Digitalisierung in der Radverkehrsplanung – wie sieht das eigentlich aus? Katja Krause, Geschäftsführerin von infraVelo in Berlin, erklärt im Interview, wie digitale Lösungen in der Stadt helfen, den Radverkehr voranzubringen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2022, März 2022)


Was macht infraVelo in Berlin? Wer steht hinter dem Unternehmen?
infraVelo wurde Mitte 2017 als Tochtergesellschaft der landeseigenen Grün Berlin GmbH gegründet. Wir unterstützen das Land Berlin dabei, neue Radinfrastruktur zu schaffen und den Umweltverbund zu stärken. Diese Aufgabe ist im Mobilitätsgesetz festgeschrieben. Hier ist auch die Unterstützung durch ein landeseigenes Unternehmen für die überbezirklichen Projekte enthalten. Wir entwickeln, planen und bauen neue Radwege und Fahrradabstellanlagen und kümmern uns auch nach der Fertigstellung um den Betrieb und den Unterhalt. Damit trägt infraVelo zur neuen Mobilität und zur Verkehrswende bei.

Wo liegen die besonderen Herausforderungen in Berlin für die Planenden?
Berlin ist in Bezirken organisiert, die sehr eigenständig sind. Gleichzeitig müssen sie sich mit dem Senat abstimmen, wenn es um größere Projekte geht. Zudem hat die Stadt in den letzten Jahren einen sehr starken Personalzuwachs für den Radverkehr bekommen. Das erfordert erst einmal, sich zusammenzufinden, alle Vorhaben zu koordinieren und auf ein gemeinsames Ziel auszurichten.

Warum braucht es überhaupt Digitalisierung bei der Radverkehrsplanung?
Digitalisierung ist zwingend erforderlich, um die wachsende Komplexität zu bewältigen. Berlin will noch grüner, mobiler und klimafreundlicher werden. In Berlin wird mit dem Mobilitätsgesetz und dem Radverkehrsplan eine deutliche Ausweitung des Radverkehrsnetzes geplant. Stellen Sie sich vor, dass 360 Kilometer nun zu 865 Kilometern werden. Das ist mehr als eine Verdopplung nur der Haupt- beziehungsweise Vorrangwege und dabei soll noch der Querschnitt der Radwege deutlich verbreitert werden. Das ist ein großes Arbeitspaket, für das es Lösungen braucht – wie beispielsweise eine direkte und gemeinsame Datenbasis. Dafür bietet sich eine Business-Intelligence-Softwareentwicklung an, wie wir sie für Berlin umgesetzt haben. Eine Information kann damit mehrfach und für verschiedenste Zwecke genutzt werden. Das kann ein Bericht sein oder Kennzahlen für die Öffentlichkeitsarbeit. Wir können Daten sammeln, auswerten und einheitlich darstellen. Der Kern ist, zusammen und cloudbasiert in einer Datenbank zu arbeiten.

Wie viele Projekte laufen derzeit über infraVelo?
Unsere Datenbank umfasst derzeit mehr als 500 bezirkliche Projekte. Dazu kommen 37 aktuelle Projekte von infraVelo. Damit schaffen wir einen hohen Grad an Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch der Verwaltung, den Haushaltsausschüssen und allen anderen, die sich dafür interessieren.

Berlin will mehr Radwege. Mit zahlreichen Projekten soll das Netz von 360 auf 865 Radwegekilometer wachsen.

Welche Effekte können bisher erzielt werden?
Es geht darum, im Projektmanagement-Geschäft schnell zu agieren, Effizienz zu steigern, Transparenz herzustellen, Einheitlichkeit zu fördern und Fehler zu minimieren. Das Datenmanagement hilft bei zahlreichen Projekten immens. Wir haben beispielsweise auch Schnittstellen geschaffen, um Karten, Bilder und Informationen zusammenzuführen. Das schafft einen leichten Überblick.
Die Digitalisierungen, die wir geschaffen haben, wirken sich auf vielerlei Prozesse aus, wie beispielsweise auf Abstimmungen. Bei Besprechungen zwischen Senat und Bezirk sehen wir, dass sich der Gesprächsaufwand halbiert hat. Da kommt schon eine Menge eingesparte Arbeitszeit zusammen.
Zeitgleich entstehen weitere Effekte durch die Zusammenführung von Informationen. So können Projekte priorisiert werden. Bei ungefähr 2000 Projekten für die Umsetzung des Vorrangnetzes und des Radverkehrsplans in Berlin muss man überlegen, wo man anfängt. Zur Bewertung und Auswahl von Straßen sind objektive Kriterien notwendig. Eine hoch digitalisierte Datenbank macht das möglich.

Wie lange braucht Berlin aktuell, um ein Radverkehrsprojekt umzusetzen?
Dazu gibt es keine Standardantwort, denn es kommt sehr darauf an, um welche Art von Radverkehrsanlage es sich handelt. Wenn wir als Bauherr gesetzlich verpflichtet sind, bestimmte Verfahren einzuhalten und Dritte einzubinden, sind mindestens zwei Jahre erforderlich, um eine Anlage zu planen, Genehmigungen einzuholen und zu bauen. Bei den sogenannten Pop-up-Bikelanes geht es schneller, aber um eine dauerhafte Anlage daraus zu machen, braucht es weitere Prozesse. Wir haben in diesem Jahr auch mehrere Radwegsverbreiterungen, Protektionen und Grünmarkierungen innerhalb von mehreren Monaten ausgeführt, aber da hatten wir schon Rahmenverträge mit ausführenden Bauunternehmen, und besondere Genehmigungen waren hierfür nicht erforderlich.

„Bei ungefähr 2000 Projekten […] muss man überlegen, wo man anfängt.“

Katja Krause, Geschäftsführerin von infraVelo

Wer kann alles auf das neue Datenbank-Tool zurückgreifen?
Bei infraVelo arbeiten 50 Personen, die darauf zugreifen. Dazu kommen Verantwortliche im Senat und in den Bezirken, die einen sehr engen Austausch pflegen müssen. In den zwölf Bezirken gibt es jeweils mehrere Personen, die mit dem Radverkehr beauftragt sind, in der Senatsverwaltung ebenfalls. All diese Menschen nutzen die Datenbank.

So eine Datenbank muss auch gepflegt und gespeist werden. Ist das ein großer Aufwand und wie gut funktioniert das?
Der Aufwand gehört für unsere Projektmanagerinnen und -manager dazu und sie sehen auch den Mehrwert. Denn wenn eine Information, wie gesagt, für unterschiedliche Zwecke oder Anfragen genutzt werden kann, spart das viel Aufwand an anderer Stelle.

Auch die Öffentlichkeit kann den Fortschritt der Arbeiten verfolgen. Wie wichtig ist das?
Das ist unglaublich wichtig. Die Informationen aus der Datenbank werden direkt auf eine Karte auf unserer Website übertragen. Das hilft, um Projekte besser verständlich und transparenter zu machen. Diese Rückmeldung haben wir auch im Rahmen unserer Beteiligungsprozesse von Teilnehmenden bekommen. Die Karte liefert detaillierte Informationen über anstehende, laufende und vergangene Maßnahmen. Auch Machbarkeitsstudien, Planungsunterlagen oder Ergebnisse von Bürgerbeteiligungen stehen allen zur Verfügung. Letztendlich wollen wir Transparenz schaffen und die komplexen Prozesse nachvollziehbarer machen, denn es gibt hohe Erwartungen der Berlinerinnen und Berliner, dass ihre Stadt noch fahrradfreundlicher und lebenswerter wird.

infraVelo Berlin:
Ordnen, Digitalisieren, Priorisieren, Umsetzen


Bis 2030 soll der Radverkehr in Berlin auf einen Anteil von 23 Prozent aller zurückgelegten Wege steigen. Um das zu erreichen, soll nach den Plänen des Senats ein Radverkehrsnetz durch die Stadt mit einer Gesamtlänge von 2371 Kilometern festgelegt werden. Davon bilden 865 Kilometer ein Vorrangnetz auf den wichtigsten Verbindungen für Radfahrerende – überwiegend aus baulich vom übrigen Verkehr getrennten Radwegen oder geschützten Radfahrstreifen und mit einer Regelbreite von 2,50 Metern. Vor der Um-setzung kommt die systematische Planung.
Seit 2020 unterstützt die infraVelo Digitalisierungsaktivitäten des Landes Berlin. Zusammen mit der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz und den Bezirksämtern arbeitet das Unternehmen am digitalen Management der Projekte, um Prozesse effizienter und transparenter zu machen und die Mobilitätswende zu beschleunigen. Herausgekommen ist eine cloudbasierte Datenbank – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer modernen Verwaltung. Das Vorhandene zu sammeln und zu systematisieren ist dabei die Basis für weitere Auswertungen, Projektmanagement und Controlling.


Bilder: infraVelo – Thomas Rafalzyk, Peter Broytman

Herr Eisenbach, 2021 ist viel über die Produkte und Ausrichtungen der Messen Eurobike und IAA Mobility diskutiert worden. Wo unterscheiden Sie sich von den anderen?
Der wichtigste Punkt: Die micromobility expo ist systemoffen. Darauf legen wir großen Wert. Wenn wir von Mobilität der Zukunft sprechen, dann müssen wir alles berücksichtigen und mitdenken und uns von den über Jahrzehnte gelernten Kategorien freimachen. Der Kontext wird breiter, das intelligente Zusammenspiel der Fahrkategorien und die komplette Palette der Leichtfahrzeuge wird hochrelevant und kann eine echte Rolle in der Mobilitätswende spielen.

Micromobility Expo - Florian Eisenbach

„Es geht um die Neuerfindung der Mobilität”

Florian Eisenbach, micromobility expo

Bei der Premiere 2019 drehten sich viele Gespräche ja noch um die damals neue Kategorie der E-Kickscooter. Was verändert sich 2022?
Durch den Neuigkeitswert haben die Scooter relativ viel Raum eingenommen, aber auch 2019 ging es schon um viele andere Produkte, Dienstleistungen und Lösungsanbieter, zum Beispiel Lastenräder für Business-Anwender, Microcars, E-Mopeds, Sharing-Systeme und allgemein Mobility as a Service. Diese Bereiche werden in diesem Jahr deutlich stärker in den Vordergrund rücken.

Was hat sich in den letzten drei Jahren im Umfeld verändert?
Wir stehen heute vor einer ganz anderen Situation. Experten sind sich sicher, dass Mikromobilität ein Grundpfeiler künftiger nachhaltiger Mobilität sein wird. Und auch in der Gesellschaft und in großen Unternehmen gibt es ein Umdenken: Ein Beispiel ist die Caritas, die auf der Messe explizit nach neuen Mobilitätslösungen für ihre Mitarbeiter*in-nen, unter anderem im mobilen Pflegebereich sucht. Diese müssen klimafreundlich, kostengünstig und flexibel sein.

Auch auf der technischen und finanziellen Seite ist die Dynamik ja extrem hoch.
Wir sehen, dass weltweit viele institutionelle Investoren erhebliche Summen in klimafreundliche Lösungen investieren – auch im Bereich Mobilität. Davon profitieren die Anbieter, und das verleiht neuen Entwicklungen und dem Markt insgesamt einen kräftigen Schub. Die Fahrzeuge haben sich deutlich weiterentwickelt, es gibt neue Ladeinfrastruktur und neue Kooperationen. Wir erwarten über 100 Aussteller und schaffen den Raum für Diskurs und für Netzwerke. So kann man gemeinsam an neuen Lösungen arbeiten.

Welchen Stellenwert sehen Sie künftig für die Mikromobilität?
Prof. Dr. Stephan Rammler vom Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung und sein Team begleiten das Konferenzprogramm, das dieses Jahr wieder hochkarätig besetzt sein wird. Sein Credo: Vor dem Hintergrund einer dynamisch wachsenden Weltbevölkerung ist es erforderlich, Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und ökonomische Effizienz miteinander zu verbinden. Es geht um die Neuerfindung der Mobilität des 21. Jahrhunderts. Hier sehen wir uns als die eigentliche Zukunftsmesse.

Eine Neuerfindung der Mobilität würde ja auch viele Umbrüche bedeuten. Warum sollten Unternehmen und Kommunen zur Messe kommen?
Der erste Grund: Die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskussionen um die Mobilität von morgen werfen Fragen auf, die micromobility expo liefert Antworten und führt Industrie, Politik und Anwender zusammen. Unser Anspruch ist, die zentrale Anlaufstelle für Wissenstransfer und Erfahrungsaustausch zu sein. Bei unserem Call for Speakers haben wir Rückmeldungen nicht nur von Mobilitätsexperten, sondern unter anderem auch von Stadtplanern und universitären Einrichtungen und zu den Themen Stadt-Land-Entwicklung, Sicherheit und New Work bekommen. Das sind alles wichtige und hoch spannende Themen. Der zweite Grund ist, dass wir auf dem großen und teilweise überdachten Freigelände eine hervorragende Möglichkeit bieten, die unterschiedlichsten Produkte zu testen. Unsere Erfahrung ist, dass persönlicher Austausch, eigene Eindrücke und Networking enorm wichtig sind. Wir werden einen Teil der Veranstaltung streamen, aber das ist nur eine Ergänzung.


Das Interview mit Florian Eisenbach hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im November 2021 geführt. Erschienen in Ausgabe 4/21.

Mehr zum Thema in unserem Beitrag “From Zero to Hero – Mikromobilität 2.0”

Über die Messe micromobility expo 2022

In eigener Sache: VELOPLAN ist als Medienpartner und mit einem Stand auf der micromobility expo präsent.
Die micromobility expo in Hannover richtet sich an Kommunen und Städte, Stadtplanungsämter, Verkehrsämter sowie Politik. Zudem werden Einkäufer, Händler, Logistikunternehmen, Flottenmanager, Bahnhofsmanager, Werkstätten, Pflegedienste und Endverbraucher angesprochen.
Die Messe gliedert sich in drei Themenbereiche: Mikromobile, Mobilitätsinfrastrukturen und Mobilitätsdienstleistungen. Das Konzept aus Forum, Ausstellung und Parcours bietet ein breites Erlebnisspektrum. Im Forum diskutieren Experten und Anwender aus Industrie, Verwaltung und Politik über Innovationen, Best-Practice-Beispiele und Lösungsansätze. Auf einem großen Parcours im Freigelände und in den Pavillons können Fachbesucher und Endverbraucher unterschiedliche Mikromobile testen.
Messegelände Hannover, 19. – 21. Mai 2022; 19./20. nur für Fachpublikum
micromobilityexpo.de

Bild: Deutsche Messe

Interview: Stefan Gelbhaar MdB, Verkehrspolitiker bei Bündnis 90/Die Grünen
und ehemaliger Sprecher für Verkehrspolitik und Radverkehr


Herr Gelbhaar, kommt es mit der Ampelkoalition zu einer Mobilitätswende?
Eins ist klar: Die Ampelkoalition muss sich unterscheiden. Darin waren wir uns in den Koalitionsgesprächen alle einig. Und wir alle sehen die Probleme und Herausforderungen. Die Verkehrswende ist nach der Energiewende mit das wichtigste Projekt, um das wir uns kompetent und intensiv kümmern müssen. Das ist nun mit dem FDP-Verkehrsministerium in beständiger Zusammenarbeit nach vorne zu entwickeln. Einfach wird das mit so unterschiedlichen Partnern natürlich nicht – aber dass es einfach wird, hat ja auch niemand gedacht.

Inwiefern wird es Unterschiede geben zur alten Bundesregierung?
Die Ziele, die sich die Bundesregierung in den vergangenen Jahren gesetzt hat, sind nicht ansatzweise erfüllt worden. Wir haben, je nachdem, wie wir es interpretieren wollen, die letzten vier, acht oder zwölf Jahre verschenkt. Das betrifft auch, aber nicht nur den Bereich Verkehr. Es ist in den Gesprächen klar geworden, dass es nicht ausreicht, nur hier und da einen Akzent zu setzen.

Welche konkreten Ziele sehen Sie mit der Ampelkoalition in Reichweite?
Im Bereich Verkehrssicherheit sind wir beispielsweise nah beieinander, was die Zielbeschreibung Vision Zero angeht. In der Vergangenheit haben sich die Hersteller erfolgreich um die Insassensicherheit in Fahrzeugen gekümmert. Vernachlässigt wurde allerdings die Umfeldsicherheit. Da gibt es ganz viele Ansatzpunkte auf der Bundes-, aber auch auf der EU-Ebene. Was die Sicherheit angeht, ist die EU ja normalerweise Treiber. Bei Technologien wie Lkw-Abbiegeassistenten kann und sollte die Bundesregierung – auch in der EU – mehr Druck machen.

Wo sehen Sie allgemeine Schwerpunkte in der Verkehrspolitik?
Viele Punkte finden sich im Koalitionspapier. Ein wichtiges Feld, das zu bearbeiten ist, ist neben der Verkehrssicherheit und der Antriebswende die Vernetzung der Mobilität. Bei der geteilten Mobilität etwa besteht die gemeinsame Einschätzung: Das ist ein großer Baustein der künftigen Mobilität. Die Zeit ist reif, die vorhandenen Angebote viel stärker zu vernetzen. Wir müssen uns generell fragen: Was haben wir schon? Was können wir wie besser nutzen?

Was braucht es konkret?
Wir brauchen bessere rechtliche Regelungen, Zuschüsse, mehr Personal, mehr Forschungsgelder und mehr Freiheiten für die Kommunen. Wir müssen ran an das Verkehrsrecht und den Bußgeldkatalog, und wir brauchen Forschungsgelder, nicht nur, wie in der Vergangenheit, für die Belange des Autos, sondern beispielsweise auch beim ÖPNV und im Bereich Mikromobilität. Natürlich brauchen wir auch mehr Radinfrastruktur, zum Beispiel entlang von Bundesstraßen, und eigenständige Radnetze. Und ganz wichtig: Wir müssen die Kommunen befreien und empowern.

Wo liegen die Herausforderungen in den Kommunen?
Alle sind sich beispielsweise über die Probleme im Klaren mit dem zunehmenden Wirtschaftsverkehr im städtischen Raum. Dazu kommt, dass wir auch die Infrastruktur schnell anpassen müssen, wenn wir mehr Radverkehr wollen. Der Bund kann beispielsweise bei der Finanzierung von Fahrradbrücken, Radparkhäusern oder beim Aufbau von zentralisiertem Know-how helfen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Förderung und der Kompetenzaufbau bei der DB für Fahrradparkhäuser an Bahnhöfen.

Wie stehen Sie als Berliner zur Zunahme der E-Kickscooter in der Stadt?
Ich denke, E-Scooter sind in der Mobilität eine gute Ergänzung, und oft habe ich das Gefühl, dass die Debatte schief ist. Wir empfinden über 1,2 Millionen zugelassene Pkw in Berlin als normal, einige Tausend E-Scooter sind dagegen ein Aufreger. Was wir aus meiner Sicht aber brauchen, ist eine gute Evaluation, aus der wir dann gezielt Maßnahmen ableiten können.

Welche Aufgaben sehen Sie in der Bundespolitik über das Verkehrsministerium hinaus?
Wir sehen aktuell beispielsweise die Versorgungsengpässe der Fahrradindus-trie. Hier könnte es eine Aufgabe des Wirtschaftsministeriums sein, dabei zu helfen, Teile der Produktion wieder nach Deutschland oder in die EU zu holen. Auch das betriebliche Mobilitätsmanagement und das Thema Mobilitätsbudget gehören mit auf die bundespolitische Agenda. Umweltfreundliche Mobilität sollte beispielsweise nicht länger steuerlich benachteiligt werden.

Was sagen Sie Kritikern, denen es nicht schnell genug geht?
Wir haben die Wahl nicht mit 51% gewonnen. Deshalb geht es darum, immer wieder Wege und auch zufriedenstellende Kompromisse mit den Ampelpartnern zu finden. Das gehört mit zur Wirklichkeit und es ist klar, dass wir da auch einen seriösen Umgang mit Konflikten finden. Mit zur Wirklichkeit gehört aber genauso: Mobilität ist nicht statisch. Das Thema ist schon aus Klimasicht enorm wichtig. Wir sind in der Pflicht. Paris, die 1,5-Grad-Grenze gelten für diese Ampelkoalition, das müssen wir gestalten – und wir werden den künftigen Verkehrsminister dabei unterstützen, den Pfad zum Klimaschutz seriös und zügig zu beschreiten.


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Das Interview mit Stefan Gelbhaar hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im November 2021 geführt. Erschienen in Ausgabe 4/21.

Bild: Stefan Kaminski

Deutschland will Fahrradland werden. Im Winter scheint dieser Vorsatz aber vergessen zu werden: Schnee türmt sich auf den Radwegen, der Pendelverkehr mit dem Bike geht um die Hälfte zurück, auch aus Angst vor Stürzen. Roland Huhn, Verkehrsexperte des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC), erklärt, woran das liegt und was sich ändern muss. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


Der Verkehrsexperte und Jurist Roland Huhn ist seit 2004 hauptamtlicher Rechtsreferent des ADFC.

Herr Huhn, laut verschiedenen Erhebungen reduziert sich der Fahrradverkehr hierzulande im Winter um mindestens 50 Prozent. Woran liegt das?
Untersuchungen zeigen, dass in Städten mit gut ausgebauter Radin-frastruktur der Alltagsradverkehr bei schlechtem Wetter nur wenig zurückgeht. In Oldenburg oder Münster sind es zum Beispiel weniger als fünf Prozent. In Städten mit schlechten Radwegen sind es dagegen bis zu 30 Prozent. Auch der Rückgang im Winter ist beim Alltagsverkehr generell gar nicht so hoch, nur kommt in den Sommermonaten der enorme Freizeitverkehr dazu. Das lässt darauf schließen, dass noch viel mehr Menschen das ganze Jahr über mit dem Rad fahren würden, wenn es gute Radwege gibt, die im Winter zuverlässig geräumt werden.

Tatsächlich hat laut Umfragen jeder Zweite, der im Winter fährt, Angst vor Stürzen durch Glätte und Rollsplitt. Wie lassen sich Fahrradwege effektiv und für die Fahrenden sicher winterfest machen?
Am sichersten ist ein schwarz geräumter oder trockener Radweg. Das erreicht man am besten, wenn man frischen Schnee mit der Kehrmaschine beseitigt. Das muss allerdings schnell gehen: Wenn die Schneedecke dicker und festgefahren wird und gefriert, wird es aufwendiger. Das beste Streumittel ist Sole. Im Vergleich zu Streusalz hat sie viel weniger Salzanteil, sie haftet gut, verweht nicht und kann vorbeugend eingesetzt werden. Und man kann nicht ausrutschen wie auf Rollsplit. Der sollte nach frostigen Phasen sofort entfernt werden.

Wäre hier die Stadt zuständig, wie weit geht deren Räumpflicht für Radwege?
Radwege werden hier oft zuletzt geräumt, obwohl Kommunen nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs dazu verpflichtet sind, verkehrswichtige innerörtliche Radwege an gefährlichen Stellen zu räumen und zu streuen. Eis und Schnee sind für Radfahrerinnen und Radfahrer aber gefährliche Rutschfallen. Kommunen sollten daher Radwegen ebenso wie Fußwegen beim Winterdienst Priorität einräumen. Für ungeschützte Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer sind rutschige Wege eine viel größere Gefahr als für Autoinsassen. Wenn Deutschland ein Fahrradland werden will – und das ist politisch gewollt – dann müssen wir den Spieß umdrehen. Die Wege der verletzlicheren Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer müssen als Erstes geräumt werden.

Wie sieht es auf dem Land aus? Sind auch private Anwohner, vor deren Haustür ein Radweg verläuft, dafür verantwortlich, dass dieser geräumt und nutzbar ist?
Für Radwege über Land gibt es keine Streupflicht, allenfalls am Stadtrand. Auf Gehwegen vor Häusern müssen die Anwohnerinnen und Anwohner auch auf dem Dorf für den Winterdienst sorgen. Das gilt aber nicht für Radwege. Bei gemeinsamen Geh- und Radwegen muss nur ein Streifen für den Fußverkehr geräumt werden.

Oft sieht man, dass das so gehandhabt wird – und der Schnee von Gehweg oder Straße auf den Radweg geschoben wird. Woran liegt es, dass anscheinend nicht einmal der offizielle Winterdienst Radwege als Verkehrswege auf dem Schirm hat?
Die oft angewandte Praxis, Schnee von den Autospuren auf Rad- und Fußwege zu räumen, ist absolut inakzeptabel. Es liegt oft an mangelnder Koordinierung durch die Kommune, wenn nach dem kleinen Räumfahrzeug für Radwege der Schneepflug für die Autospuren kommt. Das muss dringend besser werden.

Warum ist das so? Hat das Fahrrad zu wenig Relevanz?
Bei manchen hält sich das Vorurteil, Radverkehr sei verzichtbarer Freizeitverkehr. Es ist aber andersherum: Wenn die Radwege bequem und auch im Winter sicher zu befahren sind, entscheiden sich mehr Menschen fürs Rad, zum Beispiel zum Pendeln zur Arbeit, Schule oder Ausbildung.

Können Radfahrer, die auf einen dieser Art blockierten Radweg treffen, dies irgendwo melden?
Melden kann man nicht geräumte Radwege bei den Kommunen, und das sollten Radfahrende auch nutzen, um auf Gefahren aufmerksam zu machen.

Welche Rolle spielt Infrastruktur wie Beleuchtung der Fahrradwege, witterungsgeschützte Unterstellmöglichkeiten an U- und S-Bahnhöfen dabei, dass die Menschen auch bei Kälte, Nässe und Schnee Rad fahren?
Überdachte und gut beleuchtete Abstellanlagen sind für Pendlerinnen und -pendler, die zum Bahnhof fahren, zu allen Jahreszeiten ein Muss. Im Winter fallen die Spitzenzeiten des Schüler- und Berufsverkehrs in dunkle Tagesstunden, daher sollten Radwege angemessen beleuchtet sein. Die Fahrradbeleuchtung hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Sie ist heller geworden und fällt nur noch selten aus.

In anderen Ländern, z. B. Finnland, Holland oder Dänemark, fahren deutlich mehr Menschen im Winter mit dem Fahrrad. Was machen diese Länder bzw. Städte wie Oulu, Amsterdam oder Kopenhagen anders?
Die Niederlande zum Beispiel zeigen, dass man mit einem fantastischen Radwegenetz und einem sehr guten Winterdienst das Fahrrad zu einem Ganzjahresverkehrsmittel für alle machen kann. Da muss Deutschland noch aufholen und von der „Auto-first“-Denke wegkommen.

Was ist der Status quo in Sachen Winterradfahren in Deutschland?
Es gibt schon einige gute Beispiele: In Hannover existiert bereits seit einigen Jahren ein Beschluss, dass 200 Kilometer Radwege in erster Priorität geräumt werden müssen, und dafür wird auch Geld bereitgestellt. Rostock und Karlsruhe haben ebenfalls erkannt, dass das Fahrrad auch im Winter ein großes Potenzial hat, Autoverkehr zu verlagern. Kommunen können hier viel beitragen.
Wichtig ist aber auch die Bundesebene: Das Straßenverkehrsgesetz muss dringend modernisiert werden, damit Städte und Dörfer fahrradfreundlich werden können. Denn eine gute Infrastruktur ist der Schlüssel zu mehr Radverkehr – im Sommer wie im Winter.


Bilder: stock.adobe.com – vbaleha, ADFC – Clemens Bilan

Was tut sich hinter den Kulissen Richtung Mobilitätswende und wie kann man das Tempo in der Verkehrsplanung potenziell beschleunigen? Nils Weiland, der bis Juni dieses Jahres in Bremen das Referat für Strategische Verkehrsplanung leitete und aktuell als Projektingenieur beim Hamburger Planungsbüro „ARGUS Stadt und Verkehr“ tätig ist, sieht große Potenziale. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Herr Weiland, vielfach drängt sich der Eindruck auf, dass eine Mobilitätswende zwar gewollt ist, aber nur sehr langsam vorangeht, Beispiel StVO-Reform. Stimmt der Eindruck?
Zum Teil. Es tut sich einiges – in den Kommunen, aber auch bei Bund und Ländern. Ich kann allerdings auch verstehen, dass es vielen Menschen zu langsam geht. Auf kommunaler Ebene, in den Ländern und auch beim Bund gibt es noch viele Potenziale, um die Verkehrswende anzukurbeln.

Inwieweit können aus Ihrer Sicht Prozesse in der Verwaltung beschleunigt werden?
Die Verwaltungsspitzen können zum Beispiel Prozesse bündeln, eine klare Richtung vorgeben, eindeutige Prioritäten definieren und in der Praxis öfters auf temporäre Lösungen setzen. Bremen hat dabei durch die besondere Situation als kleiner Stadtstaat mit kurzen Wegen natürlich viele Vorteile. In Hamburg und Berlin ist es durch die zusätzliche Verwaltungsebene der Bezirke schon viel komplizierter.
Daneben ist die Organisationsstruktur der kommunalen Verkehrsverwaltung entscheidend. Oft fließen viel Zeit und Energie in die verwaltungsinterne Abstimmung zwischen der Verkehrsplanung und der Straßenverkehrsbehörde. Wenn man hier kurze Wege – im Idealfall in der gleichen Organisationseinheit – schafft und klare politische Vorgaben macht, sodass die Menschen zusammen an einem Strang ziehen, dann lässt sich viel bewegen. Für mich ist das einer der größten Hebel, die Verwaltungen haben, um Prozesse zu beschleunigen. Einige Städte setzen das auch erfolgreich um. Wie die Verwaltung aufgebaut ist, hat einen großen Einfluss darauf, wie schnell, effizient und in welcher Qualität Dinge umgesetzt werden.

„Wir brauchen auch effizientere Strukturen in der Verwaltung.“

Nils Weiland

Wie sehen Sie die Rolle der Kommunen? Brauchen sie mehr Entscheidungsspielräume?
Auf jeden Fall. Die Kommunen wissen ja am besten, wo die kritischen Stellen oder Lücken in ihren Verkehrsnetzen sind. Bei der Umsetzung geeigneter Maßnahmen sind sie aktuell noch viel zu sehr von den Vorgaben des Bundes abhängig. Zudem legen die einzelnen Straßenverkehrsbehörden den heutigen Rechtsrahmen teilweise sehr unterschiedlich aus. Oft werden die bestehenden Möglichkeiten nicht genutzt, weil sie nicht schwarz auf weiß in der Verwaltungsvorschrift stehen. Hier würden andere Formulierungen in der StVO und in den Regelwerken Klarheit schaffen.

Dafür müsste wohl die StVO ein Update bekommen, richtig? Sie haben im Rahmen einer Arbeitsgruppe im Auftrag der Verkehrsministerkonferenz mit Blick auf den Fußverkehr ja einige Vorschläge gemacht.
Auf einen Antrag von Bremen hin wurde bei der Verkehrsministerkonferenz im Oktober 2020 beschlossen, dass eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe eingesetzt wird, die Vorschläge erarbeiten soll, wie das Bundesrecht angepasst werden kann, um den Fußverkehr zu fördern. Anfang Februar 2021 haben wir ein Papier mit 18 Punkten vorgelegt. Im April hat die Verkehrsministerkonferenz das Bundesverkehrsministerium gebeten, die Vorschläge zu prüfen und bei der anstehenden Novellierung des Rechtsrahmens zu berücksichtigen. Vor der Bundestagswahl wird das nicht mehr passieren, aber ich bin guter Hoffnung, dass Mitte 2022 eine entsprechende Novelle der StVO und der dazugehörigen Verwaltungsvorschriften verabschiedet wird. Der Bedarf ist erkannt und das geflügelte Wort „Nach der Novelle ist vor der Novelle“ hört man regelmäßig auch aus dem Bundesverkehrsministerium.

Begegnungszonen und geschützte Radwege lassen sich vergleichsweise schnell einrichten und ausprobieren und dann in einem zweiten Schritt schön gestalten.

Sie haben ja als Vorsitzender der Arbeitsgruppe an den Vorschlägen zur Förderung des Fußverkehrs mitgewirkt. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Punkte?
Unsere Änderungsvorschläge beschäftigen sich zum einen mit dem Verhältnis der Verkehrsteilnehmenden untereinander, zum Beispiel damit, dass Kraftfahrzeuge an Kreuzungen, Einmündungen und Querungshilfen nur noch so geparkt werden dürfen, dass sie kein Sichthindernis beim Queren der Fahrbahn darstellen. Andere Punkte richten sich an die Kommunen mit dem Ziel, deren Entscheidungsbefugnisse entweder zu verdeutlichen oder zu erweitern. Heute ist es zum Beispiel nicht ohne Weiteres möglich, einen Zebrastreifen in einer Tempo-30-Zone anzulegen, selbst wenn Entscheiderinnen und Entscheider das aufgrund der Situation vor Ort für geboten halten.

Müsste die StVO nicht auch grundsätzlich anders ausgerichtet werden?
In der Arbeitsgruppe haben wir uns auf Punkte beschränkt, die aus unserer Sicht zeitnah umgesetzt werden können. Eine grundlegende Neuausrichtung der Straßenverkehrsordnung oder eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h innerorts wären zwar hilfreich, aber mit einem längeren Vorlauf verbunden. Die Arbeitsgruppe hat sich aber dafür ausgesprochen, einen Modellversuch zur Umkehrung der Regelgeschwindigkeit durchzuführen.

Inwieweit berühren die vorgeschlagenen Punkte auch den Radverkehr?
Es gibt viele Vorschläge, die auch dem Radverkehr zugutekommen, wie zum Beispiel die Verbesserung der Sichtbeziehungen. Davon profitieren natürlich auch Radfahrende. Ein weiterer Punkt ist die Reduzierung der Geschwindigkeit. Hier wird vorgeschlagen, die Anordnung von Tempo 30 auf Schulwegen und als Lückenschlüsse zu ermöglichen. Ein weiterer Vorschlag ist die Einführung der Begegnungszone mit Tempo 10 oder Tempo 20. Das würde eine Lücke in der StVO schließen und den Kommunen deutlich mehr Flexibilität in der Straßenraumgestaltung geben.
Damit das auch funktioniert, haben wir wiederkehrende Gestaltungselemente sowie Sicherheitsaudits als Qualitätskontrollen empfohlen. All das fördert sowohl die subjektiv gefühlte wie auch die objektive Sicherheit, zu Fuß und auf dem Fahrrad.

Warum sind gestalterische Änderungen wichtig und welche Möglichkeiten gibt es?
Wir bewegen uns im Verkehr in der Regel intuitiv. Verkehrsschilder werden oft gar nicht bewusst wahrgenommen. Ein ständiger Wechsel der Geschwindigkeitsvorgaben kann die Verkehrsteilnehmenden schnell überfordern. Deshalb müssen wir selbsterklärende Straßenräume schaffen. Eine Straße umzubauen dauert aber gerne mal fünf Jahre oder länger. Für temporäre Maßnahmen sind dagegen nur wenige Monate Vorlauf nötig. Berlin und andere Städte zeigen sehr gut, was mit geschützten Pop-up-Radwegen, Blumenkübeln, transportablen Parklets und ähnlichen Elementen alles erreicht werden kann.

Erfolgreiche temporäre Lösung: Warnbaken, Farbe und mobile Module genügen, um die Friedrichstraße in Berlin testweise umzubauen.

Mehr Qualität und neue Funktionalität: die Favoritenstraße und die Lange Gasse in Wien nach dem Umbau.

Das heißt, Sie plädieren für mehr temporäre und Pop-up-Lösungen in der Verkehrsplanung? Welche Vorteile bieten sie?
Temporäre und provisorische Lösungen sind aus verschiedenen Gründen ganz hervorragende Werkzeuge in der Verkehrsplanung. Das sicher wichtigste Argument: Man vermeidet unendlich lange Diskussionen, weil allen klar ist, dass es erst mal nur ein Projekt auf Zeit ist. Viele Menschen tun sich mit Veränderungen schwer, deshalb sind sie erst mal dagegen. Bei temporären Projekten ist der Widerstand aber viel geringer. Mit der Zeit entsteht so zudem eine neue Realität. Wir sehen immer wieder, dass die Menschen dann den neuen Zustand mit großer Mehrheit befürworten und nicht mehr zum früheren Zustand zurückwollen.
Ein wichtiges Argument für uns als Planende ist zudem, dass wir nicht nur kurzfristig auf Erfordernisse reagieren können, sondern auch in die Lage versetzt werden, Dinge auszuprobieren und bei Bedarf mit wenig Aufwand zu verändern oder zurückzubauen. Das schafft ganz neue Möglichkeiten. Für den eigentlichen Umbau kann sich die Planung an den gewonnenen Erkenntnissen orientieren und das Ganze quasi in Schön gestalten.

Was erwarten Sie konkret von der kommunalen Politik und wie kann sie Prozesse beschleunigen?
Da es um langfristige Prozesse geht, sind eindeutige Ziele notwendig. Zudem muss klar sein, dass wir nicht alle Probleme auf einmal angehen können. Deshalb ist es wichtig, Prioritäten zu setzen, und diese dann auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern zu kommunizieren, also auch zu sagen, dass bestimmte Maßnahmen nicht die höchste Priorität haben. Das stärkt den Planerinnen und Planern den Rücken, um die beschlossenen Projekte voranzutreiben. Letztlich brauchen Projekte häufig auch so lange, weil die Zielsetzung variabel ist, die Beteiligten zu viele Themen parallel bearbeiten müssen oder ständig neue Projekte zwischendurch reingeschoben werden.

Vielfach ist von einem deutschlandweiten Mangel an Verkehrsplaner*innen die Rede. Welche Möglichkeiten gibt es, die Prozesse trotzdem vor Ort zu beschleunigen?
Verkehrsplanerinnen und -planer sind im Arbeitsalltag mit einer Vielzahl von Tätigkeiten befasst, für die sie nicht ausgebildet sind und für die andere sicher kompetenter wären. Verkehrswende ist aus meiner Sicht zu 80 Prozent Kommunikation. Bürgerbeteiligung ist aber wahnsinnig aufwendig und nicht nebenbei zu leisten. Ebenso, die Planungen und Arbeitsergebnisse gut zu verkaufen. Aber wir haben bis auf wenige Stabsstellen in der Verwaltung keine Kommunikationsexpertinnen und -experten. Wichtig können auch andere Disziplinen wie Datenanalyse und User Experience Design sein. Für all das wären mehr fachlich interdisziplinäre und arbeitsteilige Teams in meinen Augen genauso wichtig wie mehr reine Verkehrsplanerinnen und -planer. Vorteil ist auch, dass durch den Austausch einer gewissen Betriebsblindheit vorgebeugt und neue Ideen entwickelt werden können.

„Die Frage ist immer, was vor Ort die wichtigsten Maßnahmen sind.“

Nils Weiland

Wo gibt es bislang zu wenig beachtete Themen?
Wenn wir Routinen verändern wollen, dann brauchen wir Push-Maßnahmen. Die erfordern aber ein sehr breites politisches Rückgrat. Bei den Pull-Maßnahmen können neben der gebauten Infrastruktur auch neue, niedrigschwellige Angebote helfen. Die Frage ist immer, was vor Ort die wichtigsten Maßnahmen sind. In Paris hat beispielsweise das breit angelegte Fahrradverleihsystem einen entscheidenden Anteil daran gehabt, dass das Fahrrad überhaupt als Verkehrsmittel wahrgenommen worden ist. Weiterhin können zum Beispiel attraktive kostenlose und einfach zugängliche Bike&Ride-Systeme, wie in den Niederlanden, eine wichtige Maßnahme sein. Gerade in Regionen mit bewegter Topografie ist es sicher auch sinnvoll, einen E-Bike- oder E-Cargobike-Verleih aufzubauen oder den Menschen die Chance zu geben, die Möglichkeiten für ein bis zwei Monate kostengünstig auszuprobieren. Mit solchen Angeboten gibt es sehr gute Erfahrungen.

Wie können die Kommunen den Aufbau von Bike&Ride-, Leih- und Sharing-Angeboten finanzieren?
Die Frage ist, wie eine tatsächliche Verkehrswende gezielt gefördert werden kann. Vom Bund werden bis zu 6.000 Euro an Subventionen für die Anschaffung eines Elektroautos gezahlt. Es wäre sicher wünschenswert, wenn parallel dazu Angebote, die Menschen zum Umstieg vom privaten Pkw motivieren, deutlich stärker finanziell auf Bundesebene gefördert würden. Mit der Fördersumme eines einzigen Elektroautos könnten wir so viel mehr erreichen.

Was kann der Bund noch beitragen für eine schnellere Mobilitätswende?
Mit der Anhebung der Bußgelder ist ein wichtiger Punkt inzwischen abgehakt, der die Kommunen in die Lage versetzt, hier zumindest kostendeckend zu kontrollieren – dank der Vermittlung der Bremer Mobilitätssenatorin Maike Schäfer, die zurzeit Vorsitzende der Verkehrsministerkonferenz ist. Was ich auf Bundesebene vermisse, ist ein übergreifender Ansatz für eine Verkehrswende, möglichst differenziert nach Stadt, Umland und ländlichem Raum. Zudem ist es wichtig, die Kommunen zu unterstützen und ihnen mehr Freiheiten einzuräumen. Zum Beispiel bei der Möglichkeit, die Parkraumbewirtschaftung als Steuerungsinstrument einzusetzen und vielen anderen Dingen.
Und ganz wichtig: Wir brauchen nicht nur eine Novelle der StVO und der dazugehörigen Verwaltungsvorschriften, sondern auch effizientere Strukturen in der Verwaltung. Die Straßenverkehrsbehörde in die Verkehrsplanung zu integrieren, ist dabei entscheidend. Das klingt erst mal unspektakulär, aber so bekommen wir einen großen Hebel für gute und schnelle Veränderungen an die Hand. Es gibt also noch viele Potenziale, beim Bund, den Ländern und natürlich auch in den Kommunen selbst.


Nils Weiland

… ist studierter Bauingenieur und Umwelttechniker mit Schwerpunkt Verkehrsplanung und hat bis Juni 2021 das Referat Strategische Verkehrsplanung inBremen geleitet. Dabei war er unter anderem mit den Themen autofreie Innenstadt, Parken in Quartieren, der ÖPNV-Strategie und dem Stadt-Regionalen Verkehrskonzept befasst. Als Vorsitzender einer von der Verkehrsministerkonferenz eingesetzten Ad-hoc-Arbeitsgruppe mit dem Ziel, den Fußverkehr zu fördern, hat er 2020 und 2021 an Vorschlägen zur Änderung des Bundesrechts mitgearbeitet. Seit Juli 2021 ist er als Projektingenieur beim Hamburger Planungsbüro „ARGUS Stadt und Verkehr“ tätig.


Bilder: Nils Weiland, Qimby.net – Philipp Böhme, Dirk Schmidt, Qimby.net – Benedikt Glitz

100.000 neue Fahrradstellplätze sollen bis 2022 mit Förderung des Bundesumweltministeriums im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative an Bahnhöfen entstehen. Warum es für Städte und Kommunen Sinn macht, jetzt in entsprechende Anlagen zu investieren, und wie sie schnell zu Ergebnissen kommen, dazu haben wir mit Jörg Suckow, geschäftsführender Gesellschafter von ORION Bausysteme, gesprochen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Geschäftsführer ORION Bausysteme, Jörg Suckow, bei der Demonstration des „Doppelstockparkers“ für das gemeinsame Projekt von DB und BMU „100.000 Fahrradstellplätze an Bahnhöfen bis 2022“

Herr Suckow, die ORION Bausysteme ist Partner der Deutschen Bahn beim Programm 100.000 Fahrradabstellplätze bis 2022. Welche Ziele verbinden sich mit dem Projekt?
An den meisten Bahnhöfen war es um das Angebot an geeigneten und vor allem ausreichenden Fahrradabstellplätzen nicht zum Besten bestellt. Obwohl ein Großteil der Fahrgäste der DB die Wegstrecke zum Bahnhof mit dem Fahrrad zurücklegt, fehlte es an funktionalen Fahrradabstellanlagen. Diebe und Vandalen hatten somit leichtes Spiel, ihr Unwesen an den schlecht gesicherten Rädern zu treiben. Durch das durch die DB und das Bundesumweltministerium initiierte Projekt findet nun im Umfeld vieler Bahnhöfe eine spürbare Aufwertung der Infrastruktur für Radfahrer statt.

Warum lohnt es sich für Kommunen generell, in Fahrradabstellanlagen zu investieren?
Das hohe Aufkommen des motorisierten Individualverkehrs ist in vielen Kommunen inzwischen zum Problem geworden. Politisch ambitioniert formulierte Ziele wie Klimaschutz, Nachhaltigkeit beim Ressourcenverbrauch und eine Verbesserung der Lebensqualität erfordern ein Umdenken und Umlenken. Im Hinblick auf die Umwidmung des für den motorisierten Individualverkehr bisher „reservierten Platzes“ bei der Aufteilung der Straßen zugunsten von sicheren Radfahr- und Fußgängerwegen.

Wie hoch ist der finanzielle und planerische Aufwand und welche Fördermittel gibt es?
Die an dem Projekt teilnehmenden Kommunen profitieren von hohen Zuschüssen. Der Bund steuert bis zu 70 % bei, sodass sich der Eigenanteil der Kommune auf bis zu 30 % reduziert. Die DB leistet ihren Beitrag in Form der Projektkoordination sowie durch kostenlose Überlassung der erforderlichen Fläche. Der planerische Aufwand für die Kommune ist abhängig von den vorgefundenen örtlichen Umständen. Als Hersteller mit über 40-jähriger Erfahrung im Bereich der Ausstattung von Flächen mit funktionalen Fahrradparksystemen unterstützt ORION Bausysteme den Kunden, um die jeweils beste Lösung zu finden.

Was sind Ihre Erfahrungen mit der bundesweiten Bike+Ride-Offensive?
Als ORION Bausysteme haben wir Ende 2019 den Zuschlag für das Gewerk „Fahrradparksysteme“ erhalten. Seitdem stehen wir in regem Kontakt mit der DB sowie interessierten Kommunen. Zur Ausführung kommen sowohl ebenerdige als auch doppelstöckige Abstellsysteme für Fahrräder. Beide Systeme bieten den Vorteil, in puncto „Platzverbrauch“ sehr effektiv für genügend Abstellkapazität zu sorgen. Das ist für die Kommunen oft von entscheidender Bedeutung, da Fläche in der Regel den restriktiven Faktor darstellt. Interessierte Kommunen sind über das gesamte Bundesgebiet verteilt.

Wie unterstützen Sie als Unternehmen zusammen mit der Deutschen Bahn Städte und Kommunen konkret bei der Umsetzung?
Wir beraten persönlich und erkennen dabei sehr schnell, welche Lösungen an welchem Standort zu favorisieren sind.

In den Niederlanden sieht man oft Doppelstockparker an Bahnhöfen und auch bei uns werden sie immer populärer. Welche Vorteile ergeben sich aus Ihrer Sicht?
Doppelstockparker bieten den Vorteil, dass man gegenüber klassischen, ebenerdigen Parksystemen auf vorhandener Fläche nahezu die doppelte Anzahl an Abstellplätzen für Fahrräder schaffen kann. Die Vorbehalte der angeblich erschwerten Bedienung relativieren sich mit etwas Übung sehr schnell! In manchen Systemen werden sogenannte „Gasdruckfedern“ als Hebehilfe integriert, was die erforderliche Muskelkraft deutlich reduziert. Doppelstöckige Fahrradparksysteme exportieren wir inzwischen in viele europäische Länder, was deren praktische Akzeptanz bestätigt. Beim Begehen von Fahrradstationen in Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz, Österreich usw. stellt man fest, dass die oberen genau wie die unteren Einstellungen vorbehaltlos genutzt werden.

„Im Schnitt vergehen vom Abruf bis zur Montage ca. vier bis sechs Wochen.“

Jörg Suckow, Geschäftsführer ORION Bausysteme
Praktisch und platzsparend: Auch die oberen Einstellungen werden vorbehaltlos genutzt.

Nach Ihrer praktischen Erfahrung: Wie lange dauerte es von den ersten Plänen bis zur Fertigstellung einer Fahrradabstellanlage?
Hierzu gibt es klare vertragliche Grundlagen mit der DB. Als Hersteller mit Ausrichtung auf industrielle Serienfertigung sind wir in der Lage, die durchaus „sportlichen“ Anforderungen der DB sowie der Kunden zu realisieren. Im Schnitt vergehen vom Abruf bis zur Montage ca. vier bis sechs Wochen, wobei der Zeitbedarf eher die kundenseitige Abwicklung bei der Umsetzung der vorzubereitenden Arbeiten widerspiegelt.

Was sollte noch besser werden im Hinblick auf die aktuellen und künftigen Herausforderungen mit Blick auf Fahrradparken und allgemein die Mobilitätswende?
Um Städte, aber auch Ortschaften dabei zu unterstützen, den Verkehr klimafreundlicher zu gestalten, müssten den Ankündigungen der Politik auch Taten folgen. In vielen ländlichen Regionen ist der ÖPNV unterentwickelt, die Fahrradinfrastruktur häufig ein Stiefkind, sodass für Wegstrecken, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden könnten, das Auto genommen wird. In größeren Städten ist zwar der ÖPNV besser getaktet, im Hinblick auf die Infrastruktur für Radfahrer gibt es aber große Unterschiede. Best-Practice-Beispiele findet man zum Beispiel in Karlsruhe, Freiburg und Münster. Auch Frankfurt und Berlin entwickeln Ambitionen und zeigen Erfolge. Trotzdem: Es bleibt noch viel zu tun.

To-dos für die Kommunen

Die Deutsche Bahn bietet im Rahmen der Bike+Ride-Offensive umfangreiche Hilfe bei der Projektrealisierung. Informationen unter www1.deutschebahn.com/bikeandride/Realisierungen


Folgende To-dos liegen demnach bei den Städten und Kommunen:

  • Projektregistrierung über die Bike+Ride-Website
  • Rechtzeitige Einplanung der Eigenmittel/Finanzierungsmöglichkeiten im Haushaltsplan
  • Teilnahme an einer Bahnhofsbegehung (virtuell/vor Ort)
  • Freigabe des Prüfkonzepts zur Übergabe an DB Immobilien
  • Freigabe des Feinkonzepts mittels rechtskräftiger Flächenauswahl
  • Ggf. Unterzeichnung des Bike+Ride-Standard-Gestattungsvertrages
  • Ggf. Einreichung des Förderantrages über das Easy-Online-Portal
  • Ggf. Flächenherrichtung und Bestellung der Anlagentypen
  • Baustellenbeschilderung
    (Ankündigung des Vorhabens/Schrotträderbeseitigung)
  • Betrieb der Anlage unter Einhaltung der Mindeststandards
  • Einhaltung vorliegender Gestattungs- und Förderbedingungen

Über die ORION Bausysteme GmbH

ORION Bausysteme mit Sitz in 64584 Biebesheim bietet dem Kunden eine Komplettleistung aus einer Hand: Planung, Konstruktion, Herstellung, Lieferung und Montage. Im Jahr 1980 gegründet, gehört das Unternehmen seit über 40 Jahren zu den führenden Herstellern im Bereich funktionaler Fahrradparksysteme und Überdachungen sowie Stadtmobiliar. Im Jahr 1996 wurde am Standort Neustadt/Sachsen, in der Nähe von Dresden, das Unternehmen ORION Stadtmöblierung GmbH gegründet. Beide Firmen zusammen bilden seitdem einen erfolgreichen Verbund, begleitet von kontinuierlichem Wachstum. Die Belegschaft umfasst 80 Mitarbeiter.


Bilder: ORION Bausysteme

Die gebürtige Amerikanerin Meredith Glaser beschäftigt sich beim Urban Cycling Institute der Universität Amsterdam mit den Schwerpunkten Collective und Social Learning. Dabei befasst sie sich vor allem mit der Transformation von Städten. Unter anderem im Rahmen des „Handshake“-Programms (handshakecycling.eu) zum Austausch von Erfahrungen, an dem 13 europäische Metropolen teilnehmen, darunter Kopenhagen, Amsterdam und München. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2021, Juni 2021)


Frau Glaser, wo sehen Sie die Kernprobleme des heutigen Stadtverkehrs und was muss sich aus Ihrer Sicht ändern?
Wir fassen das Thema Verkehr als Transport-Engineering-Problem auf. Es geht um Zeit, nicht um Wert. Das Ziel ist, Zeit zu sparen und mögliche Verspätungen zu reduzieren. Das schlägt sich im Design der Straßen nieder und den Regeln, die hier gelten. Die Gesetze und Richtlinien, denen Verkehrsplaner folgen, sind aber schon rund hundert Jahre alt. Wichtig ist, sich bewusst zu machen, dass sich seitdem eine Menge verändert hat, in der Gesellschaft, bei Innovationen und Technologien. Vor allem die Art, wie wir unsere Städte heute nutzen, hat sich stark verändert.

Welche Anforderungen gibt es heute mit Blick auf die Städte und Straßen?
Wir sehen heute einen bunten Mix: Die Menschen wollen in der Stadt wohnen und leben, nah bei anderen Menschen. Wichtig ist auch die Nähe zu Aktivitätsmöglichkeiten und Annehmlichkeiten wie Kultur, Restaurants, Cafés – und natürlich die Nähe zu den Arbeitsplätzen. All das hat für Stadtbewohner*innen heute Priorität. Aber unsere Straßen werden immer noch so gedacht und durch die gleichen Regeln und Paradigmen bestimmt, wie vor hundert Jahren. Sie haben sich nicht weiterentwickelt, sondern versuchen, all diese neuen Anwendungen und Qualitäten mit unterzubringen. Wenn wir Straßen als Technologie sehen, dann wäre das vielleicht so, als würden wir versuchen, eine Floppy Disk in ein iPhone 12 einzulegen. Es funktioniert einfach nicht.

Was hat sich inzwischen technologisch verändert und wo gibt es Probleme?
Es gibt große gesellschaftliche Veränderungen und auch viele technische Innovationen. Neben Fahrrädern und E-Bikes die Mikromobilität, die Sharing Economy und Mobility as a Service. Aktuell dienen die Straßen aber nur einem Nutzer: dem Auto! Was wir sehen, sind Konflikte, die zu Verkehrsunfällen mit Todesfolge führen. Allein 3.000 Tote im Verkehr in Deutschland im Jahr 2020 und 300.000 Verletzte. Fakt ist: Viele wären vermeidbar.

Sind Straßen, wie wir sie heute zum Beispiel in Deutschland kennen, dann überhaupt zeitgemäß?
Straßen sind der größte öffentliche Raum jeder Stadt, es gibt also ein großes Potenzial. Derzeit ist jedoch ein Großteil dieses Raums allein für Autos reserviert.

„Wir brauchen mehr Urban Design, mehr Stadtplaner und mehr Input von allen Bürgern und nicht nur von Verkehrsplanern.“

Bei der Sicherheit hat man den Eindruck, dass die Verantwortung oft auf die Verkehrsteilnehmer geschoben wird.
Unsere Forschung hat gezeigt, dass Schuld sozial konstruiert ist. Viele Akteure spielen dabei eine Rolle, wie zum Beispiel die Medien und die Autoindustrie. Die Fakten zeigen, dass die Fahrzeuge immer größer und leistungsfähiger werden. Das bedeutet, dass Menschen außerhalb von Autos, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf Straßen unterwegs sind, einem noch größeren Risiko ausgesetzt sind. Es gibt definitiv eine Verantwortung der Entscheidungsträger, unsere Straßen, besonders in den Städten, sehr sicher zu machen und sie sicher zu halten, besonders für diejenigen, die zu Fuß gehen und Rad fahren.

Vielfach wird das Thema Angst angesprochen, wenn es um den Straßenverkehr oder neben der Straße spielende Kinder geht.
Straßen sind das Lebenselixier einer jeden Stadt. Wenn Straßen für jeden einladend sind, unabhängig davon, wie sie oder er sich fortbewegen kann, dann strömen die Menschen auf diese Straßen. Wenn Menschen Angst zeigen, dann wird es schwierig, diesen mentalen Zustand zu ändern. Angst kann nicht das sein, was wir wollen. Wir wollen menschen- und innovationsfreundliche Städte und Straßen.

Warum sind niedrigere Geschwindigkeiten wichtig und welche Maßnahmen wirken?
Die Absenkung der Geschwindigkeit in Städten ist eine wichtige Maßnahme, denn wir wissen, dass sowohl die Zahl der schweren Crashs, wie auch die Schwere der Verletzungen drastisch gesenkt werden. Die Senkung der Geschwindigkeiten in Städten ist eine wichtige Maßnahme, denn wir wissen, dass sowohl die Zahl der schweren Unfälle als auch die Schwere der Verletzungen drastisch reduziert werden. Aber neben Gesetzen und Regeln gibt es noch eine weitere wichtige Komponente: die Veränderung der Straßen durch Design. Wenn Sie auf einer sehr breiten Straße ohne Verkehr fahren, wollen Sie schnell fahren. Und warum sollte man die Geschwindigkeit reduzieren, zum Beispiel in Tempo-30-Abschnitten, wenn es keine Überwachung gibt? Ein wichtiger Faktor, der mitgedacht werden muss, ist das Design unter anderem durch Fahrbahnmarkierungen, Landschaftsplanung und Beleuchtung. Man muss den Leuten das Gefühl geben, dass sie hier langsam fahren müssen. In den Niederlanden gibt es eine klare Trennung zwischen Durchgangs- und Wohnstraßen.

In den Niederlanden gibt es eine klare Trennung zwischen Durchgangs- und Wohnstraßen. Was ist der Unterschied zu anderen Ländern?
In den Niederlanden wurde das in Schweden entwickelte „Sustainable Safety“-Konzept (Red. Anm.: Vision Zero) erfolgreich durch das Prinzip der hierarchischen Straßen adaptiert. Diese Hierarchie ist selbsterklärend und sehr logisch. Fahrer merken sofort, wo sie sind und was von ihnen erwartet wird. Die Unterschiede zwischen den mehrspurigen Hauptverkehrsstraßen, einer Arterie und einer Wohnstraße merkt man sofort. Wohnstraßen sind meist Einbahnstraßen, sehr schmal und kompakt, mit Bäumen und Grünbepflanzungen und einem Tempolimit von 15 bis 20 km/h. Manchmal ist die Zufahrt für Autos auch ganz gesperrt.

Menschen statt Autos: Die Govert Flinckstraat in Amsterdam 1973 und heute.

Was können andere Länder beim Straßendesign von den Niederlanden lernen?
Die Lehre für andere Städte ist klar, dass ein intuitiv erfassbares Design eine wichtige Rolle spielt. Auch um den Menschen zu signalisieren, dass man an diesen Stellen Zufußgehen und Radfahren präferiert und erwartet. Damit sind wir übrigens nicht nur in Wohnstraßen erfolgreich, sondern auch in Einkaufsstraßen mit Shops und Cafés. Die zweite wichtige Sache: Menschen machen Fehler. Die Gestaltung der Straßen sollte mit einbeziehen, dass menschliches Versagen unvermeidlich ist. Natürlich lässt sich das nicht von heute auf morgen erledigen, aber wir können auch jetzt schon viel tun. Wir brauchen mehr Urban Design, mehr Stadtplaner und mehr Input von allen Bürgern und nicht nur von Verkehrsplanern.

Brauchen wir für die Veränderungen auch ein anderes Mindset?
Die größte Veränderung, die wir sicher brauchen, ist eine kollektive Zustimmung. Natürlich muss nicht jeder Bürger und Verantwortliche direkt zustimmen, aber jeder sollte zumindest anerkennen, dass wir eine Verschiebung bzw. Veränderung benötigen. München hat hier zum Beispiel mit dem Konzept der „Radlhauptstadt“ vor einigen Jahren kommunikativ einen wirklich super Job gemacht und die Menschen mitgenommen.

Wie hoch sind aus Ihrer Sicht die Chancen für schnelle Veränderungen?
Was wirklich wertvoll ist, vor allem jetzt, sind die Learnings aus der Pandemie. Wir haben gesehen, dass Veränderungen wirklich möglich sind. Mit weniger Verkehr, Veränderung im Verhalten der Menschen, zum Beispiel indem man nicht mehr jeden Tag zur Arbeit pendeln muss und mehr lokal unterwegs ist. Es ist traurig, dass es einer Pandemie bedurfte, aber es ist faszinierend zu sehen, wie mit preiswerten Materialien und Kreativität Veränderungen in Gang gesetzt wurden.

Wie ist Ihre Sicht auf die Veränderungen im Verkehr während der Pandemie mit Blick auf Deutschland?
Berlin ist ein fantastisches Beispiel! Die Stadt hat sehr schnell und sehr flexibel reagiert mit einem Netz aus Pop-up-Bikelanes in der Stadt. Diese Fähigkeit, Flexibilität zu zeigen und eine schnelle Antwort zu geben, ist sehr beeindruckend. Wichtig sind aber auch die vielen kleinen Projekte, mit denen Städte zum Beispiel Neues ausprobieren und Akzeptanzgrenzen austesten. Auch zwei Kilometer Straße, die beispielsweise gerade in San Francisco verändert wurden, können etwas sein, was den Menschen die Augen öffnet und ein anderes Denken anstößt.

Wie ist Ihre Einschätzung? Werden temporäre Lösungen nach der Pandemie wieder zurückgebaut oder sind sie ein Durchbruch?
Es wird eine Hauptaufgabe sein die Projekte, aber auch das Umdenken, was klar eingesetzt hat, zu verstetigen. Es ist gut, dass die Menschen merken, dass sich etwas ändert. Was dabei enorm wichtig ist: Die Projekte und Maßnahmen legitimieren Änderungen in der Zukunft. Jedes Experiment, das erfolgreich und permanent wird, wird automatisch zu einer Referenz für jeden Planer, Politiker oder jede Lobbygruppe, die Änderungen möchte. Sie können sagen, schaut her, wie erfolgreich das war! Das ist, wie Dinge sich ändern können.

Online-Kurse: Unraveling the Cycling City

Die akademischen Online-Kurse „Unraveling the Cycling City“ der Universität von Amsterdam werden auf Coursera.com angeboten. Sie werden regelmäßig mit Bestnoten bewertet und wurden inzwischen von über 10.000 Teilnehmer*innen besucht.

urbancyclinginstitute.com/mooc

Welche Fehler sollte man als Verantwortlicher, Politiker oder Planer heute vermeiden?
Der größte Fehler ist sicherlich, Angst vor Veränderungen zu haben, in seiner alten Perspektive und Denkweise stecken zu bleiben. Es ist einfach und bequem für Planer und Beamte, den Status quo beizubehalten, mit Bürokratie, Regeln usw. Der schwierigste Teil ist sicherlich die Arbeit innerhalb der Bürokratie, um das Denken und die Standards zu ändern.

Was würden Sie Verantwortlichen raten? Was brauchen wir für eine Mobilitätswende?
Wir haben heute sehr gute Daten und wissen, dass 30 bis 50 Prozent der Menschen eine Mobilitätswende wollen und sich viele gerne auf das Fahrrad setzen würden. Die Menschen tun es meist nur nicht, weil sie sich unsicher fühlen. Für die, die zusätzlich aufs Rad wollen, brauchen wir andere Zustände im Verkehr. Wir brauchen Straßen, die sich sicher anfühlen, wir brauchen langsameren und weniger Autoverkehr, geschützte Radwege, sichere Abstellanlagen und wir brauchen eine Infrastruktur, die sicher genug ist für Kinder.

„Bieten die Straßen Freiheit für alle Arten von Menschen, alle Altersgruppen und alle Fähigkeiten?“

Orte wie Schulen, an denen Kinder zusammenkommen, sind großartige Gelegenheiten, den Straßenraum neu zu denken. In den 1980er-Jahren wurde die „Van Ostadestraat“ für den Durchgangsverkehr und Parkplätze gesperrt; dadurch entstand Raum für einen Spielplatz, Bäume und viel Platz für Eltern, die sich beim Bringen der Kinder treffen und unterhalten können.

Wieso ist die eigenständige Mobilität von Kindern so wichtig?
Ich komme ja aus Kalifornien und bin als Kind immer von meinen Eltern gefahren worden. Es ist unglaublich zu sehen, dass Kinder in den Niederlanden mit 10 Jahren sicher alleine mit dem Fahrrad zur Schule, zum Sport oder zu Freunden fahren können. Für die Kinder bedeutet das ein wichtiges Empowerment, das sie ihr ganzes Leben begleitet, und außerdem enorme Freiheiten. Die Freiheit gibt es gleichzeitig auch für die Eltern, die ihre Kinder nicht mehr überall hinfahren müssen. Ich bin vor über einem Jahrzehnt nach Amsterdam gezogen, habe selbst zwei Kinder und kann es mir gar nicht mehr anders vorstellen.

Wie müssten Straßen idealerweise aussehen?
Es gibt keine Blaupause oder ein Patentrezept. Die zentrale Frage ist: Bieten die Straßen, die wir haben, Freiheit für alle Arten von Menschen, alle Altersgruppen und alle Fähigkeiten? Können Kinder unbeaufsichtigt sicher neben der Straße spielen? Die meisten Städte werden nein sagen. Daran müssen wir dringend arbeiten – gerade Kinder brauchen in der Zeit nach der Pandemie viel mehr sichere Räume.

Meredith Glaser

ist als Doktorandin am Urban Cycling Institute der Universität Amsterdam tätig. Hier lehrt Professor Dr. Marco te Brömmelstroet, bekannt auch als „Cycling Professor“, Infrastrukturplanung und geografisches Informationsmanagement. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen politische Innovation, Wissenstransfer und Kapazitätsaufbau für eine beschleunigte Umsetzung von nachhaltigen Verkehrszielen. Sie hat den akademischen Output für europäische Projekte (CYCLEWALK und HANDSHAKE) akquiriert und verwaltet, ist Co-Leiterin des Sommerprogramms Planning the Cycling City und hat zur Produktion des Onlinekurs-Programms „Unraveling the Cycling City“ beigetragen. Meredith Glaser stammt aus Kalifornien und hat einen Master-Abschluss in Stadtplanung und öffentliche Gesundheit der Berkeley University. Seit fast 10 Jahren arbeitet sie im Bereich Stadtentwicklung und Transfer nachhaltiger Mobilitätspolitik und ist eine erfahrene Ausbilderin für Fachleute, die die niederländische Verkehrsplanungspolitik und -praxis erlernen möchten.


Bilder: Meredith Galser / Urban Arrow, Amsterdam City Archives (Bilddatenbank), Urban Cycling Institute

Nordrhein-Westfalen setzt Signale für den Mobilitätswandel. Im November 2019 stimmte der Verkehrsausschuss im Landtag einstimmig einem Antrag der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ für das erste Fahrradgesetz in einem Flächenland zu. Die Zeit für einen Umbruch scheint reif und die breite Zustimmung in der Bevölkerung mit über 200.000 gesammelten Unterschriften hatte Eindruck hinterlassen. Im Interview erläutert Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU) Hintergründe und Ziele im Hinblick auf die Förderung des Radverkehrs und der Nahmobilität in NRW.


Herr Minister Wüst, Umfragen im Rahmen der NRW-Kommunalwahlen haben gezeigt, dass den Bürgerinnen und Bürgern die Themen Umwelt und Klima und in den Städten vor allem der Verkehr bzw. eine Verkehrswende sehr wichtig sind. Sehen Sie hier eine Zäsur?
Mobilität ist Lebensqualität und Standortfaktor. Mobilität muss besser, sicherer und sauberer werden. Wir erreichen die Klimaziele nur, wenn wir die Mobilität vielfach neu denken. Dazu müssen wir die Chancen der Digitalisierung für die Mobilität konsequent nutzen, den ÖPNV zum Rückgrat vernetzter Wegeketten machen, die Chancen der Elektrifizierung des Fahrrades nutzen und das Fahrrad überall im Land für die Pendler nutzbar machen. Und Deutschland muss wieder Bahnland werden. Die Zäsur besteht darin, dass das alles nicht nur von breiten Schichten der Bevölkerung mitgetragen wird, sondern dass jetzt auch sehr viel Geld dafür da ist und wir umsetzen.

Ihre Heimat und ihr Wahlkreis liegen in Rhede, direkt an der niederländischen Grenze. Was machen die Niederländer aus Ihrer Sicht besser und was würden Sie gerne übernehmen?
Unsere Nachbarn in den Niederlanden machen seit Jahren eine sehr pragmatische Verkehrspolitik. Davon haben wir uns viel abgeguckt, denn lange Zeit war das in Nordrhein-Westfalen politisch nicht gewollt. In den Niederlanden ist es zum Beispiel selbstverständlich, dass in Infrastruktur für jeden Verkehrsträger investiert wird. In Nordrhein-Westfalen wurde viel zu lange Parteipolitik zulasten der Infrastruktur gemacht. Jetzt müssen wir große Rückstände bei der Sanierung und Modernisierung aufholen. Auf der Schiene. Auf der Straße. Und bei Wasser- und Radwegen.

Angesichts von Kämpfen um Platz für Fahrrad und Auto verweisen Sie in Interviews gerne auf intelligente Verkehrskonzepte aus den Niederlanden. Was kann man sich aus Ihrer Sicht hier konkret abschauen?
In den Niederlanden wird pragmatisch nach Lösungen gesucht, nicht um jeden Preis nach Konflikten. Bei unseren Nachbarn wird jedem Verkehrsträger nach seinen Stärken Raum gegeben. Es wird in langen Linien gedacht und dann Schritt für Schritt konsequent umgesetzt.

Aus dem Umfeld des Landesministeriums ist zu hören, dass das Fahrradgesetz mit hoher Priorität vorangetrieben wird, warum ist Ihnen das Thema wichtig?
Ich komme aus dem Münsterland. Da ist das Fahrrad schon immer Teil der Alltagsmobilität. Mit digital vernetzten Wegeketten wird das Fahrrad – ganz besonders mit E-Bikes und Pedelecs – zu einem vollwertigen alltagstauglichen Allround-Verkehrsmittel, das das Klima schont und auch noch gesund ist. Wir wollen in Nordrhein-Westfalen Fahrradland Nummer 1 bleiben. Deswegen investieren wir Hirn und Herz in das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz. Radverkehr ist ein elementarer Bestandteil moderner Mobilitätskonzepte.

Mitte Juni dieses Jahres haben Sie bereits Eckpunkte für ein Gesetz zur Förderung des Radverkehrs und der Nahmobilität (FaNaG) vorgestellt. Wie geht es jetzt weiter?
Zurzeit wird der Referentenentwurf erstellt, dann geht’s in die Ressortabstimmung und ins Kabinett. Danach wird es die Verbändebeteiligung geben. Anschließend soll der Gesetzentwurf in den Landtag eingebracht werden, damit er dieses Jahr verabschiedet werden kann und das Gesetz Anfang 2022 in Kraft tritt.

Radverkehr ist ein elementarer Bestandteil moderner Mobilitätskonzepte.

NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst

Sie haben die Forderung der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“, dass künftig 25 Prozent des Verkehrsaufkommens in NRW auf das Rad entfallen sollen, als Ziel übernommen. Ist das realistisch?
Ja. Wir sind überzeugt, dass sich mit den angestrebten Verbesserungen für den Radverkehr so viele Menschen fürs Radfahren entscheiden, dass ein Radverkehrsanteil von 25 Prozent im Modalsplit erreicht wird. Der Modalsplit liegt im Münsterland im Durchschnitt schon jetzt deutlich über 25 Prozent. In Bocholt bei 38 Prozent, in Borken bei 30, in Coesfeld bei 32 Prozent. Mit E-Bikes und Pedelecs und besserer Infrastruktur geht das überall.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass es bei neuer Radinfrastruktur, wie Radschnellwegen, nicht richtig vorwärtsgeht. Woran liegt das?
In Nordrhein-Westfalen wurden seit dem Regierungswechsel 2017 485 Kilometer neue Radwege gebaut. Der Bau eines Radschnellweges ist nicht weniger aufwendig als der Bau einer Straße. Bis auf Lärmschutzgutachten gelten dort dieselben Regeln. Aber klar ist: Ich will mehr! Und es muss schnell vorangehen. Deshalb erhöhen wir seit Jahren die Haushaltsmittel für den Radverkehr. Standen 2017 noch 29 Millionen Euro zur Verfügung, werden es 2021 54 Millionen Euro sein. Zusätzlich stellt auch der Bund insgesamt 900 Millionen Euro Bundesmittel bis 2023 für den Radverkehr bereit.

Der passionierte Alltagsradler Hendrik Wüst bei der Eröffnung eines Teilstücks des Radschnellwegs RS1 in Mülheim an der Ruhr im Jahr 2019.

Wie wollen Sie die Prozesse künftig verbessern und beschleunigen?
Wir forcieren seit dem Regierungswechsel 2017 einen Planungs-, Genehmigungs- und Bauhochlauf. Und zwar für alle Infrastrukturen: Schiene, Straße, Wasser- und Radwege. Konkret heißt das: Neben unserer eigenen „Stabsstelle Radverkehr und Verkehrssicherheit“ im Verkehrsministerium haben wir zehn Planerstellen beim Landesbetrieb und fünf Stellen bei den Bezirksregierungen für mehr Tempo bei Planung, Genehmigung und Bau der Radinfrastruktur geschaffen.
Bei der Akquise der Fachleute gehen wir neue Wege. In Kooperation mit der AGFS starten wir eine Fachkräfteinitiative, um junge Menschen für das Berufsfeld der Radwegeverkehrsplanung zu begeistern. Flankiert wird das von einer Stiftungsprofessur „Radverkehr“ des Bundes bei uns an der Bergischen Universität Wuppertal.
Wir haben zudem das Landesstraßen- und Wegegesetz geändert, in dem auch die Planung der Radschnellwege geregelt ist, und dort überflüssigen Planungsaufwand herausgenommen.

Welche Änderungen sind mit dem Fahrradgesetz konkret in der Fläche zu erwarten?
Mit dem Gesetz werden wir unter anderem ein Radvorrangnetz in Nordrhein-Westfalen etablieren. Auf Premium-Radschnellverbindungen bieten wir den Menschen Routen für schnellen, sicheren und störungsfreien Radverkehr an. Mit dem Gesetz soll zudem die Möglichkeit geschaffen werden, verstärkt Wirtschaftswege für den Radverkehr zu nutzen. Durch Verbesserung von Wirtschafts- und Betriebswegen kann das Radwegenetz schnell durch zusätzliche Kilometer erweitert werden. Außerdem vernetzen wir das Fahrrad mit anderen Verkehrsträgern und schaffen so die Voraussetzung, dass das Rad mindestens für einen Teil der Wegstrecke zu einer echten Alternative für Pendlerrinnen und Pendler wird.

Die Mitinitiatorin der Volksinitiative Dr. Ute Symanski hofft auf starken Rückenwind durch das Gesetz für die Verantwortlichen in den Kommunen. Was sagen Sie ihr?
Ich mache gerade in einer digitalen Veranstaltungsreihe mit den Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern, Landrätinnen und Landräten, Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern auf die erhöhte Förderung für den Radwegebau, auf unsere Zwei-Milliarden-Euro ÖPNV-Offensive und andere Fördermöglichkeiten aufmerksam. Im Wahlkampf war Mobilität oft Thema, jetzt müssen Taten folgen.

Anfang Februar 2020 stand der Minister auf der „RADKOMM Quarterly“ in Köln Rede und Antwort zu den Zielen und Problemen der aktuellen Mobilitätspolitik.

Weit nach vorne gedacht: Wie sieht die Mobilität am Ende der nächsten Legislaturperiode, also im Jahr 2027 in NRW aus?
Wir nutzen die Chancen der Digitalisierung für eine bessere Vernetzung aller Verkehrsmittel. Mobilität wie wir sie heute kennen, wird sich deutlich verändern. Wir werden vernetzte Verkehre mit digital buchbaren Wegeketten haben.
Die Mobilität der Zukunft ist multimodal, vernetzt und automatisiert – und im Mittelpunkt stehen immer die Mobilitätsbedürfnisse der Nutzer nach flexibler und sauberer Mobilität. Das Fahrrad wird zu einem alltäglichen, alltagstauglichen Verkehrsmittel – überall im Land! Dafür wird Nordrhein-Westfalen ein gut ausgebautes, lückenloses Fahrradnetz aus Radvorrangrouten und weiteren Radverbindungen haben.
Intermodale Wegeketten werden effizienter, umweltfreundlicher und attraktiver für Pendler und Reisende. So schaffen wir in Nordrhein-Westfalen ein Mobilitätsangebot, in dem die unterschiedlichen Verkehrsträger mit ihren jeweiligen Stärken kombiniert werden.
Mobilstationen sind die Schnittstelle der Verkehrsträger. Hier steigen Pendler und Reisende vom (Leih-)Fahrrad, E-Scooter, Car-Sharing-Auto um auf Bus, Bahn und On-Demand-Verkehre. Tarifkenntnisse und aufwendige Planung von Wegeketten sind Geschichte. 2021 werden wir in Nordrhein-Westfalen einen landesweiten eTarif ohne Verbundgrenzen einführen. Einfach mit dem Smartphone einchecken, am Ziel auschecken. Bezahlt wird ein Grundpreis plus die Luftlinien-Kilometer zwischen Start und Ziel. Das geht einfach, ist transparent und bequem. Solche Angebote werden für das Verkehrsverhalten der Menschen entscheidend sein.
Vielleicht werden schon 2027 Hauptbahnhöfe und Flughäfen, Messen und Universitäten, aber auch suburbane Regionen mit bezahlbaren, elektrisch betriebenen Flugtaxis erreichbar sein. In der Logistik werden auf der letzten Meile emissionsfreie und automatisierte Fahrzeuge eingesetzt. In Nordrhein-Westfalen werden viele dieser Innovationen bereits heute erforscht, entwickelt – und sind teilweise auch jetzt schon erlebbar!

***
Das Interview mit NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im Februar 2021 geführt. Erschienen in Ausgabe 1/21.

Hendrik Wüst

wurde 1975 in Rhede an der niederländischen Grenze geboren und lebt dort zusammen mit seiner Familie. Der gelernte Jurist und Rechtsanwalt war von 2000 bis 2006 Landesvorsitzender der Jungen Union Nordrhein-Westfalen und ist seit 2005 für die CDU im Landtag vertreten. Seit Juni 2017 ist Hendrik Wüst Minister für Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen. Medienberichten zufolge hat er gute Chancen, Nachfolger von NRW Ministerpräsident Armin Laschet zu werden.


Bilder: NRW-Verkehrsministerium, Anja Tiwisina; RADKOMM, Diane Müller

Was bürgerliches Engagement alles für eine Stadt bewegen kann, das hat Reinhold Goss, frisch gewählter „Bicycle Mayor“ in Köln, bereits als Mitinitiator und Sprecher der Initiative #RingFrei bewiesen, die 2019 mit dem Deutschen Fahrradpreis ausgezeichnet wurde. Aber das soll erst der Anfang sein. Für ihn kann und sollte Köln mithilfe von breitem zivilgesellschaftlichen Engagement bis 2025 Fahrradhauptstadt werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2021, März 2021)


In seiner Freizeit ist Reinhold Goss gerne auf dem Rad unterwegs – hier auf der Critical Mass mit einem E-Cargobike des Kölner Sharinganbieters Donk-ee.

Wie kommt man zum Ehrenamt als Bicycle Mayor von Köln und was sind Ihre Ziele?
Es gab viele Menschen, die mich dabei unterstützt haben. Ich freue mich sehr, für zwei Jahre diesem global agierenden Netzwerk anzugehören, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Ausbau des Radverkehrs in Städten zu beschleunigen, indem die Rolle der Zivilgesellschaft besonders hervorgehoben wird. Ich bin übrigens zusammen mit Dr. Ute Symanski, die als Mitinitiatorin der Radkomm-Konferenz und der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ bekannt ist, als Doppelspitze für dieses Amt angetreten. Leider war das aber aus formalen Gründen nicht möglich. Zu den Zielen: Das größte ist sicherlich, Köln bis 2025 zur deutschen Fahrradhauptstadt zu machen.

Köln ist nicht nur als Standort für Automobilbauer und Motorenproduzenten, sondern auch sonst als Autostadt bekannt. Ist das Ziel Fahrradhauptstadt nicht sehr ambitioniert?
Köln hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer autogerechten Stadt entwickelt. Damals wurden die engen Straßen radikal verbreitert und der Autoverkehr hatte Vorrang vor allem anderen. Inzwischen sehen das die Menschen in der Innenstadt anders, über 60 Prozent der Haushalte haben kein eigenes Auto mehr. Dazu kommt, wenn wir den Klimaschutz und die vereinbarten Ziele ernst nehmen, dann sind wir praktisch zum Erfolg verdammt. 2019 war das heißeste Jahr in der Geschichte Europas und Köln war, gemessen an der Durchschnittstemperatur, der wärmste Ort in Deutschland. Wir müssen die Stadt also für die Zukunft konsequent umbauen, unter anderem mit mehr als 50 Prozent Radverkehr und doppelt so vielen Bäumen.

Die gleiche Stelle an den Kölner Ringen. Nach der Umgestaltung gibt es einen klar sichtbaren geschützten Raum für Radfahrende.

Wie würden Sie Ihre Ziele als Fahrradbürgermeister am besten beschreiben?
Fortbewegung muss Spaß machen oder zumindest als angenehm empfunden werden, egal ob es um den Weg zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen oder zu Freunden geht. Dafür brauchen wir eine Infrastruktur, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt – eine solche Infrastruktur verzeiht Fehler. Das ist wirklich wichtig! Außerdem kennt jeder das Sprichwort: „Man kann einem alten Hund keine neuen Tricks beibringen“ – es beschreibt ganz gut unsere besondere Verantwortung, sichere Möglichkeiten für Kinder zu schaffen, ihre Stadt zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu entdecken.

Wollen die Menschen in der Stadt überhaupt mehr Radverkehr?
In den letzten Jahren hat sich hier eine Menge für den Radverkehr getan. Die laufende Umgestaltung der Kölner Ringe auf 7,5 Kilometern mit breiten Fahrradwegen und durchgehend Tempo 30 war sicher ein wichtiger Meilenstein. Wen ich heute mit den Menschen spreche, dann ist mein Eindruck, niemand will zurück. Die allermeisten wollen sogar, dass es schneller vorangeht beim Umbau hin zu mehr Radwegen, auf denen sich auch Schüler und Senioren sicher fühlen, und hin zu mehr Lebensqualität.

Vielfach wird darüber geklagt, dass die Stadt unattraktiver würde, wenn man das Autofahren zurückdrängt.
Das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen intelligenter mit dem zur Verfügung stehenden Raum umgehen. Ein Beispiel: Vielfach wird die potenziell mangelnde Erreichbarkeit von Geschäften per Auto als kritisch angesehen. Dabei zeigen die Daten, dass ein bedeutender Teil des Verkehrs in der Innenstadt reiner Durchgangsverkehr ist. Im Klartext: Wenn es auf der Autobahn einen Stau gibt, leitet das Navi die Autofahrer mitten durch die Stadt. Und was die Parkplätze angeht. zeigen Untersuchungen, dass die Parkhäuser nicht ausgelastet sind, während auf der Straße auch Fahrradstreifen und Lieferzonen zugeparkt werden. Hier spielen sicher das oft geringe Entdeckungsrisiko und niedrige Bußgelder eine Rolle.

Manche Geschäfte klagen, ihr Kunden könnten sie nicht mehr erreichen.
Für mich gehört das mit zu den immer wieder gerne wiederholten Mythen. Kurz vor einem Ladengeschäft zu parken, ist auch heute legal praktisch unmöglich und andere Städte wie Maastricht zeigen, dass die Menschen sehr gerne vom Parkhaus zu Fuß zum Geschäft gehen und die Aufenthaltsqualität genießen. Auch hier ändert sich inzwischen einiges, denn die Ladenbesitzer registrieren sehr genau, dass ein besseres Umfeld zu höheren Umsätzen führt. Dazu kommt, dass sie auch selbst gerne mit dem Fahrrad kommen und die Situation damit durch eine neue Brille sehen.

„Wir müssen die Stadt für die Zukunft konsequent umbauen, unter anderem mit mehr als 50 Prozent Radverkehr und doppelt so vielen Bäumen.“

Mehr Platz für Radfahrende durch bis zu 2,50 m statt 0,95 m Breite und mehr für zu Fuß Gehende durch die Führung auf der Straße.

Aktuell hat man den Eindruck, dass Konflikte zwischen Autofahrenden und Radfahrenden, aber auch zwischen Radfahrenden und zu Fuß Gehenden zunehmen. as kann man dagegen tun?
Grundsätzlich geht es meiner Erfahrung nach vor allem darum, mehr gemeinsame Sache zu machen und nicht zu spalten. Konkret verzeichnen wir in der Pandemie einen starken Anstieg im Rad- und Fußverkehr. Das führt natürlich zu Konflikten, wenn es nicht mehr Raum gibt. Das haben wir übrigens auch vorher schon auf den Kölner Ringen so gesehen. Wichtig ist auch, zu realisieren, dass wir alle Fußgänger sind und viele sowohl Auto- und Radfahrer. Lösungen wären relativ schnell möglich. So könnten zum Beispiel schnell Pop-up-Radwege eingerichtet werden, um die Situation auf gemeinsam genutzten Wegen zu entspannen. Für mehr Sicherheit könnte Tempo 30 angeordnet werden und mehr Fahrradstraßen könnten entstehen.

Damit würde dem Autoverkehr allerdings wieder Platz weggenommen. Ist das akzeptabel?
Neben verkehrstechnischen Belangen wird es immer wichtiger auch ökologische, stadtklimatische, ökonomische, gesundheitspolitische und soziale Aspekte zu berücksichtigen. Dazu muss man natürlich zuerst Daten erheben und mit Zielen verknüpfen. Ein Beispiel aus der Praxis: ehrenamtliche Aktivisten erstellen regelmäßig auf Basis öffentlich verfügbarer Daten Analysen. So entstand erstmals eine Karte, auf der die Bildungseinrichtungen im Umfeld der Kölner Ringe erfasst wurden.

„Es gibt eine Menge an fachlichem Know-how und den Willen, sich in die Materie einzuarbeiten. Zudem kennen Bürger die Situation vor Ort oft am besten.“

Wie viele Bildungseinrichtungen gibt es entlang der Kölner Ringe und welche Schlüsse kann man daraus für den Verkehr ziehen?
Bei der Analyse kam man auf über 80 Bildungseinrichtungen, darunter die Technische Hochschule, eine Gesamtschule, Gymnasien, Berufsschulen und verschiedene private Bildungsträger. Viele Schüler, Studenten und Lehrkräfte kommen aus dem Nahbereich mit dem Fahrrad. Trotzdem wurde dem Durchgangsverkehr bislang eine deutlich höhere Priorität eingeräumt. Das müssen wir schnell ändern.

Brauchen Städte mehr Mitarbeit von ehrenamtlichen Aktivisten?
Wenn man schnelle Veränderungen anstrebt, und die brauchen wir, wenn wir auf die Klimaziele schauen, dann auf jeden Fall. Die Kommunen haben einen Schatz an Menschen und Ideen. Es gibt eine Menge an fachlichem Know-how und den Willen, sich in die Materie einzuarbeiten, zum Beispiel beim ADFC, beim VCD oder beim Verein Fuß e. V. Zudem kennen Bürger die Situation vor Ort oft am besten.

Wie kann man das ehrenamtliche Engagement mit einbinden?
Unsere Oberbürgermeisterin Henriette Reker hat eine Verwaltungsreform angeschoben, die vieles verbessert. Darüber hinaus gibt es die berechtigte Forderung nach mehr Offenheit der Verwaltung nach außen, um das enorme Potenzial zu heben und deutlich schneller voranzukommen bei der Planung und Umsetzung. Es lohnt sich, mit möglichst vielen Gruppen, Parteien und Organisationen in den Dialog zu treten und zu bleiben. Man könnte zum Beispiel Aktivisten ein Planungsbüro zur Seite stellen, um zu konkreten und fachlich fundierten Vorschlägen zu kommen.

Weltweites Netzwerk der Fahrradbürgermeister

Das Bicycle Mayor Network ist nach eigener Definition eine globale Initiative, um den Fortschritt des Radverkehrs in Städten zu beschleunigen, indem es die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Durchsetzung dauerhafter, gemeinschaftlich getragener Veränderungen hervorhebt und unterstützt. Bicycle Mayors sollen „Change-Maker“ und das „menschliche Gesicht und die Stimme der Radverkehrsförderung“ in einer Stadt sein. Dabei geht es nicht nur um Mobilität, sondern auch darum, die Umweltverschmutzung zu bekämpfen, die Zahl der Verkehrstoten zu senken, Gemeinschaften zu stärken, soziale Barrieren abzubauen und einen besseren Zugang zu wichtigen Dienstleistungen und wirtschaftlichen Möglichkeiten zu gewährleisten. Das Netzwerk wurde 2016 mit Amsterdams erstem Fahrradbürgermeister ins Leben gerufen und ist seitdem auf über 100 Botschafter aus Städten in mehr als 30 Ländern angewachsen.

Reinhold Goss

ist selbstständiger IT-Consultant und war lange Zeit Vorsitzender der Kölner Stadtschulpflegschaft, also der Vereinigung der Elternvertretungen aller Kölner Schulen. Zum Thema Sicherheit für Radfahrer kam der passionierte Amateur-Rennradfahrer durch mehre schwere und zum Teil tödliche Unfälle in der Kölner Innenstadt, verursacht durch abbiegende Lkws und Imponierfahrten von Autofahrern und illegale Straßenrennen. Zu den prominentesten Raseropfern gehört dabei der Sohn des damaligen Kölner Oberbürgermeisters Fritz Schramma, der 2001 an den „Ringen“, der überregional bekannten Amüsier- und Flaniermeile, als unbeteiligter Fußgänger ums Leben kam.
Er ist Mitinitiator und Sprecher der mit dem Deutschen Fahrradpreis ausgezeichneten Initiative #RingFrei, die sich für Tempo 30 und einen umfassenden fahrrad- und fußgängerfreundlichen Umbau der Ringstraße entlang der ehemaligen Stadtmauer einsetzt und ist bestens auch über die Radverkehrsszene hinaus vernetzt. Als Bicycle Mayor für Köln hat sich der engagierte und ausdauernde Netzwerker unter anderem vorgenommen, den Dialog mit Organisationen zu suchen, die dem Radverkehr eher skeptisch gegenüberstehen, neue Projekte wie die Fahrradrikscha-Initiative „Radeln ohne Alter“ voranzutreiben und die Themen Vision Zero und sichere Schulwege für Kinder und Jugendliche als Ziele zu verankern.


Bilder: Radkomm – verenafotografiert.de, Reinhold Goss – privat, Reinhold Goss – #RingFrei, Qimby – Reinhold Goss – #RingFrei, Screenshot bycs.org, Reinhold Goss – privat

Dr. Uwe Schneidewind ist seit Anfang November 2020 neuer Oberbürgermeister der bergischen Großstadt Wuppertal und hat dafür die Leitung des renommierten Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie aufgegeben. Was es für ihn braucht, ist „Zukunftskunst“. Also die Fähigkeit, kulturellen Wandel, kluge Politik, neues Wirtschaften und innovative Technologien miteinander zu verbinden. Was treibt den hoch angesehenen Vordenker und Transformationsforscher an und was sind seine Ziele im Bereich Verkehrswende? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Herr Dr. Schneidewind, wie geht es weiter in Wuppertal? Sie vertreten ja die grundsätzliche Auffassung, dass man Verkehr vermeiden, verlagern und verbessern müsste.

Das ist ja ein jahrzehntealtes verkehrspolitisches Paradigma im Sinne der grundlegenden Herangehensweise bei einem veränderten Verkehr. In der aktuellen Diskussion geht es vor allem um Verbesserungen, also vor allem Schadstoffe in den Innenstädten und Elektroautos. Aber das Thema ist ja viel grundsätzlicher.

Wo sehen Sie aktuell die eigentlichen Herausforderungen?
Es gilt eine umfassendere Perspektive einzunehmen. Dann werden die Diskussionen schwieriger, aber die Ergebnisse wirkungsmächtiger. Gerade das Thema „Verlagern“ vom Auto hin zu ÖPNV und Radverkehr mit einer anderen Verteilung des Straßenraums führt zu sehr kontroversen Diskussionen, die man aber führen muss. Die Debatte über Vermeidung berührt städtebauliche Strukturen und grundlegende Fragen des Wirtschaftswachstums. Sie ist damit noch langfristiger. Man kann sagen, je grundsätzlicher, aber am Ende auch wirkungsmächtiger, desto schwieriger wird die Diskussion.

Waren die schwierigen Diskussionen ein Grund, warum Sie von der Theorie in die Praxis, sprich in die Politik gewechselt sind?
Ich komme aus der Transformationsforschung, die verstehen will, wie Veränderungsprozesse im politischen und gesellschaftlichen Bereich möglich sind. Dazu gibt es viele Theorien, aber ich habe immer wieder gesehen, wie wenig sich da draußen tatsächlich bewegt. Jetzt die Chance zu haben, in dieses Gefüge einzutauchen und zu sehen, was möglich ist, das war für mich eine große Motivation.

Die mit großem Aufwand erbaute und im Jahr 1901 eröffnete Wuppertaler „Schwebebahn“ ist nicht nur das Wahrzeichen der Stadt, sondern auch die wichtigste Verkehrsverbindung. Auf 13,3 Kilometern führt die denkmalgeschützte Hängebahn, dem Flusslauf der Wupper folgend, durch das Tal.

Die auf der stillgelegten Rheinischen Bahnstrecke errichtete „Nordbahntrasse“ ist ein Magnet für Radfahrer und Fußgänger. Im und am alten Bahnhof Mirke befindet sich heute die „Utopiastadt“ als Ort für kreative Stadtentwicklung.

Spüren Sie aktuell Rückenwind für das Thema Verkehrswende?
Wir merken in der Bevölkerung, dass sich Wertvorstellungen verschieben. Es gibt ein neues Verständnis von qualitätsvollen Innenstädten und von neuen Anforderungen an den städtischen Verkehr. Deutlich wurde das zum Beispiel bei den Wahlen in Hannover, bei denen ein Oberbürgermeister (Anm. d. Red.: Belit Onay, Grüne) ins Amt gewählt wurde, der den Wahlkampf mit dem Versprechen einer autofreien Innenstadt geführt hat. Ähnliches hat sich in diesem November bei den Kommunalwahlen in Aachen und Bonn gezeigt. Wir kennen ja eigentlich seit dreißig Jahren die Konzepte, wie nachhaltiger Verkehr aussehen müsste. Mit der neuen Legitimation werden Ergebnisse plötzlich greifbar.

Eine Ihrer Leitlinien in Bezug auf den Verkehr ist ja, dass Sie die Grabenkämpfe zwischen Autofahrern und Radfahrern oder Radfahrern und Fußgängern beenden wollen.
Wir haben derzeit eine Diskussion, die eine falsche Rahmung hat: Die einen gegen die anderen. Das ist eine schwierige Rahmung für die politische Debatte. Insbesondere, weil eine so geführte Diskussion weit über die sachliche Ebene hinausgeht. Die Beteiligten nehmen das schnell als Kritik am eigenen Lebenskonzept, an eigenen Wertvorstellungen wahr. Immer wenn solche Sachkonflikte zu tiefen Wertkonflikten werden, dann sind sie politisch viel schwerer aufzulösen.

Wie sollte man aus Ihrer Sicht mit tief sitzenden Konflikten umgehen?
Es ist wichtig, eine gemeinsame Wertebasis zu finden, die auch in der Breite geteilt werden kann. Die kristallisiert sich aktuell immer mehr heraus: Lebensqualität in der unmittelbaren Wohnumgebung von Innenstädten. Darauf aufbauend müssen wir uns fragen, was heißt denn das jetzt für die Organisation der unterschiedlichen Mobilitätsformen in einer solchen Stadt? Das kann, so meine feste Überzeugung, den einen oder anderen Konflikt auflösen.

„Es ist wichtig, eine gemeinsame Wertebasis zu finden, die auch in der Breite geteilt werden kann.“

Es tut sich ja gerade international sehr viel. Was kann man aus anderen Städten lernen und wie beeinflussen diese uns hier in Deutschland?
Die Entwicklung in den anderen Städten ist auf unterschiedlichen Ebenen wichtig. Erstens: Es etablieren sich neue Leitbilder für die zukunftsfähige Stadtentwicklung, wie beispielsweise die Formel der „15-Minuten-Stadt“ durch die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Damit entstehen kraftvolle Bilder, die die neue Stadt beschreiben. Zweitens: Viele positive Beispiele anderer Städte stärken die Erfahrung mit erfolgreichen Transformationslogiken und -pfaden. Sie sensibilisieren aber auch für die Zeitspannen, die es dafür braucht. Beispiele wie Kopenhagen, wo sich die Veränderungen über 25 Jahre vollzogen haben, zeigen, dass wir einen langfristigen Kompass brauchen, viel, viel Ausdauer und konsequente Umsetzungsstrategien.

Wie schaut die Radverkehrssituation heute in Wuppertal aus? Was können andere Kommunen potenziell künftig von der Stadt lernen?
Wuppertal ist ja in vielerlei Hinsicht besonders, da es eine besonders autogerechte und fahrradungerechte Stadt ist. Der Fahrradanteil im Modal Split liegt hier, vor allem wegen der engen Bebauung und der schwierigen Topografie mit vielen Hanglagen, bislang im niedrigen einstelligen Bereich. Auf den ersten Blick scheint Wuppertal für eine Verkehrswende komplett ungeeignet. Insofern ist es gut, wenn sich eine Stadt wie Wuppertal jetzt aufmacht und selbst unter widrigsten Bedingungen Veränderungen anstößt. Das ist das Lernexempel, das Wuppertal setzen kann.

Was wollen Sie in Wuppertal im Bereich Verkehr erreicht haben, wenn Sie auf Ihre Amtszeit zurückblicken?
Um die Verhältnisse zu verändern, müssen wir erst einmal neue Angebote schaffen. Es gilt eine grundlegende Fahrradtrassen-Infrastruktur aufzubauen inklusive geeigneter Zuwegungen. Was wir aufbauen, sind Längsachsen entlang der Wupper im Tal und auf den Hängen inklusive Verbindungswegen. Damit entsteht eine Fahrrad-Grundstruktur, die man dann schrittweise ergänzen kann.

„Auf den ersten Blick scheint Wuppertal für eine Verkehrswende komplett ungeeignet. Das ist das Lernexempel, das Wuppertal setzen kann.“

Dr. Uwe Schneidewind, Oberbürgermeister von Wuppertal

Die Topografie ist bei Ihnen im Bergischen Land ja eine ganz besondere Herausforderung.
Deshalb muss es unsere Ambition sein, eine E-Bike-Hauptstadt zu werden. Wenn wir auf die Möglichkeiten des E-Bikes setzen, dann lassen sich relevante Teile der Bevölkerung aufs Rad bekommen. Niemand fährt, selbst wenn er trainiert ist, mit dem Anzug einen Hang mit zehn Prozent Steigung 300 oder 400 Meter hoch und kommt dann komplett durchgeschwitzt ins Büro. Und die meisten haben am Morgen oder nach der Arbeit auch einfach nicht die Lust und die Kraft dazu. So müssen wir aus der Not, was den Fahrradverkehr angeht, eine Tugend machen. Nach Corona lade ich gerne alle Beteiligten aus der Fahrradbranche auf einen E-Bike-Gipfel nach Wuppertal ein.

Wuppertal liegt rund 30 Kilometer östlich von Düsseldorf mitten im Bergischen Land und ist mit rund 350.000 Einwohnern die größte Stadt bzw. Verbindung von ehemals selbstständigen Städten entlang der Wupper. Mit den industriell geprägten Stadtkernen und den bewaldeten Hügeln ringsum gibt es hier ganz besondere Herausforderungen.

Wie wollen Sie Wuppertal mit seinen vielen Unterzentren zu einer weniger autodominierten Stadt machen?
Ich habe in meinem Wahlprogramm deutlich gemacht, dass ich nicht von oben anordnen werde, dieser oder jener Stadtteil wird autoarm. Sondern ich möchte in unserer autogerechten Stadt, wo das Thema bislang emotional sehr aufgeladen ist, „Inseln des Gelingens“ schaffen. Mein Angebot an die Bezirke ist: Wenn ihr mit der Unterstützung aus der Bevölkerung sagt, ihr wollt in eurem Umfeld eine höhere Innenstadtqualität und auch eine andere Form von Mobilität schaffen, dann bekommt ihr die volle Unterstützung aus der Verwaltung. Wir werden das eher als produktiven Wettbewerb ausgestalten mit der Frage, wer von euch hat schon am besten verstanden, was da eigentlich passiert im Hinblick auf neue urbane Qualität; und die, die es gut verstanden haben, haben unsere Unterstützung. Ich bin guter Dinge, dass sich Stadtbezirke finden, die unser Angebot gerne annehmen, und dass man damit eine produktive Dynamik und Spill-Over-Effekte auslöst.

Was machen Sie mit den Stadtteilen, die hier nicht mitziehen?
Wir haben alles Verständnis für die, die noch nicht so weit sind. Aber natürlich laufen sie Gefahr, dass ihre Quartiere künftig nicht mehr in die Zeit passen, weil sie sich der Veränderung verweigern.

Welche Rolle spielt künftig der auch in Wuppertal chronisch defizitäre ÖPNV?
Wie gesagt, bevor man an eine weitergehende Regulierung geht, müssen die Alternativangebote aufgebaut sein und in Wuppertal heißt das, im Modal Split einen noch besseren ÖPNV und seine langfristige finanzielle Stabilisierung. Wir brauchen andere Formen der Nahverkehrsfinanzierung. Wir werden uns zusammen mit den Stadtwerken bemühen, nach der kommenden Bundestagswahl, wenn es neue Finanzierungsinstrumente und Möglichkeiten gibt, dort mit Vorreiter zu sein.

Erwarten Sie Rückenwind durch die große Bürgerbeteiligung für das Fahrradgesetz in Nordrhein-Westfalen?
Der Weg zum Fahrradgesetz ist ja ein enorm wichtiger institutioneller Innovationsprozess gewesen. Die Tatsache, dass wir bürgerschaftliches Engagement nicht nur mobilisieren für Einzelprojekte, sondern für einen gesamten Gesetzgebungsprozess, der dann einen Rahmen schafft. Das ist der große Sprung, den der Berliner Radverkehrsentscheid gebracht hat. Das ist für alle, die in den Städten eine Verkehrswende befördern wollen, ein wichtiger Rückenwind, weil sich Landespolitik dazu verhalten muss, weil sich Akteure über einzelne Städte hinaus vernetzen und man damit einen Raum hat, die Verkehrswende-Diskussion anders zu führen.

Was sind Ihre Forderungen an den Bund?
Mehrere Punkte spielen eine Rolle: Es geht es um Ressourcen und Umschichtungen im Verkehrsetat, um alternative Formen von Mobilität auszubauen. Gerade für stark verschuldete Kommunen, wie beispielsweise Wuppertal, ist das wichtig. Daneben geht es auch um Anpassungen in der Straßenverkehrsordnung, zum Beispiel in Bezug auf Geschwindigkeitsbeschränkungen in den Städten. Wir sind hier ja durch die nationalen Rahmenbedingungen sehr limitiert. Hilfreich wären Experimentierklauseln, Lust auf neue Konzepte und ein gemeinsames Lernen zwischen Kommunen, um Veränderungsprozessen noch mal einen neuen Antrieb zu geben.

Dr. Uwe Schneidewind

ist 1966 in Köln geboren, leitete zehn Jahre das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie als Präsident und wissenschaftlicher Geschäftsführer und zählt nach einem Ranking der FAZ zu den einflussreichsten Ökonomen Deutschlands. Als Mitglied der Grünen trat er bei den Kommunalwahlen in Wuppertal unter dem Motto „Schneidewind verbindet“ für Grüne und CDU an und ist seit dem 1.11.2020 neuer Wuppertaler Oberbürgermeister.

Nach seinem Studium der Betriebswirtschaftslehre war er als Berater bei Roland Berger Consulting tätig, promovierte an der Universität St. Gallen am Institut für Wirtschaft und Ökologie und wurde ab 1998 zum Professor für Produktionswirtschaft und Umwelt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg berufen, die er von 2004 bis 2008 auch als Präsident leitete. Für sein „herausragendes wissenschaftliches Engagement und seine Impulse zur Weiterentwicklung der Nachhaltigkeits- und Transformationsforschung“ wurde er im Juli 2020 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.
Schneidewind ist seit 2011 Mitglied im Club of Rome, Vorstandsmitglied der Vereinigung für ökologische Wirtschaftsforschung und war bis Februar 2020 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen.

In seinem Buch “Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels.” beschreibt er seine Vorstellung von „Zukunftskunst“. Damit ist die Fähigkeit gemeint, kulturellen Wandel, kluge Politik, neues Wirtschaften und innovative Technologien miteinander zu verbinden. So würden Energie- und Mobilitätswende, die Ernährungswende oder der nachhaltige Wandel in unseren Städten möglich. Das Buch ermuntert Politik, Zivilgesellschaft, Unternehmen und jeden Einzelnen von uns, zu Zukunftskünstlern zu werden.


Bilder: Wolf Sondermann, Jan (stock.adobe.com) M. Tausch (stock.adobe.com), Martin Randelhoff (Qimby), S. Fischer Verlage