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Eine andere Perspektive für bessere Mobilität

Seit 2019 gibt es beim Sharing-Anbieter Tier, der neben E-Tretrollern auch 45-km/h-Motorroller im Programm hat, das unabhängige Netzwerk „Women of Tier“. Warum gerade bei neuen Mobilitätsformen mehr weibliche Perspektiven wichtig sind, haben wir die Tier-User-Researcherin Nastya Koro gefragt und Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan, die Micromobility-Anbieter und Kommunen zu geschlechterspezifischen Unterschieden in der Mobilität berät. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Mehr Frauen: Wer sich durch die Pressebilder von Tier klickt, stellt fest, dass hier sehr oft junge Frauen zu sehen sind. Dem Selbstbild von Tier folgend fast immer auch mit Helm.

Warum braucht es auch oder mehr weibliche Perspektiven in der Mikromobilität?
Ines Kawgan-Kagan: Weibliche Perspektive fehlt leider immer noch häufig in der Verkehrsplanung und in den Projekten. Der „Standard“ ist eher den männlichen Bedürfnissen und Anforderungen angepasst. Das hat den Effekt, dass die Lebensrealität vieler Frauen nicht ausreichend berücksichtigt wurde und wird.

Warum ist das aus Ihrer Sicht so?
Nastya Koro: Historisch gewachsen sind in Berufen rund um Mobilität und Verkehr erheblich mehr Männer tätig. In der EU zum Beispiel sind gerade einmal ein Fünftel der Arbeitskräfte weiblich. Das führt dazu, dass die Mobilitätsprodukte immer noch sehr männerzentriert sindInes Kawgan-Kagan: Die Themen sind stark von technischen Details und Infrastruktur geprägt. In diesen Bereichen finden wir mehr Männer als Frauen. Dass sich mehr Männer als Frauen für diese Themen interessieren, ist übrigens nichts, was uns „in den Genen liegt“. Bereits Kinder werden so von der Gesellschaft sozialisiert, dass es eher männliche Themenfelder gibt und eher weibliche. Alles rund ums Auto ist sehr männlich konnotiert in unserer Gesellschaft.

Was sind konkrete Unterschiede in der Mobilität?
Ines Kawgan-Kagan: Frauen zeigen typischerweise ein anderes Verkehrsverhalten, haben andere Bedürfnisse, Erfahrungen und andere Erwartungen an ihre Mobilität. Unterschiedliche Aufgaben im Alltag auch aufgrund von der Kinderbetreuung, die immer noch meistens von Frauen übernommen wird, haben da einen sehr großen Einfluss. Aber nicht nur Kinder sind ein Faktor; Sicherheit, Barrierefreiheit und der Einsatz von Technik sind für Unterschiede verantwortlich. Wir sprechen auch immer über statistisch nachweisbare Unterschiede und keine Stereotype oder Klischees.

„Der Standard ist eher den männlichen Bedürfnissen und Anforderungen angepasst.“

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan, AEM Institute

Wie steht es um die weibliche Perspektive im Bereich Mikromobilität?
Nastya Koro: Gerade in den innovativen Bereichen sehen wir sehr viel mehr Männer als Frauen. Der Fokus liegt dabei meist darauf, was mit einer bestimmten neuen, skalierbaren Technik möglich ist, und weniger darauf, die Mobilität strategisch nachhaltig zu gestalten. Dadurch kommt es auch dazu, dass sehr viel mehr Männer an Micromobility interessiert sind und diese dann auch eher nutzen als Frauen.
Ines Kawgan-Kagan: Bei diesen Unterschieden steckt wieder sehr viel unterschiedliche Sozialisation drin, die dazu führt, dass Frauen sich auch tendenziell wenig mit mobilitätsbezogenen Themen beschäftigen. Das in Kombination mit einer Start-up-Kultur führt zu einem geringen Anteil an Frauen.

Sollten es spezielle Angebote für Frauen geben?
Ines Kawgan-Kagan: Jein! Das Angebot selbst sollte nicht speziell Frauen ansprechen, also zum Beispiel ein Roller speziell für Frauen ist nicht zielführend. Es muss für so viele Menschen wie möglich nutzbar sein. Um das aber zu erreichen, sollte es Maßnahmen geben, die Frauen gezielt ansprechen und deren Bedürfnisse decken. Es geht darum, einen inklusiven Ansatz zu verfolgen, der sich mit den Bedürfnissen und Anforderungen verschiedener Personengruppen befasst. Dazu müssen diese bekannt sein, um sie dann zu berücksichtigen.
Nastya Koro: Genau das haben die „Women of Tier“ mit einem Moped-Fahrtraining speziell für Frauen getan. In einem geschützten Raum konnten Frauen unsere Mopeds ausprobieren. Frauen antizipieren viel mehr, wenn es um die Sicherheit neuer Angebote geht. Wir konnten so die Hemmschwelle abbauen, sich zum ersten Mal auf ein Moped zu setzen.

„Gerade in den innovativen Bereichen sehen wir sehr viel mehr Männer als Frauen“

Nastya Koro, Tier

Wie kann die weibliche Perspektive besser integriert werden?
Ines Kawgan-Kagan: Durch die Förderung von Frauen in den Arbeitsbereichen. Diverse Teams bieten genau diese vielen unterschiedlichen Perspektiven, die es braucht, um Angebote inklusiv zu gestalten. Wichtig ist dabei auch, dass Frauen auch in Entscheidungspositionen sein müssen, damit diese Perspektiven dann tatsächlich Einfluss nehmen können. Um das zu erreichen, sollten Frauen in der Branche sichtbar gemacht und typische Arbeitskulturen, die Frauen eher abschrecken, geändert werden.
Nastya Koro: Ein hervorragender Ansatz sind dabei Netzwerke für Frauen in der Branche, damit sie sich austauschen, vernetzen und voneinander lernen können. Mit nur 22 Prozent beschäftigten Frauen in der Mobilitätsbranche werden ihre Stimmen oft nicht gehört. Also dachten wir – Ligia, Galuh, Sadie und ich – wir sollten an unserem Arbeitsplatz etwas dagegen tun, und haben unsere Grassroots-Initiative „Women of Tier“ aus diesem Bedürfnis heraus gegründet. Im Laufe der Zeit war das Management mehr und mehr überzeugt, der Einstellung von Frauen für Führungspositionen Vorrang einzuräumen, was zu einer diverseren Verteilung in der Führung und einem empathischeren Verständnis für die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer führte. Darüber hinaus wurde mit Moped-Trainings, Veranstaltungen und Podcasts mit weiblichen Vorbildern eine Community geschaffen, um Frauen in der Mobilität ins Rampenlicht zu rücken und mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Belegschaft und in der Nutzer*innen-Basis zu thematisieren.

Es geht also nicht nur um mehr Frauen, sondern um ein anderes Verständnis?
Ines Kawgan-Kagan: Am Ende bleibt festzuhalten, dass allein mehr Frauen hier nicht automatisch mehr Kompetenz schaffen. Es geht vielmehr darum, dass alle, die in diesem Bereich arbeiten, die Unterschiede kennen und berücksichtigen. Immerhin handelt es sich um die Hälfte der Bevölkerung.


Nastya Koro

… ist User Researcherin bei Tier. Zu ihren Aufgaben gehört die Nutzerforschung im Hinblick auf urbane Mobilität, Multimodalität, Zukunftstrends und geschlechtsspezifische Unterschiede. Bei der Initiative „Women of Tier“ befasst sie sich unter anderem mit Webinaren, Podcasts und Veranstaltungen zur Stärkung von Frauen in der Mobilität.

Dr.-Ing. Ines Kawgan-Kagan

… ist Mitgeschäftsführerin AEM Institute. Das Unternehmen unterstützt bei der Umsetzung von gerechter und umweltfreundlicher Mobilität, mit dem Schwerpunkt Gender- und Accessibility-Beratung – unter anderem mit Inhouse-Trainings und interaktiven E-Kursen.


Bilder: AEM Institute, Tier