Während viele Entscheider*innen aus Verwaltung und Politik noch über mehr Radverkehr oder weniger Autos nachdenken, überholen die hochdynamischen Entwicklungen alte Realitäten. Vieles spricht dafür, dass verschiedenste Formen von Mikromobilität und Mobility as a Service (MaaS) dabei sind, unsere Gewohnheiten und Routinen und auch Märkte gründlich zu verschieben.(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, Sept. 2021)


Selbst in hochkarätig besetzten Diskussionspanels geht es meist um die gleichen Themen. Verkürzt gesprochen: Wie kann man Verkehr (meist gemeint: Autoverkehr) flüssiger und umweltfreundlicher gestalten, wie lässt sich Radverkehr störungsfrei und einigermaßen sicher in diese Strukturen integrieren und wie kann der ÖPNV dazu beitragen, Straßen vom Autoverkehr zu entlasten?

Mikromobilität bei Entscheidern unterschätzt


Wie wenig bislang neue Mobilitätsformen mitgedacht werden, zeigte exemplarisch kürzlich eine Runde der Bundesregierung zum Thema „Mobilität der Zukunft“ und die Antworten auf die Frage, warum auf der einen Seite private Elektroautos und mutmaßlich eher umweltschädliche Hy-brid-Fahrzeuge gefördert und auf der anderen Seite deutlich umweltschonendere Mikromobilität ausgespart würde. Die Antwort: Erst Ratlosigkeit, ausgerechnet aus dem Bundesumweltministerium, und dann die Ergänzung einer Vorständin von Continental, dass man ja wisse, welche Pro-bleme mit den Tretrollern verbunden wären und dass diese gerne in Gewässer geworfen würden. „Die Unkenntnis und Ignoranz der Politik beim Thema Mikromobilität ist ein absoluter Skandal“, sagt dazu der Experte Dr. Hans-Peter Kleebinder, der mit den Schwerpunkten Mobilität, Smart Cities, strategische Markenführung sowie Innovationsmanagement unter anderem als Lehrbeauftragter der Universität St. Gallen und als freier Berater tätig ist.

Mikromobilität ist viel mehr als nur E-Kick-scooter. Marktreife Pkw-Alternativen stehen bereit zum Kauf, als Miet-Abo oder als Sharing-Fahrzeuge.

Bereits die Reduktion auf das Thema E-Tretroller spricht wohl dafür, dass das Thema entweder nicht verstanden oder bewusst in eine bestimmte Ecke gedrängt wird. Harsche Kritik kommt von ihm auch zur Verteilung der Fördermittel: „Die Förderpraxis ist absurd und die Umweltprämie de facto reine Wirtschaftsförderung. Das meine ich als Bürger und Beirat bei Microlino“ (red. Anm.: neues Microcar, Kategorie Light Electric Vehicle LEV).

E-Kickscooter als „Feindbild“?


Viele neue Technologien und Produkte bleiben nicht ohne Risiken, Nebenwirkungen oder handfeste Pro-bleme. Vor allem in der Anfangsphase. Neben berechtigter Kritik gibt es zudem oftmals aber auch eine Reihe von Vorurteilen, die sich, bewusst oder unbewusst mit verschiedenen Motiven und Ängsten vermischen – in der Steigerung bis hin zu Ächtungs- und Verbots-Szenarien.

Perfekte Basis für multimodale Mobilität. Alternative Angebote werden, wie bei Free Now (ehemals MyTaxi), direkt in die App integriert.

Mit Blick auf die im Grunde ja eher harmlosen E-Kick-scooter stellt man schnell fest, dass es inzwischen fast schon zum guten Ton gehört, sie samt den Nutzerinnen pauschal abzuwerten oder zu verdammen. Zu den Vorwürfen gehören sowohl das Fehlverhalten, sicher auch bedingt durch mangelnde Fahrfertigkeiten und sonstige Kenntnisse der Nutzerinnen, wie auch allgemeine gesellschaftliche Phänomene wie Vandalismus, Formen von unsozialem oder ignoranten Verhalten oder ganz simpel Platzprobleme. Was hilft, ist eine differenzierte Sichtweise und sicher auch ein Blick in die Vergangenheit. Denn Ähnliches hat man schon zu Karl von Drais‘ Erfindung, der Draisine gesagt, zu den folgenden „Hochrädern“ und den deutlich sichereren „Niederrädern“, dem E-Bike oder den „unsportlichen“ E-Mountainbikes. Auch Autos und ihren Fahrer*innen stand man lange skeptisch gegenüber. Teils musste sogar ein Mensch mit roter Flagge als Warnung vorauslaufen. Jede Menge Kritik kennt man auch mit Blick auf Skifahrerinnen, den Snowboard-Trend, Skateboarder etc. Was die Sichtweise mit Blick auf E-Kickscooter betrifft, kann man immer wieder feststellen, dass hier viele Fragen in den Fokus gerückt werden, die man umgekehrt bei Autos oder Motorrädern so nur selten oder gar nicht stellt: Werden sie eher als Freizeitfahrzeuge oder echte Transportmittel genutzt? Wo sollen sie bloß parken? Wie sieht es mit der Umweltfreundlichkeit aus? Wie mit der Sicherheit? Was ist mit der Befolgung der StVO? (…)
Beim Thema Parken kann man sich beispielsweise fragen, warum von offiziellen Stellen in Diskussionen einerseits beklagt wird, dass Städte „mit E-Scootern vollgemüllt“ würden, während andererseits Autos großflächig auf Fußwegen geduldet werden und in der Politik um jeden (Auto-)Parkplatz, der umgewidmet werden soll, gerungen wird.

Die E-Kickscooter machen hier als Vorreiter schlicht ein Problem deutlich, das auch andere Mobilitätsformen, wie 45-km/h-E-Scooter, Lastenräder, Mikromobile für Senioren oder Carsharer teilen: Platz wäre da, aber die Kapazitäten sind durch die schiere Menge an privaten Pkws faktisch längst erschöpft. Wenig hilfreich erscheinen auch Diskussionen darüber, welche Wege im Einzelnen substituiert werden, denn letztlich entscheiden die Menschen aus vielfältigen Motiven, wie, warum und wohin sie sich bewegen.

Herausforderungen für Politik und Verwaltung


Tatsächlich gibt es für die Politik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene viel zu tun, was den Rahmen und die Infrastruktur für die neuen Mobilitätsformen und den Wandel hin zu Mobility as a Service als Türöffner der Mobilitätswende angeht. Die E-Kickscooter-Anbieter setzen sich mit dafür ein und sie entwickeln die Technik in rasantem Tempo weiter. Die Scooter selbst werden immer langlebiger, sicherer und beispielsweise durch Akkuwechselsysteme und den Einsatz von Schwerlastenrädern oder Wechselstationen für den Tausch deutlich umweltfreundlicher. Auch die eingesetzte Software wird immer ausgefeilter. Mit ihr lassen sich in definierten Zonen schon heute automatisiert Park- und Fahrverbote oder Geschwindigkeitsreduzierungen umsetzen. So wird beispielsweise das Parken in der Nähe von Gewässern unmöglich, damit sie nicht von Fremden hineingeworfen werden. Auch Bildaufnahmen des ordentlich geparkten Scooters via App gehören bei vielen Anbietern inzwischen zum Standard. Möglich sind künftig noch viele weitere Anwendungen, beispielsweise, um alkoholisiertes Fahren, Mehrfach-Spaßfahrten, die Nutzung von Fußwegen oder Fahrten mit zwei Personen zu erkennen und möglichst auszuschließen. Neben den Innovationen setzen die Anbieter auch auf eine gute Zusammenarbeit mit den Städten. Einige, wie Voi, Tier oder die Ford-Tochter Spin, setzen sich dabei inzwischen öffentlich für eine stärkere Regulierung und limitierte Ausschreibungsverfahren ein. „Städte sollten sich gezielt auf einen oder einige wenige Partner einlassen und lokalspezifische Maßnahmen entwickeln“, heißt es dazu von Voi. Das sieht auch Tier so: „Ziel sollte es sein, den besten Anbieter auszuwählen, und so die höchste Qualität für Nutzer*innen sowie eine optimale Zusammenarbeit mit der Stadt sicherzustellen.“ In europäischen Metropolen habe man damit gute Erfahrungen gemacht. In Deutschland ist der Markt dagegen bislang weitgehend unreguliert. Hier sieht man Nachholbedarf, ebenso wie bei der Infrastruktur und fehlenden Stellplätzen. In einem offenen Brief fordert das Branchenbündnis „Dialog Mikromobilität“ beispielsweise mehr Stellflächen für Fahrräder und E-Kleinstfahrzeuge, Flächen für Microhubs, breitere und sichere Radwege sowie Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Innenstädten.

Türöffner für Neudefinition von Mobilität


Vor Problemen steht zunehmend auch der öffentliche Verkehr. Wie gehen die Anbieter mit der neuen Konkurrenz um? Bezieht der ÖV sie mit in sein Angebot ein oder lässt er sie links liegen? „Ohne neue Partnerschaften, die eine flexible Nutzung von E-Trotties (Schweizerisch für E-Kickscooter) bis Cargobikes ebenso inkludieren wie Taxis und Mietwagen, wird der ÖV in vielen Zielgruppen nicht erfolgreich sein“, meint der Züricher Mobilitätsexperte Prof. Dr. Thomas Sauter-Servaes mit Blick auf die Zukunft. Vorreiter in der Integration ist aktuell Google Maps.

„Ohne neue Partnerschaften wird der ÖV in vielen Zielgruppen nicht erfolgreich sein.“

Prof. Dr. Thomas Sauter-Servaes

Der Kartenanbieter integriert seit Kurzem nicht nur den öffentlichen Verkehr, sondern auch die Angebote von Mikromobilitäts-Anbietern in seiner App. So können Nutzer*innen zum Beispiel sofort entscheiden, ob sich beispielsweise der Fußweg zur Haltestelle oder das Warten auf die nächste Bahn lohnt, oder ob man lieber einen Scooter in der Nähe mietet. Auch andere Anbieter, wie die aus dem Joint-Venture zwischen BMW und Daimler hervorgegangene Marke Free Now (ehemals MyTaxi) bieten seit Kurzem eine umfassende Mobilitätspalette, vom Taxi über Ride- und Carsharing, bis hin zu E-Kickscootern oder E-Scootern der 45-km/h-Klasse.
Ungeachtet der negativen Berichte spricht aktuell vieles dafür, dass sich E-Kickscooter als tatsächlicher Türöffner oder „Enabler“ einer neuen Mobilität und Mobility as a Service entwickeln. Nach einer Schätzung des Mobility Market Outlook von Statista werden in diesem Jahr in Deutschland rund elf Millionen Menschen E-Scooter-Sharing genutzt haben. Der Umsatz wird im Jahr 2021 demnach etwa 140 Millionen Euro betragen. Damit ist Deutschland der weltweit zweitgrößte Markt für den Verleih von E-Kickscootern – vor Frankreich und nach den USA. Laut Prognose wird im Jahr 2025 in Deutschland ein Marktvolumen von 228 Millionen Euro erreicht; dies entspricht einem erwarteten jährlichen Umsatzwachstum von 13 Prozent.

Innovative Angebote und neue Geschäftsmodelle


Der Erfolg und die Wachstumsprognosen im Mikromobilitätsmarkt, den die Berater von McKinsey bereits 2019 auf 100 bis 150 Milliarden US-Dollar in Europa schätzten, lassen Investorengelder sprudeln. Absehbar werden sie in der Folge neben Wachstum in der Fläche auch eine ganze Reihe neuer Produkte, Services und innovativer Geschäftsmodelle mit sich bringen. Einige Beispiele: Der E-Kickscooter-Sharer Bird hat eigene Modellserien für den Verkauf aufgelegt, integriert inzwischen auch hochmoderne E-Bikes als Sharing-Modell und zum Verkauf in sein Programm und arbeitet aktuell an innovativen Mobilitätshilfen für Gehbehinderte und Senioren. Ein großer Trend sind Akkuwechselstationen für Schwerlasträder, zum Beispiel von Swobbee und für E-Motorroller.

In einem unregulierten Markt platzieren Sharing-Anbieter quasi über Nacht Tausende Fahrzeuge. Führende Anbieter setzen sich inzwischen für mehr Regulation in Deutschland und Ausschreibungen ein.

Bei Zweitem gehören sie, beispielsweise in Taiwan mit Anbietern wie Gogoro und Kymco, inzwischen zum Standard. Auch bei Lastenrädern stellt sich grundsätzlich die Frage, ob diese nicht vielfach besser im Rahmen von Abo- oder Sharing-Modellen genutzt werden. Für diesen Markt hat sich der spezialisierte Sharinganbieter Sigo ein System einfallen lassen und andere rücken schnell nach. Konzerne, wie die französische PSA-Gruppe mit „Free2Move“ (Mobility as a Service/Microcars), Ford mit „Spin“ (E-Kickscooter) oder die niederländische Pon-Gruppe machen sich mit VW daran, den neuen Markt zu gestalten. Die Pon-Gruppe, zu der unter anderem renommierte Fahrradmarken gehören, bietet dabei seit Kurzem unter dem Namen „Dockr“ Abo-Angebote für elektrische Transportfahrzeuge an, von E-Cargobikes über Personenwagen bis hin zu großen Lieferwagen. Was die Anbieter und Geschäftsmodelle besonders macht, ist das Bestreben, Märkte disruptiv zu verändern, sie in kurzer Zeit als Marktführer zu erobern und mit hohem Aufwand gegen Konkurrenten abzusichern und weiterzuentwickeln. Was das konkret bedeutet, ist noch nicht ausgemacht. Einige Parameter des Wandels scheinen allerdings bereits festzustehen: Sowohl die finanziellen Ressourcen, über die die Anbieter verfügen, wie auch der Konkurrenzdruck werden immer größer. Der Wandel lässt sich wohl nicht aufhalten und das Tempo nimmt weiter zu. In Frankreich haben die Verkaufszahlen der E-Kickscooter zum Beispiel bereits die der E-Bikes überholt. Mit den Technologien und Tools verändern sich auch die Nutzungsgewohnheiten. Andere Bereiche, wie die Film- und Musikbranche, haben solche Umbrüche in wenigen Jahren erlebt. Ob man in zwei, drei Jahren auf Konferenzen noch über das Thema „Fahrrad versus Auto“ spricht und ob es in zehn Jahren noch separate Automobil-, Fahrrad- und Motorrad-Industrien und MaaS-Anbieter gibt? Zweifel scheinen angebracht.


Bilder: Microlino, Bird, Dockr; Free Now (Screenshot Werbung); stock.adobe.com – Trygve; Qimby.net; Birdstock.adobe.com – hanohiki

Was tut sich hinter den Kulissen Richtung Mobilitätswende und wie kann man das Tempo in der Verkehrsplanung potenziell beschleunigen? Nils Weiland, der bis Juni dieses Jahres in Bremen das Referat für Strategische Verkehrsplanung leitete und aktuell als Projektingenieur beim Hamburger Planungsbüro „ARGUS Stadt und Verkehr“ tätig ist, sieht große Potenziale.


Herr Weiland, vielfach drängt sich der Eindruck auf, dass eine Mobilitätswende zwar gewollt ist, aber nur sehr langsam vorangeht, Beispiel StVO-Reform. Stimmt der Eindruck?
Zum Teil. Es tut sich einiges – in den Kommunen, aber auch bei Bund und Ländern. Ich kann allerdings auch verstehen, dass es vielen Menschen zu langsam geht. Auf kommunaler Ebene, in den Ländern und auch beim Bund gibt es noch viele Potenziale, um die Verkehrswende anzukurbeln.

Inwieweit können aus Ihrer Sicht Prozesse in der Verwaltung beschleunigt werden?
Die Verwaltungsspitzen können zum Beispiel Prozesse bündeln, eine klare Richtung vorgeben, eindeutige Prioritäten definieren und in der Praxis öfters auf temporäre Lösungen setzen. Bremen hat dabei durch die besondere Situation als kleiner Stadtstaat mit kurzen Wegen natürlich viele Vorteile. In Hamburg und Berlin ist es durch die zusätzliche Verwaltungsebene der Bezirke schon viel komplizierter.
Daneben ist die Organisationsstruktur der kommunalen Verkehrsverwaltung entscheidend. Oft fließen viel Zeit und Energie in die verwaltungsinterne Abstimmung zwischen der Verkehrsplanung und der Straßenverkehrsbehörde. Wenn man hier kurze Wege – im Idealfall in der gleichen Organisationseinheit – schafft und klare politische Vorgaben macht, sodass die Menschen zusammen an einem Strang ziehen, dann lässt sich viel bewegen. Für mich ist das einer der größten Hebel, die Verwaltungen haben, um Prozesse zu beschleunigen. Einige Städte setzen das auch erfolgreich um. Wie die Verwaltung aufgebaut ist, hat einen großen Einfluss darauf, wie schnell, effizient und in welcher Qualität Dinge umgesetzt werden.

„Wir brauchen auch effizientere Strukturen in der Verwaltung.“

Nils Weiland

Wie sehen Sie die Rolle der Kommunen? Brauchen sie mehr Entscheidungsspielräume?
Auf jeden Fall. Die Kommunen wissen ja am besten, wo die kritischen Stellen oder Lücken in ihren Verkehrsnetzen sind. Bei der Umsetzung geeigneter Maßnahmen sind sie aktuell noch viel zu sehr von den Vorgaben des Bundes abhängig. Zudem legen die einzelnen Straßenverkehrsbehörden den heutigen Rechtsrahmen teilweise sehr unterschiedlich aus. Oft werden die bestehenden Möglichkeiten nicht genutzt, weil sie nicht schwarz auf weiß in der Verwaltungsvorschrift stehen. Hier würden andere Formulierungen in der StVO und in den Regelwerken Klarheit schaffen.

Dafür müsste wohl die StVO ein Update bekommen, richtig? Sie haben im Rahmen einer Arbeitsgruppe im Auftrag der Verkehrsministerkonferenz mit Blick auf den Fußverkehr ja einige Vorschläge gemacht.
Auf einen Antrag von Bremen hin wurde bei der Verkehrsministerkonferenz im Oktober 2020 beschlossen, dass eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe eingesetzt wird, die Vorschläge erarbeiten soll, wie das Bundesrecht angepasst werden kann, um den Fußverkehr zu fördern. Anfang Februar 2021 haben wir ein Papier mit 18 Punkten vorgelegt. Im April hat die Verkehrsministerkonferenz das Bundes-
verkehrsministerium gebeten, die Vorschläge zu prüfen und bei der anstehenden Novellierung des Rechtsrahmens zu berücksichtigen. Vor der Bundestagswahl wird das nicht mehr passieren, aber ich bin guter Hoffnung, dass Mitte 2022 eine entsprechende Novelle der StVO und der dazugehörigen Verwaltungsvorschriften verabschiedet wird. Der Bedarf ist erkannt und das geflügelte Wort „Nach der Novelle ist vor der Novelle“ hört man regelmäßig auch aus dem Bundesverkehrsministerium.

Begegnungszonen und geschützte Radwege lassen sich vergleichsweise schnell einrichten und ausprobieren und dann in einem zweiten Schritt schön gestalten.

Sie haben ja als Vorsitzender der Arbeitsgruppe an den Vorschlägen zur Förderung des Fußverkehrs mitgewirkt. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Punkte?
Unsere Änderungsvorschläge beschäftigen sich zum einen mit dem Verhältnis der Verkehrsteilnehmenden untereinander, zum Beispiel damit, dass Kraftfahrzeuge an Kreuzungen, Einmündungen und Querungshilfen nur noch so geparkt werden dürfen, dass sie kein Sichthindernis beim Queren der Fahrbahn darstellen. Andere Punkte richten sich an die Kommunen mit dem Ziel, deren Entscheidungsbefugnisse entweder zu verdeutlichen oder zu erweitern. Heute ist es zum Beispiel nicht ohne Weiteres möglich, einen Zebrastreifen in einer Tempo-30-Zone anzulegen, selbst wenn Entscheiderinnen und Entscheider das aufgrund der Situation vor Ort für geboten halten.

Müsste die StVO nicht auch grundsätzlich anders ausgerichtet werden?
In der Arbeitsgruppe haben wir uns auf Punkte beschränkt, die aus unserer Sicht zeitnah umgesetzt werden können. Eine grundlegende Neuausrichtung der Straßenverkehrsordnung oder eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h innerorts wären zwar hilfreich, aber mit einem längeren Vorlauf verbunden. Die Arbeitsgruppe hat sich aber dafür ausgesprochen, einen Modellversuch zur Umkehrung der Regelgeschwindigkeit durchzuführen.

Inwieweit berühren die vorgeschlagenen Punkte auch den Radverkehr?
Es gibt viele Vorschläge, die auch dem Radverkehr zugutekommen, wie zum Beispiel die Verbesserung der Sichtbeziehungen. Davon profitieren natürlich auch Radfahrende. Ein weiterer Punkt ist die Reduzierung der Geschwindigkeit. Hier wird vorgeschlagen, die Anordnung von Tempo 30 auf Schulwegen und als Lückenschlüsse zu ermöglichen. Ein weiterer Vorschlag ist die Einführung der Begegnungszone mit Tempo 10 oder Tempo 20. Das würde eine Lücke in der StVO schließen und den Kommunen deutlich mehr Flexibilität in der Straßenraumgestaltung geben.
Damit das auch funktioniert, haben wir wiederkehrende Gestaltungselemente sowie Sicherheitsaudits als Qualitätskontrollen empfohlen. All das fördert sowohl die subjektiv gefühlte wie auch die objektive Sicherheit, zu Fuß und auf dem Fahrrad.

Warum sind gestalterische Änderungen wichtig und welche Möglichkeiten gibt es?
Wir bewegen uns im Verkehr in der Regel intuitiv. Verkehrsschilder werden oft gar nicht bewusst wahrgenommen. Ein ständiger Wechsel der Geschwindigkeitsvorgaben kann die Verkehrsteilnehmenden schnell überfordern. Deshalb müssen wir selbsterklärende Straßenräume schaffen. Eine Straße umzubauen dauert aber gerne mal fünf Jahre oder länger. Für temporäre Maßnahmen sind dagegen nur wenige Monate Vorlauf nötig. Berlin und andere Städte zeigen sehr gut, was mit geschützten Pop-up-Radwegen, Blumenkübeln, transportablen Parklets und ähnlichen Elementen alles erreicht werden kann.

Das heißt, Sie plädieren für mehr temporäre und Pop-up-Lösungen in der Verkehrsplanung? Welche Vorteile bieten sie?
Temporäre und provisorische Lösungen sind aus verschiedenen Gründen ganz hervorragende Werkzeuge in der Verkehrsplanung. Das sicher wichtigste Argument: Man vermeidet unendlich lange Diskussionen, weil allen klar ist, dass es erst mal nur ein Projekt auf Zeit ist. Viele Menschen tun sich mit Veränderungen schwer, deshalb sind sie erst mal dagegen. Bei temporären Projekten ist der Widerstand aber viel geringer. Mit der Zeit entsteht so zudem eine neue Realität. Wir sehen immer wieder, dass die Menschen dann den neuen Zustand mit großer Mehrheit befürworten und nicht mehr zum früheren Zustand zurückwollen.
Ein wichtiges Argument für uns als Planende ist zudem, dass wir nicht nur kurzfristig auf Erfordernisse reagieren können, sondern auch in die Lage versetzt werden, Dinge auszuprobieren und bei Bedarf mit wenig Aufwand zu verändern oder zurückzubauen. Das schafft ganz neue Möglichkeiten. Für den eigentlichen Umbau kann sich die Planung an den gewonnenen Erkenntnissen orientieren und das Ganze quasi in Schön gestalten.

Was erwarten Sie konkret von der kommunalen Politik und wie kann sie Prozesse beschleunigen?
Da es um langfristige Prozesse geht, sind eindeutige Ziele notwendig. Zudem muss klar sein, dass wir nicht alle Probleme auf einmal angehen können. Deshalb ist es wichtig, Prioritäten zu setzen, und diese dann auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern zu kommunizieren, also auch zu sagen, dass bestimmte Maßnahmen nicht die höchste Priorität haben. Das stärkt den Planerinnen und Planern den Rücken, um die beschlossenen Projekte voranzutreiben. Letztlich brauchen Projekte häufig auch so lange, weil die Zielsetzung variabel ist, die Beteiligten zu viele Themen parallel bearbeiten müssen oder ständig neue Projekte zwischendurch reingeschoben werden.

Mehr Qualität und neue Funktionalität: die Favoritenstraße (unten) und die Lange Gasse (oben) in Wien nach dem Umbau.

Vielfach ist von einem deutschlandweiten Mangel an Verkehrs-planer*innen die Rede. Welche Möglichkeiten gibt es, die Prozesse trotzdem vor Ort zu beschleunigen?
Verkehrsplanerinnen und -planer sind im Arbeitsalltag mit einer Vielzahl von Tätigkeiten befasst, für die sie nicht ausgebildet sind und für die andere sicher kompetenter wären. Verkehrswende ist aus meiner Sicht zu 80 Prozent Kommunikation. Bürgerbeteiligung ist aber wahnsinnig aufwendig und nicht nebenbei zu leisten. Ebenso, die Planungen und Arbeitsergebnisse gut zu verkaufen. Aber wir haben bis auf wenige Stabsstellen in der Verwaltung keine Kommunikationsexpertinnen und -experten. Wichtig können auch andere Disziplinen wie Datenanalyse und User Experience Design sein. Für all das wären mehr fachlich interdisziplinäre und arbeitsteilige Teams in meinen Augen genauso wichtig wie mehr reine Verkehrsplanerinnen und -planer. Vorteil ist auch, dass durch den Austausch einer gewissen Betriebsblindheit vorgebeugt und neue Ideen entwickelt werden können.

Wo gibt es bislang zu wenig beachtete Themen?
Wenn wir Routinen verändern wollen, dann brauchen wir Push-Maßnahmen. Die erfordern aber ein sehr breites politisches Rückgrat. Bei den Pull-Maßnahmen können neben der gebauten Infrastruktur auch neue, niedrigschwellige Angebote helfen. Die Frage ist immer, was vor Ort die wichtigsten Maßnahmen sind. In Paris hat beispielsweise das breit angelegte Fahrradverleihsystem einen entscheidenden Anteil daran gehabt, dass das Fahrrad überhaupt als Verkehrsmittel wahrgenommen worden ist. Weiterhin können zum Beispiel attraktive kostenlose und einfach zugängliche Bike&Ride-Systeme, wie in den Niederlanden, eine wichtige Maßnahme sein. Gerade in Regionen mit bewegter Topografie ist es sicher auch sinnvoll, einen E-Bike- oder E-Cargobike-Verleih aufzubauen oder den Menschen die Chance zu geben, die Möglichkeiten für ein bis zwei Monate kostengünstig auszuprobieren. Mit solchen Angeboten gibt es sehr gute Erfahrungen.

„Die Frage ist immer, was vor Ort die wichtigsten Maßnahmen sind.“

Nils Weiland

Wie können die Kommunen den Aufbau von Bike&Ride-, Leih- und Sharing-Angeboten finanzieren?
Die Frage ist, wie eine tatsächliche Verkehrswende gezielt gefördert werden kann. Vom Bund werden bis zu 6.000 Euro an Subventionen für die Anschaffung eines Elektroautos gezahlt. Es wäre sicher wünschenswert, wenn parallel dazu Angebote, die Menschen zum Umstieg vom privaten Pkw motivieren, deutlich stärker finanziell auf Bundesebene gefördert würden. Mit der Fördersumme eines einzigen Elektroautos könnten wir so viel mehr erreichen.

Was kann der Bund noch beitragen für eine schnellere Mobilitätswende?
Mit der Anhebung der Bußgelder ist ein wichtiger Punkt inzwischen abgehakt, der die Kommunen in die Lage versetzt, hier zumindest kostendeckend zu kontrollieren – dank der Vermittlung der Bremer Mobilitätssenatorin Maike Schäfer, die zurzeit Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz ist. Was ich auf Bundesebene vermisse, ist ein übergreifender Ansatz für eine Verkehrswende, möglichst differenziert nach Stadt, Umland und ländlichem Raum. Zudem ist es wichtig, die Kommunen zu unterstützen und ihnen mehr Freiheiten einzuräumen. Zum Beispiel bei der Möglichkeit, die Parkraumbewirtschaftung als Steuerungsinstrument einzusetzen und vielen anderen Dingen.
Und ganz wichtig: Wir brauchen nicht nur eine Novelle der StVO und der dazugehörigen Verwaltungsvorschriften, sondern auch effizientere Strukturen in der Verwaltung. Die Straßenverkehrsbehörde in die Verkehrsplanung zu integrieren, ist dabei entscheidend. Das klingt erst mal unspektakulär, aber so bekommen wir einen großen Hebel für gute und schnelle Veränderungen an die Hand. Es gibt also noch viele Potenziale, beim Bund, den Ländern und natürlich auch in den Kommunen selbst.


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Das Interview mit Nils Weiland hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im Juli 2021 geführt. Erschienen in Ausgabe 3/21.

Nils Weiland

… ist studierter Bauingenieur und Umwelttechniker mit Schwerpunkt Verkehrsplanung und hat bis Juni 2021 das Referat Strategische Verkehrsplanung in Bremen geleitet. Dabei war er unter anderem mit den Themen autofreie Innenstadt, Parken in Quartieren, der ÖPNV-Strategie und dem Stadt-Regionalen Verkehrskonzept befasst. Als Vorsitzender einer von der Verkehrsministerkonferenz eingesetzten Ad-hoc-Arbeitsgruppe mit dem Ziel, den Fußverkehr zu fördern, hat er 2020 und 2021 an Vorschlägen zur Änderung des Bundesrechts mitgearbeitet. Seit Juli 2021 ist er als Projektingenieur beim Hamburger Planungsbüro „ARGUS Stadt und Verkehr“ tätig.

Bilder: Nils Weiland, Qimby.net (Philipp Böhme, Dirk Schmidt, Benedikt Glitz)