsharing, Pedelecs, E-Cargobikes und Mitfahrbänke.

Beispiel Bürgerverein in Jesberg

So ein Kümmerer ist Michael Schramek aus der hessischen Gemeinde Jesberg. Vor fünf Jahren gründete er den Mobilitätsverein „Vorfahrt für Jesberg“ (s. Interview im Anschluss). Der Verein stellte Carsharing mit zwei Pkws und Kleintransportern, Pedelecs, E-Lastenräder sowie Mitfahrbänke auf die Beine. Mit dem E-Lastenrad wird ein Lieferservice vom örtlichen Supermarkt geboten oder Abholservices. Für Vereinsmitglieder ist das E-Lastenrad an einem Tag pro Woche kostenfrei. Nicht-Mitglieder zahlen 2,00 Euro je angefangene Stunde. Fürs Carsharing liegt der Tagespreis bei 22 Euro.
Für Michael Schramek ist Carsharing die größte Fahrradförderung, die es neben dem Radwegebau gibt. Menschen, die auf dem Land ein Auto besitzen, scheinen gezwungen, es zu nutzen: „Sie dürfen das Haus nicht verlassen, ohne ins Auto einzusteigen. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz“, sagt Schramek ironisch. Das ändere sich erst dann, wenn sie ein Auto weniger haben. Dafür bräuchten sie aber eine Alternative zum eigenen Auto, wenn eins gebraucht wird. Das Beispiel Jesberg zeigt auch, wie alternative Mobilität und andere Initiativen zu mehr Nachhaltigkeit und sozialer Qualität führen. Schramek: „Wir entwickeln uns gerade wieder viel dynamischer als Dorf.“

Pulsierendes Pedelec-Sharing-System

„Kümmerer“ Schramek ist insofern ein Glücksfall für die Gemeinde, als er mit dem Unternehmen EcoLibro beruflich in Sachen Mobilität berät. So arbeitet er unter anderem an dem Aufbau eines kreisweiten Pedelec-Sharing-Systems. Möglichst viele Kommunen sollen sechs bis zehn Elektrofahrräder sowie ein Lastenrad im Angebot haben. Zielgruppe sind Bewohnerinnen, insbesondere Pendlerinnen, aber auch Tourist*innen. Die E-Bikes werden flexibel für den täglichen Pendelweg genutzt, in der Station am Arbeitsort abgegeben und bis zum Feierabend von anderen Nutzern entliehen. Zur Buchung soll die Sharing-Software von „Regio.Mobil“ genutzt werden, wodurch die Räder über dieselbe Plattform verfügbar sind wie die an einigen Orten bereits eingeführten Car-Sharing-Fahrzeuge. Regio.Mobil soll sich auch um die Organisation kümmern und mithilfe örtlicher Zweiradhändler um die Wartung. Schramek resümiert: „So bekommen wir es hin, dass ich für den Arbeitsweg das Pedelec nutzen kann und es trotzdem den ganzen Tag für andere zur Verfügung steht.“ 18 hessische Kommunen haben bereits ihr Interesse bekundet.

Coworking-Space auf dem Land

Das wohlgepflegte Argument, das Auto sei auf dem Land unumgänglich für den Weg zur Arbeit, bricht dann auf, wenn die Arbeit ins Dorf kommt. Keine 13 Kilometer von Jesberg befindet sich der „Coworking-Space Schwalmstadt“ in Nähe zum Bahnhof Treysa. Seit November 2019 dienen die mietbaren Arbeitsplätze als Angebot für Arbeitnehmende wie Freiberuflerinnen zugleich als Beitrag zur Kommunalentwicklung. Das Projekt wird durch die Stadt Schwalmstadt finanziert und wurde aus dem Kommunalen Ausgleichsstock des Schwalm-Eder-Kreises sowie Mitteln der ländlichen Regionalentwicklung (LEADER) gefördert. Besitzt jede Gemeinde einen Coworking-Space, der zu Fuß oder mit dem Rad erreicht werden kann, reduzieren sich Pendlerfahrten. Und die Anbieter vernetzen sich: Im Februar 2019 ist aus der Heinrich-Böll-Stiftung heraus die „CoWorkLand“-Genossenschaft von Menschen gegründet worden, die einen Coworking-Space im ländlichen Raum gründen wollen. Inzwischen ein Netzwerk von fast 50 Genossinnen. Mitglieder werden bei der Gründung und im Betrieb von Coworking-Spaces unterstützt. Kund*innen sollen an möglichst vielen Orten auf dem Land ortsunabhängig arbeiten.

Sharing-Anbieter Tier expandiert nach dem Start in den Innenstädten in die Vororte und Kleinstädte.

E-Tretroller kein Großstadt-Phänomen mehr

Auch die bisher aus Metropolen bekannten E-Tretroller drängen aufs Land. Beispiel „Tier“: Gestartet ist das junge Unternehmen innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings. Mittlerweile liegt bis zu einem Drittel des Geschäftsgebietes außerhalb. Tier-Sprecher Florian Anders sagt: „Das ist es, wo die Reise zwei Jahre nach unserem Start hingeht: Die Vorstädte und Vororte mit den Pendlern abdecken. Gerade dort ist es wichtig, eine Ergänzung im Mobilitätsmix zu haben. Und wir machen sehr gute Erfahrungen, was die Nutzung angeht.“
Neben zahlreichen mittelgroßen Städten ist Tier in Deutschland mittlerweile auch in kleineren Städten wie Herford und Troisdorf unterwegs. „In Herford sind wir seit dem Mai 2020 aktiv und haben seitdem knapp 120.000 Fahrten mit unseren Tier-Scootern verzeichnet.“ Gemessen an 66.495 Einwohnern ein Erfolg, der zeige, dass das Angebot auch in kleineren Städten funktioniere und kein Großstadt-Phänomen sei. „Gerade dort, wo etwa der Bus seltener fährt, kann man die Leute auch mal überzeugen, auf das Fahrrad, den E-Scooter oder das E-Moped zu steigen. Ein wichtiger Hebel, um die Abhängigkeit vom Auto zu reduzieren.“ Die Wachstumsrichtung aus der Metropole Richtung Land ist klar. Anders glaubt: „Mikromobilität hat ihren Weg gefunden: Von den Großstädten zu den mittelgroßen bis zu den kleinen Städten.“ Einen ähnlichen Weg schlägt hierzulande auch die Tochter „Spin“ des amerikanischen Ford-Konzerns ein. Wachstumschancen sieht man in Deutschland vor allem in den Randgebieten der Großstädte, den kleineren Kommunen und den „Schlafstädten“. Seit Mitte 2020 ist Spin in rund 15 Klein- und Großstädten in Nordrhein-Westfalen, nahe der Heimat der Kölner Ford-Zentrale aktiv und seit Kurzem auch im Umland von Berlin.

Pop-up Sharing-station vor dem Bruchsaler Bahnhof mit Fahrrädern und E-Rollern des Start-ups Share2Move.
Die Ford-Tochter Spin konzentriert sich mit ihren E-Kickscootern auf kleinere Städte in den Einzugsgebieten der Metropolen.

E-Roller im Kleinstadt-Sharing

Um die oftmals weiteren Strecken im ländlichen Raum zu bewältigen, brachte das Start-up-Unternehmen „Share2Move“ Elektroroller-Sharing ins niedersächsische Emsland. Gründer Mirko Lühn verleiht die ab 16 Jahren fahrbaren 45-km/h-E-Roller im Retrodesign hier unter dem Markennamen „Meli“, was für die Kleinstädte Meppen und Lingen steht. Die im Vergleich zum urbanen Raum geringere Nachfrage wird durch Kooperationen mit der regionalen Wirtschaft ausgeglichen. Wie die „Welt“ 2018 berichtete, kaufte die örtliche Kreisspar-kasse Fahrzeit-Kontingente, die von Kundinnen und Mitarbeitenden genutzt werden. Weitere Unternehmen engagieren sich, indem sie Scooter sponsern. Im Gegenzug nimmt das Start-up deren Standort in sein Portfolio auf. Der Hersteller „Emco“ entwickelte extra angepasste Elektroroller, die der fehlenden Netzabdeckung auf dem Land gegensteuern: „Die Cloudbox, die die fortlaufende Kommunikation des Rollers mit dem Internet ermöglicht, musste entsprechend programmiert werden“, sagte Mirko Lühn gegenüber der „Welt“. „Auch die Handy-App, über die ein Kunde einen Roller reservieren und einschalten kann, musste optimiert werden.“ 40 Roller waren es noch 2018, inzwischen sind es nach Unternehmensangaben 98, neben den beiden Städten auch in den Kommunen Norden, Bruchsal und Goch. Rund 2.500 Kundinnen haben inzwischen mehr als 226.000 Kilometer zurückgelegt, so Share2Move.

Planbare Wege mit Mobilitäts-Apps

Dass die Fahrt über Land planbar und umweltfreundlich bleibt, dafür sorgt längst die Integration von Sharing-Angeboten in den Mobilitätssystemen des ÖPNV. Sie ermöglicht die nachhaltige Wegekette, die aus unterschiedlichen Verkehrsmitteln bestehen kann: So kooperiert Tier mit mehr als 30 verschiedenen öffentlichen Verkehrsanbietern. Buchbar über Mobilitäts-Apps wie Moovit, Citymapper, BVG Jelbi, MVG more oder HVV Switch Hamburg. Und es gibt Partnerschaften etwa mit der Ruhrbahn. Mit Ticketing-Optionen sowie Vergünstigungen für Abonnent*innen.
Michael Schramek verweist auf die neue Clever-Route-App: „Das ist ein Widget, das man auf die Anfahrtsbeschreibung einer Stadt im Landkreis auf die Homepage nehmen kann. Da kann man eingeben: Ich bin hier und will dorthin. Mit welchen Kombinationen von Verkehrsmitteln kann ich das wie schnell, wie teuer, mit welchem CO2-Ausstoß und wie gesund zurücklegen?“ Private Mitfahr-Apps wie zum Beispiel „Pendlerportal“, „TwoGo“ oder „garantiert mobil“ im Odenwaldkreis runden das Angebot ab.
Fazit: Die vorangestellten Beispiele zeigen, dass alternative Lösungen für eine nachhaltige Mobilitätswende mit weniger Auto auf dem Land längst da sind. Sie können zügig und passgenau auf die Anforderungen der jeweiligen Gemeinde umgesetzt werden und machen den ländlichen Raum attraktiver.

„Die Arbeitswelt verändert sich“

Interview mit Michael Schramek, Mobilitätsberater,
EcoLibro GmbH und Verein Vorfahrt für Jesberg e.V.

Herr Schramek, was bewegt sich in Sachen Mobilitätswende auf dem Land?
Die Arbeitswelt verändert sich. Viele Menschen fahren nicht mehr jeden Tag mit dem Auto, um zu arbeiten. Sie arbeiten zu Hause im Homeoffice. Damit steht das Auto mehr herum. Während der Pandemie zu 100 Prozent. Jetzt ist es wieder erlaubt, ins Büro zu fahren. Das heißt aber noch lange nicht, dass es alle wieder wollen. Es wird weiter Homeoffice geben. Nicht vollständig, aber vielleicht zwei, drei Tage die Woche. In einem Haushalt mit zwei Erwerbstätigen sind früher beide zur Arbeit gefahren. Jetzt fahren sie nur noch die Hälfte der Woche. Dann stellt sich plötzlich die Frage: Warum haben wir eigentlich zwei Autos?

Welche Rolle spielen hier Coworking-Spaces?
Immer zu Hause alleine zu schmoren, ist auch nichts Tolles. Wir gehen davon aus, dass das Thema Coworking-Space auf dem Land durch den Wandel zum Homeoffice große Bedeutung bekommen wird. Wir haben einen Zuschlag für ein Bundesförderprojekt im Rahmen Mobilwandel 2035 erhalten. Am Ende soll jede Gemeinde Coworking-Spaces haben, die man zu Fuß oder mit dem Rad erreichen kann. Und wir wollen das kombinieren, dass überall dort, wo es solche Coworking-Spaces gibt, auch Sharing-Stationen sind.
Zudem bilden Coworking-Spaces einen Brennpunkt für die Dorfentwicklung. Wenn ich bisher so wie in Jesberg auf dem Land wohne und immer zum Arbeiten rausfahre, was interessiert mich dieser Ort? Wenn ich viel mehr hier bin, gemeinsam mit ortsansässigen Menschen, habe ich auch mehr Zeit, mich mit dem Dorf zu beschäftigen.

So haben Sie in Jesberg selbst einen Bürgerverein initiiert …
Ich habe gesagt, ich berate in ganz Deutschland in Sachen Mobilität, ich kann mal versuchen, hier etwas in die Hand zu nehmen. So haben wir zu dritt einen IKEK-Arbeitskreis, also für ein integriertes kommunales Entwicklungskonzept gegründet. Nach einem halben Jahr haben wir den Mobilitätsverein „Vorfahrt für Jesberg“ mit 13 Leuten gestartet. Jetzt liegt er ungefähr bei 70 Mitgliedern. Damit haben wir Carsharing, Mitfahrbänke und Leih-Lastenräder inklusive Liefer- und Abholdienste auf die Beine gestellt. Der Verein hat sich entwickelt und eine größere Dimension bekommen: Unser Edeka wird zum Vermarkter von Jesberger Produkten. Selbst ich als Selbstversorger-Gärtner kann demnächst meine Überschüsse dort verkaufen. Wir widmen eine Gärtnerei für „Village Gardening“ um. Die wird damit auch ein Zentrum für die Dorfgemeinschaft. Und wir wollen einen Coworking-Space haben. Das heißt, wir beschäftigen uns mit nachhaltiger Entwicklung und entwickeln uns wieder dynamischer als Dorf. Das Thema Mobilität wird zwangsläufig mit drin sein. Bei denen, mit denen wir zusammenarbeiten, merkt man das schon: Plötzlich haben die doch ein E-Bike und fahren im Dorf nicht mehr mit dem Auto.

Wie lässt sich der Radverkehr auf dem Land voranbringen?
Die größte Fahrradförderung, die es neben Radwegebau gibt, ist Car-sharing. Menschen, die auf dem Land ein Auto besitzen, sind gezwungen, es zu nutzen. Sie dürfen das Haus nicht verlassen, ohne ins Auto einzusteigen. Das ist gewissermaßen ein ungeschriebenes Gesetz, an das sich fast jeder hält. Das ändert sich erst dann, wenn die Menschen ein Auto weniger haben. Das machen sie nur, wenn es eine Alternative zum eigenen Auto gibt. Deswegen ist Carsharing die effizienteste Fördermöglichkeit, um das Fahrrad, zu Fuß gehen und die ÖPNV-Nutzung auf dem Land zu fördern.


Bilder: Share2Move, TIER-Ebikes-St-Gallen – Nik-Roth, Qimby.net – Linus Neugebauer, Carsten Arnold, Udo Schumpe

Der neue Pick-Up von Schwalbe bringt Lasten bis 300 Kilogramm mühelos ins Rollen – und ist dabei stabil, wartungsarm und langlebig. Mit seiner besonders robusten Karkassenkonstruktion meistert er die Anforderungen an Performance und Sicherheit bei hohen Traglasten. Weiterer Pluspunkt: Der Pick-Up ist bereits der zweite Reifen im Schwalbe-Programm mit fair gehandeltem Gummi. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Die Lust am Lastenrad steigt – ob als Packesel für Gewerbe, als Familien- und Einkaufskutsche oder um in der Logistik die letzte Meile zum Kunden zurückzulegen. Doch die emissionsfreien Kleintransporter stellen höchste Anforderungen an ihr Material: Wenn Gewicht, Traglast und Seitenkräfte um ein Vielfaches höher sind als bei normalen Fahrrädern, sind neue Reifen-Konstruktionen notwendig. »Die Reifen müssen stabil und führbar bleiben, Bremstraktion und Grip garantieren und dabei hohe Pannensicherheit und Langlebigkeit bieten«, erklärt Stefan Franken, Schwalbe-Produkt-manager für Tour- und E-Bike-Reifen.
Eine doppelte Karkassenkonstruktion mit fünf Lagen an der Seite und sechs Lagen unter der Lauffläche absolviert diese Anforderungen besonders gut, wie Tests der Herstellers mit verschiedenen Konstruktionen ergaben. »Die Karkasse bietet einen herausragenden Schutz der Flanken gegen Schnittverletzungen und eine deutliche Stabilisierung des gesamten Reifens auf einem hohen, sicheren Niveau, ohne dass der Reifen bei Systemgewichten von 200 bis 300 Kilogramm schwammig wird«, erläutert Franken.
Das Profil des Pick-Up ist so vielseitig wie das Cargobike: Die Centerblocks bilden ein leicht abrollendes Mittelsegment, während seine kräftig diamantierten Schulter- und Transition-Blocks für sichere Kurvenfahrten und Bremstraktion auf allen Untergründen sorgen. Auch das Compound ist erste Wahl für alle Lastenräder, ob mit oder ohne Motor: Das spezielle Addix-E-Compound bietet hohen Grip bei großen Traglasten, um auch in Kurven oder bei Nässe sichere Haftung zu ermöglichen und die Bremskräfte direkt auf den Untergrund zu übertragen. Zugleich weist es eine hohe Verschleißfestigkeit auf und rollt dabei leicht ab.
Der Cargo-Spezialist ist bereits Schwalbes zweiter Reifen, dessen Anteil an Naturkautschuk komplett aus fair gehandeltem Gummi besteht. Dafür trat der Reichshofer Reifenhersteller dem Fair Rubber e. V. bei, einer Fair-Trade-Organisation, die die Prämien der Mitglieder direkt und ohne Abzüge an die Kleinbauern-Kooperativen vor Ort auszahlt.


Bilder: Schwalbe

Wie vermittelt man Bilder neuer Straßen und grüner Viertel? Wie stößt man Diskussionen an? Temporäre Lösungen wie „Wanderbäume“, „Sommerstraßen“ und flexible Sitzmöbel sind schnell und kostengünstig umsetzbar. Verschiedene Initiativen, die Stadt München und Schweden testen die (Rück-)Umwandlung von Straßen in Lebensräume bereits im Alltag. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Der Platz wird in vielen Städten knapp. Seit Jahren wächst die Bevölkerung in den Zentren und die Prognosen der Expertinnen und Experten zeigen: Der Trend hält an. Allerdings wächst die Fläche nicht proportional mit ihrer Bevölkerung. Im Gegenteil. Durch Nachverdichtung teilen sich immer mehr Menschen den öffentlichen Raum. Das gilt für Straßen und Parkplätze ebenso wie für Parks und Spielplätze. Spätestens die Pandemie hat den Kommunen gezeigt, dass in vielen Innenstädten Treffpunkte für Kinder, Jugendliche und Erwachsene fehlen, die zu Fuß erreichbar sind. Initiativen wie beispielsweise die „Wanderbaumallee“ setzen sich schon lange für die Umverteilung der Flächen ein. Sie haben leicht umsetzbare Konzepte entwickelt, um auf Parkplätzen in baumlosen Straßen kleine grüne Oasen auf Zeit einzurichten. Solche Veränderungen sind notwendig, um Straßen wieder zu Lebensräumen für alle zu machen. Ergebnisse zeigen, dass es dazu mehr braucht als nur autofreie Straßen.

Die „Südliche Auffahrtsallee“ 2020. Damit der Asphaltstreifen zum Aufenthaltsraum wird, muss er mit Stadtmöbeln oder markierten Spielflächen umgestaltet werden.

„Die Anwohner brauchen ein Bild, wie ihre Straße oder der Platz vor ihrer Haustür aussehen könnte.“

Felix Lüdicke, Landschaftsarchitekt München

Straßenräume neu entdecken

Als München 2020 unter dem Titel „Sommerstraßen” zehn Straßen für Autos teilweise oder ganz sperrte, zeigte sich, dass der frei gewordene Raum gestaltet werden muss, damit die Menschen ihn nutzen. „Straßen sind reglementierte Räume mit einer klaren Zuordnung“, sagt der Münchner Landschaftsarchitekt Felix Lüdicke. Bereits die Kleinsten lernen: Der Platz der Fußgänger ist der Gehweg. Autos, Bussen, Lkw und Straßenbahnen dagegen gehört die Fahrbahn. Selbst wenn eine wenig befahrene Straße wie die „Südliche Auffahrtsallee“ im Münchner Stadtteil Neuhausen-Nymphenburg zwischen einem Park und einem Kanal gesperrt wird, braucht sie ein Angebot, damit die Anwohnerinnen und Anwohner den Asphaltstreifen überhaupt als Raum für sich entdecken. „Eine leere Straße ist nicht attraktiv“, sagt Lüdicke. Damit sie es wird, müsse sie in Zonen aufgeteilt werden. Es könnten Spielfelder angedeutet werden oder Ecken zum Klönen. „Wer sich hinsetzt, sucht einen Ort, der gemütlich ist und sicher“, betont Felix Lüdicke. Fabian Norden, Mitglied des Bezirksausschusses in Neuhausen-Nymphenburg und Beauftragter für den Fuß- und Radverkehr, weiß das. Deshalb ließen er und sein Team mit der Eröffnungsfeier von Lüdicke temporäre Markierungen auf dem Asphalt aufbringen. Es gab unter anderem Start- und Zielflächen für Wettrennen, die die Kinder auch zum Radfahren nutzten. Abends spielten die Menschen dort Federball oder trafen sich zu einer Partie Volley- oder Basketball. Obwohl auf der gesperrten Fahrbahn viel mehr Platz war, stellte Norden fest, dass viele Menschen weiterhin auf dem Fußweg spazierten. „Es ist ein Prozess, die eingetretenen Wege zu verlassen“, sagt Norden. Das Konzept „Sommerstraße“ sei ein erster Anstoß gewesen, diese Straße neu zu denken und Gewohnheiten zu verändern.“
Das hat geklappt. Laut einer nicht repräsentativen Umfrage wünschten sich dreiviertel der Anwohner eine Fortführung der Sommerstraße am Kanal. Dann aber mit erweiterten Angeboten, wie einer Boule-Bahn, Sand für Kinder oder einem Basketballkorb. Das sei aktuell aber aus rechtlichen Gründen nicht möglich, sagt Norden. In diesem Jahr hat das Baureferat jedoch Sitzgelegenheiten und über 100 Pflanzkübel mit Blumen und Palmen zur Verfügung gestellt, um die zehn Sommerstraßen zu möblieren. Für Lüdicke ist das ein Anfang. „Die Anwohner brauchen ein Bild, wie ihre Straße oder der Platz vor ihrer Haustür aussehen könnte“, sagt er. Den breiten Asphaltstreifen in einen attraktiven Ort zu verwandeln, ist gar nicht so einfach. „Selbst ein großer Blumenkübel wirkt auf einer breiten, leeren Fahrbahn schnell verloren“, so der Landschaftsarchitekt. Die Kunst liegt darin, mit wenig Angeboten attraktive Begegnungsstätten zu schaffen. Die Aktivist*innen der „Wanderbaumallee Stuttgart“ haben ein Konzept entwickelt, mit dem das gut funktioniert.

Wanderbäume in Schwäbisch Gmünd

Im Juli hat die 60.000-EinwohnerStadt Schwäbisch Gmünd als erste Kommune ihre eigene Wanderbaumallee aufgestellt. Sie ist ein Baustein des Projekts BIWAQ (Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier), das bis 2022 vom Bundesinnenministerium und dem Europäischen Sozialfonds gefördert wird. Erste Standorte waren der Johannisplatz in der Altstadt vor der romanischen Stadtkirche und kurze Zeit später wenige Hundert Meter entfernt vor dem Heilig-Kreuz Münster. Beide Plätze eignen sich im Prinzip perfekt zum Verweilen. Was bislang allerdings fehlte, waren die Sitzgelegenheiten. Die bekommen die Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner nun mit der Wanderbaumallee gleich mitgeliefert. Jedes der fünf Module wird von einer Sitzbank eingefasst. An dem Gemeinschaftsprojekt sind verschiedene BIWAQ-Partner beteiligt. Mitarbeitende einer Behindertenwerkstatt schnitten die Module zu, andere Projektteilnehmer*innen haben sie zusammengefügt und bepflanzt. Und die Mülltonnen, in die die Bäume eingepflanzt wurden, hat der regionale Abfallentsorger beigesteuert. Auch die Genehmigung der Standorte konnte so einfach und schnell erfolgen.
Nach sechs Tagen Standzeit auf dem Johannisplatz in der Altstadt war die Resonanz in der Bevölkerung groß. „Die Menschen verbringen dort ihre Mittagspause“, sagt Christine Hüttmann, Leiterin des BIWAQ-Projekts und Initiatorin der Wanderbaumallee. Einige Anrufer haben ihr bereits Pflanzen für weitere Module angeboten und die Einzelhändler möchten sie im Winter für Weihnachtsbäume vor ihren Geschäften nutzen. Allerdings gibt es auch Kritik. „Manche sehen in der Wanderbaumallee eine Scheinaktion“, sagt Christine Hüttmann. Statt kleine Bäume für kurze Zeit in die Altstadt zu bringen, fordern sie eine permanente Begrünung. Damit hat in Schwäbisch Gmünd bereits nach wenigen Tagen die öffentliche Diskussion darüber begonnen, wie die Stadt dauerhaft grüner werden soll. „Unsere Wanderbaumallee soll zeigen, dass sich temporäres Grün und Aufenthaltsqualität mit einfachen Mitteln umsetzen lassen. Die Bäume wandern im Herbst in die Stadtteile, werden dort eingepflanzt und leisten so einen Beitrag zur Stadtbegrünung“, ergänzt sie.

Mehr Informationen: biwaq-gmuend.de/wanderbaumallee-schwaebisch-gmuend

„Wanderbäume“ und mobile Parklets

Die Initiative „Wanderbaumallee“ gibt es seit 1992. Damals hat der Umweltschutzverein Green City erstmals sogenannte mobile Wanderbäume für einige Wochen in baumlose Straßen Münchens gebracht. Sie sollten für mehr Grün in der Stadt werben. 2019 haben die rund 15 Mitglieder der „Wanderbaumallee Stuttgart“ das Konzept dann übernommen und verfeinert. Sie wollten die Straßen nicht nur begrünen, sondern zeigen, dass Parkplätze auch Treffpunkte vor der eigenen Haustür werden können. Dafür haben sie verschiedene mobile Module entwickelt, die sich zum Sitzen, Bepflanzen oder beidem eignen. Mit zehn Wanderbäumen und sechs weiteren Elementen aus Grünpflanzen und Sitzgelegenheiten begrünen und verwandeln sie seitdem über die Sommermonate fünf Stuttgarter Straßen. Jeden ersten Samstag im Monat werden die Module wie Schubkarren zu ihrem neuen Standort geschoben.
Außerhalb von Pandemiezeiten verbinden sie den Standortwechsel mit einem Willkommensfest vor Ort. Das muss zurzeit ausfallen. Sämtliche Informationen über die Wanderbaumallee erhalten die Anwohnerinnen aktuell deshalb per Flyer. „Trotzdem fragen mich immer wieder Bewohner, ob sie die Bänke tatsächlich nutzen dürfen“, sagt Annika Wixler, Sprecherin der Initiative. Im Alltag wird die Nutzung dann allerdings schnell selbstverständlich. Beim Gießen der Bäume sieht die Aktivistin dort Kindergruppen, die Paninibilder tauschen, Erwachsene, die lesen, Pause machen oder etwas essen. Am Abend verabreden sich die Leute hier mit Freunden oder spielen zum Beispiel Backgammon. „Nicht jeder hat einen Balkon“, so Annika Wixler. Für manche seien die Sitzgelegenheiten eine sehr willkommene Erweiterung ihres Wohnzimmers. Das funktioniert besser, seit sie ihr Konzept verfeinert haben. „Im ersten Jahr haben wir die Module auf einer Strecke von über 400 Meter verteilt“, sagt Jesús Martínez. Inzwischen stellen sie jeweils drei bis vier Module zusammen, damit Sitzecken entstehen und die Menschen sich besser unterhalten können. In Stuttgart ist die Wanderbaumallee mittlerweile bekannt und beliebt. Rund 15 Interessierte meldeten ihre Straße Anfang 2021 bei der Initiative als potenziellen Standort. Dann ist aber auch die Nachbarschaft gefordert. Neben dem Gießen der Bäume und Pflanzen sind es zunächst einige organisatorische Punkte, die die Initiative mit einigen Anwohnerinnen erledigt. Dazu gehört, mögliche Standorte festzulegen und gemeinsam die Beiratssitzung des Bezirks zu besuchen. Denn deren Vertreter müssen die Wanderbaumallee genehmigen. Dazu brauchen sie genau gezeichnete Skizzen der späteren Standorte. Aber die Genehmigung ist in Stuttgart fast nur noch eine Formalie. Die Bezirksbeiräte unterstützten den Grundgedanken der Initiative seit 2019 und fördern sie auch finanziell.
Die Diskussion über die Verteilung des öffentlichen Raums beschäftigt viele Kommunen und auch die Menschen vor Ort. Mitglieder der Initiative sprechen über eine mögliche Umverteilung beim Willkommensfest oder zum Klön-Schnack-Treff zum Feierabend in entspannter Runde. „Es ist eine Frage der Priorität, ob Privatgegenstände wie Autos im öffentlichen Raum gelagert werden können, oder ob man Bäume und Sitzgelegenheiten für Menschen in der Stadt schaffen will“, sagt Annika Wixler. Die Meinungen dazu sind unterschiedlich. Wichtig ist für die Initiative, ins Gespräch zu kommen. In zwei Nachbarschaften hatte der vierwöchige Besuch der Wanderbaumallee bereits positive Folgen. Es wurde die dauerhafte Begrünung der Straßen beantragt und „sie wurde sogar genehmigt“, betont Annika Wixler. Mehr Tempo wäre hier sicher wünschenswert. Denn das war vor zwei Jahren und seitdem sei nichts passiert.

In verschiedenen Workshops hat man in Schweden unterschiedliche Terrassen entwickelt, die jetzt im Alltag getestet werden.

Schweden-Plan „One-Minute City“

In Deutschland hat die Diskussion über alternative Nutzungen gerade erst begonnen. In Schweden ist man bereits einige Schritte weiter. Dort wurden im vergangenen Jahr in Göteborg, Helsingborg und der Hauptstadt Stockholm Pilotprojekte umgesetzt, um Straßen für ihre Nutzerinnen künftig nachhaltiger, gesünder und lebendiger zu gestalten. Die Projekte laufen unter den Namen „Street Move“, „Framtidsgarto“ und „Smarta gator“ und sind Bausteine eines größeren nationalen Experiments. Dazu wurden verschiedene variable Holzbausätze entwickelt. Mit ihrer Hilfe werden Parkplätze, Straßen und Straßenabschnitte zu multifunktionalen Spielplätzen, Plantagen, Outdoor-Fitnessstudios, Ladestationen oder zu Stellplätzen für E-Bikes oder E-Kick-scooter. Die Idee dahinter ist, dass die Anwohnerinnen in ihrer unmittelbaren Nähe einen sozialen Treffpunkt finden, ein Fitnessstudio im Freien, städtische Gärten oder Spielplätze. Die Idee ist inspiriert von dem Stadtplanungskonzept der 15-Minuten-Stadt, die in großem Maßstab aktuell in Paris umgesetzt wird. In Schweden soll alles, was man braucht, in deutlich kleinerem Maßstab und auch schneller erreichbar sein. Schweden verfolgt die Idee der “One-Minute City“, der Stadt, in der alles in einer Minute erreichbar ist.
Das Projekt wird auch in diesem Jahr fortgeführt. Bemerkenswert ist die Vielzahl und Art der beteiligten Akteurinnen. Die schwedische Innovationsbehörde Vinnova hat die Bürgerinnen und Bürger in die Planung einbezogen, weiterhin beteiligt sind Vertreterinnen der Stadt Stockholm, des schwedischen Verkehrsamts, des Zentrums für Architektur und Design (ArkDes), Mobilitätsdienstleister wie Voi und Volvo Car Mobility, das Architektur- und Ingenieurunternehmen Sweco und weitere Innovationsunternehmen in den Bereichen Stadtplanung, Raumentwicklung, Design und Mobilität. Gemeinsam wurde in mehrstufigen Beteiligungsverfahren entwickelt, was für ein Angebot vor Ort gebraucht und gewünscht wird. Auf diese Weise wurden verschiedene Prototypen für die Stadtmöbel entwickelt. Diese werden jetzt in den Städten getestet und im regen Austausch mit allen Beteiligten weiterentwickelt.

„Heute zählen mehr Qualitäten als nur das Thema Einkaufsmöglichkeiten und Arbeitsplätze.“

Sascha Baron, Architektur- und Ingenieurbüro Sweco

Zeitgeist ermöglicht Veränderungen – auch in Deutschland

„Die Schweden haben mit der Umgestaltung ihres Straßenraums bereits einige Jahrzehnte vor uns begonnen“, sagt Sascha Baron, Ressortleiter Mobilitäts- und Verkehrsplanung bei Sweco in Frankfurt am Main. In Deutschland werde das Thema seit ein paar Jahren aber ebenfalls stärker diskutiert. Das hat verschiedene Gründe. Einer ist die Urbanisierung. Viele Menschen zieht es in die Städte, was eine Nachverdichtung zur Folge hat. Damit steigt der Druck auf den öffentlichen Raum. Öffentliche Flächen seien rar und es werde zunehmend die Frage gestellt, wie diese sinnvoll genutzt werden – zum Parken oder für die Freizeitgestaltung ohne Konsumzwang. Gleichzeitig verlangt der Klimawandel in den Städten nach mehr Grünflächen. „Hinzu kommt, dass wir eine sehr mündige Bevölkerung haben, die einerseits mehr Qualität wie Grünflächen einfordert, andererseits aber auch den Parkplatz vor der Haustür“, sagt Baron. Für ihn spielt aber noch ein weiterer Aspekt eine Rolle. „Wenn Sie sich heute als Stadt hervorheben wollen, zählen mehr Qualitäten als nur das Thema Einkaufsmöglichkeiten und Arbeitsplätze. Die Menschen wollen es schön haben.“ Dazu gehöre auch der Raum vor der Haustür.
Die Aufgabe der Kommunen sei es nun, den öffentlichen Raum neu zu organisieren und Prioritäten neu festzulegen. „In Deutschland hat das Auto zurzeit den höchsten Stellenwert“, so Baron. Aber der Zeitgeist ermögliche Veränderungen. Mit Blick auf die Diskussion um die Neuverteilung der Flächen helfe ein breit aufgestelltes Beteiligungsverfahren. Diese seien bei Planungsprojekten lange nicht mitgedacht worden. „Man weiß mittlerweile, dass man eine bessere Planung bekommt, wenn man die betroffenen Menschen einbezieht“, sagt er. In der Vergangenheit fehlten dafür oft die Mittel und das Personal. Die Politik sei zudem gut beraten, zunächst die Leitziele für die Stadt- und Verkehrsplanung der Zukunft zu entwickeln. Ein leitender Rahmen mit definierten Zielen sei wichtig, damit sich die Bürger und Bürgerinnen mit ihrer Ortskenntnis und ihren Bedürfnissen einbringen können. Anschließend könnten die Planerinnen dann interdisziplinär mit den Bürgerinnen entwickeln, wie die Ziele umgesetzt werden. Der Experte weiß: „Das erfordert anfangs etwas mehr Zeit, geht dann aber schneller, weil die Zustimmung in der gesamten Bevölkerung größer ist.“

NRW: Stadt-Terrassen zum Ausleihen

Das kommunale Unterstützungsnetzwerk „Zukunftsnetz Mobilität NRW“ verleiht seit Mai „Stadt-Terrassen“ an die Städte, Kreise und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen. Mit dem Angebot an vorgefertigten Ausleihmöbeln für den urbanen Raum will Nordrhein-Westfalen den Kommunen helfen, Experimente zur Umgestaltung des Straßenraums anzustoßen. Dazu stehen 15 verschiedene Stadt-Terrassen-Module zur Verfügung, die schlüsselfertig geliefert werden und nur noch montiert werden müssen. Der temporäre Charakter soll dabei signalisieren: Hier ist nichts final beschlossen, wir testen gemeinsam neue Möglichkeiten. Entwickelt wurden sie von den Architekten Wolf Krämer und Robin Lang von CityDecks für unterschiedliche Szenarien. „Die hohen Rückenlehnen schirmen die Nutzer von dem Autoverkehr ab“, sagt Robin Lang. Ein Café-Tisch macht das Arbeiten möglich und ein Stufensystem als Sitzgelegenheit soll Jugendliche ansprechen. Das neueste Element ist eine Pop-up-Radstation – mit Fahrradschlauchspender, zwei Montierstationen und einer Luftpumpe. Theo Jansen, Leiter der Geschäftsstelle des Zukunftsnetzs Mobilität NRW: „Die positiven Auswirkungen der Mobilitätswende müssen für die Menschen in den Städten und Gemeinden erlebbar gemacht werden. Experimente mit den ‚Stadt-Terrassen‘ erlauben einen Ausblick, welche positiven Veränderungen die Mobilitätswende auf das Alltagsleben der Menschen hat.“ Um qualifizierte Schlüsse ziehen zu können, wird die Nutzung der „Stadt-Terrassen“ von der Hochschule Bochum evaluiert.

Mehr Informationen: zukunftsnetz-mobilitaet.nrw.de


Bilder: Stephan Wimmer, raumzeug – Fabian Norden, Fabian Norden, Lundberg Design, Elsa Soläng – citydecks

Corona, Klimakrise, Verkehrschaos: Kommunen spüren immer deutlicher, dass der Ausbau von Radinfrastruktur schneller vorankommen muss. Warum dauert es oft so lange, und was könnte die Umsetzung beschleunigen? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Eine Spiegel-Meldung aus dem Juni karikierte die aktuelle Planungssituation geradezu: „Bahn baut 83 Oberleitungsmasten auf geplante Radschnellweg-Trasse“, hieß es da. Gemeint war der Radschnellweg Ruhr, der quer durch das Ruhrgebiet laufen soll, von Duisburg nach Hamm. In der Broschüre des Verkehrsministeriums von 2016 wird er als „ab 2020 durchgängig befahrbar“ angekündigt. Derzeit gibt es von geplanten gut 110 Kilometern allerdings nur rund 14 Kilometer, einen großen Teil zwischen Mühlheim und Essen. Man scheint so an den Planungs- beziehungsweise Umsetzungsstillstand gewöhnt, dass die schnelle Alternative für Radfahrende praktisch „vergessen“ wurde. Damit wurden Fakten geschaffen und die Radschnellweg-Route muss wieder umgeplant werden.
Vor dem Hintergrund der langwierigen Prozesse hat sich der Fokus der Diskussionen inzwischen verschoben: Den Verkehrs- und Fahrradinitiativen geht es heute kaum mehr um den „richtigen“ Modus, in dem sich die Radinfrastruktur innerstädtisch darstellt. Farblich gekennzeichneter Radweg auf der Fahrbahn, straßenbegleitend oder Protected Bike Lane als Königsweg – diese Fragen sind in den Hintergrund gerutscht. „Es muss jetzt etwas passieren“, hört man von den Sprecher*innen der Verbände.

„Politisch-strategisches Denken kann Vorgänge beschleunigen.“

Ralph Kaulen, Stadt- und Verkehrsplanung Kaulen

Beschleunigung durch strategische Lösungen

Auch der Leiter des Stadt- und Verkehrsplanungsbüros Kaulen in Aachen, Ralf Kaulen, sieht ein drängendes Zeitproblem. „Bei der Analytik, bei den Zielen Verkehrssicherheit und Klimaschonen herrscht Konsens. Zoff gibt’s, sobald die entsprechenden Maßnahmen geplant werden. Konkret ist es immer die Aufteilung des Platzes. Und da sind Rechtsstreite nicht selten. Schnell könnten zehn Jahre vergehen, bevor es weitergeht. In NRW sei zudem das Kommunalabgabengesetz des Landes problematisch, mit dem Anrainer finanziell an baulichen Veränderungen beteiligt werden. „Dieses Gesetz muss weg“, so die klare Stellung Kaulens. Es führe zu Scheindiskussionen und verschleppe Entscheidungen.
Ein weiterer problematischer Punkt ist für ihn die Platzumverteilung – vor allem auch das Abstellen und Parken von Fahrzeugen. „Ich muss den Menschen erklären können, wo sie in Zukunft ihre Autos lassen – und zwar, bevor ich anfange, die Parkplätze abzubauen“, so Kaulen.
Ein Katalysator hierbei: politisch-strategisches Denken. So nennt er als Beispiel den Leiter des Mobilitätsreferats in München, Georg Dunkel, der viel auf Aufklärung setzt, aber auch sehr strategisch vorgeht, um Entscheidungen zu beschleunigen: Er zeigte, dass die unvermeidliche Parkplatzumwidmung für eine neue Radachse, die durch eine Flanier- und Einkaufsmeile führt, wesentlich besser zu argumentieren ist, als eine Alternative durch ein Wohnviertel. Dort wären 2.000 Parkplätze wegfallen, so nur 900. Das Votum für die Route durch die Flaniermeile war entsprechend eindeutig. Und wie sieht Kaulen Pop-up-Radwege als Beschleuniger? „Dieser Pragmatismus ist gut, aber es geht letztendlich immer um die Knotenpunkte“, sagt der Planer. „Sie machen den Stress, hier muss man zuerst ansetzen und sie sicher gestalten.“

Integrativ denken, Tempo verringern

„Umsetzung von Infrastruktur-Plänen geht nicht von heute auf morgen“, warnt Burkhard Horn, manche Prozesse bräuchten einfach ihre Zeit. Der „oberste Verkehrsplaner von Berlin“, so ein Bericht in der Berliner Zeitung aus seiner Zeit in der Hauptstadt, hat 25 Jahre in Verwaltungen gearbeitet und ist heute freiberuflicher Berater an der Schnittstelle von Verkehrspolitik und Verkehrsplanung. „Manchmal tun sich Menschen in der Verwaltung schwer mit neuen Dingen, aber auch der Politik fällt es nicht leicht, Konflikte auszutragen.“ Grundsätzlich warnt er davor, sich auf die alleinige Umsetzung von Infrastrukturplänen zu konzentrieren und dabei das große Ganze aus dem Blick zu verlieren. Denn das könne eine Sackgasse sein. Beispiel: Auch hoch frequentierte innerstädtische Straßen sind oft zu schmal, um dort Radwege unterzubringen. „Hier hilft es beispielsweise, Tempo 30 anzuordnen, soweit das die StVO an der jeweiligen Stelle zulässt“, so Horn. „Integrativ zu denken ist immer gut.“ Und: Was man schnell umsetzen könne, das sollte man auch sofort tun, wie eben Tempo 30. „Damit Veränderung sichtbar wird.“ Der politische Wille werde so von der Öffentlichkeit erkannt und aus dem Erfolg provisorischer Veränderungen könne man lernen. Das Zurücknehmen von einfachen Veränderungen ohne großen baulichen Einsatz, wie etwa einem Pop-up-Radweg, sei ist kein Problem – falls es denn nötig werden sollte.

Bei breiten Straßen unproblematisch für Entscheider wie Planer: Radwege, die einen vollen Fahrstreifen einnehmen, sind sicherer und komfortabler als hinzu gezwängte Radspuren.

Zeichen setzen mit pragmatischen Lösungen

Sind Pop-up-Lösungen und Umweltspuren politisch verträglicher als die Neuplanung von Radwegen? Das sehen heute viele Experten und Verbände wie der ADFC in Düsseldorf so. In der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt wurden beispielsweise im Sommer 2020 auf der den Rhein aus der Innenstadt heraus begleitenden Cecilienallee Pop-up-Radwege angelegt. Eine knappe Fahrspur der vierspurigen Straße wurde mit Warnbaken abgegrenzt und für den Radverkehr in Richtung der stark frequentierten Deich-Radwege umgewidmet. „Vom Grundsatz her fanden wir diesen pragmatischen Ansatz gut“, sagt Lerke Tyra, stellvertretende Vorsitzende des ADFC Düsseldorf, „auch wenn wir gern bei der Ausführung beraten hätten. Und auch die Umweltspuren waren von der Idee her gut.“ Dafür waren 2018 auf mehreren Straßen der Innenstadt die rechte von zwei Fahrspuren vorübergehend auf Bus-, Taxi- und Radverkehr umgewidmet worden – was dem damaligen OB Geisel neben viel Lob auch verärgerte Stimmen einbrachte. „Diese Umwidmungen waren ein pragmatisches, schnell umsetzbares Zeichen, dass der politische Wille da ist. Wir wünschen uns zwar eigene Radspuren für mehr Sicherheit und auch mehr Sicherheitsempfinden bei den Radfahrerinnen“, so Tyra, „aber es war ein echter Anfang.“ Beim Düsseldorfer ADFC findet man, dass sich Deutschland nicht nur bei der Form der Radinfrastruktur, sondern auch in deren Entwicklung und Ausbau viel von den Niederlanden abschauen könnte. Lerke Tyra bekommt in Besprechungen mit Expertinnen aus den Niederlanden immer wieder zu hören: „Ihr plant für die Ewigkeit, macht doch einfach mal.“ Damit es schneller geht, sitzt der ADFC in Düsseldorf zusammen mit einem Vertreter des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) in der sogenannten Kleinen Kommission Radverkehr. Hier wird dem Verkehrsausschuss zugearbeitet und die dortige Entscheidungsfindung vorbereitet. Diese Gremienstruktur bringt bereits Zeitersparnisse bei den Entschlüssen.

„Was man schnell umsetzen kann, sollte man auch sofort tun. Damit Veränderung sichtbar wird.“

Burkhard Horn, Berater und Verkehrsplaner

Schnelle Lösungen ohne große bauliche Veränderungen. Die geschützten Radwege in Berlin haben Vorbildfunktion und Signalwirkung.

Einfach mal etwas weglassen?

Wie wäre es mit Pragmatismus bei der baulichen Ausführung der Strecken? Kann man den Bau nicht beschleunigen, indem man „nicht für die Ewigkeit“ baut? Wäre es zum Beispiel beschleunigend für die Fertigstellung des Radschnellwegs Ruhr, bestimmte Abschnitte nicht zu versiegeln? Praxisgerecht wäre das nicht, so Planer Kaulen: „Die bauliche Ausführung macht zeitlich kaum einen Unterschied mehr. Der Weg muss ohnehin so aufgebaut sein, dass dort auch Wartungs- und Rettungsfahrzeuge fahren können. Ob auf den entsprechenden Unterbau nun eine Asphaltdecke oder eine wassergebundene Decke kommt, ist von der Bauzeit her sekundär.“ Außerdem sei, gerade auf Radschnellwegen, die fehlende Asphaltdecke aus Sicht der Radfahrenden eine starke Qualitätseinbuße.

„Einfach mal anfangen. Die Anfeindungen waren anfangs unglaublich, jetzt sind fast alle zufrieden.“

Reinhold Goss, Bicycle Mayor, zur preisgekrönten Initiative #RingFrei

Besser: Pragmatismus als Mut, schnell zu handeln

Im Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin läuft derzeit in Zusammenarbeit mit drei Kommunen ein Projekt zum Thema „Radverkehrsförderung beschleunigen, Planungsprozesse optimieren.“ „Was hemmt den Ablauf, was können Kommunen tun?“, fragt Projektleiter Thomas Stein. „Den Städten ist bewusst, dass es an vielen Stellen an geeigneter Infrastruktur mangelt. Für uns haben wir schon einen wichtigen Punkt herausgearbeitet: Wir müssen Akteure besser zusammenbringen.“ So soll auf Grundlage der Projektarbeit ein Leitfaden-Baukasten für die Kommunen entstehen. Redundante Diskussionen sind oft auch ein Organisations- und Informationsproblem, stellte man fest. Planende und anordnende Abteilungen sollten deshalb grundsätzlich zusammengeführt werden, auch räumlich. Das breite Interesse dafür ist da: Ein Beirat aus 15 Städten unterstützt das Projekt.
Temporäre Lösungen, wie Pop-up-Radwege sind auch hier ein zentraler Punkt. „Erst mal Dinge auf die Straße bringen, dann sehen, was ich damit erreichen kann. Die sogenannte Erprobungsklausel in der StVZO macht es möglich. Pragmatismus folgt aus dem Mut zu handeln“, betont Difu-Experte Thomas Stein.

Entspannt und sicher unterwegs. Der RS1, Radschnellweg Ruhr, wird sowohl werktags von Pendlern als auch am Wochenende viel frequentiert.

Evaluation fördert die Akzeptanz

„Ein numerischer Nachweis von Erfolg im Nachgang ist für die Überzeugungskraft von mutigen Entscheidungen aber oft wichtig“, ergänzt Thomas Stein. Evaluationen der Ergebnisse einer Umstrukturierung seien meist auch relativ einfach zu erhalten. So hat die Technische Universität Dresden einen Leitfaden zur Evaluierung von Radverkehrsanlagen erarbeitet. Sie verweist auf die klassische Verkehrszählung mit mobilen Radargeräten oder den typischen Fahrradzählsäulen. Oft können Städte auch durch Partnerschaften mit Bike-Pendler-Apps, wie Bike Citizens, bereits ohnehin auf viele Daten zum Radverkehr zurückgreifen. Weitere Partner können digitale Sportler-Tracking-Portale mit Handy-Apps wie Strava sein. Allerdings muss dabei zwischen Routen, die vor allem von Freizeitfahrerinnen und Sportlerinnen genutzt werden, und Alltags- beziehungsweise Pendlerstrecken bei der Auswertung unterschieden werden.

Köln: „Pragmatismus ist
Bürger-Mitverantwortung“

Der Umbau des Kölner Sachsenrings ermöglichte eine sichere und schnelle Route vom Westen in die Südstadt.

Nach einer Reihe schlimmer, zum Teil tödlicher Unfälle zwischen Autofahrenden, Radfahrenden und zu Fuß gehenden am Kölner Innenstadtring gründete Reinhold Goss 2016 zusammen mit Mitstreiter*innen, unter anderem aus dem Einzelhandel, die Initiative #RingFrei. Sie setzte sich das Ziel, den Ring, der lange Zeit gleichzeitig Flanier- und Autoposer-Meile war, für alle sicherer und attraktiver zu machen. „Wir trafen nach den Unfällen den Nerv der Zeit“,
erzählt der heutige ehrenamtliche Fahrradbürgermeister der Stadt Köln. Die Bezirksvertretung stellte sich schnell hinter ein 10-Punkte-Papier der Initiative: Von „Tempo 30“, „Umwidmung einer ganzen Fahrspur“ bis hin zu einer begleitenden Kampagne „Radverkehr ist Verkehr“ waren viele wichtige Forderungen darin. Und man ging schnell praktisch an die Sache. Ein Workshop mit verschiedenen Verbänden, der Polizei und Vertretern des Verkehrsausschusses fing 2016 an zu entwickeln. Auch wenn die Verwaltung nach Reinhold Goss zunächst wenig Elan für Veränderungen zeigte, gab es schnell Fortschritte. Ein Aktionstag im September 2017 bestätigte in der Praxis auf einer Strecke von 800 Metern, wie der Kölner Ring fahrradfreundlich werden könnte. „Der Aktionstag war ein voller Erfolg“, so Goss. „2018 wurden dann die ersten Abschnitte des Rings umgebaut, die rechte Fahrspur zur Fahrradspur umgewidmet.“ Er schränkt ein: „Es ist aber heute noch ein Flickenteppich. Wir sind bei 80 Prozent Umsetzung, aber an die wirklich gefährlichen Stellen trauen wir uns noch nicht ran.“ Was ist für ihn das Learning aus dieser Entwicklung? „Wir brauchen zunächst die richtige Vorgehensweise“, resümiert Goss. „Dazu müssen wir immer wieder erst ausprobieren!“ So wie beim Aktionstag, der tatsächlich sehr schnell auch Zweifler überzeugen konnte. „Einfach mal anfangen. Die Anfeindungen waren anfangs unglaublich, jetzt sind fast alle zufrieden“, sagt er. Und die Verwaltung sei stolz, dass man das so gut hinbekommen hat. Ein weiteres Learning: Standards, die für Radverkehr selbstverständlich sind, müssen gleich mitgedacht werden. „Da ist zum Beispiel das freie Rechtsabbiegen an der roten Ampel für den Radfahrer. Wir müssen so weit kommen, dass diese Dinge in die Planung integriert werden.“ Und Tempo 30 sollte immer eine Basis sein. „Die Unfallquote ist jetzt sehr gering. Aber die Hauptsache“, resümiert der Kölner Fahrradbürgermeister, „Pragmatismus ist Bürger-Mitverantwortung.“


Bilder: Georg Bleicher, Philipp Boehme, Reinhold Goss, Stadt- und Verkehrsplanungsbüro Kaulen SVK

Während viele Entscheider*innen aus Verwaltung und Politik noch über mehr Radverkehr oder weniger Autos nachdenken, überholen die hochdynamischen Entwicklungen alte Realitäten. Vieles spricht dafür, dass verschiedenste Formen von Mikromobilität und Mobility as a Service (MaaS) dabei sind, unsere Gewohnheiten und Routinen und auch Märkte gründlich zu verschieben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Selbst in hochkarätig besetzten Diskussionspanels geht es meist um die gleichen Themen. Verkürzt gesprochen: Wie kann man Verkehr (meist gemeint: Autoverkehr) flüssiger und umweltfreundlicher gestalten, wie lässt sich Radverkehr störungsfrei und einigermaßen sicher in diese Strukturen integrieren und wie kann der ÖPNV dazu beitragen, Straßen vom Autoverkehr zu entlasten?

Mikromobilität ist viel mehr als nur E-Kick-scooter. Marktreife Pkw-Alternativen stehen bereit zum Kauf, als Miet-Abo oder als Sharing-Fahrzeuge.

Mikromobilität bei Entscheidern unterschätzt

Wie wenig bislang neue Mobilitätsformen mitgedacht werden, zeigte exemplarisch kürzlich eine Runde der Bundesregierung zum Thema „Mobilität der Zukunft“ und die Antworten auf die Frage, warum auf der einen Seite private Elektroautos und mutmaßlich eher umweltschädliche Hybrid-Fahrzeuge gefördert und auf der anderen Seite deutlich umweltschonendere Mikromobilität ausgespart würde. Die Antwort: Erst Ratlosigkeit, ausgerechnet aus dem Bundesumweltministerium, und dann die Ergänzung einer Vorständin von Continental, dass man ja wisse, welche Pro-bleme mit den Tretrollern verbunden wären und dass diese gerne in Gewässer geworfen würden. „Die Unkenntnis und Ignoranz der Politik beim Thema Mikromobilität ist ein absoluter Skandal“, sagt dazu der Experte Dr. Hans-Peter Kleebinder, der mit den Schwerpunkten Mobilität, Smart Cities, strategische Markenführung sowie Innovationsmanagement unter anderem als Lehrbeauftragter der Universität St. Gallen und als freier Berater tätig ist. Bereits die Reduktion auf das Thema E-Tretroller spricht wohl dafür, dass das Thema entweder nicht verstanden oder bewusst in eine bestimmte Ecke gedrängt wird. Harsche Kritik kommt von ihm auch zur Verteilung der Fördermittel: „Die Förderpraxis ist absurd und die Umweltprämie de facto reine Wirtschaftsförderung. Das meine ich als Bürger und Beirat bei Microlino“ (red. Anm.: neues Microcar, Kategorie Light Electric Vehicle LEV).

11 Mio.

In diesem Jahr werden in Deutschland rund
elf Millionen Menschen E-Scooter-Sharing genutzt haben.
Prognosen sagen ein Umsatzwachstum von 13 % pro Jahr voraus.

Probleme mit E-Kickscootern lassen sich nicht vermeiden, aber verbessern. Betreiber werben für ordentliches Abstellen und fordern per App inzwischen ein Foto des geparkten Scooters. Abends testet ein Reaktionsspiel die Fahrtüchtigkeit der Nutzer*innen.

E-Kickscooter als „Feindbild“?

Viele neue Technologien und Produkte bleiben nicht ohne Risiken, Nebenwirkungen oder handfeste Pro-bleme. Vor allem in der Anfangsphase. Neben berechtigter Kritik gibt es zudem oftmals aber auch eine Reihe von Vorurteilen, die sich, bewusst oder unbewusst mit verschiedenen Motiven und Ängsten vermischen – in der Steigerung bis hin zu Ächtungs- und Verbots-Szenarien. Mit Blick auf die im Grunde ja eher harmlosen E-Kick-scooter stellt man schnell fest, dass es inzwischen fast schon zum guten Ton gehört, sie samt den Nutzerinnen pauschal abzuwerten oder zu verdammen. Zu den Vorwürfen gehören sowohl das Fehlverhalten, sicher auch bedingt durch mangelnde Fahrfertigkeiten und sonstige Kenntnisse der Nutzerinnen, wie auch allgemeine gesellschaftliche Phänomene wie Vandalismus, Formen von unsozialem oder ignoranten Verhalten oder ganz simpel Platzprobleme. Was hilft, ist eine differenzierte Sichtweise und sicher auch ein Blick in die Vergangenheit. Denn Ähnliches hat man schon zu Karl von Drais‘ Erfindung, der Draisine gesagt, zu den folgenden „Hochrädern“ und den deutlich sichereren „Niederrädern“, dem E-Bike oder den „unsportlichen“ E-Mountainbikes. Auch Autos und ihren Fahrerinnen stand man lange skeptisch gegenüber. Teils musste sogar ein Mensch mit roter Flagge als Warnung vorauslaufen. Jede Menge Kritik kennt man auch mit Blick auf Skifahrerinnen, den Snowboard-Trend, Skateboarder etc. Was die Sichtweise mit Blick auf E-Kickscooter betrifft, kann man immer wieder feststellen, dass hier viele Fragen in den Fokus gerückt werden, die man umgekehrt bei Autos oder Motorrädern so nur selten oder gar nicht stellt: Werden sie eher als Freizeitfahrzeuge oder echte Transportmittel genutzt? Wo sollen sie bloß parken? Wie sieht es mit der Umweltfreundlichkeit aus? Wie mit der Sicherheit? Was ist mit der Befolgung der StVO? (…)
Beim Thema Parken kann man sich beispielsweise fragen, warum von offiziellen Stellen in Diskussionen einerseits beklagt wird, dass Städte „mit E-Scootern vollgemüllt“ würden, während andererseits Autos großflächig auf Fußwegen geduldet werden und in der Politik um jeden (Auto-)Parkplatz, der umgewidmet werden soll, gerungen wird. Die E-Kickscooter machen hier als Vorreiter schlicht ein Problem deutlich, das auch andere Mobilitätsformen, wie 45-km/h-E-Scooter, Lastenräder, Mikromobile für Senioren oder Carsharer teilen: Platz wäre da, aber die Kapazitäten sind durch die schiere Menge an privaten Pkws faktisch längst erschöpft. Wenig hilfreich erscheinen auch Diskussionen darüber, welche Wege im Einzelnen substituiert werden, denn letztlich entscheiden die Menschen aus vielfältigen Motiven, wie, warum und wohin sie sich bewegen.

„Ohne neue Partnerschaften wird der ÖV in vielen Zielgruppen nicht erfolgreich sein.“

Prof. Dr. Thomas Sauter-Servaes

Herausforderungen für Politik und Verwaltung

Tatsächlich gibt es für die Politik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene viel zu tun, was den Rahmen und die Infrastruktur für die neuen Mobilitätsformen und den Wandel hin zu Mobility as a Service als Türöffner der Mobilitätswende angeht. Die E-Kickscooter-Anbieter setzen sich mit dafür ein und sie entwickeln die Technik in rasantem Tempo weiter. Die Scooter selbst werden immer langlebiger, sicherer und beispielsweise durch Akkuwechselsysteme und den Einsatz von Schwerlastenrädern oder Wechselstationen für den Tausch deutlich umweltfreundlicher. Auch die eingesetzte Software wird immer ausgefeilter. Mit ihr lassen sich in definierten Zonen schon heute automatisiert Park- und Fahrverbote oder Geschwindigkeitsreduzierungen umsetzen. So wird beispielsweise das Parken in der Nähe von Gewässern unmöglich, damit sie nicht von Fremden hineingeworfen werden. Auch Bildaufnahmen des ordentlich geparkten Scooters via App gehören bei vielen Anbietern inzwischen zum Standard. Möglich sind künftig noch viele weitere Anwendungen, beispielsweise, um alkoholisiertes Fahren, Mehrfach-Spaßfahrten, die Nutzung von Fußwegen oder Fahrten mit zwei Personen zu erkennen und möglichst auszuschließen. Neben den Innovationen setzen die Anbieter auch auf eine gute Zusammenarbeit mit den Städten. Einige, wie Voi, Tier oder die Ford-Tochter Spin, setzen sich dabei inzwischen öffentlich für eine stärkere Regulierung und limitierte Ausschreibungsverfahren ein. „Städte sollten sich gezielt auf einen oder einige wenige Partner einlassen und lokalspezifische Maßnahmen entwickeln“, heißt es dazu von Voi. Das sieht auch Tier so: „Ziel sollte es sein, den besten Anbieter auszuwählen, und so die höchste Qualität für Nutzer*innen sowie eine optimale Zusammenarbeit mit der Stadt sicherzustellen.“ In europäischen Metropolen habe man damit gute Erfahrungen gemacht. In Deutschland ist der Markt dagegen bislang weitgehend unreguliert. Hier sieht man Nachholbedarf, ebenso wie bei der Infrastruktur und fehlenden Stellplätzen. In einem offenen Brief fordert das Branchenbündnis „Dialog Mikromobilität“ beispielsweise mehr Stellflächen für Fahrräder und E-Kleinstfahrzeuge, Flächen für Microhubs, breitere und sichere Radwege sowie Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Innenstädten.

Perfekte Basis für multimodale Mobilität. Alternative Angebote werden, wie bei Free Now (ehemals MyTaxi), direkt in die App integriert.

Nicht mehr von A nach A

Vielfach unberücksichtigt bleibt Experten zufolge die Tatsache, dass Free-Floating Sharing-Systeme mit einer hohen Verfügbarkeit geeignet sind, individuelle Mobilität neu zu definieren. Wenn man sich klarmache, dass man mit einem Auto oder einem Fahrrad praktisch immer nur von A nach A, also vom Ausgangspunkt zu den Zielen B und C, dann aber wieder zurück zu A fahren würde, sei die Revolution einfach nachvollziehbar, betonte dazu der Autor, Kolumnist und Keynote-Speaker Sascha Lobo in einem seiner Podcasts. Mit den Free-Floating-Angeboten sei man um ein Vielfaches flexibler. Einfach deshalb, weil man weder zu seinem Fahrzeug zurückkommen noch mit diesem oder dem öffentlichen Verkehr nach Hause fahren müsse. Stattdessen sei der flexible Wechsel, zum Beispiel zum öffentlichen Verkehr, einer Mitfahrgelegenheit, einem anderen Sharing-Fahrzeug, einem Taxi etc. die Antwort auf die Frage nach maximaler Flexibilität, die vor allem, aber nicht nur die jüngere Generation stellt.

Türöffner für Neudefinition von Mobilität

Vor Problemen steht zunehmend auch der öffentliche Verkehr. Wie gehen die Anbieter mit der neuen Konkurrenz um? Bezieht der ÖV sie mit in sein Angebot ein oder lässt er sie links liegen? „Ohne neue Partnerschaften, die eine flexible Nutzung von E-Trotties (Schweizerisch für E-Kickscooter) bis Cargobikes ebenso inkludieren wie Taxis und Mietwagen, wird der ÖV in vielen Zielgruppen nicht erfolgreich sein“, meint der Züricher Mobilitätsexperte Prof. Dr. Thomas Sauter-Servaes mit Blick auf die Zukunft. Vorreiter in der Integration ist aktuell Google Maps. Der Kartenanbieter integriert seit Kurzem nicht nur den öffentlichen Verkehr, sondern auch die Angebote von Mikromobilitäts-Anbietern in seiner App. So können Nutzer*innen zum Beispiel sofort entscheiden, ob sich beispielsweise der Fußweg zur Haltestelle oder das Warten auf die nächste Bahn lohnt, oder ob man lieber einen Scooter in der Nähe mietet. Auch andere Anbieter, wie die aus dem Joint-Venture zwischen BMW und Daimler hervorgegangene Marke Free Now (ehemals MyTaxi) bieten seit Kurzem eine umfassende Mobilitätspalette, vom Taxi über Ride- und Carsharing, bis hin zu E-Kickscootern oder E-Scootern der 45-km/h-Klasse.
Ungeachtet der negativen Berichte spricht aktuell vieles dafür, dass sich E-Kickscooter als tatsächlicher Türöffner oder „Enabler“ einer neuen Mobilität und Mobility as a Service entwickeln. Nach einer Schätzung des Mobility Market Outlook von Statista werden in diesem Jahr in Deutschland rund elf Millionen Menschen E-Scooter-Sharing genutzt haben. Der Umsatz wird im Jahr 2021 demnach etwa 140 Millionen Euro betragen. Damit ist Deutschland der weltweit zweitgrößte Markt für den Verleih von E-Kickscootern – vor Frankreich und nach den USA. Laut Prognose wird im Jahr 2025 in Deutschland ein Marktvolumen von 228 Millionen Euro erreicht; dies entspricht einem erwarteten jährlichen Umsatzwachstum von 13 Prozent.

In einem unregulierten Markt platzieren Sharing-Anbieter quasi über Nacht Tausende Fahrzeuge. Führende Anbieter setzen sich inzwischen für mehr Regulation in Deutschland und Ausschreibungen ein.

Innovative Angebote und neue Geschäftsmodelle

Der Erfolg und die Wachstumsprognosen im Mikromobilitätsmarkt, den die Berater von McKinsey bereits 2019 auf 100 bis 150 Milliarden US-Dollar in Europa schätzten, lassen Investorengelder sprudeln. Absehbar werden sie in der Folge neben Wachstum in der Fläche auch eine ganze Reihe neuer Produkte, Services und innovativer Geschäftsmodelle mit sich bringen. Einige Beispiele: Der E-Kickscooter-Sharer Bird hat eigene Modellserien für den Verkauf aufgelegt, integriert inzwischen auch hochmoderne E-Bikes als Sharing-Modell und zum Verkauf in sein Programm und arbeitet aktuell an innovativen Mobilitätshilfen für Gehbehinderte und Senioren. Ein großer Trend sind Akkuwechselstationen für Schwerlasträder, zum Beispiel von Swobbee und für E-Motorroller. Bei Zweitem gehören sie, beispielsweise in Taiwan mit Anbietern wie Gogoro und Kymco, inzwischen zum Standard. Auch bei Lastenrädern stellt sich grundsätzlich die Frage, ob diese nicht vielfach besser im Rahmen von Abo- oder Sharing-Modellen genutzt werden. Für diesen Markt hat sich der spezialisierte Sharinganbieter Sigo ein System einfallen lassen und andere rücken schnell nach. Konzerne, wie die französische PSA-Gruppe mit „Free2Move“ (Mobility as a Service/Microcars), Ford mit „Spin“ (E-Kickscooter) oder die niederländische Pon-Gruppe machen sich mit VW daran, den neuen Markt zu gestalten. Die Pon-Gruppe, zu der unter anderem renommierte Fahrradmarken gehören, bietet dabei seit Kurzem unter dem Namen „Dockr“ Abo-Angebote für elektrische Transportfahrzeuge an, von E-Cargobikes über Personenwagen bis hin zu großen Lieferwagen. Was die Anbieter und Geschäftsmodelle besonders macht, ist das Bestreben, Märkte disruptiv zu verändern, sie in kurzer Zeit als Marktführer zu erobern und mit hohem Aufwand gegen Konkurrenten abzusichern und weiterzuentwickeln. Was das konkret bedeutet, ist noch nicht ausgemacht. Einige Parameter des Wandels scheinen allerdings bereits festzustehen: Sowohl die finanziellen Ressourcen, über die die Anbieter verfügen, wie auch der Konkurrenzdruck werden immer größer. Der Wandel lässt sich wohl nicht aufhalten und das Tempo nimmt weiter zu. In Frankreich haben die Verkaufszahlen der E-Kickscooter zum Beispiel bereits die der E-Bikes überholt. Mit den Technologien und Tools verändern sich auch die Nutzungsgewohnheiten. Andere Bereiche, wie die Film- und Musikbranche, haben solche Umbrüche in wenigen Jahren erlebt. Ob man in zwei, drei Jahren auf Konferenzen noch über das Thema „Fahrrad versus Auto“ spricht und ob es in zehn Jahren noch separate Automobil-, Fahrrad- und Motorrad-Industrien und MaaS-Anbieter gibt? Zweifel scheinen angebracht.

Nachtfahrverbot für E-Kickscooter?

In der Kölner Innenstadt verzeichnete man Mitte des Jahres an einigen Wochenenden eine drastische Zunahme an Alleinunfällen mit E-Kickscootern – zu einem guten Teil von jungen Menschen und unter Alkoholeinwirkung. Man könnte einen Teil der Ursachen in der Verbindung zwischen der kurz zuvor erfolgten Aufhebung der coronabedingten Ausgangssperre, der parallel stattfindenden Fußball-EM und dem einsetzenden Sommerwetter sehen. Aber schnell wurde daraus die Schlagzeile „HabenE-Scooter ein Alkoholproblem?“, und die Kölner Oberbürgermeisterin setzte sich öffentlichkeitswirksam für ein Nachtfahrverbot von Sharing-Scootern an Wochenenden zwischen 22.00 und 6.00 Uhr ein.


Bilder: stock.adobe.com – Trygve, Bird, Microlino, Dockr, Qimby.net, stock.adobe.com – hanohiki, Reiner Kolberg

Auf Fachkongressen, wie der Velocity-Konferenz, und in den sozialen Medien wird immer wieder auf den Sprachgebrauch „pro Auto“ hingewiesen, der uns seit Jahrzehnten prägt. Unser Gastautor Dr. Dirk von Schneidemesser ist Sozial- und Politikwissenschaftler am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam und hat sich eingehend mit den Hintergründen befasst. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Wie unsere Sprache der Mobilitätswende im Weg steht – und was wir sagen können, um die Stadt vorwärtszubringen.

Wir haben das Auto stets im Kopf

Die Sprache prägt die Stadt. Unsere Wortwahl kann Handlungsoptionen für Mobilität ermöglichen oder ausschließen. Wie stark wir uns über unsere Mobilitätskultur identifizieren, zeigt sich ebenfalls in unseren Formulierungen. Wir wollen zum Beispiel wissen, wo jemand sein Auto abgestellt hat, und sagen: „Ich stehe da drüben, wo stehst du?“ Wir meinen unsere Fahrzeuge, sagen aber „ich“ und „du“. Auch wenn wir Wörter wie „Radschnellweg“ lesen, wundern wir uns manchmal – und erst, wenn jemand „Fahrradautobahn“ sagt, macht es Klick. Dass es auf einem Radschnellweg nun wirklich keine Autos geben sollte, spielt dabei keine Rolle.
Wir haben das Auto im Kopf und kommen an Begrifflichkeiten, die ihren Einfluss auf unser Denken verraten, nicht vorbei. Ein „Parkhaus“ ist nicht ein Haus voller Parks, sondern ein Haus voller Autos. „Parkdruck“ entsteht nicht, wenn Parks zu voll sind, sondern ist eine Rechtfertigung dafür, dass der öffentliche Raum von der Allgemeinheit für kaum etwas, außer dem Lagern privater Autos genutzt werden kann. Was genau „Parkdruck“ sei und wie man ihn ermittele, fragte neulich eine Stadtverordnete den Frankfurter Magistrat per offizieller Anfrage. Auf die Antwort bin ich gespannt.
Die Autofixierung der Sprache ist keineswegs ein rein deutsches Phänomen. Der Historiker Peter Norton beschreibt beispielsweise, wie in den USA der Begriff „Jaywalking“ (etwa: unachtsames Überqueren einer Straße) von einem Schimpfwort zu einer juristischen Kategorie wurde, um die Bestrafung von Menschen zu ermöglichen, die sich, wie es früher noch üblicher war, auf der Straße aufhielten. Dieses Verhalten wurde erst mit dem Aufkommen des Autoverkehrs zum Problem. Dass die Straße heute als Domäne des Autos wahrgenommen wird, ist auf eine konzertierte Aktion der Autolobby in den USA zurückzuführen. Dort änderte sich die Wahrnehmung des Begriffs „Straße“ in den 1920er-Jahren – mit finanziellen Mitteln der Autoindustrie – von einem Ort, wo alles Mögliche passiert, hin zu einem Ort, wo der Autoverkehr zu fließen hat. Das haben wir in Deutschland dann in den 1950er-Jahren übernommen. Nun sprechen wir vom „Verkehr“ oder „Verkehrsfluss“, meinen dabei aber nur den Autoverkehr.

Okay, die Sprache ist wichtig. Aber was kann ich tun?

Wie können wir „die Sprache“ im Dienste der Stadt oder der Mobilitätswende einsetzen? Ein erster Schritt ist die Erkenntnis, dass wir über Handlungsmacht verfügen. Wir sind die Nutzerinnen und Nutzer von Sprache, es ist unsere Sprache. Im ersten Satz dieses Artikels schrieb ich: „Die Sprache prägt die Stadt.“ Fühlten Sie sich angesprochen? Handlungsmächtig? Oder waren Sie nur Beobachter*in? Wie würde sich Ihr Gefühl ändern, wenn der Satz anders lautete „Unsere Sprache prägt die Stadt“? Da sind Sie dann mit angesprochen und tragen eine Mitverantwortung für unsere Sprache, ob Sie es wollen oder nicht. Und somit tragen Sie auch Verantwortung für unsere Städte und unser Mobilitätsverhalten. „Die Sprache“ ist ein passives Phänomen – etwas, das einfach nur da ist. „Unsere Sprache“ hingegen wird von jemandem geformt: von uns. Für unsere Sprache tragen wir die Verantwortung, wir haben Handlungsmacht.

Sprache bestimmt das Bewusstsein stärker, als wir denken. Besser: „Kollision“ statt „Unfall“ oder „Autofahrerin erfasst Radfahrerin“, statt „Radfahrerin erfasst“.

Wahrnehmung von Verkehrsgewalt und Schuld

Bei Unfällen haben wir ein ähnliches Problem mit der Zuweisung von Verantwortung. Lesen wir in der Zeitung „Radfahrerin von Auto erfasst“, dann ist es schwierig, dem Auto die Schuld zuzuweisen. Ein Auto ist ein Gegenstand. Es besitzt keine Handlungsmacht, es kann keine Verantwortung tragen. Da bleibt uns nichts anders übrig, als der einzigen handlungsmächtigen Person in dem Satz die Schuld zuzuweisen: die Radfahrerin. Das passiert auf subtile Art und Weise. Es ist weder böse Absicht der Leserin noch der Verfasserin des Satzes. Aber es beeinflusst unsere Wahrnehmung, denn wenn die Radfahrerin an der Kollision schuld ist, können wir einfach weitermachen, ohne etwas zu ändern. Kollisionen passieren nun mal. Oder?
Die objektbasierte Sprache führt dazu, dass wir als Leserinnen und Leser die Schuld eher der Radfahrerin zuschreiben. Von einem Auto zu sprechen, das irgendetwas macht, verleugnet die Rolle des Autofahrenden. Noch extremer wird es, wenn eine Handelnde komplett weggelassen wird, so wie in „Radfahrerin erfasst“. Wird aber in dem Satz klar, dass es ein Mensch ist und nicht ein Gegenstand, der etwas tut, so haben wir als Leserinnen und Leser erst überhaupt die Option, einer Instanz die Schuld zuzuschreiben, die auch in der Lage ist, dafür Verantwortung zu tragen. Der Satz wäre dann so: „Radfahrerin von Autofahrerin erfasst.“
Wir verbessern uns weiter und eliminieren nach und nach unbewusste Mechanismen der Schuldzuweisung. Aber in der letzten Version unseres Satzes ist immer noch ein wichtiges Element des Schuldzuschreibens: der Fokus. Ungeschützte Verkehrsteil-nehmerinnen werden oft zum Fokus bzw. zum Subjekt des Satzes gemacht. In unserem Beispielsatz geht es um die Radfahrerin, sie ist die Hauptperson des Satzes. Als Leserinnen neigen wir dazu, der im Fokus stehenden Hauptperson – dem Subjekt – eines Satzes die Schuld zuzuschreiben, egal was sonst die Umstände hergeben. Wir sollten aber versuchen, die Handlungsmächtigen und nicht die Opfer als Subjekt darzustellen. Subjekte handeln, Objekte sind von der Handlung betroffen. Um das noch klarer darzustellen, formulieren wir unseren Satz um in: „Autofahrerin erfasst Radfahrerin.“
So haben wir einen Satz, der die Schuld viel weniger beim Opfer sucht. Das wiederum hat einen erheblichen Einfluss auf unsere Befürwortung oder Ablehnung von Stadtgestaltungsmaßnahmen wie Tempolimits oder die Umwidmung von Autoflächen zu Rad- oder Gehflächen.

3.000

Menschen werden auch dieses Jahr
wieder im Straßenverkehr getötet,
wenn sich der Trend fortsetzt.

ADFC: Unfallverursacher nicht unsichtbar machen

Anlässlich des Verkehrssicherheitstags am 19.06.2021 hat der Fahrradclub ADFC einen eindringlichen Appell an die Pressestellen der Polizei gerichtet: Unfallberichterstatter schilderten Kollisionen häufig so, als ob die Person auf dem Rad einen Fehler gemacht habe. Dieser Blickwinkel verzerre fast immer die Unfallrealität und vergifte die öffentliche Wahrnehmung des Radverkehrs. Der ADFC kritisierte dazu unter anderem „einen besonders krassen Fall der Schuldumkehr und Verschleierung der handelnden Person im Auto“. Eine westfälische Tageszeitung hatte einen Unfallbericht mit der Schlagzeile „Radfahrerin kracht ohne Helm gegen Auto“ übertitelt. In Wirklichkeit aber hatte der Autofahrer der Radfahrerin an einer Einmündung die Vorfahrt genommen und sie angefahren. Auch das Thema Helm sei laut einem BGH-Urteil für die Schuldfrage irrelevant und habe deshalb in der Headline nichts zu suchen.

Verkehrsgewalt beim Namen nennen

Um sich von dem Auto im Kopf zu befreien, können weitere sprachliche Mittel helfen. Wenn Sie nicht „erfasst“ sagen, sondern „fährt an“ oder „rammt“, dann wird die Schwere der Krise deutlicher. „Autofahrerin fährt Radfahrerin an.“ Das wollen wir ja alle verhindern, da müssen wir aktiv werden, wenn das alltägliche Praxis ist, anders als bei dem Vorfall „Radfahrerin erfasst“.
Auch das Wort „Unfall“ erscheint mir fehl am Platz, wenn wir Verkehrsgewalt auf der Straße beschreiben wollen. „Unfälle“ sind überraschend und isoliert. Wir können aber erwarten, dass wir in diesem Jahr mehrere Millionen Kollisionen im Straßenverkehr haben werden. Dies wird für hunderttausende Menschen schwere physische und psychische Verletzungen bedeuten. Es werden zudem in diesem Jahr in Deutschland etwa 3.000 Menschen durch Verkehrsgewalt getötet werden, wenn sich der Trend der letzten Jahre fortsetzt. Überraschend oder isoliert scheinen diese Vorfälle nicht zu sein. Vor diesem Hintergrund reden wir besser von Kollisionen und Verkehrsgewalt, nicht von „Unfällen“.

Nur das Auto ist vollwertig, alles andere ist „Gedöns“

Die Infrastruktur, auf der Radfahrende unterwegs sind, wird „Radwege“ genannt und nur wer sich tief in Verwaltungsrichtlinien etc. einliest, kennt den Unterschied zwischen Radschutzstreifen, Radfahrstreifen, Radschnellweg, geschützter Radweg usw. Auch Gesetzestexte reden vom „Radweg“. In der Straßenverkehrsordnung, der wichtigsten Bundesverkehrsverordnung Deutschlands, wird von Radwegen gesprochen. Es ist in der StVO auch die Rede von Fußwegen, Gehwegen, Feldwegen und Waldwegen, sogar auch von Reitwegen und Fußgängerüberwegen. Über was „Überwege“ führen, wird übrigens nicht gleich erläutert. Die StVO geht anscheinend davon aus, dass Autoflächen eine Selbstverständlichkeit sind. Für Autos hingegen gibt es keine „Autowege“, denn das würde das Auto herabsetzen. Für Autos gibt es in der StVO eine „Fahrbahn“. Die ist offenbar für den „richtigen Verkehr“ vorgesehen, den Autoverkehr.

„Um sich vom Auto im Kopf zu befreien, können sprachliche Mittel helfen.“

Dr. Dirk von Schneidemesser
„Radfahrer fährt in Autotür …“ Unfallberichterstatter schilderten Kollisionen häufig so, als ob die Person auf dem Rad einen Fehler gemacht habe.

Flächengerechtigkeit und offene Straßen

Wenn es um Flächenverteilung in der Stadt geht, können wir von „Flächengerechtigkeit“ sprechen. In Berlin zum Beispiel haben Forscher*innen festgehalten, dass Autofahrenden 3,5-mal mehr Platz zugestanden wird als nicht Autofahrenden. Das deutet auf eine Ungerechtigkeit hin. Durch Nutzung des Wortes „Flächengerechtigkeit“ können spannende Gedankengänge und Unterhaltungen angestoßen werden: Was ist eine gerechte Flächenverteilung? Eine, bei der die meisten öffentlichen Flächen von privat gelagerten Autos auf „Autolagerflächen“ stehen? Oder eine, wo man überall parken darf? Ich habe gerade zweimal denselben Zustand beschrieben, aber die Unterhaltung führt uns höchstwahrscheinlich in unterschiedliche Richtungen, wenn ich von „Autolagerflächen“ statt „Parkplätzen“ rede.
Wenn Straßenraum nicht mehr für den Autoverkehr, sondern für andere Zwecke umgenutzt wird, ist oft die Rede von „gesperrten Straßen“. Wir sagen, dass wir Straßen „schließen“ oder „dichtmachen“, damit wir beispielsweise einen Markt dort veranstalten können. Auf einem Markt wird verkauft, aber auch gebummelt und gegessen. Es werden Nachbarn getroffen, es finden Begegnungen statt, es wird verweilt, gearbeitet und erholt. Ähnliches gilt für ein Straßenfest, eine Spielstraße oder eine autofreie Promenade. Auf der durchschnittlichen Straße passiert vor allem eins: Autoverkehr. Auf einem Markt oder einem Platz passieren vielfältige Sachen. Einen Straßenabschnitt als „gesperrt“ zu bezeichnen, wenn Autoverkehr dort nicht stattfindet, ist nicht nur eine unzutreffende Beschreibung. Es lässt auch das Bemühen, den öffentlichen Raum für viel mehr Menschen und Aktivitäten zugänglich zu machen, in einem negativen Licht erscheinen. Auf subtile Weise erzeugt es auch Rechtfertigungsdruck für diejenigen, die eine Straße für vielfältige Aktivitäten und eine größere Bandbreite an Menschen öffnen wollen. Daher wäre es besser in solchen Fällen, von „Straßen öffnen“ oder „offene Straßen“ zu sprechen, als davon, sie zu sperren. Bevor das Auto kam und jegliche Nutzungen der Straße außer für den Autoverkehr ausschloss, gab es schließlich keine „Fußgängerzonen“.
Genauso wie die Dominanz des Autos in der Stadt den Möglichkeiten für andere Verkehrsarten im Wege steht, die sicherer, gesünder und nachhaltiger sind, steht das Auto in unseren Köpfen den kreativen Gedanken im Wege, die wir zu Stadtgestaltung und Mobilität haben könnten. Wir wollen das Auto nicht unbedingt komplett verbannen, aber es wäre schon hilfreich, wenn wir die Dominanz des Autos in unseren Köpfen zurückdrängen würden. Damit könnten wir unseren Gedanken – und vielleicht dann irgendwann auch unseren Beinen – freieren Lauf geben.


Zum Vertiefen: Literatur


Peter Norton:

Street Rivals: Jaywalking and the Invention of the Motor Age Street. (2007) / Fighting Traffic. The Dawn of the Motor Age in the American City. (2011)


Laura Nemi, & Liane Young:

When and Why We See Victims as Responsible. The Impact of Ideology on Attitudes Toward Victims. (2016)


Goddard et al.:

Does news coverage of traffic crashes affect perceived blame and preferred solutions? Evidence from an experiment. (2019)


H. Magusin:

If you want to get away with murder, use your car: a discursive content analysis of pedestrian traffic fatalities in news headlines. (2017)


Dr. Dirk von Schneidemesser

… ist Sozial- und Politikwissenschaftler am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam. Er studierte an der Uni Freiburg und der FLACSO Buenos Aires und promovierte zu der Kommunikation von lokalen Transportmaßnahmen an der Hertie School of Governance in Berlin. Er ist im ehrenamtlichen Vorstand von Changing Cities e.V., die sich für die Mobilitätswende einsetzen.


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Das Thema Mobilitätswende wird unabhängig von Parteien und Koalitionen wohl auch nach der Bundestagswahl im Fokus stehen. Eine Lösung vom Paradigma der allmählichen Veränderungen und eine fundamentale Transformation fordern dabei nicht nur Parteien und Verbände, sondern auch die EU-Kommission. Es gibt künftig also viel zu tun und zu entscheiden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Zu sagen, es bewege sich nichts in Deutschland in Richtung Mobilitätswende, würde den vielfältigen Bemühungen auf allen Ebenen sowie den in weiten Teilen veränderten Wünschen der Bürgerinnen und Bürger sicher nicht gerecht. Andererseits lässt sich anhand vieler Beispiele festmachen, wie hoch die Beharrungskräfte hierzulande sind, vor allem bei politischen Entscheidungsträgern. Wenn man die Online-Konferenzen und Diskussionen verfolgte, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass trotz aller Bekenntnisse zu Veränderungen vor allem das Festhalten am Status quo Priorität hat. Egal, ob bei der Vorstellung des „Nationalen Radverkehrsplans – NRVP 3.0“, dem „3. Deutschen Fußverkehrskongress“ oder Kongressen und Diskussionsrunden zur Zukunftsmobilität in der Stadt oder auf dem Land – man kann zum Schluss kommen, dass es grundsätzlich nicht an Erkenntnissen mangelt, aber am Willen, diese konkret umzusetzen. Expert*innen und Verbände weisen immer wieder auf die Diskrepanz zwischen Wissen und Tun und das Fehlen konkreter Ziele und Planungen hin. Dabei scheint es fast egal, um welche Themen es im Einzelnen geht: mehr Gestaltungsfreiheit für die Kommunen, zum Beispiel beim Thema Tempo 30, wirksame Maßnahmen für deutlich weniger Tote und Verletzte, Geschwindigkeitsreduzierungen auf Autobahnen und Landstraßen oder das Ziel 25 Prozent Fahrradanteil in Nordrhein-Westfalen. Selbst der Vorschlag, private Lastenräder zu fördern, gerät schnell zum Politikum. Die Rahmenbedingungen könnten mit Blick auf die vielfältigen, längst erkannten Probleme, allen voran notwendige Klimaschutzmaßnahmen, sicher deutlich besser sein.

Notwendig: eine fundamentale Transformation

Ein alles andere als positives Fazit zieht auch die Agora Verkehrswende, die zusammen mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) die vorliegenden Daten im Verkehr gründlich analysiert hat. „Der immer noch wachsende motorisierte Verkehr auf Deutschlands Straßen führt zu erheblichen Nachteilen in anderen Bereichen“, heißt es hier. „Er beeinträchtigt zum Beispiel die Lebensqualität großer Bevölkerungsgruppen und rückt die Ziele der Verkehrswende in weite Ferne. Jenseits der hoch aggregierten Daten offenbart die präzise Betrachtung von Einzelindikatoren zwar auch positive Entwicklungen. Sie werden aber, noch, durch das schiere Mengenwachstum überlagert.“
Dazu der ergänzt der Verkehrsclub Deutschland VCD, dass die Entwicklung des Verkehrsgeschehens in Deutschland nicht nur in deutlichem Kontrast zu artikulierten Wünschen der Bevölkerung stehe, sondern auch zu politischen Ambitionen, die seit mindestens 20 Jahren in diversen Koalitionsverträgen verabredet worden seien. Ein grundlegender Hemmschuh seien die weiterhin bestehenden rechtlichen Regelwerke, die aus den 1930er-Jahren stammten und mit der Absicht geschaffen wurden, die Massenmotorisierung herbeizuführen. Ein anderer Systemfehler sei, dass eine in diversen Koalitionsvereinbarungen avisierte „integrierte Verkehrspolitik“ nach wie vor fehle. Selbst die OECD hat das jüngst in ihrem „Wirtschaftsbericht Deutschland 2018“ bemängelt: „Im Verkehrssektor fehlt es an einer übergeordneten Politikstrategie.“
Verändert sich etwas mit den anstehenden Bundestagswahlen in Deutschland? Die Umfragen sprechen bislang dafür. Vielfach unterschätzt und wenig in der Öffentlichkeit diskutiert wird aber ein ganz anderer Faktor, dessen Einfluss mindestens genauso groß dürfte: der sogenannte Green Deal, der von den 27 EU-Mitgliedsstaaten beschlossenen wurde und sukzessive mit Leben gefüllt wird. Was in der politischen Diskussion hierzulande oft untergeht, ist, dass es dabei um nicht weniger geht als die Umgestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft in den EU-Ländern, und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt. Ganz oben auf der Liste der konzeptuellen Grundlagen für diesen Wandel steht der Bereich Verkehr, mit klaren Ansagen und Vorgaben an die Politik der Mitgliedsstaaten. „Grundsätzlich müssen wir uns vom bisherigen Paradigma der allmählichen Veränderungen lösen – denn wir brauchen eine fundamentale Transformation“, heißt es in einer im Dezember 2020 veröffentlichten Mitteilung der EU-Kommission mit dem Titel „Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität: Den Verkehr in Europa auf Zukunftskurs bringen“.

„Der europäische Grüne Deal fordert uns auf, die verkehrsbedingten Treibhausgasemissionen um 90 % zu verringern.“

EU-Kommission

Verkehr auf Zukunftskurs bringen

Wenn man sich anschaut, was andere EU-Länder und Städte in den letzten Monaten und Jahren beschlossen, geplant und in Teilen umgesetzt haben, dann verfestigt sich der Eindruck, dass Deutschland bei den beschlossenen Zielen im Verkehrssektor im europäischen Vergleich mittlerweile um einiges hinterherhängt. Dazu braucht man längst nicht mehr nur auf die Niederlande oder die skandinavischen Länder zu schauen, es lohnt sich auch ein Blick nach Spanien, wo vor Kurzem landesweit Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Ortschaften eingeführt wurde, oder nach Frankreich, wo die Mobilitätswende nicht nur in Paris mit vielen Akteuren sowie der Zustimmung der Bevölkerung und der großen Parteien in großen Schritten vorangetrieben wird.
Die EU geht im Rahmen des Green Deals sogar davon aus, dass Mobilität „neu erfunden“ werden muss. Angesichts des hohen Anteils des Verkehrssektors am gesamten europäischen Treibhausgasausstoß könne das EU-Ziel einer Verringerung der Treibhausgasemissionen um mindestens 55 Prozent bis 2030 und der Klimaneutralität bis 2050 nur erreicht werden, wenn sofort ehrgeizigere Maßnahmen ergriffen werden. Zugleich lägen darin große Chancen für mehr Lebensqualität und als Impuls für die europäische Industrie, auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette zu modernisieren, hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen, neue Waren und Dienstleistungen zu entwickeln, wettbewerbsfähiger zu werden und eine weltweite Spitzenposition einzunehmen.

Jetzt Maßnahmen umsetzen

Um die Ziele zu erreichen, müssten erstens alle Verkehrsträger nachhaltiger gemacht, zweitens nachhaltige Alternativen in einem multimodalen Verkehrssystem allgemein verfügbar sein und drittens die richtigen Anreize geschaffen werden, um den Wandel zu beschleunigen, so die EU-Kommission. Nötig seien unter anderem die Verlagerung auf nachhaltige Verkehrsträger sowie die Internalisierung externer Kosten. Wie soll das gehen? Detaillierte Pläne, wie die Ziele in Deutschland auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene umgesetzt werden können, welcher rechtliche Rahmen benötigt wird und wie die Infrastruktur aussehen muss, gibt es inzwischen.
Die Expert*innen, Vereinigungen und Verbände aus den Bereichen Nachhaltigkeit, Transformation, Verkehr, Fahrrad, Umwelt und seit Kurzem auch Mikromobilität bringen sich aktiv mit ihrem Know-how ein. In Nordrhein-Westfalen fordert beispielsweise ein breites Bündnis aus Radkomm, ADFC, Fuß e.V., NABU und VCD deutliche Verbesserungen beim geplanten Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz. Hauptkritikpunkte: Die Forderung, den Anteil des Radverkehrs von heute etwa 8 auf 25 Prozent zu steigern, bleibe bislang ohne Zieljahr. Insgesamt fehle es an Konsequenz, Verbindlichkeit, konkreten Aktionsplänen und messbaren Zwischenzielen. Auf Bundesebene fordert der Verkehrsclub Deutschland (VCD) zusammen mit Umweltverbänden ein Bundesmobilitätsgesetz, das einen modernen rechtlicher Rahmen bieten und eine integrierte Verkehrsplanung und -finanzierung vorschreiben soll. Die Verbände der Fahrradwirtschaft und der ADFC fordern gemeinsam unter anderem konkrete Zielsetzungen und Maßnahmen, um den Radverkehrsanteil bis 2025 auf 20 Prozent und bis 2030 auf 30 Prozent zu erhöhen, ein neues Straßenverkehrsgesetz und die Reform der StVO und der Regelwerke, mehr Handlungsspielräume für Kommunen und mehr Planungssicherheit bei der Finanzierung. Konkrete Vorschläge zur Änderung des Rechtsrahmens hat der ADFC bereits 2019 unter dem Titel „Das Gute-Straßen-für-alle-Gesetz“ vorgelegt. Was auch immer die Bundestagswahl bringt, das Thema Verkehr wird ganz sicher weiter im Fokus stehen, und auf den nächsten Minister/die nächste Ministerin kommt viel Arbeit zu. Positiv ist sicher, dass inzwischen eine ganze Palette an neuen technischen Möglichkeiten zur Verfügung steht, die Menschen zunehmend bereit sind für Veränderungen und die Länder, Städte und Kommunen viel voneinander lernen können.

Was war gut, was kommt?

Prominente Stimmen, gesammelt von „Agora Verkehrswende“

Was war für Sie der wichtigste Fortschritt für die Verkehrswende in den vergangenen fünf Jahren?

„Ein Fortschritt der Verkehrswende ist sicherlich, dass die Wahl der Mobilität bewusster geworden ist und Verkehrsangebote übergreifend genutzt und kombiniert werden: ob Fahrrad, Zug, ÖPNV, Roller oder das Auto; ob geliehen, geteilt oder das eigene.“

Dörte Schramm,
Abteilungsleiterin Regierungs- und Politikbeziehungen, Robert Bosch GmbH




„Die Notwendigkeit einer Verkehrswende wird nicht mehr bestritten. Wir sind mittendrin.“

Dr. Thomas Steg,
Leiter Außenbeziehungen und Nachhaltigkeit, Generalbevollmächtigter der Volkswagen AG




„Die stärksten Impulse für die Verkehrswende kamen von neuen Playern in der Automobilindustrie und der Sharing Economy. Sie rufen nicht nach Subventionen und politischer Flankierung. Sie fordern Freiräume.“

Dr. Bernhard Rohleder,
Hauptgeschäftsführer Bitkom e.V.




„Der Fortschritt bei E-Autos und E-Fahrrädern ist beachtlich. Das E-Auto muss Benziner und Diesel schnell ersetzen, das E-Fahrrad viele Zweitwagen, und es kann das Pendeln zur Arbeit revolutionieren.“

Dietmar Oeliger,
Programme Director Transport, European Climate Foundation (ECF)




Auf welchen Fortschritt für die Verkehrswende hoffen Sie in den kommenden fünf Jahren?

„Wir wollen den Verkehr in den Städten effizienter, klimaschonender und sicherer machen. Dafür brauchen wir vor Ort noch mehr Entscheidungsspielräume, um Neues unter Realbedingungen zu erproben.“

Burkhard Jung,
Präsident, Deutscher Städtetag; Oberbürgermeister, Stadt Leipzig




„Wir müssen weg von symbolpolitischen Maßnahmen aus dem Werkzeugkasten der Vergangenheit und Mobilität ganzheitlich denken, klar an Ergebniszielen von Nachhaltigkeit orientiert. Dabei sind neue, digitale Optionen der Schlüssel.“

Dr. Thomas Becker,
Unternehmensstrategie, Leiter Nachhaltigkeit, Mobilität, BMW Group




„Sichere Radinfrastruktur, viele Radschnellwege, den Deutschlandtakt bei der Bahn und noch bessere Batterien für die E-Mobilität.“

Dietmar Oeliger,
Programme Director Transport, European Climate Foundation (ECF)




„Alle zusammen müssen aus dem Fordern oder Ankündigen ins Umsetzen kommen. Es fehlt die Zeit, auf neue Technologien zu warten; Klimaschutz und Soziales müssen gemeinsam gedacht und angegangen werden.“

Jens Hilgenberg,
Leitung Verkehrspolitik, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND)

Diese Studie von Agora Verkehrswende in Zusammenarbeit mit dem Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) liefert einen Einblick in tiefere Schichten der Verkehrsentwicklung und damit in die grundsätzlichen Baustellen der Mobilitätswende.

Bilder: VCD – Jörg Farys

Was tut sich hinter den Kulissen Richtung Mobilitätswende und wie kann man das Tempo in der Verkehrsplanung potenziell beschleunigen? Nils Weiland, der bis Juni dieses Jahres in Bremen das Referat für Strategische Verkehrsplanung leitete und aktuell als Projektingenieur beim Hamburger Planungsbüro „ARGUS Stadt und Verkehr“ tätig ist, sieht große Potenziale. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Herr Weiland, vielfach drängt sich der Eindruck auf, dass eine Mobilitätswende zwar gewollt ist, aber nur sehr langsam vorangeht, Beispiel StVO-Reform. Stimmt der Eindruck?
Zum Teil. Es tut sich einiges – in den Kommunen, aber auch bei Bund und Ländern. Ich kann allerdings auch verstehen, dass es vielen Menschen zu langsam geht. Auf kommunaler Ebene, in den Ländern und auch beim Bund gibt es noch viele Potenziale, um die Verkehrswende anzukurbeln.

Inwieweit können aus Ihrer Sicht Prozesse in der Verwaltung beschleunigt werden?
Die Verwaltungsspitzen können zum Beispiel Prozesse bündeln, eine klare Richtung vorgeben, eindeutige Prioritäten definieren und in der Praxis öfters auf temporäre Lösungen setzen. Bremen hat dabei durch die besondere Situation als kleiner Stadtstaat mit kurzen Wegen natürlich viele Vorteile. In Hamburg und Berlin ist es durch die zusätzliche Verwaltungsebene der Bezirke schon viel komplizierter.
Daneben ist die Organisationsstruktur der kommunalen Verkehrsverwaltung entscheidend. Oft fließen viel Zeit und Energie in die verwaltungsinterne Abstimmung zwischen der Verkehrsplanung und der Straßenverkehrsbehörde. Wenn man hier kurze Wege – im Idealfall in der gleichen Organisationseinheit – schafft und klare politische Vorgaben macht, sodass die Menschen zusammen an einem Strang ziehen, dann lässt sich viel bewegen. Für mich ist das einer der größten Hebel, die Verwaltungen haben, um Prozesse zu beschleunigen. Einige Städte setzen das auch erfolgreich um. Wie die Verwaltung aufgebaut ist, hat einen großen Einfluss darauf, wie schnell, effizient und in welcher Qualität Dinge umgesetzt werden.

„Wir brauchen auch effizientere Strukturen in der Verwaltung.“

Nils Weiland

Wie sehen Sie die Rolle der Kommunen? Brauchen sie mehr Entscheidungsspielräume?
Auf jeden Fall. Die Kommunen wissen ja am besten, wo die kritischen Stellen oder Lücken in ihren Verkehrsnetzen sind. Bei der Umsetzung geeigneter Maßnahmen sind sie aktuell noch viel zu sehr von den Vorgaben des Bundes abhängig. Zudem legen die einzelnen Straßenverkehrsbehörden den heutigen Rechtsrahmen teilweise sehr unterschiedlich aus. Oft werden die bestehenden Möglichkeiten nicht genutzt, weil sie nicht schwarz auf weiß in der Verwaltungsvorschrift stehen. Hier würden andere Formulierungen in der StVO und in den Regelwerken Klarheit schaffen.

Dafür müsste wohl die StVO ein Update bekommen, richtig? Sie haben im Rahmen einer Arbeitsgruppe im Auftrag der Verkehrsministerkonferenz mit Blick auf den Fußverkehr ja einige Vorschläge gemacht.
Auf einen Antrag von Bremen hin wurde bei der Verkehrsministerkonferenz im Oktober 2020 beschlossen, dass eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe eingesetzt wird, die Vorschläge erarbeiten soll, wie das Bundesrecht angepasst werden kann, um den Fußverkehr zu fördern. Anfang Februar 2021 haben wir ein Papier mit 18 Punkten vorgelegt. Im April hat die Verkehrsministerkonferenz das Bundesverkehrsministerium gebeten, die Vorschläge zu prüfen und bei der anstehenden Novellierung des Rechtsrahmens zu berücksichtigen. Vor der Bundestagswahl wird das nicht mehr passieren, aber ich bin guter Hoffnung, dass Mitte 2022 eine entsprechende Novelle der StVO und der dazugehörigen Verwaltungsvorschriften verabschiedet wird. Der Bedarf ist erkannt und das geflügelte Wort „Nach der Novelle ist vor der Novelle“ hört man regelmäßig auch aus dem Bundesverkehrsministerium.

Begegnungszonen und geschützte Radwege lassen sich vergleichsweise schnell einrichten und ausprobieren und dann in einem zweiten Schritt schön gestalten.

Sie haben ja als Vorsitzender der Arbeitsgruppe an den Vorschlägen zur Förderung des Fußverkehrs mitgewirkt. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Punkte?
Unsere Änderungsvorschläge beschäftigen sich zum einen mit dem Verhältnis der Verkehrsteilnehmenden untereinander, zum Beispiel damit, dass Kraftfahrzeuge an Kreuzungen, Einmündungen und Querungshilfen nur noch so geparkt werden dürfen, dass sie kein Sichthindernis beim Queren der Fahrbahn darstellen. Andere Punkte richten sich an die Kommunen mit dem Ziel, deren Entscheidungsbefugnisse entweder zu verdeutlichen oder zu erweitern. Heute ist es zum Beispiel nicht ohne Weiteres möglich, einen Zebrastreifen in einer Tempo-30-Zone anzulegen, selbst wenn Entscheiderinnen und Entscheider das aufgrund der Situation vor Ort für geboten halten.

Müsste die StVO nicht auch grundsätzlich anders ausgerichtet werden?
In der Arbeitsgruppe haben wir uns auf Punkte beschränkt, die aus unserer Sicht zeitnah umgesetzt werden können. Eine grundlegende Neuausrichtung der Straßenverkehrsordnung oder eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h innerorts wären zwar hilfreich, aber mit einem längeren Vorlauf verbunden. Die Arbeitsgruppe hat sich aber dafür ausgesprochen, einen Modellversuch zur Umkehrung der Regelgeschwindigkeit durchzuführen.

Inwieweit berühren die vorgeschlagenen Punkte auch den Radverkehr?
Es gibt viele Vorschläge, die auch dem Radverkehr zugutekommen, wie zum Beispiel die Verbesserung der Sichtbeziehungen. Davon profitieren natürlich auch Radfahrende. Ein weiterer Punkt ist die Reduzierung der Geschwindigkeit. Hier wird vorgeschlagen, die Anordnung von Tempo 30 auf Schulwegen und als Lückenschlüsse zu ermöglichen. Ein weiterer Vorschlag ist die Einführung der Begegnungszone mit Tempo 10 oder Tempo 20. Das würde eine Lücke in der StVO schließen und den Kommunen deutlich mehr Flexibilität in der Straßenraumgestaltung geben.
Damit das auch funktioniert, haben wir wiederkehrende Gestaltungselemente sowie Sicherheitsaudits als Qualitätskontrollen empfohlen. All das fördert sowohl die subjektiv gefühlte wie auch die objektive Sicherheit, zu Fuß und auf dem Fahrrad.

Warum sind gestalterische Änderungen wichtig und welche Möglichkeiten gibt es?
Wir bewegen uns im Verkehr in der Regel intuitiv. Verkehrsschilder werden oft gar nicht bewusst wahrgenommen. Ein ständiger Wechsel der Geschwindigkeitsvorgaben kann die Verkehrsteilnehmenden schnell überfordern. Deshalb müssen wir selbsterklärende Straßenräume schaffen. Eine Straße umzubauen dauert aber gerne mal fünf Jahre oder länger. Für temporäre Maßnahmen sind dagegen nur wenige Monate Vorlauf nötig. Berlin und andere Städte zeigen sehr gut, was mit geschützten Pop-up-Radwegen, Blumenkübeln, transportablen Parklets und ähnlichen Elementen alles erreicht werden kann.

Erfolgreiche temporäre Lösung: Warnbaken, Farbe und mobile Module genügen, um die Friedrichstraße in Berlin testweise umzubauen.

Mehr Qualität und neue Funktionalität: die Favoritenstraße und die Lange Gasse in Wien nach dem Umbau.

Das heißt, Sie plädieren für mehr temporäre und Pop-up-Lösungen in der Verkehrsplanung? Welche Vorteile bieten sie?
Temporäre und provisorische Lösungen sind aus verschiedenen Gründen ganz hervorragende Werkzeuge in der Verkehrsplanung. Das sicher wichtigste Argument: Man vermeidet unendlich lange Diskussionen, weil allen klar ist, dass es erst mal nur ein Projekt auf Zeit ist. Viele Menschen tun sich mit Veränderungen schwer, deshalb sind sie erst mal dagegen. Bei temporären Projekten ist der Widerstand aber viel geringer. Mit der Zeit entsteht so zudem eine neue Realität. Wir sehen immer wieder, dass die Menschen dann den neuen Zustand mit großer Mehrheit befürworten und nicht mehr zum früheren Zustand zurückwollen.
Ein wichtiges Argument für uns als Planende ist zudem, dass wir nicht nur kurzfristig auf Erfordernisse reagieren können, sondern auch in die Lage versetzt werden, Dinge auszuprobieren und bei Bedarf mit wenig Aufwand zu verändern oder zurückzubauen. Das schafft ganz neue Möglichkeiten. Für den eigentlichen Umbau kann sich die Planung an den gewonnenen Erkenntnissen orientieren und das Ganze quasi in Schön gestalten.

Was erwarten Sie konkret von der kommunalen Politik und wie kann sie Prozesse beschleunigen?
Da es um langfristige Prozesse geht, sind eindeutige Ziele notwendig. Zudem muss klar sein, dass wir nicht alle Probleme auf einmal angehen können. Deshalb ist es wichtig, Prioritäten zu setzen, und diese dann auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern zu kommunizieren, also auch zu sagen, dass bestimmte Maßnahmen nicht die höchste Priorität haben. Das stärkt den Planerinnen und Planern den Rücken, um die beschlossenen Projekte voranzutreiben. Letztlich brauchen Projekte häufig auch so lange, weil die Zielsetzung variabel ist, die Beteiligten zu viele Themen parallel bearbeiten müssen oder ständig neue Projekte zwischendurch reingeschoben werden.

Vielfach ist von einem deutschlandweiten Mangel an Verkehrsplaner*innen die Rede. Welche Möglichkeiten gibt es, die Prozesse trotzdem vor Ort zu beschleunigen?
Verkehrsplanerinnen und -planer sind im Arbeitsalltag mit einer Vielzahl von Tätigkeiten befasst, für die sie nicht ausgebildet sind und für die andere sicher kompetenter wären. Verkehrswende ist aus meiner Sicht zu 80 Prozent Kommunikation. Bürgerbeteiligung ist aber wahnsinnig aufwendig und nicht nebenbei zu leisten. Ebenso, die Planungen und Arbeitsergebnisse gut zu verkaufen. Aber wir haben bis auf wenige Stabsstellen in der Verwaltung keine Kommunikationsexpertinnen und -experten. Wichtig können auch andere Disziplinen wie Datenanalyse und User Experience Design sein. Für all das wären mehr fachlich interdisziplinäre und arbeitsteilige Teams in meinen Augen genauso wichtig wie mehr reine Verkehrsplanerinnen und -planer. Vorteil ist auch, dass durch den Austausch einer gewissen Betriebsblindheit vorgebeugt und neue Ideen entwickelt werden können.

„Die Frage ist immer, was vor Ort die wichtigsten Maßnahmen sind.“

Nils Weiland

Wo gibt es bislang zu wenig beachtete Themen?
Wenn wir Routinen verändern wollen, dann brauchen wir Push-Maßnahmen. Die erfordern aber ein sehr breites politisches Rückgrat. Bei den Pull-Maßnahmen können neben der gebauten Infrastruktur auch neue, niedrigschwellige Angebote helfen. Die Frage ist immer, was vor Ort die wichtigsten Maßnahmen sind. In Paris hat beispielsweise das breit angelegte Fahrradverleihsystem einen entscheidenden Anteil daran gehabt, dass das Fahrrad überhaupt als Verkehrsmittel wahrgenommen worden ist. Weiterhin können zum Beispiel attraktive kostenlose und einfach zugängliche Bike&Ride-Systeme, wie in den Niederlanden, eine wichtige Maßnahme sein. Gerade in Regionen mit bewegter Topografie ist es sicher auch sinnvoll, einen E-Bike- oder E-Cargobike-Verleih aufzubauen oder den Menschen die Chance zu geben, die Möglichkeiten für ein bis zwei Monate kostengünstig auszuprobieren. Mit solchen Angeboten gibt es sehr gute Erfahrungen.

Wie können die Kommunen den Aufbau von Bike&Ride-, Leih- und Sharing-Angeboten finanzieren?
Die Frage ist, wie eine tatsächliche Verkehrswende gezielt gefördert werden kann. Vom Bund werden bis zu 6.000 Euro an Subventionen für die Anschaffung eines Elektroautos gezahlt. Es wäre sicher wünschenswert, wenn parallel dazu Angebote, die Menschen zum Umstieg vom privaten Pkw motivieren, deutlich stärker finanziell auf Bundesebene gefördert würden. Mit der Fördersumme eines einzigen Elektroautos könnten wir so viel mehr erreichen.

Was kann der Bund noch beitragen für eine schnellere Mobilitätswende?
Mit der Anhebung der Bußgelder ist ein wichtiger Punkt inzwischen abgehakt, der die Kommunen in die Lage versetzt, hier zumindest kostendeckend zu kontrollieren – dank der Vermittlung der Bremer Mobilitätssenatorin Maike Schäfer, die zurzeit Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz ist. Was ich auf Bundesebene vermisse, ist ein übergreifender Ansatz für eine Verkehrswende, möglichst differenziert nach Stadt, Umland und ländlichem Raum. Zudem ist es wichtig, die Kommunen zu unterstützen und ihnen mehr Freiheiten einzuräumen. Zum Beispiel bei der Möglichkeit, die Parkraumbewirtschaftung als Steuerungsinstrument einzusetzen und vielen anderen Dingen.
Und ganz wichtig: Wir brauchen nicht nur eine Novelle der StVO und der dazugehörigen Verwaltungsvorschriften, sondern auch effizientere Strukturen in der Verwaltung. Die Straßenverkehrsbehörde in die Verkehrsplanung zu integrieren, ist dabei entscheidend. Das klingt erst mal unspektakulär, aber so bekommen wir einen großen Hebel für gute und schnelle Veränderungen an die Hand. Es gibt also noch viele Potenziale, beim Bund, den Ländern und natürlich auch in den Kommunen selbst.


Nils Weiland

… ist studierter Bauingenieur und Umwelttechniker mit Schwerpunkt Verkehrsplanung und hat bis Juni 2021 das Referat Strategische Verkehrsplanung inBremen geleitet. Dabei war er unter anderem mit den Themen autofreie Innenstadt, Parken in Quartieren, der ÖPNV-Strategie und dem Stadt-Regionalen Verkehrskonzept befasst. Als Vorsitzender einer von der Verkehrsministerkonferenz eingesetzten Ad-hoc-Arbeitsgruppe mit dem Ziel, den Fußverkehr zu fördern, hat er 2020 und 2021 an Vorschlägen zur Änderung des Bundesrechts mitgearbeitet. Seit Juli 2021 ist er als Projektingenieur beim Hamburger Planungsbüro „ARGUS Stadt und Verkehr“ tätig.


Bilder: Nils Weiland, Qimby.net – Philipp Böhme, Dirk Schmidt, Qimby.net – Benedikt Glitz

Rotterdam baut seine Innenstadt seit einigen Jahren fundamental um. Das Zentrum soll zur „City Lounge“ werden. Zufußgehen und Radfahren haben dann ebenso oberste Priorität wie der Zugang zu mehr Grün für alle Bewohner der Hafen- und Industriestadt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Von Rotterdams Innenstadt war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr viel übrig. Alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen riesige Brachflächen rund um die Laurenskerk (Laurenskirche). Dort, wo sich einst die Altstadt befand, wurden in der Folge breite, mehrspurige Straßen gebaut sowie riesige Kreisverkehre für Autos und Straßenbahnen. Bis zum Jahr 2000 hatte die boomende Industriestadt am Flussdelta von Rhein und Maas das amerikanischste Straßennetz der Niederlande. Dann fand ein Kurswechsel statt. Das neue politische Ziel ist, das Zentrum in eine moderne „City Lounge“ zu verwandeln. Wo heute noch Autos fahren und parken, sollen Wiesen und Parks entstehen und der rasant wachsenden Bevölkerung Platz zum Bewegen, Spielen und Pausieren bieten. Dafür muss der Autoverkehr massiv zurückgedrängt und durch mehr Rad- und Fußverkehr ersetzt werden. Das Tempo, mit dem Politik und Planer den Wandel vorantreiben, ist hoch.

Ambitionierte Ziele für die Industriestadt

Außenstehenden erscheint die Stadt mit dem größten Seehafen Europas wie ein riesiges Pilotprojekt. Seit 15 Jahren wird die Stadt bereits umgebaut. Das hat einen Grund: Die Industrie- und Autostadt soll klimaresilient werden. Um das zu erreichen, hat die Stadt 2020 beschlossen, in den kommenden zehn Jahren sieben Stadtprojekte umzusetzen. Mit 230 Millionen Euro sollen sieben grüne Lungen im Zentrum entstehen, die bei Starkregen das Wasser aufnehmen und bei extremer Hitze die Umgebung kühlen. Dafür wird etwa ein großer Parkplatz begrünt, ein Park in Größe von elf Fußballfeldern direkt am Hafen geschaffen und ein Eisenbahnviadukt in einen Park verwandelt, der sich durch mehrere dicht besiedelte Stadtteile zieht. „Rotterdam hat ambitionierte Ziele und traut sich, sehr innovativ zu sein“, sagt Sophie Simon, Mobilitätsexpertin des niederländischen Beratungsunternehmens Mobycon. Die Verkehrsexpertin lebt in der Hafenstadt und bekommt den Umbau täglich mit. Der Wandel ist rasant. Noch vor zehn Jahren lag der Anteil des Radverkehrs hier mit gerade mal 20 Prozent und damit weit unter dem landesweiten Wert von 27 Prozent. Aber die Hafenstadt holt auf. 2020 legten bereits 28 Prozent der Menschen ihre Wege mit dem Rad zurück und es werden stetig mehr. Die Basis für den Umstieg bilden unter anderem die Fußgängerstrategie, das neue Parkraummanagement und das zukunftsweisende Mobilitäts- und Fahrradkonzept.
Der Name des Fahrradkonzepts ist Programm: „Fahrradkurs 2025 – Das Fahrrad als Hebel in der Rotterdamer Mobilitätswende“ heißt der Titel (Fietskoers 2025 – De Fiets als hefboom in de Rotterdamse mobiliteitstransitie). Für die Hafenstadt bedeutet das: Menschen jeden Alters und Einkommens sollen hier zukünftig sicher und komfortabel mit dem Rad von zu Hause ans Ziel kommen.

„Die Menschen suchen sich nicht nur alternative Routen, sie steigen auch auf andere Verkehrsmittel um.“

Bart Christiaens, Fahrradkoordinator in Rotterdam

Mehr als der Wechsel von einem Verkehrsmittel zum anderen. Die Stadt soll grüner werden, den Menschen im Sommer Schatten spenden und Platz zum Verweilen anbieten.

Umbauprojekt „Coolsingel“

Wie die neue Infrastruktur dafür in der Praxis aussehen könnte, lässt sich heute ein wenig in der umgebauten Straße „Coolsingel“ erahnen. Sie ist rund 700 Meter lang und eine der Hauptachsen in der Innenstadt. Anfang 2018 waren hier noch täglich rund 22.000 Autos unterwegs, außerdem Straßenbahnen sowie Rad-fahrerinnen und Fußgängerinnen. Dann wurde der Coolsingel umgebaut. Seitdem gibt es auf der Westseite der Tram statt einer zweispurigen Fahrbahn einen 4,5 Meter breiten Zweiwege-Radweg. Der Rest der Fahrbahn wurde zum Fußweg. Autoverkehr gibt es nur noch auf zwei Fahrspuren östlich der Tram und nur noch mit Tempo 30. Das zeigt Wirkung. Der Verkehrslärm ist seit dem Umbau deutlich zurückgegangen. Auch der sandfarbene Radweg und das helle Pflaster der erweiterten Fußgängerpromenade – gut gegen das Aufheizen im Sommer – haben die Straße verändert. Mit den 77 schattenspendenden Baumriesen (38 wurden neu gepflanzt) und den vielen neuen Sitzgelegenheiten unter den Laubbäumen steigt die Aufenthaltsqualität. Es erinnert an die großzügigen Boulevards in Südeuropa. Rund 58 Millionen Euro hat der Umbau gekostet. Geht das Konzept der Planerinnen auf, sind hier langfristig nur noch 10.000 Autos unterwegs. „Wenn ich dort bin, habe ich den Eindruck, dass bereits heute deutlich weniger Autos unterwegs sind“, sagt Bart Christiaens, Fahrradkoordinator von Rotterdam. Die genauen Zahlen kennt er noch nicht, denn die will die Gemeinde für eine realistische Einschätzung erst nach der Pandemie erheben. Aber schon während der Bauphase habe sich ein Teil des Verkehrs verlagert, sagt Christiaens. In einigen Nebenstraßen sei die Zahl der Autos etwas gestiegen, aber in einem geringeren Ausmaß, als es die Verkehrsanalyse vorhergesagt habe. Ein Teil der Fahrzeuge, die zuvor auf dem Coolsingel unterwegs gewesen seien, seien einfach verschwunden. Dieses Phänomen erleben Verkehrsplaner immer wieder, selbst beim Einrichten von Baustellen. „Die Menschen suchen sich nicht nur alternative Routen, sie steigen auch auf andere Verkehrsmittel um“, erläutert Christiaens das Phänomen. Trotz des guten Starts bleibt für ihn die Verkehrsentwicklung im Coolsingel in den kommenden Monaten spannend. In der unmittelbaren Nähe der Straße befindet sich rund ein halbes Dutzend Parkhäuser. „Die Frage ist, ob die Menschen zu den Einkaufszentren und in die Kinos weiterhin mit dem Auto fahren oder Alternativen nutzen“, sagt er. Das neue Parkraummanagement sieht vor, dass mehr Menschen den ÖPNV nutzen (siehe Kasten). Aber Christiaens weiß: „Die Menschen brauchen eine gewisse Zeit, um sich an die neue In-frastruktur zu gewöhnen.“ Rund um den Coolsingel wird diese Phase wohl noch eine Weile andauern. Schließlich sind die nächsten Großprojekte dort bereits in Planung. In ein paar Jahren soll der angrenzende Hofplein (Hofplatz) mit seinem 20 Meter breiten Springbrunnen umgebaut werden. Seine Neugestaltung ist eines der sieben Stadtprojekte und soll Radfahrerinnen, Fußgängerin-nen und Anwohnerinnen den Zugang überhaupt erst ermöglichen. Bislang umrunden Autos und Busse auf drei Fahrspuren den Brunnen, dazwischen kreuzen die Straßenbahnen. Fuß- oder Radverkehr waren hier nicht vorgesehen. Nach dem Umbau soll der Brunnen zum Herzstück des neuen Parks werden, mit vielen Fußwegen und Sitzgelegenheiten für die Anwohner. Die Straßenbahn darf weiterhin passieren, der Autoverkehr wird jedoch in einem großen Bogen um den Park herumgeführt.

Die Illustration zeigt, wie der Hofplein nach dem Umbau aussehen soll: Der Springbrunnen wird zum Zentrum eines neuen Parks für die Anwohner des Viertels.
Der Bahnhof im Zentrum ist Rotterdams Foyer zur Stadt und gibt einen Ausblick auf ihre Zukunft. Rad fahren, zu Fuß gehen oder der Umstieg auf Bus und Bahn sollen überall so leicht und komfortabel werden wie hier.

Schnelle Umsetzung von Großprojekten

Für die Transformation setzt Rotterdam auf eine breite interdisziplinäre Beteiligung. 25 Partner haben die sieben Stadtprojekte mitentwickelt. Ihre Fachrichtungen reichen von der Architektur über die Kunst und den Jugendrat, bis hin zu Vertreter*innen sozialer Organisationen und der Gemeinde. Die Phase von der Planung bis zur Eröffnung ist mit rund zehn Jahren sehr knapp bemessen. „Der Coolsingel ist etwa innerhalb von drei Jahren geplant und umgebaut worden“, sagt Sophie Simon. Dass es so schnell geht, liegt aus ihrer Sicht an dem Regelwerk „CROW“ für Verkehrsplaner, das der deutschen ERA (Empfehlungen für Radverkehrsanlagen) entspricht. „Sämtliche Infrastruktur aus den Niederlanden baut auf den CROW-Richtlinien auf“, sagt die Mobycon-Expertin. Die Planer und die Verwaltungen orientierten sich an den modernen Richtlinien, weshalb der Bau von Radinfrastruktur in den Niederlanden deutlich schneller vonstattengehe als in Deutschland. „Die ERA ist veraltet. Viele deutsche Städte entwickeln deshalb eigene Standards“, sagt die Expertin. Das kostet Zeit. Sie sagt: „Es wäre viel einfacher, wenn alle ein einheitliches Regelwerk verwenden würden.“

28 %

28 Prozent der Menschen legten 2020
ihre Wege mit dem Rad
zurück, und es werden stetig mehr.

Vor dem Umbau: Bürgerbeteiligung und Pop-up-Tests

Zu jeder Planung gehört in den Niederlanden auch der intensive Austausch mit den Bürgerinnen vor Ort. „Bereits vor der ersten Planung befragt man die Anwohnerinnen; was gut und was schlecht in ihrer Straße funktioniert, worauf sie stolz sind und wo sie sich gerne aufhalten“, sagt Sophie Simon. Dieser Austausch werde zur Halbzeit und gegen Ende der Planung wiederholt. Für sie ist das Feedback wertvoll. „Manche Pläne funktionieren gut in der Theorie, aber nicht in der Praxis“, sagt sie. Deshalb sei es wichtig, nachbessern zu können. Außerdem zeige der Dialog den Bürgerinnen und Bürgern, dass Entscheidungen nicht über ihren Kopf hinweg getroffen werden.
In Rotterdam werden die neuen Pläne vor dem schlussendlichen Umbau in einem Testlauf ausprobiert. Das gilt beispielsweise auch für die Sperrung einer Nebenstraße des Coolsingels. In der „Meent“ störten „Auto-Poser“ seit Langem die Nachtruhe der Anwohnerinnen. Um das abzustellen, wurde die beliebte Flaniermeile für den Autoverkehr zeitweise gesperrt. Zunächst für zwei Monate jeweils donnerstags, freitags und am Wochenende. Bewährt sich die Sperrung, soll sie laut Sophie Simons dauerhaft umgesetzt werden. Auch in den Niederlanden sind nicht alle vom Kurs der Politik begeistert. Trotzdem bleibt der große Protest aus. „Die Akzeptanz ist größer, weil das Fahrrad omnipräsent in unserer Gesellschaft ist“, sagt Sophie Simon. Aber anscheinend zeigt auch die Umgestaltung der Innenstadt Wirkung. Christiaens bemerkt einen Wandel während des Feedback-Prozesses. „Die Menschen kommen zu unseren Veranstaltungen und unterstützen unsere Idee zum Umbau der Stadt“, sagt er. Das ist selbst in den Niederlanden neu und bestärkt die Planerinnen auf ihrem Weg.

Sichtbare Mobilitätswende

Die Mobilitätswende und die steigende Aufenthaltsqualität sind bereits vielerorts sichtbar und spürbar. Besonders deutlich ist das für Touristinnen am Hauptbahnhof. Früher verliefen direkt vor der Eingangshalle eine mehrspurige Straße und das Schienennetz. Wer heute aus der lichtdurchfluteten, weitläufigen Halle tritt, steht auf einem riesigen Vorplatz, auf dem sich vor allem Fußgängerinnen und Radfahrerinnen tummeln. Linke Hand geht es für Pendelnde und Reisende weiter zur Straßenbahn. Fahrradpendlerinnen erreichen nach wenigen Schritten einen der beiden Eingänge zum unterirdischen Fahrradparkhaus. Laufbänder bringen sie ins Untergeschoss zu den rund 5.200 Fahrradstellplätzen. Autopendler*innen hingegen müssen ein paar Hundert Meter laufen, um zu unterirdischen Parkhäusern zu gelangen. Wer nicht unbedingt darauf angewiesen ist, lässt sich auch nicht mit dem Auto abholen, denn die einspurige Einbahnstraße vor dem Bahnhof lässt keinen Stopp zu. Ähnlich sieht es auf der Rückseite des Bahnhofs aus. Die wenigen Parkplätze dort sind für Taxis reserviert. Mit dem neuen Bahnhof hat die Stadt ein Statement gesetzt. Das Zeitalter des Autos geht langsam zu Ende in der Stadt. Wer in Rotterdam zu Fuß, mit Bus, Bahn oder Rad unterwegs ist, bekommt Vorrang – jedenfalls langfristig. Bis es tatsächlich so weit ist, müssen noch viele Straßen umgebaut werden. Neben Raum zum Fahren brauchen Radfahrende aber auch Stellplätze für ihre Räder.

Ein Fahrradparkhaus und 1.000 zusätzliche Stellplätze am Bahnhof reichen nicht mehr aus, um den Bedarf zu decken.

Auch die Doppelstockparker an der Markthalle reichen nicht mehr für Pendler*innen, die von hier aus per Bus, Bahn oder Metro weiterreisen.

Mehr Fahrradstellplätze benötigt

15.000 Fahrradstellplätze gibt es momentan im Zentrum. Das klingt viel. Gebraucht werden aber 45.000, also dreimal so viele. Dass die Stellplätze nicht reichen, hat einen Grund: In den vergangenen zehn Jahren sind 60 Prozent mehr Menschen aufs Rad gestiegen als zuvor und es werden täglich mehr. „Entsprechend viele Räder stehen überall in der Innenstadt am Straßenrand“, sagt Sophie Simon. Das gilt auch für die Wohngebiete. „In der Straße, in der ich wohne, gibt es zehn Fahrradbügel“, sagt sie. Dabei würden Hunderte gebraucht. Aus ihrer Sicht wäre es am einfachsten, in jeder Wohnstraße ein bis zwei Pkw-Stellplätze in Fahrradparkplätze umzuwandeln. Das ist momentan nicht vorgesehen. Allerdings können sich die Anwohnerinnen bei Bedarf direkt an die Stadt wenden. „Wenn drei Anwohner gemeinsam eine Anfrage stellen, dann wird für drei bis sechs Monate ein sogenanntes Fietsvlonder (Fahrradgeländer) aufgestellt“, sagt der Fahrradkoordinator. Das Pop-up-Kunststoffdeck mit zehn Fahrradbügeln wird auf einem Parkplatz abgestellt. Wenn die Fahrradbügel gut genutzt werden und sich die übrigen Anwohnerinnen nicht beschweren, dann wird das temporäre Modul durch einen dauerhaften Fahrradstellplatz ersetzt. Das gelingt laut Christiaens bei 80 Prozent der Pop-up-Stellplätze. Die Maßnahme ist jedoch nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. „Das Fahrradparken ist aktuell unsere Achillesferse“, so Christiaens. Mit seinem Team stockt er die Zahl der Stellplätze zwar permanent auf. Erst im Sommer kamen unter anderem rund 1.000 Stellplätze am Bahnhof hinzu und in der Nähe des Coolsingels wurde eine Fahrradgarage für 450 Räder eröffnet. Trotzdem fehlen große Flächen zum Fahrradparken im Zentrum. Bald sollen deshalb unter anderem im Keller eines ehemaligen Kaufhauses sowie in einer Bibliothek eine Parkgarage entstehen. Denkbar seien auch leerstehende Ladenlokale. Die Suche nach Flächen wird den Fahrradkoordinator auf jeden Fall auch in den kommenden Jahren beschäftigen. Die Gemeinde geht davon aus, dass 2030 mehr als 60.000 Fahrradstellplätze benötigt werden.

„Rotterdam hat

ambitionierte Ziele

und traut sich,

sehr innovativ zu sein“

Sophie Simon, Mobycon

Fahrradmobilität für alle

Eine weitere Herausforderung für die Politik ist es, den Anteil des Radverkehrs möglichst im gesamten Stadtgebiet gleichmäßig zu erhöhen. Das ist gar nicht so leicht. Im Süden der Stadt gaben zum Beispiel 52 Prozent der Befragten bei der letzten Mobilitätserhebung an, nie oder fast nie das Fahrrad zu nutzen. Christiaens kennt die Zahlen seit Jahren. „In Rotterdam Zuid leben traditionell viele Hafenarbeiter und Migrantinnen in der zweiten oder dritten Generation“, sagt er. Die niederländische Fahrradkultur habe sich dort noch nicht durchsetzen können. Manche der dort lebenden Rotterdamerinnen können gar nicht Radfahren oder besitzen kein Fahrrad. Um das zu ändern, startete die Gemeinde mit verschiedenen Partnern vor fünf Jahren das Programm „Fietsen op Zuid“. Die verschiedenen Organisatoren arbeiten eng mit Ansprechpartnerinnen vor Ort zusammen und versuchen über verschiedene Projekte, das Fahrrad als Alltagsverkehrsmittel bei den Menschen zu etablieren. „Cycle Along“ ist einer von vielen Bausteinen des Programms und wendet sich an Frauen mit bikulturellem Hintergrund. Neben Radfahrkursen für Hunderte von Frauen wird auch ein Botschafterinnen-Netzwerk aufgebaut. Das heißt, die ehemaligen Teilnehmerinnen bringen anderen Frauen vor Ort Fahrradfahren bei. Damit erweitern die Frauen gemeinsam ihren Aktionsradius und bilden neue Netzwerke. Für Kinder gibt es spezielle Kurse über die dortige BMX-Schule. Damit alle nach den Kursen weiterradeln können, hat die Stadt die „Fietserbank“ (Fahrradbank) eingerichtet. Wer sich kein eigenes Rad leisten kann, bekommt dort ein verwaistes Fahrrad. Rund 1.000 Fahrräder bekommen so jedes Jahr einen neue Besitzerinnen.
Aber es geht nicht nur darum, dass jeder und jede fähig ist, Rad zu fahren. Die neu gewonnenen Radfahrerinnen müssen sich auch trauen, mit dem Rad quer durch die Stadt zu fahren. Das will der „Fietskoers 2025“ sicherstellen. „Eine der Hauptkomponenten des Plans ist, dass die Infrastruktur gleichermaßen für schnelle und langsame Radfahrerinnen ausgelegt wird“, sagt Sophie Simon. Für sie ist das ausschlaggebend, um alle potenziellen Radfahrerinnen und Radfahrer in den Sattel zu bringen. Viele der älteren Radwege Rotterdams sind für die stetig wachsende Zahl an Radfahrenden jedoch zu schmal. Christiaens hat dazu bereits eine Idee. Die langsameren Radfahrenden sollten zukünftig weiterhin die Radwege nutzen, sagt er. Sportliche Radfahrerinnen und schnelle E-Bike-Fahrerinnen könnten dagegen auf die Fahrbahn wechseln und sich mit den Autos den Platz teilen. Das funktioniert aus seiner Sicht jedoch nur, wenn stadtweit Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit eingeführt wird. Für ihn ist das der nächste Schritt. Künftig also Tempo 30 auch in Rotterdam. Das passe auch deutlich besser zu dem Ziel der Stadt, das Zentrum in eine City Lounge umzuwandeln.



Industrie- und
Hafenstadt
Rotterdam

Rotterdam ist mit rund 650.000 Einwohnerinnen und Einwohnern nach Amsterdam die zweitgrößte Stadt der Niederlande. Die an der Mündung von Rhein und Maas gelegene Stadt ist vor allem für den wichtigsten Industriehafen Europas bekannt. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Innenstadt im Jahr 1940 bei einem deutschen Luftangriff mit verheerenden Bränden fast vollständig zerstört und danach neu aufgebaut. Die Bevölkerung hat sich heute durch Zuwanderung verjüngt und ist sehr durchmischt. Rund die Hälfte der Menschen hat eine migrantische Geschichte. Eine Besonderheit gibt es beim Einkommen: Während das Durchschnittseinkommen im Stadtgebiet niedriger ist als im Landesschnitt, ist es im Umland der Stadt höher. Die Arbeitslosenquote lag in den letzten Jahren deutlich über dem Durchschnitt der Niederlande.


Bilder: Dutch Cycle Embassy, Gemeinde Rotterdam, Andrea Reidl, Melissa und Chris Bruntlett – Mobycon, stock.adobe.com – markus thoenen