Wie geht es weiter mit dem Thema Mobilität und Verkehr? Worauf müssen wir uns einrichten, wenn wir langfristig strategisch planen wollen und wohl auch müssen?
Prof. Stephan Rammler gehört in Deutschland zu den profiliertesten Experten für Mobilitäts- und Zukunftsforschung und schlägt im Gespräch den großen Bogen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Herr Professor Rammler, manche Experten sehen mit Corona eine Aufbruchstimmung, andere wenig echte Veränderungen und viele wollen wieder zurück in die gute alte Zeit. Wie sehen Sie die aktuelle Lage?

Wenn ich im Augenblick gefragt werde, wie sieht die Zukunft aus, dann sage ich, dass es gute Gründe gibt, die Zeiten vor und nach Corona zu unterscheiden. Vor Corona war es so, dass die globalen Megatrends wie Urbanisierung, demografisches Wachstum, Nachhaltigkeitstransformation, Individualisierung und die digitale Transformation in ihrem synergetischen Zusammenwirken einen großen Handlungsdruck erzeugt haben, in Richtung Klimaneutralität, Schutz der ökologischen Vielfalt und Schutz der Lebensgrundlagen zu gehen. Allen voran das große fanalhafte Thema Klimawandel und Forderung der Klimaneutralität.

Die Diskussion hat ja auch Kontroversen um die Mobilitäts- und Verkehrswende mit angestoßen.
Das hat insbesondere für die Mobilität Auswirkungen gehabt, weil sie hochgradig fossil gebunden ist. Es gibt eine hohe Transformationsnotwendigkeit, gleichzeitig aber auch große Schwierigkeiten, weil eben so viel davon abhängt und die Mobilität so tief in die lebenspraktischen Notwendigkeiten moderner Alltagskultur eingebettet ist. Wir hatten auch eine starke Dynamik im Sinne von mehr Bewusstheit für das Thema und eine starke Bewegung auf der kommunalen Ebene.

Viele erleben gerade engagierte Bürger und Kommunen als starke Treiber.
In den Kommunen haben viele verstanden, dass es keinen Sinn macht, auf die Landes- oder Bundespolitik zu warten, weil die Menschen vor Ort ihre Probleme erleben und vor Ort auch Lösungen von den lokalen Entscheidern geliefert bekommen möchten. Deswegen ist für mich nach wie vor die kommunale und lokale Ebene der wichtigste Ort für die Verkehrs-politik.

Und die Zeit nach Corona? Was hat sich verändert und wo sehen Sie eine Zäsur?
Die Pandemie hat vor allem die grundsätzliche Frage nach Resilienz aufgerufen. Wenn wir fragen, was hat Corona eigentlich an Veränderungen gebracht, dann können wir als Zwischenfazit sicher sagen: Homeoffice, Telependeln, Restabilisierung des Automobils sowie ein starker Impuls für den Bereich der Lieferlogistik und die Themen Radverkehr und Mikromobilität. Gleichzeitig sehen wir zunehmende Starkwetterereignisse, Brände und Dürren.

Sie sehen uns verschiedenen Krisen ausgesetzt, in unsicheren Zeiten und fordern Strategien, damit umzugehen. Was meinen Sie damit?
Ich arbeitete dabei immer mit dem Begriff der transformativen Resilienz, den wir im IZT (Anm. d. Red.: Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung) geprägt haben. Was ich damit meine, das ist eine Doppelfigur: Wir haben ja in den letzten 30 Jahren ein Narrativ genutzt, dass wir politisch und ökonomisch alles tun müssen, damit wir 1,5 bis 2 Grad mehr als Stabilisierungsziel bis 2050 erreichen und dann ist alles gut. Jetzt sehen wir zwei Dinge: Erstens, dass dieses Versprechen womöglich obsolet wird, je mehr wir verstehen über Kipppunkte und Dynamiken, die, wenn sie erst einmal eintreten, nicht mehr bewältigbar sind. Und zum Zweiten müssen wir festhalten und akzeptieren, dass der Klimawandel bereits hier und heute eintritt.


Prof. Dr. Stephan Rammler

“Die Politik muss den Menschen ehrlich sagen, dass wir den Klimawandel in einem gewissen Grad nicht mehr aufhalten können.”

Was ist aus Ihrer Sicht konkret nötig, um mit diesen enormen Herausforderungen umzugehen?
Wir müssen alles dafür tun, damit der Klimawandel eingehegt und nicht dynamischer wird und gleichzeitig müssen wir strategische Maßnahmen entwickeln, mit den Klimafolgen umzugehen, und Infrastrukturen so umbauen, dass sie resilient werden.

Wo sehen Sie mit Blick auf den Klimawandel wichtige Handlungsfelder?

Die Politik muss den Menschen ehrlich sagen, dass wir den Klimawandel in einem gewissen Grad nicht mehr aufhalten können. Wir müssen versuchen klimaresiliente Landwirtschaftssysteme und Städte zu bauen, die mit Hitzestress und Wasserknappheit umgehen können. Wir müssen an den Küsten neue Infrastrukturen aufbauen, die mit den Anforderungen klarkommen. Und wir brauchen Verkehrssysteme, die Starkwetterereignissen gegenüber resilient und widerstandsfähig sind.

Für viele Menschen klingt das sicher erst einmal eher theoretisch.
Ganz im Gegenteil. Der Klimawandel passiert jetzt schon und wir sind mitten in der Situation, damit umzugehen. Er kommt nicht erst auf uns zu. Die Hitze wird in vielen Häusern unerträglich, das heißt, man braucht eigentlich eine Klimaanlage. Die Bäume, die kürzlich noch Schatten gespendet haben, sind vertrocknet und müssen gefällt werden. Die Solaranlage wird vom Dach geweht, der Keller durch Starkregen geflutet und die Zugverbindungen werden bei Stürmen komplett eingestellt. All das sind Effekte und Folgewirkungen des Klimawandels die ich, wie viele andere, unmittelbar erlebe.

Wie beeinflusst der Klimawandel unsere Mobilität konkret? Was müssen wir tun?
Wir müssen das Verkehrssystem widerstandsfähig machen und grundsätzlich klimaneutral. Wir brauchen eine Gestaltungsstrategie bei der Infrastruktur, dem politischen Rahmen etc., die diese Resilienzanforderungen jetzt schon mitdenkt und umsetzbar macht.

Extremwetterereignisse wie sintflutartige Regenfälle, orkanartige Stürme, Hitzewellen, Dürren oder extremer Schneefall nehmen mit dem Klimawandel deutlich zu. (Bilder: Adobe Stock)

In Bezug auf eine Mobilitätswende herrschte ja eher jahrelang Stillstand. Hat die Pandemie hier Veränderungsimpulse gegeben?
Bei aller Neigung zum Optimismus bin ich der Meinung, dass auch eine Pandemie wie diese nicht einen hinreichenden Impuls gesetzt hat, damit sich alles grundlegend ändert. Als Innovationsökonom arbeitet man gerne mit dem Begriff der Pfadabhängigkeit. All das, was wir in der Vergangenheit entschieden und geschaffen haben, wirkt fort für jede weitere Entwicklung. Die Zukunft und auch wir sind in einem viel größeren Maße, als wir uns das im Allgemeinen vorstellen, durch die Vergangenheit determiniert. Trotzdem hat es durch die Pandemie wichtige Veränderungen gegeben, die meiner Einschätzung nach auch bleiben werden.

Wo sehen Sie Beispiele für Veränderungen durch die Pandemie? Was bleibt und was würden Sie Verkehrsplanern empfehlen?
Im Wesentlichen drei Dinge. Erstens: Setzt auf das Thema Radverkehr und Mikromobilität und macht das auf eine kluge Art und Weise. Nutzt den Impuls von Corona, zum Beispiel mit temporären Radspuren. Mit der Pandemie haben Menschen tatsächlich Veränderungen und Gewohnheitsbrüche erlebt, an die man anschließen kann. Das Ziel: Radverkehr schnell, dynamisch, kommunikativ, konstruktiv und symbolisch überlagert mit guten Geschichten für den Personen-, Privat- und Güterverkehr.
Zum Zweiten sollten sie stark auf das Telependeln setzen, denn auch dieses Thema wird aus ökonomischen Gründen und weil jetzt die Infrastruktur und die Hardware da ist, nicht mehr weggehen. Ich kann damit sehr viel Verkehr und viele Emissionen vermeiden, brauche dafür allerdings auch ein neues Zusammenwirken unterschiedlicher Bereiche und unter anderem neue Immobilien- und Wohnraumkonzepte, für Familien, für Singles oder für Ältere.
Drittens kommt es wesentlich auf die intermodale Vernetzung von Mikromobilität, Zweirad und öffentlichem Verkehr an. Auch der öffentliche Verkehr muss dabei im Hinblick auf Pandemien, aber auch Hitze und Starkwetterereignisse resilient gestaltet werden.

Wie kann der öffentliche Verkehr resilienter werden?
Schon vor 17 Jahren haben wir zum Beispiel im Auftrag eines Verkehrsunternehmens darüber nachgedacht, wie wir Innenräume von Bussen und Bahnen entsprechend gestalten können, zum Beispiel mit besseren Belüftungs- und Klimasystemen, antibakteriellen Oberflächen etc. Es kann und darf auch nicht sein, dass Stürme oder niedrige Temperaturen den Bahnverkehr im ganzen Land lahmlegen.

„Das Eigenheim ist so stark mit dem Auto verknüpft, dass man von einer Eigenheim-Automobilkultur sprechen kann. Suburbia macht ohne Auto auch gar keinen Sinn.“

Prof. Dr. Stephan Rammler

Ist die Bevölkerung aus Ihrer Sicht bereit für eine Mobilitätswende?
Sie ist in den Städten auf jeden Fall weiter als die Bevölkerung auf dem Land. Vor allem aufgrund der strukturellen Zwänge, durch die Angebotsvielfalt, die sich in den letzten zehn Jahren enorm differenziert und digitalisiert hat, und durch innovative lokale Regulierungspolitik in Richtung einer postfossilen und postautomobilen Mobilität. Aber das muss man auch differenziert betrachten und die Lagen und die Milieus berücksichtigen. Außerhalb des S-Bahn-Rings ist die Situation schnell eine völlig andere und je weiter man rausgeht, desto höher wird der Grad der Automobilität und desto geringer ist die soziokulturelle Adressierbarkeit der Milieus, mit denen Sie es zu tun haben. Jede Stadt und jeder Stadtteil ist zudem anders und nicht gleichermaßen progressiv.

Was ist mit der Mobilität auf dem Land? Wie sehen Sie dort mögliche Veränderungen?
Wir haben eine sehr dynamische Suburbanisierungs- und Eigenheimkultur gehabt in der Nachkriegszeit. Das private Auto ist hier mit all seinen Vorteilen nicht zu ersetzen. Wir müssen auf dem Land eine ganz andere Verkehrspolitik betreiben als in den Städten. Das Eigenheim ist so stark mit dem Auto verknüpft, dass man von einer Eigenheim-Automobilkultur sprechen kann. Suburbia macht ohne Auto auch gar keinen Sinn.

Eine Verkehrspolitik für die Städte, eine für das Land? Warum genau? Und wie könnte das aussehen?
Wir haben in den urbanen Kommunen die raumökonomische Debatte und Diskurse über soziale Gerechtigkeit der Mobilität zusammen mit Umweltgerechtigkeit als Treiber. Das ist wichtig. Über die ländliche Mobilität zu reden, ist aber auch sehr wichtig, weil die Hauptemissionen auf dem Land und durch die längeren Distanzen der Berufspendler erzeugt werden. Es ist überhaupt nicht erkennbar, wie finanzschwache Kommunen funktional äquivalente Angebote im Bereich Verkehr anbieten könnten. Zudem sehen wir ja, dass die Pfadabhängigkeit hier weiter gegeben ist und sogar weiter wächst, zum Beispiel durch die Eigenheimpauschale, die Pendlerpauschale und Dieselsubventionen. Das ist natürlich auch in den Köpfen der Babyboomer drin, die jetzt ca. 60 Jahre alt sind. Die haben Zeit, Geld und sind eine in der Wolle gefärbte automobile Generation wie keine vor ihnen und keine nach ihnen.

Ist diese Babyboomer-Generation nicht gleichzeitig auch offen für klimaneutrale Mobilitätsformen wie E-Bikes?
Die Babyboomer können in meinen Augen eine der Pioniergruppen in der weiteren Verbreitung der Pedelec-Kultur sein. Das Pedelec hält die Leute länger auf dem Fahrrad, die es sonst aus Altersgründen nicht mehr tun würden, und es ist sehr wirksam in den Regionen, in denen man aufgrund von Gegenwind oder topografischen Gegebenheiten sonst nicht gerne Fahrrad fährt. Das Pedelec ist in ländlichen Regionen durchaus eine verlässliche und hoffnungsvoll stimmende Verhaltensalternative. Wir gehen ja auch aufgrund des Klimawandels in Zeiten hinein, wo wir fahrradfreundliches warmes und trockenes Wetter haben. Sieben bis acht Monate ist es überwiegend regenfrei. Ich glaube, dass man mit dem Ausbau von Schnellradwegen im ländlichen Raum durchaus attraktive Verhaltensalternativen anbieten kann.

Könnten E-Bikes das Auto ersetzen?
Ich denke die Babyboomer werden sich ein Pedelec eher zusätzlich zum Auto und ein Elektroauto als Zweitwagen anschaffen und für Langdistanzfahrten den fossilen Verbrenner behalten. Wir müssen uns auch klarmachen, dass das ganze Transformieren im Mobilitätsbereich nicht funktioniert, wenn wir nur auf die Freiwilligkeit moralisch hinterlegter Konsumentscheidungen setzen. Es braucht Regulierung und politische Entscheidung, die dazu führen, dass das fossile Auto unattraktiver und teurer wird. Nur so kommen wir aus den Pfadabhängigkeiten raus.

Was müssten Politik und Verkehrsplaner aus Ihrer Sicht ändern, um die alten Pfade zu verlassen und zu einer klimaneutralen Mobilität zu kommen?
Was die Citylagen angeht, würde ich auf das Thema erste und letzte Meile setzen. Das hat im Bereich Ride Hailing beispielsweise mit Moia oder Berlkönig sehr gut funktioniert. Allerdings haben die Systeme ihre Leistungsfähigkeit im Zuge der Pandemie noch gar nicht wirklich zeigen können. Verkehrsplanerisch geht es weiterhin um die Elektrifizierung, unter anderem mit Brennstoffzellen, und wir müssen auch die regulative Praxis mit Blick auf die planerischen Ansätze neu denken. Citymaut-Konzepte sind aus meiner Sicht zum Beispiel der beste Weg, externe Kosten in Sachen Umweltgerechtigkeit, Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit moderner Mobilitätssysteme zu minimieren und gleichzeitig finanzielle Spielräume zur Ertüchtigung von Alternativen zum eigenen Automobil zu erzeugen. Seit diesem Jahr steht auch die Forderung nach einer resilienten Mobilitätspolitik der Zukunft mit auf der Agenda.

Was sind Ihre konkreten Empfehlungen für ländliche Regionen?
Alle Konzepte, die wir für die Städte entwickeln, sollten und werden eigentlich auch auf dem Land funktionieren, mit dem Unterschied, dass wir hier eine starke Dominanz des Automobils haben. Ich würde dort empfehlen, den öffentlichen Verkehr nicht als echte Alternative zum Auto als Strategie zu verfolgen, sondern sagen, wir akzeptieren hier den Bedarf des Autos und setzen auf Elektroautos mit Range Extender, also einem kleinen fossil betriebenen Motor, der unterwegs bei Bedarf Strom produziert und die Reichweite verlängert. Das ist in meinen Augen die beste Technologie, die wir im Moment hätten in ländlichen Regionen.

Wenn Sie von Pfadabhängigkeit sprechen: Kommen wir mit Überlegungen zu einer wieder menschengerechten Stadt nicht auch wieder zurück auf einen bestehenden Pfad?
Dieser Pfad ist verschüttet. Wir haben die Städte ja nach dem Zweiten Weltkrieg autogerecht umgebaut und dort, wo keine Bombenschäden waren, hat die Umorientierung den Städten zum Teil den Rest gegeben, indem Schneisen für Autostraßen geschaffen wurden. Aktuell haben wir durch den Trend der Urbanisierung ein Raumproblem in den Städten und führen damit eine Debatte, die wir früher nicht führen mussten. Die verschiedensten Branchen greifen ja auf die immer knapper werdende Ressource urbaner Raum zu. Das ist auch ein wichtiger Treiber, warum sich die Debatte um automobile Mobilität ein Stück weit geöffnet hat vor Corona. Insofern ja, vielleicht kann man wieder an die alte europäische Funktion der Stadt anschließen.

„Seit diesem Jahr steht auch die Forderung nach einer resilienten Mobilitätspolitik der Zukunft mit auf der Agenda.“

Prof. Dr. Stephan Rammler

Wie sicher sehen Sie Ihre Annahmen in Bezug auf die Zukunft?
Ich denke mit dem skizzierten Setting hätten wir für die Zukunft alle Bestandteile einer zeitgemäßen, ökonomisch durchaus verlässlichen und dennoch nachhaltigen Verkehrspolitik. Wir „sogenannten“ Zukunftsforscher müssen ja immer Aussagen über die Validität unserer Annahmen treffen können. Wir können nur spekulieren auf der bestmöglichen Güte der Daten, aber wir können natürlich keine sicheren Aussagen treffen. Wir dürfen als Zukunftsforscher auch nicht mit sogenannten Wildcards rechnen. Wenn wir Szenarien bauen und Antworten auf die Frage geben wollen, wie wir von A nach B kommen, also welche Transformationspfade es gibt, dann ist es nicht zulässig, mit sogenannten Wildcards zu operieren. Trotzdem müssen wir sie als mögliche Option mitdenken. Die Pandemie hat als Wildcard gewirkt. Sie hat in der Fachwelt einiges an intellektuellen Diskursen fokussiert, dynamisiert und einiges an Einsichten mit sich gebracht.

Trotz aller angesprochener Probleme blicken Sie optimistisch in die Zukunft.
Resilienz bedeutet nicht zurückfedern in einen alten funktional stabilen Zustand, sondern auf sich permanent verändernde Rahmenbedingungen ausgerichtet und eingerichtet zu sein und die krisenhafte Veränderung als normal zu leben. Dazu müssen wir uns klarmachen, dass die Widerstandsfähigkeit der Menschen, mit Krisen umzugehen, Menschen zu dem gemacht hat, was Menschen sind. Die permanente Fähigkeit, auf Krisen zu reagieren und zu innovieren, ist ja in der Geschichte oft genug durch Krisen angetrieben worden. Deshalb bin ich für die Zukunft optimistisch. Wir müssen es nur auch so klar formulieren. Veränderung, Dynamik und Veränderungsbereitschaft sind, so glaube ich, die Mindsets der kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte.

Prof. Dr. Stephan Rammler

ist einer der renommiertesten Vordenker, wenn es um die Mobilität der Zukunft und große Zusammenhänge geht. Der Politikwissenschaftler, Soziologe und Ökonom ist seit 2018 wissenschaftlicher Direktor des IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, einer außeruniversitären Forschungseinrichtung für Zukunftsforschung und Technologiebewertung in Berlin. Er arbeitet in der Mobilitäts- und Zukunftsforschung und forscht insbesondere zu Verkehrs-, Energie- und Innovationspolitik sowie Fragen kultureller Transformation und zukunftsfähiger Umwelt- und Gesellschaftspolitik. Zuvor war er Gründungsdirektor des Instituts für Transportation Design und Professor für Transportation Design & Social Sciences an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Zu aktuellen Fragen bezieht er regelmäßig sehr dezidiert in Interviews und Podcasts Stellung. Viele seiner Grundgedanken findet man auch in seinen Büchern „Schubumkehr – die Zukunft der Mobilität“ (2014) und „Volk ohne Wagen: Streitschrift für eine neue Mobilität“ (2017). Darin entwickelt er Bilder einer Zukunft mit innovativen Technologien, klugen ökonomischen Strategien und einer veränderten politischen Kultur.


Bilder: Armin Akhtar, Adobe Stock, Rolf Schulten, S. Fischer Verlage

Mit den aktuellen und kommenden bevorstehenden Lockerungen haben wir Professor Stefan Gössling als Experten um einen kurzen Ausblick gebeten. Mehr gibt es dann als Schwerpunktthema in der kommende VELOPLAN-Ausgabe. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Herr Professor Gössling, in der Vergangenheit haben Sie sich im Tourismus mit wünschenswerten Veränderungen beschäftigt. Können Sie versuchen, uns einen Ausblick zu geben auf die Änderungen in der nächsten Zeit?
Die Pandemie ist eine große Chance für eine Neuorientierung. Aus Klimaschutzgründen wünsche ich mir, dass Billigfluglinien nicht unterstützt werden, Destinationen ihre Volumenwachstumsmodelle und Reisende insbesondere Fernreisen infrage stellen. Reisen ist lange Zeit immer billiger geworden, auch durch direkte und indirekte Subventionen. Es ist jetzt Zeit, diese Modelle zu hinterfragen.

Was könnte das für den Tourismus bedeuten?
Kurzfristig werden mehr Menschen in Deutschland oder im nahen Ausland Urlaub machen, weil Entfernung mit Unsicherheit und Risiken assoziiert wird. Viele Tourismusbetriebe werden hart kämpfen müssen, um nicht insolvent zu werden, da die kurzfristigen Umbrüche zu enormen Umsatzausfällen geführt haben. Eine neue Normalität wird sich also hoffentlich bald einstellen.

Was ist aus Ihrer Sicht aktuell wichtig für den Tourismus?
Das wichtigste ist jetzt, dass Planungssicherheit geschaffen wird, sowohl für die Tourismusbetriebe als auch für die Reisenden. Die Frage, unter welchen Sicherheitsvorkehrungen man Gäste entgegennimmt, ist dann fast zweitranging. Denn das lässt sich regeln, zumindest überall da, wo die Besucherdichte nicht sehr hoch ist.

Was sind Ihre ganz persönlichen Tipps für diesen Sommer?
Schön ist, dass wir die kleinen Dinge wieder schätzen können. Dass man sich wieder ein Eis kaufen kann oder im Café sitzen kann. Bei den Urlaubsreisen würde ich Familien ans Herz legen, dass Kinder überall da glücklich sind, wo sie aktiv sein können und es andere Kinder gibt. Ferienhöfe, Camping, kleinere Urlaubsorte, das können gute Alternativen sein. Für Ältere würde ich einen Urlaub auf einer deutschen Insel empfehlen. Auch da gibt es viel Platz. Die Orte sind praktisch von Natur aus auf Abstand eingerichtet und ältere Menschen können natürlich auch gut außerhalb der Hauptsaison verreisen. Für Paare attraktiv sind vielleicht Ferienhäuser in Regionen, wo man zum Beispiel gut Radfahren kann, oder Hotels in naturschönen Landschaften. Es muss nicht unbedingt eine weite Reise sein, die viel Freude macht.


Bild: www.ortlieb.com | pd-f

Nach der Einschätzung vieler Experten macht die Corona-Krise Missverhältnisse und Brüche sichtbar und beschleunigt bereits bestehende Prozesse. Auch im Bereich Verkehr? Wir haben dazu mit Professor Stefan Gössling gesprochen, der sich hier als Experte einen Namen gemacht hat. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Herr Professor Gössling, Sie beschäftigen sich seit Langem intensiv mit den Zusammenhängen von Tourismus, Verkehr und Nachhaltigkeit. Gibt es im Bereich Verkehr Tendenzen, dass sich die Dinge gerade ändern?
Aktuell gibt es viele Debatten insbesondere zum Fahrradverkehr. Es ist aus meiner Sicht sehr positiv, dass jetzt nach vorne gedacht wird. Es scheint ein Konsens zu sein, dass man diese Krise nicht vorbeiziehen lassen darf, sondern sie nutzen sollte, um Änderungen im Verkehrssystem durchzusetzen.

Viele wollen ja möglichst schnell zum alten Zustand zurück. Macht das Sinn?
In Bezug auf den Verkehr war die Situation ja schon vor Corona so, dass die Entwicklungen, die wir hatten, nicht so weiterlaufen konnten. Eine problematische Entwicklung ist der kontinuierliche Zuwachs von Fahrzeugen auf den Straßen. In Deutschland haben wir ein Plus von rund einer Million Fahrzeugen netto pro Jahr. Dazu kommt der Trend hin zu immer mehr SUV und damit zu mehr Platzverbrauch und zu mehr Luftverschmutzung. Auch zu höheren Unfallrisiken.

„In Deutschland gibt es keine Verkehrspolitik, sondern nur eine Industriepolitik, und die ist leider sehr einseitig auf das Auto ausgerichtet.“

Professor Stefan Gössling

Aber das Auto ist ja auch gleichzeitig Deutschland liebstes Kind.
Fast alle Verkehrskonflikte, die wir in Deutschland und weltweit haben, beziehen sich auf das Auto. Unter den Verkehrsforschern ist es ein grundsätzlicher Konsens, dass wir etwas tun müssen, um Abhängigkeiten vom Auto zu reduzieren. Das Auto verbraucht zu viel Platz und hat zu viele negative Externalitäten, von der Luftverschmutzung bis hin zu Unfällen. Das alles wurde in der Verkehrspolitik bislang nicht thematisiert.

Kritiker weisen immer wieder auf die Autozentriertheit von Bundesregierung und Verkehrsministerium hin. Sehen Sie hier ein Problem?
In Deutschland gibt es keine Verkehrspolitik, sondern nur eine Industriepolitik, und die ist leider sehr einseitig auf das Auto ausgerichtet. Man hat nicht systematisch Mobilität als Dienstleistung gefordert und gefördert. Das gilt selbst für grün regierte Städte, die nicht einmal die gerichtlichen Vorgaben durch die von der Deutschen Umwelthilfe geführten Prozesse genutzt haben, um schmutzige Diesel aus den Städten zu verbannen. Maßnahmen, die auch ohne Gerichtsurteile schon längst hätten durchgeführt werden müssen.

Was sind Ihre Vorschläge für Städte und städtische Mobilität?
Ich habe schon früher argumentiert, dass wir Städte als Innovationsorte denken müssen, dass in den Städten der positive Wandel anfangen muss, weil dort die Konflikte, aber auch die Möglichkeiten am größten sind.

Was ist mit einem positiven Wandel gemeint? Autofahrer, Lobbyverbände und Teile der Politik sehen den Radverkehr ja eher als Konkurrenz um Räume.
Mit positivem Wandel meine ich, dass wir Mobilität für alle Menschen gewährleisten müssen und gleichzeitig die Lebensqualität in Städten erhöhen wollen. Das können wir erreichen durch die Förderung von Mikromobilität und insbesondere des Radverkehrs. Wichtig ist es dabei zu bedenken, dass jeder Radfahrer mehr auch einen Platzgewinn für Autofahrer bedeutet, denn nur wenn es uns gelingt mehr Menschen vor allem auf das Fahrrad zu bringen, können wir Räume freimachen. Ein Fußgänger oder Radfahrer braucht nur ein bis zwei Quadratmeter Fläche, ein Autofahrer bei Tempo 50 km/h aber 70 Quadratmeter. Es muss also attraktiver werden, aktiv mobil zu sein, nur dann werden Leute freiwillig auf das Auto verzichten. Darauf baut mein Vorschlag der Mikromobilitätsstraßen: Bei dem Konzept geht es darum, autofreie Nebenstraßen im Netz der gesamten Stadt einzurichten, die es jedem möglich machen, sich zu Fuß, mit dem E-Roller oder dem Fahrrad und ohne Interaktion mit dem Auto, Verkehrsrisiken, Lärm oder Abgasen zu bewegen.

„Jeder Fahrradkilometer bedeutet einen Nutzwert für die Gesellschaft. Autofahrer decken mit ihren Abgaben nur einen Bruchteil der Kosten, die der Gesellschaft entstehen.“

Was ändert sich jetzt gerade durch Corona?
In Städten konnten wir eine dramatische Abnahme des Verkehrsaufkommens sehen, die mit viel besseren Bedingungen für aktive Mobilität einherging. Die Luftverschmutzung nahm ab, ebenso der Lärm und die Enge. Weil ÖPNV und geteilte Formen der Mobilität als unsicher galten, gab es auch eine deutliche Zunahme des Fahrradverkehrs im Modal Split.

Denken Sie, dass es auch mittel- und langfristig zu Veränderungen kommen kann?
Inzwischen gibt es klare Anzeichen dafür, dass sich das Mobilitätsverhalten insgesamt geändert hat. Viele Menschen sind auf aktive Mobilität umgestiegen. Das führt vermutlich dazu, dass auch viele Umsteiger zukünftig beim Rad bleiben: Man fühlt sich mental und physisch besser. Viele Menschen teilen auch die Erfahrung, sich auf dem Fahrrad angstfreier und ohne Luftverschmutzung fortbewegen können. Deshalb haben wir aktuell tatsächlich ein Window of Opportunity, um auch langfristig mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen. Denn natürlich wird das Interesse am Rad mit wieder zunehmendem Autoverkehr in den Städten auch wieder sinken.

Sind die Menschen jetzt eher bereit für einen Umstieg vom Auto aufs Fahrrad?
Die Barriere für einen Umstieg war bislang die große Bindung, die man ans Auto hat, die über funktionale Aspekte weit hinausgeht – das Auto hat viele symbolische und affektive Werte, die durch die Ängste vor Infektionen noch verstärkt worden sind. Damit zu brechen, ist natürlich wahnsinnig schwierig. Aber genau das passiert im Moment in einem Teil der Gesellschaft. Ein anderer Teil, insbesondere auf dem Land, wird vermutlich stärkere Bindungen ans Auto entwickeln.

Der Städtetag sagt, die Kommunen wollen eine Verkehrswende. Ist ein höherer Radverkehrsanteil realistisch?
Wenn man Mikromobilitätsstraßen permanent einführte, dann könnte man in Städten auch einen viel höheren Radfahreranteil erreichen. Die besten deutschen Städte haben einen Anteil von vielleicht 35 bis 40 Prozent Radverkehr an den Fahrten im Stadtgebiet. In den Niederlanden werden deutlich höhere Werte erreicht, das heißt, es ist noch viel Spiel im System.

Mehr lesen. Eine Empfehlung von Prof. Stefan Gössling.

Todd Litman vom kanadischen Victoria Transport Policy Institute, einer unabhängigen Forschungsorganisation, gehört zu den führenden Stadt- und Verkehrsplanern weltweit. Auf der Instituts-Website werden kostenlos Ressourcen zur Verfügung gestellt, um die Verkehrsplanung und die Analyse der Verkehrspolitik zu verbessern. Ein aktueller Beitrag befasst sich mit der resilienten und Pandemieresistenten Planung von Städten und Kommunen. Aufgezeigt werden praktische Möglichkeiten zur Unterstützung bei der Vorbereitung, Reaktion und Erholung von Pandemien und anderen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Schocks. Zudem wird untersucht, wie Gemeinschaften ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Pandemien und anderen plötzlich auftretenden wirtschaftlichen, sozialen oder ökologischen Risiken erhöhen können.

Mehr unter vtpi.org

Was sollten Städte und Kommunen konkret tun?
Ich gehe immer davon aus, dass man die Transportmittelwahl nicht erzwingen kann. Man kann aber bestimmte Verkehrssysteme attraktiv machen. Und dann muss man es den Menschen überlassen, ob sie dieses Angebot annehmen. Ich denke aber, dass alle Studien in dieser Richtung zum gleichen Schluss kommen: Wenn man die Voraussetzungen für Fahrradstädte schafft, dann fahren die Menschen auch Rad. Wir haben beispielsweise in unserer Forschung nachgewiesen, dass Radfahrer erhebliche Umwege fahren, um motorisiertem Verkehr auszuweichen, also Abgasen, Lärm und Verkehrsrisiken. Wenn man gute In­frastruktur für mehr Radverkehr schafft, dann steigen viele Leute freiwillig um, noch mehr, wenn Mikromobilitätsstraßen eingeführt werden. Die Menschen fahren eigentlich sehr gerne Rad – das wird gerade in der Corona-Krise klar.

Viele Verbände fordern jetzt Anreize für umweltfreundliche Mobilität statt Kaufprämien für Autos. Was halten Sie davon?
Der große Erfolg der Fahrradleasing-Anbieter zeigt, dass schon ein kleiner finanzieller Anreiz einen Grund darstellt, um umzusteigen. Ich würde mir wünschen, dass der ökonomische Nutzen, den Radfahrer für die Gesellschaft erbringen, denn sie sind Kostensparer, auch wieder an sie ausgezahlt wird. Für jeden Radfahrer und jeden Kilometer.

Sie haben den ökonomischen Nutzen von Radfahren in der Vergangenheit ja schon konkret berechnet.
Richtig, im Rahmen einer Kosten-Nutzen-Analyse haben wir einen Vergleich zwischen Auto- und Radfahren gezogen. Bezieht man alle Faktoren ein, dann hat ein Fahrradkilometer einen Nutzen von 30 Cent für die Gesellschaft. Radfahren kann beispielsweise ganz massiv zur Entlastung der Gesundheitssysteme beitragen. Der Betrag wird quasi von Radfahrern erwirtschaftet, allerdings ohne dass bislang ein Ausgleich stattfindet.

Radfahren bringt also einen Nutzen für die Gesellschaft, wie verhält es sich mit Autofahren?
Ein mit dem Auto zurückgelegter Kilometer bedeutet gesellschaftliche Kosten von rund 20 Cent. In dieser Berechnung ist bereits berücksichtigt, dass Autofahrer erhebliche Steuern und Abgaben zahlen, die man mit acht Cent pro Kilometer ansetzen kann. Die größten Autokosten entstehen durch Lärm, den Ausbau von Verkehrsinfrastruktur und deren Erhalt sowie die Verfügbarkeit kostenfreier Parkplätze. Dazu kommen noch viele andere Kosten, wie die des Klimawandels. Negative Auswirkungen auf die Lebensqualität und den Tourismus sind in unserer Berechnung zum Beispiel noch gar nicht berücksichtigt, weil sie sich schlecht quantifizieren lassen.

Bei Verkehrsforschern und auch beim Deutschen Städtetag gibt es einen Konsens zur Reduzierung der Abhängigkeiten vom Auto.

Neben dem Verkehr steht ja vor allem das Autoparken in der Kritik. Haben Sie dazu Lösungsvorschläge?
Das durchschnittlich europäische Auto wird vermutlich 97 Prozent der Zeit nicht genutzt. In manchen Städten wird der eigene Wagen ja schon manchmal nicht mehr genutzt, weil man Angst hat, dass man bei der Rückkehr keinen Parkplatz mehr findet. Wenn solche Situationen entstehen, dann ist man wirklich in einer Sackgasse angekommen. Deswegen können wir auch mit deutlich weniger Autos auskommen. Zu den Kosten: Parkraum ist steuerlich subventioniert. Das fängt beim Anwohnerparkplatz an, der mit 30 Euro pro Jahr abgerechnet wird. Es wird eigentlich in keiner Stadt wirtschaftlich errechnet, was dieser Platz eigentlich wert ist. Der Kollege Donald Shoup in den USA fordert, dass vor allem Parkplätze in der Innenstadt prinzipiell so teuer sein müssten, dass immer eine ausreichende Zahl freier Plätze, ungefähr 15 Prozent, verfügbar ist. Das könnte ein Ausgangspunkt für die Bewirtschaftung sein.

Wie sollte die künftige staatliche Steuerung von Mobilität Ihrer Meinung nach aussehen?
Die Kosten-Nutzen-Analyse zeigt, dass wir eine Schere haben, die stark auseinanderklafft: Das Auto kostet, das Fahrrad nutzt. Volkswirtschaftlich betrachtet sollte diese Schere zunehmend geschlossen werden. Generell ist es sicher wünschenswert, dass der Autofahrer die Kosten trägt, die er verursacht. Das würde aus meiner Sicht bedeuten, dass Autofahren teurer werden muss. Auf der anderen Seite könnte man alternative Verkehrsmittel, wie das Fahrrad, fördern, indem man zum einen ökonomische Anreize schafft und zum anderen auch einen infrastrukturellen Ansatz verfolgt, in dem mehr Geld für das Fahrrad investiert wird. Die aktuell diskutierten Kaufprämien für Autos und der Abbau von Förderungen für Lastenräder führen in die absolut falsche Richtung.

Müsste man mit Blick auf Corona, Investitionsprogramme und den Klimawandel jetzt anders handeln?
Eigentlich sollte man Corona als Chance wahrnehmen – das tun auch viele Städte, nur leider kaum in Deutschland. Für mich ist klar, dass die potenziellen Störungen durch den Klimawandel im Wirtschaftssystem um ein Vielfaches schlimmer ausfallen werden als das, was wir gerade mit Corona erleben. Das wird allein deshalb deutlich, weil Klimawandel nicht kurzfristig, sondern permanent sein wird. Deshalb empfehle ich, aus der aktuellen Krise heraus auch langfristig Schlüsse zu ziehen über die Umgestaltung von Verkehrssystemen. Wir sollten die Systeme in den Städten auf einer viel fundamentaleren Ebene ändern. Immer mehr und größere Autos in Städten – es muss ja jedem klar sein, dass das nicht gehen wird. Wer jetzt handelt, handelt also langfristig und auf der Basis ökonomischer Vernunft.

Über Professor Stefan Gössling

Stefan Gössling hat in Münster und Freiburg studiert und ist heute Professor für nachhaltigen Tourismus und nachhaltige Mobilität an der schwedischen Linnaeus-Universität. Neben seiner Lehrtätigkeit ist er unter anderem als Berater von Regierungen und supranationalen Organisationen tätig und hat zahlreiche Fachbeiträge und Bücher veröffentlicht. Er ist Initiator des Mobilitätsforschungszentrums Transportation Think Tank Freiburg (t3freiburg.de).

Buchtipp: „The Psychology of the Car: Automobile Admiration, Attachment, and Addiction.“ (2017)


Bilder: Kara – stock.adobe.com, vtpi.org, Pixabay,

Aktuell werden überall händeringend Verkehrsplaner gesucht. Aber auch insgesamt fehlt in den öffentlichen Verwaltungen Personal. Wie sieht es aktuell aus, wo sind Probleme und was können Kommunen ändern? Dazu haben wir mit Rolf Dindorf gesprochen, der sich auf strategisches Personalmanagement im öffentlichen Sektor spezialisiert hat. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Herr Dindorf, viele beklagen latenten Personalmangel in der öffentlichen Verwaltung. Wie sehen Sie die Situation und welche He­rausforderungen gibt es aktuell?
Vorweg muss man sagen, dass wir es mit einer ganzen Reihe von zunehmend kritischen Entwicklungen zu tun haben. Ein großes Thema ist dabei der demografische Wandel. Schon vor 20 Jahren gab es dazu warnende Artikel in den Medien. Aber nicht nur in der medialen Wahrnehmung ist das Thema in der Folgezeit weitgehend untergegangen, auch bei den Entscheidern. Das fällt uns jetzt vor die Füße und es muss dringend gegengesteuert werden.

Wie sieht der demografische Wandel konkret in der Verwaltung aus?
Laut Schätzungen des Deutschen Beamtenbunds fehlen aktuell 138.000 Beschäftige in den Kommunalverwaltungen. Das zieht sich durch alle Bereiche der Verwaltung. Die eigentlichen Probleme kommen aber erst noch: 1,5 Millionen Menschen arbeiten in den Kommunalverwaltungen. Von denen sind nur 51.000 unter 25 Jahren, 181.000 aber über 60 Jahre alt. Ungefähr 29 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, also fast ein Drittel, scheidet in den nächsten 10 Jahren aus.

„Man muss eine Marke sein und die Menschen müssen auch Lust haben, zu Ihnen zu kommen.“

Rolf Dindorf

Tun die Kommunen zu wenig, um dem Mitarbeiterschwund zu begegnen?
Man muss einfach sagen, dass manche Kommunen ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Sie wissen ja genau, wie dünn die Personaldecke ist, wie alt zum Beispiel ihre Ingenieure und Verkehrsplaner sind und wann diese in Pension gehen.

Vielfach kommt das Argument, dass Kommunen nicht so gut zahlen wie die Privatwirtschaft.
Da muss man sagen, ja, das stimmt. Anderseits würde es unterstellen, dass sich alle nur nach dem Geld orientieren. Und das würde ich zurückweisen. Natürlich ist Geld ein Faktor, aber es gibt noch ganz viele andere Faktoren und da muss man ansetzen.

Was empfehlen Sie Kommunen konkret, um Fachkräfte zu gewinnen?
Man muss sich anschauen, wie sich die Verwaltung einer Stadt darstellt und wie die Personalgewinnung konkret abläuft. Viele Homepages sind in ihrem Auftritt nicht mehr zeitgemäß. Oft müssen Sie den Button Personal oder Karriere erst langwierig suchen. Dann die Art der Stellenausschreibung: Es wird gesagt „Das müssen wir korrekt machen“. Das ist richtig. Trotzdem müssen die Ausschreibungen nicht so altbacken daherkommen.

Wie kann eine gute Mitarbeiterakquise aussehen?
Die Stadt Hamm hatte zum Beispiel erfolglos nach Bewerbern als Straßenbauingenieur gesucht. Überregionale Aufmerksamkeit und den Durchbruch brachte eine Anzeige: „Ihr baut den Highway to Hamm. Wir schicken euch auf die härteste Kreuzfahrt Europas“ (Anm.: Full Metal Cruise). Kann man so etwas machen? Warum nicht? Es muss natürlich zum Selbstverständnis und dem Außenbild passen. Letztlich kommt es darauf an, eine Arbeitgebermarke zu entwickeln.

Stellenausschreibung mal anders: „Ihr baut den Highway to Hamm. Wir schicken euch auf die härteste Kreuzfahrt Europas.“

Das heißt, die kommunale Verwaltung sollte klarmachen, wofür sie steht und was sie bietet?
Ja, eine Arbeitgebermarke zu entwickeln, ist ein ganz wesentlicher Punkt. Damit tun sich viele kommunale Verwaltungen schwer und es gibt es Widerstände, wie „Wir sind nicht Coca-Cola oder ein Start-up. Das wollen wir nicht.“ Was dabei vergessen wird: Jede Kommune ist eine Arbeitgebermarke für sich und faktisch eine Firma. Je nachdem, wo sie sind, gehören die Stadt- und Kreisverwaltungen zu den wichtigsten Arbeitgebern. Sie stellen sich optisch nur oft nicht so dar und kommen als graue Maus daher. Egal, ob die Stadt Ulm heißt oder Bielefeld, es muss klar werden, wofür die Verwaltung steht. Also „Wer sind wir?“ „Was zeichnet uns aus?“ „Was bieten wir?“ Vielleicht sind Sie damit ja auch ein Paradiesvogel, der manche abschreckt aber andere werden auch angezogen. Graue Mäuse ziehen dagegen niemand wirklich an.

Was kann die Verwaltung bei der Rekrutierung sonst noch verbessern?
Entscheidend ist auch, wie die Bewerberkommunikation abläuft. Wenn man sich an jüngere Menschen wendet, muss man immer sehen, wie dort die Bedürfnisse und Erwartungshaltungen sind. Zum Beispiel sollte man überlegen, ob Bewerber ihre Unterlagen noch per Post senden müssen oder das auch per Mail machen können. Auch die Entscheidungsprozesse sollten kürzer werden. Die Berliner Landesverwaltung hat zum Beispiel in einer Pressemitteilung gesagt, dass die durchschnittliche Dauer bis zur Einstellung nicht mehr 5,3 Monate, sondern nur noch 3,8 Monate beträgt. Das entspricht aber nicht der Lebensrealität der Stelleninteressenten. Nach einer Untersuchung des Nachwuchsbarometers öffentlicher Dienst erwarten über 80 Prozent der Interessenten innerhalb von vier Wochen eine Rückmeldung und ggf. Einladung zum Gespräch.

„Der öffentliche Dienst ist nicht nur ein sicherer Hafen, er bietet auch Sinnorientierung.“

In Krisenzeiten gibt es ja einen erhöhten Zulauf im öffentlichen Dienst. Beseitigt er die Pro­bleme?
Manche sagen: Die nächste Krise kommt bestimmt und dann wollen sie alle wieder in den öffentlichen Dienst. Aber die Spekulation auf die Krise löst das Problem nicht. Wenn Sie den demografischen Wandel sehen, dann wird schnell klar, dass das so nicht funktionieren kann. Diese Erkenntnisse gab es natürlich schon vor Corona. Dazu kommt in Bezug auf Fachkräfte, wie Verkehrsplaner, dass man diese nicht vor Ort rekrutieren kann. Man muss eine Marke sein und die Menschen müssen auch Lust haben, zu Ihnen zu kommen.

Was können Verwaltungen tun, um als Arbeitgeber attraktiver zu werden?
Vielfach wird auf notwendige und wohl auch unumgängliche Änderungen negativ reagiert. Die Strukturen sind da und sie sollen so bleiben. Man tut so, als müssten heilige Kühe geschlachtet werden. Das kann aber nicht die Lösung sein. Es kommt darauf an, frischen Wind in die Verwaltung zu bringen, verbunden mit einem Kultur- und Wertewandel. Junge Menschen sind heute viel individueller, das sehen Sie allein an den weiterverbreiteten Tattoos. Sie wollen mehr Freiheiten und Verantwortung. Die Verwaltung kann hier mit Gestaltungsmöglichkeiten punkten. Digitalisierung, Homeoffice, Projektteams über Fachgrenzen hinaus – alles, was man unter agilem Arbeiten summieren kann. Wir brauchen eine innovative gegenwartsadäquate Arbeitsumgebung.

Aber auch viele Amtsräume strahlen ja noch den Charme der 1980er Jahre aus.
Natürlich sind attraktive Neubauten mit moderner Innenraumgestaltung schön. Räume wirken auf Menschen. Da häufig die finanziellen Mittel nicht für umfangreiche bauliche Änderungen reichen, sollte man trotzdem im Kleinen beginnen. Eine wesentliche Verbesserung ist es zum Beispiel, Kreativräume zu öffnen. Köln hat hier mit dem „Zukunftslabor“ ein Zeichen gesetzt. Salopp gesagt: Eine geeignete Fläche für vernetztes Arbeiten und persönlichen Austausch ist schnell mit einer elektronischen Tafel, einem Beamer und ein paar kreativen Methodentools eingerichtet. Dabei geht es vor allem auch darum, Signale zu setzen. Zum Beispiel im Hinblick auf die Zusammenarbeit – auch zwischen Jung und Alt. Es ist auch eine Haltungsfrage, wie man mit älteren Mitarbeitern umgeht, ob man noch von ihrer breiten Erfahrung profitieren möchte, indem man sie zum Beispiel weiterbildet und aktiv mit Jüngeren zusammenbringt.

Was würden Sie als Fachmann den Verwaltungen gerne mitgeben?
Wichtig ist für die Kommunalverwaltungen, dass sie personell wieder Wasser unter den Kiel bekommen. Sie müssen mit einem strategischen Personalmanagement langfristig gezielt planen. Im Hinblick auf die Personalgewinnung genauso wie die Personalentwicklung und den Ausbau digitaler Kompetenzen. Ein wichtiges Argument kann die Verwaltung dabei immer für sich in Anspruch nehmen: Der öffentliche Dienst ist nicht nur ein sicherer Hafen, er bietet auch Sinnorientierung im Hinblick auf die Arbeit an der Gemeinschaft und den Zusammenhalt der Gesellschaft. Das kann und sollte in der Kommunikation viel stärker herausgestrichen werden. Gerade in Krisenzeiten.

Rolf Dindorf

ist seit 2005 als Führungskräfteberater und Seminarleiter auf das Themenfeld strategische Personalarbeit im öffentlichen Dienst und angelehnten Wirtschaftsbranchen spezialisiert. Seine Themenschwerpunkte sind unter anderem agile Verwaltung, demografischer Wandel sowie sinnstiftende Unternehmenskultur.

Mehr Informationen unter rolf-dindorf.de


Bilder: SimpLine – stock.adobe.com, Reiner Voß

Wie können Kommunen mehr Sicherheit für Radfahrer erreichen? Gibt es aktuell neuen Handlungsdruck? Wir haben den Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV) Siegfried Brockmann gefragt. Die UDV im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) hat sich zur Aufgabe gemacht, die Verkehrssicherheit auf Deutschlands Straßen zu verbessern und zu helfen, Unfälle zu vermeiden oder zumindest abzuschwächen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Herr Brockmann, in der Corona-Krise gibt es aktuell deutlich mehr Radfahrer. Verändert sich Ihrer Meinung nach damit etwas?
Im Moment ist es so, dass der ÖPNV mit dem Virus-Ausbruch gemieden wurde und noch weiter gemieden wird. Ich gehe aber davon aus, dass sich langfristig die alten Prozesse wieder so einspielen werden, wie sie vorher waren. Was ich aktuell beobachte, ist, dass viele Menschen aufs Fahrrad umgestiegen sind, genauso aber auch auf das Auto. Das kann positive, aber auch negative Effekte haben.

Welche negativen Effekte sehen Sie durch die Zunahme des Radverkehrs?
Radfahrer sind zwar gesünder unterwegs, eine schnelle Steigerung des Radverkehrsanteils produziert aber zusätzliche Gefahren. Das muss man auch offen aussprechen. Denn der gestiegene Radverkehrsanteil trifft ja auf die Infrastruktur, die schon vorher da war. Die meisten Städte haben nicht für einen Anstieg vorgesorgt.

Was halten Sie von der Annahme, dass eine höhere Anzahl von Radfahrern auch mehr Sicherheit bringe?
In der Fachwelt gilt die These der „Safety in Numbers“ als widerlegt. Zudem muss man sich nur einmal die Rahmenbedingungen wie die Platzverhältnisse für den Radverkehr anschauen. Wir haben ja mit 1,5 Metern Breite sehr enge Radwege – viele sind noch schmaler. Ich bin davon überzeugt, dass das zu wenig ist. Mit einer Lenkerbreite von 80 Zentimetern, mit der man rechnen muss, ist das Überholen untereinander hier schon extrem anspruchsvoll.

Was würden Sie Städten und Kommunen empfehlen?
Wenn der Radverkehr stark steigt, bin ich durchaus der Meinung, dass Lösungen, wie sie in Berlin gemacht werden (Anm. d. Red.: z. B. temporäre Pop-up-Bikelanes), sinnvoll sein können. Hier muss man aber natürlich planerisch nachgehen, denn im Zweifel drohen auch Klagen. Der Straßenraum lässt sich nicht per Order anders verteilen, das muss schon ein planerischer Prozess sein. Generell wäre eine deutliche Steigerung des Radverkehrsanteils eine Aufforderung an die Kommunen, jetzt mal richtig zu klotzen und nicht zu kleckern.

Parkdruck, mangelhafte Infrastruktur und fehlende Kontrollen führen zu gefährlichen Sichtbehinderungen an Kreuzungen.

Dauert der Umbau der Infrastruktur nicht viel zu lange?
Die Infrastruktur ist ja nur einer der Verursacher der Probleme. Langfristig brauchen wir natürlich ordentliche Lösungen und für die müssen auch mehr Planer da sein. An einer Stadt wie Berlin sieht man, wie lange es in der Realität dauert. Das Pro­blem haben andere Städte auch – man darf halt keine Wunder erwarten. Andererseits glaube ich, dass es massig Dinge gibt, die nicht so einen großen Planungsvorlauf haben und wo man auch eine Menge machen kann.

Was wäre denn aus Ihrer Sicht möglich und nötig für mehr Sicherheit?
Ich wünsche mir schon lange, dass das, was die Forschung ermittelt hat, schneller Eingang in die Realität findet. Durch die Forschung ist ja alles auf dem Tisch! Aber es passiert nichts oder viel zu wenig. Wir alle in der Szene haben uns angewöhnt, da mit einem sehr langen Atem heranzugehen. Das fängt an beim Abbiegeassistenten für Lkws. Wir haben bereits im Jahr 2013 vor schweren Unfällen mit Radfahrern gewarnt. Die Technik steht prinzipiell zur Verfügung. Aber wo bleibt sie? Erst vor Kurzem haben wir eine Studie vorgestellt, die untersucht, wie viele Fußgänger durch anfahrende Lkws überfahren werden. Auch da gibt es die nötige Technik. Aber es kommt bislang nichts in Bewegung.

„Der Straßenraum lässt sich nicht per Order anders verteilen, das muss schon ein planerischer Prozess sein.“

Vielfach werden auch schlechte Sichtbeziehungen und gefährdendes Parken für Unfälle mitverantwortlich gemacht.
Gute Sichtbeziehungen sind ein enorm wichtiges Thema. Und hier mangelt es sehr deutlich. Wir werden demnächst eine Studie vorstellen, was legales und illegales Parken eigentlich für die Gefährdung von Fußgängern und Radfahrern bedeutet. Unsere Fragen: Warum müssen rechts neben Radfahrstreifen noch Parkstände sein? Das produziert uns doch erst das Dooring-Thema. Warum parken Autos, meist unbehelligt, bis in die Ecken hinein, sodass hier kein Fußgänger sicher queren kann?

Mit welchen weiteren Themen sollten sich Politik und Entscheider mit Blick auf mehr Sicherheit Ihrer Meinung nach noch beschäftigen?
Wichtige Themen sind die Einhaltung der StVO, die allgemeine Verkehrsmoral und die gegenseitige Rücksichtnahme. Auch hier kann man kurzfristig einiges machen. Aktuell wird sehr klar, dass alle mehr Rücksicht auf den jeweils anderen nehmen müssen. Das bezieht sich nicht nur auf den Rad- und Autoverkehr, sondern insgesamt auf das Verhalten untereinander.

Warum klappt es in anderen Ländern zum Teil besser?
Eine Erklärung für mich ist, dass wir in Deutschland einen sehr ausgeprägten Hang danach haben, uns selbst zu verwirklichen. Das betrifft alle Verkehrsteilnehmer. Radfahrer würde ich hier nicht ausnehmen.

Mit einer Lenkerbreite von 80 Zentimetern, mit der man rechnen muss, ist nach den Erkenntnissen des UDV das Überholen auf engen Radwegen untereinander extrem anspruchsvoll.

Laut UDV vergessen Autofahrer beim Abbiegen „viel zu oft den Schulterblick“ oder sie könnten wegen Sichtbehinderungen und ungünstig geführter Radwege gar nichts sehen. Deshalb käme es häufig zu schweren Unfällen mit geradeausfahrenden Radfahrern. Diese Konfliktsituation hat die UDV in einem Forschungsprojekt und einem Crashtest detailliert untersucht.

Tun Politik und Verwaltung hierzulande zu wenig?
Wir haben in den letzten Jahren im Bereich Verkehrssicherheit gute Fortschritte gemacht und brauchen uns mit den Zahlen im internationalen Vergleich nicht zu verstecken. Das heißt aber nicht, dass das nicht alles noch viel besser geht.

Wie sehen Sie die Aussagen von Bundesverkehrsminister Scheuer der „erlauben, erleichtern und ermöglichen und nicht verbieten, verteufeln und verteuern“ möchte?
Tatsächlich sehe ich im Verkehrsministerium eine sehr ambivalente Haltung. Auf der einen Seite eben zum Beispiel die Änderungen der StVO, die für Radfahrer einiges Gutes tun wird. Auf der anderen Seite haben wir einen sehr wirtschaftsfreundlichen Kurs. Das sehen wir beim Thema Pedelec, wo meines Erachtens nicht ausreichend darauf reagiert wird, dass die Unfallzahlen jedes Jahr zweistellig steigen, das sehen wir beim Thema E-Scooter in Bezug auf die Radverkehrsanlagen und wir sehen es auch bei den PS-starken Autos oder dem neuen A1-Motorradführerschein für Autofahrer. Die Frage ist, was soll das für ein Signal sein? Ist es tatsächlich so, dass Sicherheit im Vordergrund steht, oder eher vermeintliche Bedürfnisse der Bürger und das Interesse der Industrie? Ich sehe hier ein Spannungsfeld.

Wie beurteilen Sie die steigende Zahl von hochmotorisierten Fahrzeugen und SUVs?
Die hohe Motorisierung fällt in Bezug auf die Unfallzahlen nicht besonders ins Gewicht. SUVs sind aus ökologischen Gründen, aufgrund des hohen Luftwiderstands und des großen Gewichts, natürlich nicht zu vertreten. In Bezug auf die Unfälle mit Radfahrern und Fußgängern, die vor allem innerorts passieren, ist es aber nicht relevant, ob das Auto 150 oder 250 PS hat, oder ob ein Unfall durch ein normales Auto oder einen SUV verursacht wird. Der entscheidende Faktor ist einfach die Geschwindigkeit. Und die kann heute jeder VW Polo fahren. Wie gesagt, wichtig sind die Einhaltung der StVO und die gegenseitige Rücksichtnahme.

Siegfried Brockmann

ist seit 2006 Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV) im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) sowie Vorstandsmitglied des Deutschen Verkehrssicherheitsrats und Präsidiumsmitglied der Deutschen Verkehrswacht. In Deutschland gehört er zu den gefragtesten Experten im Bereich Verkehrssicherheit.

Informationen und Studienergebnisse unter udv.de


Bilder: UDV, Reiner Kolberg

Verkehrsexperten empfehlen den Blick über die Landesgrenzen hinaus. Über die Situation in Deutschland im internationalen Vergleich hat unsere Autorin Andrea Reidl mit Stefan Wallmann gesprochen. Der Diplomingenieur und Infrastrukturexperte ist Deutschlandchef von Ramboll, eines der größten internationalen Ingenieur-, Planungs- und Beratungsunternehmen mit Hauptsitz in Dänemark. In Deutschland beschäftigt Ramboll 500 Mitarbeiter an zehn Standorten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Herr Wallmann, Deutschland galt im Ausland lange als fortschrittliche Industrienation. Gilt das noch für die Verkehrsinfrastruktur?
Nein, Deutschland hat massiv den Anschluss an andere Länder verloren. Viele Brücken sind marode, der Schienenverkehr ist am Limit und in den Ballungsgebieten droht der Verkehrskollaps. Wenn man die vergangenen 30 Jahre betrachtet, habe ich das Gefühl, uns ist nach dem Aufschwung Ost die Luft ausgegangen.

Welche Länder sind fortschrittlicher, wenn wir nur den Aspekt nachhaltige Mobilität betrachten?
Die skandinavischen Länder sind deutlich weiter als wir. Sie wollen den Menschen den Umstieg leicht machen. Die Regierungen fördern den Umweltverbund, die E-Mobilität mit Fahrrad und Auto, bauen massiv ihr Radwegenetz aus und sind mit der Digitalisierung viel weiter als wir.
In Finnlands Hauptstadt Helsinki wurde mit „Whim“ die zurzeit modernste Mobilitäts-App der Welt entwickelt. Whim heißt so viel wie „nach Lust und Laune“ und vereint das gesamte Mobilitätsangebot der Stadt – Busse und Bahnen, Fähren, Mietwagen alles bis hin zu Taxis und Leihrädern. Über die App lassen sich verschiedene Abos buchen, man kann aber auch einzelne Fahrten darüber abrechnen.
Die Politik unterstützt diese Entwicklung. Mit dem neuen Transportgesetz haben sie dieses umfassende Angebot überhaupt erst möglich gemacht. Seit es 2018 eingeführt wurde, sind alle Verkehrsunternehmen dazu verpflichtet, ihre Daten offenzulegen. Sie stellen ihre Fahrpläne, die Echtzeitdaten und ihre API-Schnittstellen zur Verfügung, damit tatsächlich alle Angebote in einer App gebündelt werden können.

In Städten wie München oder Hamburg geht zur Hauptverkehrszeit oft nichts mehr. Busse und Bahnen sind überfüllt und ebenso die Straßen. Wie konnte es so weit kommen?
Die Politik hat das Zeitfenster verstreichen lassen, um das Angebot dem Bedarf anzupassen. Die Urbanisierung, wie wir sie gerade in den Innenstädten erleben, ist im Wesentlichen so eingetroffen, wie man sie bereits Ende der Neunzigerjahre prognostiziert hat. Der heutige Bedarf war absehbar.

Also hat die Politik ihre Aufgabe der Grundversorgung nicht erfüllt?
Richtig, und sie hat zu sehr auf den Privatwagen gesetzt. Die Menschen organisieren ihre Mobilität fast nur noch mit dem eigenen Wagen, weil der öffentliche Verkehr mit Bus, Bahn und S-Bahn zunehmend ausgedünnt oder den Bedürfnissen nicht mehr angepasst wurde.

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer will massiv in den Verkehr investieren. Holt Deutschland gerade auf?
Es ist gut, dass Mittel bereitgestellt werden. Aber Geld allein reicht nicht aus. Neben der Infrastruktur fehlt die Kapazität in vielen anderen Bereichen. Wir brauchen mehr Personal in den Verwaltungen, bei den Bauherren und selbst bei den Gerichten. Außerdem müssen die Prozesse stärker vereinheitlicht werden. Das Planungs- und Baurecht ist in Deutschland nicht nur wahnsinnig komplex, es ist auch noch divers. In jedem Bundesland gelten andere Regeln. Wir brauchen einen einheitlichen Standard, der bundesweit gilt. Das hilft uns dabei, schneller zu werden.

Eine schnellere Umsetzung von Bauvorhaben wünschen sich viele Menschen. Gleichzeitig fürchten Verbände und Initiativen, dass eine Zeitersparnis zu Lasten ihrer Mitbestimmung geht.
Das muss nicht sein. In Deutschland wird immer noch viel mit Papier gearbeitet. Eine digitale Prozesskette von der Planung über die Bürgerbeteiligung bis hin zur Freigabe des Bauvorhabens spart Zeit und erleichtert vielen Menschen die Teilhabe.

„Die skandinavischen Länder sind deutlich weiter als wir. Sie wollen den Menschen den Umstieg leicht machen.“

Stefan Wallmann

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Ich habe mir kürzlich den Bebauungsplan für ein neues Vorhaben in meinem Stadtteil in Berlin angesehen. Das ging nur zwischen 10 und 15 Uhr an einem bestimmten Wochentag. Ich musste meinen Ausweis vorlegen und konnte die Unterlagen nur mit dem Smartphone fotografieren. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Die skandinavischen Staaten stellen ihren Bürgern und Bürgerinnen sämtliche Unterlagen online bereit. So kann sich die gesamte Bevölkerung jederzeit barrierefrei informieren. Das ist zeitgemäß.

Sie arbeiten für ein dänisches Unternehmen. Setzt Dänemark Bauvorhaben schneller um?
Auf jeden Fall. Dort sind an den Planungsprozessen vom ersten Tag an alle beteiligt, die in irgendeiner Form an und von dem Vorhaben betroffen sind – auch Vertreter von Verbänden und Initiativen. In diesen Runden wird jeder gehört und ernst genommen. Das gehört zur Kultur. In skandinavischen Unternehmen herrschen flache Hierarchien. Es ist normal, dass Mitarbeiter mit ihren Vorgesetzten auf Augenhöhe kommunizieren, sie hinterfragen und ihnen widersprechen. In den Runden zu den Bauvorhaben wird das Thema so lange diskutiert, bis möglichst alle mit der Lösung zufrieden sind. Das dauert in der ersten Phase länger, zahlt sich aber über den gesamten Prozess aus.

Inwiefern?
Das Ergebnis wird von einer breiten Bevölkerung getragen. In Dänemark herrscht eine große Konsenskultur. Es kommt deutlich seltener zu Klagen als in Deutschland.

Wer müsste so einen Wandel anstoßen?
Die Politik. Zugegeben, das ist kein leichtes Vorhaben, aber es steigert die Effizienz ungemein. Und das sollte unser Ziel sein. Wir müssen schneller werden. Schauen Sie nach China. Dort wurde in der Hafenstadt Xiamen innerhalb von nur sechs Monaten der sieben Kilometer lange Skycycle-Highway geplant und gebaut, der auf Stelzen über der Autostraße und unter der Buslinie verläuft.

Radverkehr 2.0 in China mit Know-how aus Dänemark: Den Bicycle Skyway in Xiamen entwarf das Kopenhagener Architekturbüro Dissing & Weitling, mit dem auch Ramboll zusammenarbeitet.

In China wird über den Bau von Radwegen oder Autobahnen nicht diskutiert, sie werden einfach angeordnet …
Das stimmt. So etwas funktioniert nicht in unseren Demokratien und ist für uns sicherlich nicht erstrebenswert. Trotzdem lohnt sich der Blick nach Xiamen. Denn es weist uns darauf hin, was möglich ist. Dafür haben wir den Blick verloren. Wir sind unglaublich langsam geworden. Um schneller zu werden, müssen wir die Planungs- und Genehmigungsprozesse drastisch verkürzen. Diese Phase bremst uns aus. Das zeigt das Beispiel der Dresdner Bahn in Berlin. Die Planungen wurden nach der Wende begonnen. Aber erst 2015 gab es – nach 20 Jahren Auseinandersetzung – einen Planfeststellungsbeschluss. Gegen den wurde dann von einer Bürgerinitiative geklagt, wie gegen nahezu alle vergleichbaren Beschlüsse zuvor ebenfalls. Seit September wird nun endlich gebaut.

„Es ist gut, dass Mittel bereitgestellt werden. Aber Geld allein reicht nicht aus“

Stefan Wallmann

Von welchem Zeitraum sprechen Sie, wenn Sie fordern, den Planungs- und Genehmigungsprozess drastisch zu verkürzen?
Wir sollten versuchen, von zehn Jahre auf zwei Jahre zurückzukommen. Das Beispiel Dänemark zeigt, dass beides geht: Die Menschen am Prozess beteiligen und schneller werden. Die Politik ist gefordert, einen klar strukturierten Prozess vorzugeben, in dem alle zu Wort kommen, der aber die Dauer des Planungs- und Genehmigungsprozesses reduziert.

In Berlin dauert der Bau eines Radwegs von der Planung bis zur Fertigstellung zurzeit vier Jahre. Wie schnell geht das in Dänemark?
Der Prozess ist dort sehr effizient. Nach Einschätzung unserer dänischen Kollegen braucht man, wenn der Prozess von Anfang an gut läuft, sechs Monate vom Anfang der Planung bis zu dem Moment, wo der tatsächliche Bau anfängt. Da wir selbst nicht bauen, ist es schwierig, eine belastbare Aussage für die Bauphase zu treffen. Hinzu kommen manchmal Zeiten für die Bürgerbeteiligung oder politische Entscheidungsfindungen. Alles in allem dauert die Planungsphase aber selten länger als sechs bis neun Monate. In Deutschland kann das durchaus rund 24 Monate dauern, obwohl wir hier gerade, zum Beispiel konkret in Berlin, durchaus positive Signale der Entscheidungsträger sehen, dies deutlich zu beschleunigen.

Über Ramboll

Mit mehr als 15.000 Mitarbeitern und 300 Offices in 35 Ländern gehört das Ingenieur-, Planungs- und Managementberatungsunternehmen Ramboll (dänisch Rambøll) zu den größten internationalen Beratungs­­gruppen. Geschäftsbereiche sind Hochbau und Architektur, Transport und Infrastruktur, Stadtplanung und -gestaltung, Wasser, Umwelt und Gesundheit, Energie sowie Management Consulting. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Ramboll beraten auch Regierungen und Kommunen, unter anderem auf dem Weg zu fossilienfreien / CO2-neutralen Städten. In den vergangenen vier Jahrzehnten hat Ramboll nach eigenen Angaben jeden zweiten Radweg in Kopenhagen geplant. Aktuell berät die Unternehmensgruppe auch Berlin beim Ausbau der Radinfrastruktur.


Bilder: Stefan Wallmann, Dissing+Weitling Architecture, Ma WeiWei

Der Verkehrsausschuss von Nordrhein-Westfalen ist am 20.11.2019 einstimmig dem Antrag der Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ gefolgt. Der Mobilitätswandel pro Fahrrad soll gestaltet und in einem Fahrradgesetz festgeschrieben werden. NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst zufolge wird das Projekt mit hoher Priorität vorangetrieben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Zu den Hintergründen und Plänen haben wir mit Dr. Ute Symanski gesprochen. Die Kölner Organisationssoziologin, -beraterin und politische Aktivistin hat sowohl den Kongress Radkomm – Kölner Forum Radverkehr als auch Aufbruch Fahrrad mitinitiiert und geprägt. Als Vertrauensperson begleitet sie den weiteren Prozess.

Was waren Ihre Erwartungen beim Radgesetz und sind sie erfüllt worden?
Unsere Erwartungen sind mehr als erfüllt worden. Wir hätten tatsächlich nicht gedacht, dass es den Beschluss gibt, ein Fahrradgesetz für NRW zu machen. Wir haben neun Forderungen aufgestellt und als Zusatz den Wunsch, dass diese Forderungen in ein Fahrradgesetz überführt werden. Das haben wir bewusst abgeschwächt, weil wir es nicht fordern, aber trotzdem in den Raum stellen wollten. Es war dann überwältigend für uns zu hören, dass unsere Forderungen tatsächlich gesetzlich verankert werden sollen.

Sie haben dazu die „Volksinitiative Aufbruch Fahrrad“ gegründet. Was macht die Initiative aus?
Mit der Initiative Aufbruch Fahrrad verbindet sich viel mehr als einfach nur eine Unterschriftensammlung. Zum einen wollten wir gegenüber der Politik und der Verwaltung beweisen, dass es wirklich sehr viele Menschen im Land gibt, die dafür ihre Stimme geben. Das konnten wir nur mit einer Unterschriftensammlung. Zweitens wollten wir ein Bündnis schmieden und die zivilgesellschaftlichen Akteure, die etwas mit Umweltschutz, Nachhaltigkeit oder Mobilität zu tun haben, zusammenführen. 215 Vereine und Verbände und Initiativen sind mit dabei – ein ganz breites Spektrum, von den großen Organisationen wie dem ADFC oder VCD bis hin zu kirchlichen Initiativen oder Sportvereinen. Wir wollten nach außen zeigen, dass es viele sind, aber auch, dass die Menschen das untereinander mitbekommen und ihnen klar wird, dass sie durchaus eine zivilgesellschaftliche Macht haben. Deshalb ist es auch ein Aktionsbündnis und ein Netzwerk.

Sie haben 207.000 Unterschriften gesammelt. Das ist ein enormes Ergebnis. Haben Sie damit gerechnet?
66.000 Unterschriften mussten gesammelt werden und dass wir das schaffen, daran habe ich nie gezweifelt. Aber das wir dann unser Wunschziel von 100.000 Unterschriften mit 207.000 so deutlich getoppt haben, damit bin ich wirklich glücklich. Ich merke auch, dass das eine Zahl ist, die im Land und vor allem in der Politik richtig Eindruck macht.

Wie schätzen Sie die Ergebnisse der Unterschriftensammlung ein?
In der Politik wird die Zahl der Unterschriften sehr hoch gewertet, weil man weiß, dass sie ohne einen Lobbyverband im Rücken zustande gekommen ist und jede Unterschrift umgerechnet in Aufwand einen Euro kostet. Wir haben das alles ehrenamtlich gemacht. Dazu kommt, dass es kein Leitmedium in NRW gibt und wir deshalb wahnsinnig viel Netzwerkarbeit machen mussten.

Feierlaune nach Monaten harter Arbeit bei den Aktivisten der Volksinitiative – und auch eine herzliche Umarmung von Ute Symanski mit NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst fehlt nicht.

Was macht die Zustimmung der Politik in NRW zur Volksinitiative zu etwas Besonderem?
Aufbruch Fahrrad ist die erfolgreichste Volksinitiative in NRW, in dem Sinne, dass der Landtag noch nie die Forderungen einer Volksinitiative vollständig übernommen hat. Mit den gesammelten Unterschriften wird ja nur erreicht, dass sich der Landtag damit beschäftigt. Aber ob dann zugestimmt wird, steht auf einem anderen Blatt. Dass dann einstimmig zugestimmt wurde, das gab es bislang noch nie. Es gab auch nie eine Volksinitiative, die von einer Frau eingereicht wurde. Und dann noch mit einem Mobilitätsthema in einer Männerdomäne. Darüber freue ich mich auch im Sinne der Sache der Frauen. Interessanterweise wird das von vielen, auch in den Medien, bislang gar nicht so wahrgenommen.

Wie geht es jetzt weiter?
Sofort nach dem Beschluss des Landtags wurden Termine zur weiteren Besprechung mit uns und allen Anspruchsgruppen geplant, die jetzt laufen. Bis Mai soll ein erstes Eckpunktepapier erstellt werden. Meine Wahrnehmung aus vielen Gesprächen ist, dass es aktuell eines der priorisierten Projekte im Verkehrsministerium ist. Ich denke, Minister Hendrik Wüst möchte der Erste sein, der ein Radverkehrsgesetz in einem Flächenland umsetzt. Auch das NRW Umweltministerium mit Ursula Heinen-Esser steht dahinter. Sie war eine der Ersten, die sagte, dass die ersten Lesungen vielleicht schon im Herbst stattfinden könnten.

Wie schätzen Sie die Wirkung des Fahrradgesetzes ein?
Ich teile mit Christine Fuchs von der AGFS (Anm.: Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW) die Meinung, dass dieses Gesetz enorm wichtig ist, weil es den Kommunen einerseits Rückendeckung gibt und zudem auch einen Aufforderungscharakter hat. Politik und Verwaltung können sich nur noch schwer hinter einem „das dürfen wir nicht“ oder „das geht nicht“ verstecken.

Was braucht es, damit das Fahrradgesetz eine Signalwirkung in NRW und darüber hinaus entfalten kann?
Enorm wichtig sind Fürsprecher für das Thema. Wenn ein Minister und andere hochrangige Persönlichkeiten sagen: „Wir geben unserem Land ein Radverkehrsgesetz, weil wir zeigen wollen, wie wichtig uns der Radverkehr ist“, dann wird es eine große Signalwirkung geben. Wichtig ist hier auch der direkte Draht zum Bund und dem BMVI. NRW hat gerade beim Thema Mobilität ein großes Gewicht in Berlin.

Maßnahmen für NRW im Überblick

  1. Mehr Verkehrssicherheit auf Straßen und Radwegen
  2. NRW wirbt für mehr Radverkehr
  3. 1000 Kilometer Radschnellwege für den Pendelverkehr
  4. 300 Kilometer überregionale Radwege pro Jahr
  5. Fahrradstraßen und Radinfrastruktur in den Kommunen
  6. Mehr Fahrrad-Expertise in Ministerien und Behörden
  7. Kostenlose Mitnahme im Nahverkehr
  8. Fahrradparken und E-Bike-Stationen
  9. Förderung von Lastenrädern

Forderungen in Langform und aktuelle Informationen unter aufbruch-fahrrad.de


Bilder: Aufbruch Fahrrad, Reiner Kolberg

Mit ungewohnter Klarheit fordert der Deutsche Städtetag (staedtetag.de) seit einiger Zeit nachdrücklich eine Verkehrswende. Im Spitzenverband, der die Interessen der Städte auch gegenüber den politischen Institutionen bündelt, gibt es dazu offenbar große Einigkeit. Gründe, Positionen und Zielrichtungen erläutert Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy.


Herr Dedy, der Deutsche Städtetag setzt sich für eine schnelle Weichenstellung zu einer Verkehrswende ein. Was sind die Beweggründe?
Der Blick in die Städte zeigt: So wie der Verkehr heute organisiert ist, kommt er an seine Grenzen. Staus, Lärm und Abgasbelastungen mindern die Lebensqualität. Und der Verkehr hat in Deutschland noch nicht zu einer wirksamen CO2-Verringerung beigetragen. Deshalb brauchen wir eine Verkehrswende.

Vor welchen Problemen stehen die Städte und Kommunen aktuell konkret?
Es gibt große Herausforderungen, denen sich die Städte stellen: Bezahlbarer Wohnraum, Luftreinhaltung, Investitionsstau, Fachkräftemangel – um einige zu nennen. Uns ist es wichtig, all diese Aufgaben über die einzelnen Fachbereiche hinaus anzugehen. Deswegen ist die Verkehrswende für die Städte nicht bloße Verkehrspolitik. Da geht es zum Beispiel auch um Stadtentwicklung. Unser Ansatz ist, Verkehr stärker als bisher in Regionen zu denken.
Und natürlich müssen die notwendigen Investitionen für die Verkehrswende auch finanziert werden. Bei der kommunalen Verkehrsinfrastruktur haben wir einen Investitionsstau von 38 Milliarden Euro. Deshalb ist es gut, dass die Bundesmittel mit dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz aufgestockt werden. Ab dem Jahr 2025 sollen es zwei Milliarden Euro jährlich sein. Das brauchen wir dauerhaft und dynamisiert. Nur dann haben die Städte Planungssicherheit, um den Umfang der Maßnahmen zu stemmen.

Helmut Dedy, Deutscher Städtetag

Die Städte wollen die Verkehrswende.”

Immer wieder kommen Einwürfe, dass Bemühungen um eine Verkehrswende ideologiegetrieben oder einfach nicht machbar seien. Wie sehen Sie das?
Die Städte wollen die Verkehrswende. Diese Entscheidung haben wir im Städtetag einstimmig und über alle Parteigrenzen hinweg getroffen. Natürlich werden wir in den Städten die Frage beantworten müssen, wie viel Raum will ich dem motorisierten Individualverkehr für andere Verkehrsmittel abnehmen. Wenn zum Beispiel eine Stadt neue Radwege bauen will, kann das nicht auf dem Bürgersteig geschehen. Das zeigt auch, dass Verkehrswende nicht bedeuten kann, einfach jedes Verbrennerauto durch ein E-Fahrzeug zu ersetzen. Diese Gleichung kann nicht aufgehen.

Angesichts langer Planungshorizonte beim Ausbau des ÖPNV sehen viele Experten einen wichtigen Lösungsansatz für die nächsten Jahre in der Stärkung des Fuß- und Radverkehrs.
Die Städte unterstützen es, wenn mehr Menschen im Alltag das Fahrrad nutzen oder zu Fuß gehen. In vielen Innenstädten werden schon jetzt über 30 Prozent der Wege mit dem Rad zurückgelegt, Tendenz steigend. Die Städte wollen das Fahrradfahren weiter stärken, etwa durch gut ausgebaute Radwege, Vorrangschaltungen an Ampeln für Radfahrer oder Fahrradparkhäuser, zum Beispiel an Bahnhöfen. Wo allerdings nicht nur umgeplant, sondern auch aufwendig umgebaut werden muss, da sind auch Bürgerinnen und Bürger und auch der Einzelhandel zu überzeugen.

“Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Der Bund muss den Städten vertrauen.”

Helmut Dedy, Deutscher Städtetag

Man gewinnt den Eindruck, dass immer mehr Städte im europäischen Ausland umdenken und viel stärker auf den Radverkehr setzen als bei uns. Hinken wir in Deutschland hinterher?
Immer mehr Städte in Deutschland erreichen gute Platzierungen beim Fahrradklima-Test des ADFC. Wir müssen daher nicht immer nur in die Niederlande oder nach Kopenhagen schauen. Denn nicht alle Maßnahmen würden in deutschen Städten funktionieren, auch die rechtlichen Rahmenbedingungen sind andere. Die Radverkehrsinfrastruktur wird sich durch die Förderung im Rahmen des Klimaschutzprogramms weiter verbessern – und das ist gut so. Denn der Radverkehr ist ein wichtiger Baustein für klimafreundliche Mobilität. Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Der Bund muss den Städten vertrauen.

Bundesverkehrsminister Scheuer hat mit dem „Bündnis für moderne Mobilität“, Fördermitteln für den Radverkehr und einer Reform der StVO ja einige Veränderungen auf den Weg gebracht. Sind Sie damit zufrieden?
Das Bündnis für moderne Mobilität ist ein sinnvoller Erfahrungs- und Wissensaustausch zwischen Bund, Städtetag und anderen Organisationen. Wir haben dadurch die Möglichkeit, dem Bund klarzumachen: Welche Maßnahmen für die Verkehrswende vor Ort am effektivsten sind, können die Städte selbst am besten einschätzen. Ein Beispiel: Bisher können die Städte nur an Gefahrenstellen Tempo 30 anordnen, etwa vor einer Schule oder einer Kita. Wenn aber der Schulweg auch an einer Hauptverkehrsstraße entlanggeht, ist das im Moment nicht möglich.
Positiv ist, dass Bund und Länder inzwischen einig darüber sind, dass ein neuer Gebührenrahmen für das Bewohnerparken notwendig ist. Die Städte fordern seit Langem, dass der Spielraum größer wird. Wir können uns einen Rahmen zwischen 20 und 200 Euro pro Jahr für das Anwohnerparken vorstellen. Denn bei dem bisherigen Gebührenrahmen bis 30 Euro werden noch nicht einmal die Verwaltungskosten gedeckt. Wenn der neue Rahmen in Kürze steht, können die Städte selbst entscheiden, wie sie ihre Satzungen ändern. Wichtig ist, dass zukünftig auch der wirtschaftliche Wert des Bewohnerparkausweises berücksichtigt werden kann. Öffentlicher Raum ist ein knappes Gut.

Aus den Kommunen ist zu hören, dass beim Radverkehr sowohl die Beantragung von Fördermitteln als auch Planungsprozesse zu aufwendig seien. Wie kann man das verändern?
Klar ist, dass die Städte den Ausbau der Radinfrastruktur nicht allein stemmen können. Durch das Sofortprogramm Saubere Luft haben die Städte eine Vielzahl unterschiedlicher, aber meist kurzfristiger Fördermöglichkeiten erhalten. Wir brauchen aber eine Verlässlichkeit und Verstetigung der Förderung über Jahre, damit es nicht bei einem „Strohfeuer“ bleibt. Das Ziel der Städte ist es, gemeinsam mit Bund und Ländern die Vision Zero zu erreichen (…) dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum.

Der Deutsche Städtetag will mehr Schutz für Radfahrer und Fußgänger. Wo sehen sie Veränderungsbedarf?

Die Zahl der im Verkehr getöteten Radfahrer bleibt seit 2010 besorgniserregend hoch. Dagegen müssen Kommunen, Bund und Länder gemeinsam mehr tun. Dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum, damit sie Mobilität so organisieren können, dass sie den Bedürfnissen der Menschen vor Ort gerecht wird. Deshalb ist die Entschließung zum sicheren Radverkehr, die die Regierungsfraktionen im Bundestag im Januar 2020 getroffen haben, ein guter Schritt. Darin wird z. B. betont, dass die Städte Erprobungsmöglichkeiten brauchen, zum Beispiel um ein generelles Tempolimit von 30 km/h auszuprobieren.

“Das Ziel der Städte ist es, gemeinsam mit Bund und Ländern die Vision Zero zu erreichen (…) dafür brauchen die Städte aber auch den nötigen Spielraum.”

Helmut Dedy, Deutscher Städtetag
Verkehrswende als Gesamtaufgabe: Der Deutsche Städtetag fordert mehr Freiheiten für die Kommunen und eine „konsistente Verkehrspolitik auf Bundes- und Länderebene für eine Transformation der Mobilität”.

Beim Thema Lkw-Abbiegeassistent verweist Bundesverkehrsminister Scheuer immer wieder auf die EU. Was können Kommunen in der Zwischenzeit hier tun und warum folgen sie nicht dem Wiener Beispiel, Lkws ohne Assistenten die Durchfahrt zu verbieten?
Die Assistenzsysteme in Lkw für das Rechtsabbiegen helfen, Unfälle mit Fahrradfahrern an Kreuzungen zu verhindern. Das Bundesverkehrsministerium setzt auf eine freiwillige Selbstverpflichtung der Betreiber von Lkw, um den Abbiegeassistent möglichst flächendeckend einzuführen. Dieser Initiative haben sich auch viele städtische Betriebe angeschlossen. Das ist ein guter Weg, weil dadurch bereits vor dem Inkrafttreten der EU-weiten Regelung ab 2023 Maßnahmen angeschoben werden können, auch wenn nicht alle Lkw damit erreicht werden. Ein Vorgehen wie in Wien ist den deutschen Städten nicht möglich. Sie dürfen Lkw ohne Abbiegeassistenzsysteme die Einfahrt nicht einfach verbieten.

Der Verkehrsexperte Prof. Andreas Knie hat im Interview mit VELOPLAN die Auffassung vertreten, dass zwei Drittel der Menschen in den Großstädten bereit wären, dem Auto Raum zu nehmen und dem Fahrrad mehr Raum zu geben. Wie ist das Stimmungsbild in den Kommunen?
Wir werden es nicht schaffen, den Großteil der Autos von heute auf morgen aus den Innenstädten zu verdrängen. Auch wissen wir, dass sich die Stimmungsbilder zwischen Stadt und Land deutlich unterscheiden. Die Verkehrswende braucht die Akzeptanz der Bevölkerung, das ist klar. Wir wissen heute, dass der Verkehr von morgen vielseitiger und flexibler sein wird. Mit den Möglichkeiten der Digitalisierung wollen wir ihn auch umfassend vernetzen. Dann ist die Mobilität von morgen nicht nur umweltfreundlicher und klimaschonender, sondern komfortabler und schneller als heute.

Thema Bikesharing und E-Tretroller: Man hat den Eindruck, dass die Städte den Entwicklungen ziemlich hinterherlaufen. Was muss sich aus Ihrer Sicht verändern?
Die Zulassung von E-Tretrollern hat von der Idee bis zur Verwirklichung auf Bundesebene ein knappes Jahr gedauert. Die Städte hatten wenige Monate, um Anforderungen an Verleihsysteme umzusetzen. Wir haben deshalb eine Handlungsempfehlung zu E-Tretrollern im Stadtverkehr herausgegeben. Und mit den ersten Anbietern haben wir uns auf gemeinsames Vorgehen verständigt. Das zeigt: Wir setzen uns für Nachbesserungen in den gesetzlichen Regelungen ein, damit das Abstellen von Leihfahrzeugen auf Bürgersteigen und Fußgängerzonen ordentlicher erfolgt und Tabuzonen bei Fahrten mit den Scootern beachtet werden. Die aktuelle Initiative im Bundesrat begrüßen wir deshalb.

Lebenswerte Stadt? Wildwuchs nicht nur bei Pkws und Lieferdiensten, sondern auch bei Leihfahrzeugen.

Die KEP-Branche verzeichnet rasante Zuwächse und eine aktuelle Studie des IFH Köln geht davon aus, dass der Online-Anteil am Lebensmittelhandel bis 2030 auf neun Prozent ansteigt. Was sollten Städte hier tun?
Rund vier Milliarden Paketsendungen werden für das Jahr 2020 erwartet. Damit steigt das Verkehrsaufkommen in den Innenstädten durch Lieferverkehre. Es ist wichtig, dass die Städte und ihre Bürgerinnen und Bürger zuverlässig erreichbar sind. Aber wir wollen, dass die Logistiker sich auf der „letzten Meile“ zusammentun. Gemeinsame Mikrodepots für Paketsendungen und die gebündelte Auslieferung mit Elektrofahrzeugen oder Lastenrädern werden bereits in mehreren Städten erprobt. Das ist der richtige Weg, weil dadurch Lärm und Abgase in den Innenstädten verringert werden und der innerstädtische Verkehr entlastet wird.

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Das Interview mit Helmut Dedy hat VELOPLAN Chefredakteur Reiner Kolberg im Februar 2020 geführt. Erschienen in Ausgabe 1/20.

Über den Deutschen Städtetag
Der Deutsche Städtetag ist ein freiwilliger Zusammenschluss von kreisfreien und kreisangehörigen Städten in Deutschland. Er vertritt aktiv die kommunale Selbstverwaltung und nimmt die Interessen der Städte gegenüber Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat, Europäischer Union und zahlreichen Organisationen wahr. Zudem berät er seine Mitgliedsstädte, informiert über Vorgänge und Entwicklungen und fördert den Erfahrungsaustausch. Der Verwaltungsjurist Helmut Dedy ist seit 2016 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages und Geschäftsführer des Städtetages Nordrhein-Westfalen.


Bilder: Deutscher Städtetag / Laurence Chaperon, ADFC, Pixabay / Thomas Wolter

Wir haben auf der internationalen Fahrradleitmesse Eurobike mit Lastenradexperte Arne Behrensen (cargobike.jetzt) gesprochen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Auf der diesjährigen Fahrradmesse Eurobike hatte man den Eindruck Cargobikes stehen vor einem Durchbruch im Markt.
Das kann man auf jeden Fall so sagen. Es gibt immer mehr Hersteller innovativer Lastenradkonzepte für den privaten und gewerblichen Bereich und die Branche hat sich stark professionalisiert. Gute Voraussetzungen also, um echte Alternativen zu Pkws und Lieferwagen zu bieten.

Im letzten Jahr wurde der Radlogistik Verband Deutschland (RLVD) gegründet, warum?
Auf europäischer Ebene gab es bereits die European Cycle Logistics Federation (ECLF), um den Einsatz von Cargobikes in der urbanen Logistik voranzubringen. Der RLVD ist nun die deutsche Sektion und bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Fahrrad- und Logistikbranche. Die RLVD-Mitglieder sind zum einen Logistik-Unternehmen, die mit großen E-Lastenrädern und Lastenanhängern mit teilweise über 200 kg Zuladung unterwegs sind. Das erfordert ganz neue Konzepte. Bei den Fahrzeugen, den eingesetzten Komponenten, bei der Standardisierung, aber auch bei der Information, der Beratung und im Service. Deswegen sind auch die entsprechenden Hersteller und Experten für Logistikprozesse und -infrastrukturen im RLVD organisiert.

Warum setzen neben Familien immer mehr Paket- und Lieferdienste, Handwerker oder Kommunen auf Cargobikes?
Steigende Emissionen und ständig verstopfte Städte führen auch bei Unternehmen zu einem Umdenken. Im Wirtschaftsverkehr gibt es riesige Verlagerungspotenziale. Dazu braucht es Cargobikes mit hoher Belastbarkeit, verlässlichem Service und einer Vielfalt von professionellen Transportaufbauten. Inzwischen gibt es immer mehr Cargobike- und Anhängerhersteller, die sich auf gewerbliche Anwendungen spezialisieren und auch auf den Messen der Nutzfahrzeugbranche ausstellen. Doch der Schwerpunkt der Cargobike-Nutzung dürfte noch für lange Zeit beim privaten Kindertransport, Einkäufen und Ausflügen liegen.

„Steigende Emissionen und ständig verstopfte Städte führen auch bei Unternehmen zu einem Umdenken.“

Arne Behrensen, cargobike.jetzt

Lastenradförderung: Köln stockt auf

Zu Beginn des Jahres hat die Stadt Köln eine Förderung von Lastenfahrrädern bzw. Gespannen (Lastenrad + Anhänger) aufgelegt. Laut Kölner Verwaltung wurden bis zum Ende des Antragszeitraums innerhalb rund eines halben Jahres 958 Anträge zur Förderung eingereicht. Sie verteilten sich gemäß den Förderrichtlinien zu 47,5 % auf private Gemeinschaften von drei bis fünf Haushalten, zu 47,5 % auf die beruflich-gewerblichen Nutzung und zu 5 % auf Vereine und gemeinnützigen Organisationen. Die Anträge zur beruflich-gewerblichen Nutzung kamen dabei überwiegend aus den Branchen Gesundheit, Medien, Handwerk, Handel, Beratungsdienstleistungen, den Bereichen Lebensmittelhandel und Gastronomie sowie von Kindertageseinrichtungen.

Aufwand für die Stadt:

Ursprünglich standen mit Ratsbeschluss 200.000 Euro zur Förderung zur Verfügung. Da die Anzahl der Anträge das Förderbudget sehr deutlich überstieg, wurde es angepasst und eine abschließende Erhöhung des
Fördervolumens auf 1,9 Millionen Euro beschlossen. Für die Bearbeitung der kompletten 958 Anträge wurde in Summe ein Arbeitsaufwand von zusammen 2.250 Stunden ermittelt.

Wie geht es weiter in Köln?

Die Prüfung und Bewilligung der Anträge wird sukzessive fortgeführt. Die Stadt erhält aber auch aktuell viele weitere Anfragen. Bezüglich der Schaffung von Lastenrad-Stellplätzen im öffentlichen Raum prüft die Kölner Verwaltung derzeit die Anforderungen und die rechtlichen Rahmenbedingungen. Die verkehrlichen Auswirkungen der Lastenfahrradförderung auf den städtischen Wirtschaftsverkehr werden im Rahmen einer studentischen Abschlussarbeit untersucht. Für die Zukunft wird im Kölner Rat über eine weitere Förderung nachgedacht.

Ist ein Massenmarkt für Cargobikes nicht noch Zukunftsmusik?
Laut Marktdaten des Zweirad-Industrie-Verbands ZIV hatten wir 2018 bei E-Cargobikes ein Marktwachstum von 80 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Mit knapp 40.000 Verkäufen lagen die E-Cargobikes dabei vor E-Autos mit rein elektrischem Antrieb. So wird es auch weitergehen. Denn immer mehr Kommunen und Bundesländer starten Kaufprämien-Programme für Cargobikes. In Städten wie Köln, Münster und Hamburg gab es dieses Jahr bereits einen riesigen Ansturm auf die Förderprogramme. In Köln hat die Oberbürgermeisterin das geplante Förderbudget kurzerhand von 200.000 Euro auf 1,9 Million Euro erhöht.

Wen würden Sie gerne für Cargobikes gewinnen?
Pioniere und Botschafter für diese neue Mobilität: privat zum Beispiel beim Kindertransport. Und bei den Profis in der Kurierszene, bei Händler und bei den Kommunen. Wir brauchen aber auch Fürsprecher in der Politik und der Verwaltung, um die nötigen Rahmenbedingungen in Bezug auf die Gesetzgebung und die Infrastruktur zu schaffen.

Was können Kommunen konkret tun?
Wir brauchen eine gezielte Information zu den Möglichkeiten, die es heute gibt und eine Förderung dieser neuen nachhaltigen Mobilität. Beim Elektroauto gibt es ja langfristig angelegte, großzügige Förderprogramme. Das brauchen wir auch für den Bereich der Lastenräder. Und wir brauchen eine gute Infrastruktur mit ausreichend Platz.

Also sollten wir jetzt mit Cargobikes starten?
Auf jeden Fall. Sie bieten Lösungen für Business und Alltag, Fahrspaß und Unabhängigkeit, sind kostengünstig im Unterhalt und emissionsfrei. Man bewegt sich und kommt zudem oft schneller zum Ziel, als mit dem Auto. Ganz ohne Parkplatzprobleme. Mein Tipp: Einfach ausprobieren. Viele Anbieter haben auch Test-Bikes zum Leihen. Und Cargobike-Sharing-Angebote gibt es bereits in über 70 deutschen Städten.

Zum Vertiefen: Informationen und Argumente

Enorme Verlagerungspotenziale durch Cargobikes

Laut einer Studie des Cycle Logistics Projekts (2011 bis 2014) können mit Hilfe von Cargobikes und Lastenanhängern ­51 Prozent aller motorisierten Transporte in europäischen Städten auf Fahrräder verlagert werden. Dabei geht es um Transporte mit einer Wegstrecke bis 5 Kilometern und 200 kg bzw. 1 m³ Zuladung. 69 Prozent davon sind private und 31 Prozent gewerbliche Fahrten. Private Einkaufsfahrten machen allein 40 Prozent aller verlagerbaren Fahrten aus. Die EU-Verkehrsminister haben 2015 in einer gemeinsamen Erklärung bekräftigt: „more than half of all motorized cargo trips in EU cities could be shifted to bicycles”.

Studie „cyclelogistics – moving Europe forward“ (www.cyclelogistics.eu)


Bilder: Reiner Kolberg, graphicsdeluxe stock.adobe.com, Urban Arrow

Wir wollten es genauer wissen und haben uns mit Mathias Kassel unterhalten. Er ist studierter Bauingenieur und arbeitete als Verkehrsplaner zuerst in Karlsruhe und dann als Abteilungsleiter Verkehrsplanung in Offenburg. Hier leitet er seit 2018 engagiert die Stabsstelle Mobilität der Zukunft. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Mathias Kassel wurde 2015 vom Landesverkehrsministerium Baden-Württemberg als einer von zehn „Heldinnen und Helden der neuen Mobilität“ ausgewählt.

Herr Kassel, wie sind Sie zum Thema Radverkehrsplanung gekommen?
Ich habe seit den frühen 1980er Jahren Interesse für das Thema Verkehrsplanung entwickelt. Dazu kommt, dass ich ein passionierter Radfahrer bin. Da lag es nahe, mich auch intensiv mit dem Radverkehr zu beschäftigen.

Was zeichnet einen guten Verkehrsplaner aus?
Im Studium lernt man die Grundkompetenzen. Meiner Erfahrung nach ist es darüber hinaus von entscheidender Bedeutung, dass man sich in Verkehrsabläufe hineindenken kann. Hier ist die Vorstellungskraft genauso gefordert wie praktische Erfahrung. Man muss Verkehrsverhalten antizipieren können. Es braucht Empathie. Das ist genau die Diskrepanz zwischen „im Prinzip können“ und „wirklich können“.

Wie sieht für Sie eine gut geplante Radinfrastruktur aus?
Die Infrastruktur muss so sein, dass ihre Nutzung auch Spaß macht. Die Planer und Verantwortlichen müssen auch selbst mit dem Fahrrad unterwegs sein. Das gilt auch für die Politik. Dort zu entscheiden, wo man selbst nicht betroffen ist, ist immer leicht. Man muss aus Fuß-, Rad- Auto- und ÖPNV-Perspektive schauen und die anderen immer mitdenken.

„Mir macht mein Beruf wirklich Spaß – auch noch nach rund 30 Jahren.“

Mathias Kassel, Leiter Stabsstelle Mobilität der Zukunft, Stadt Offenburg.

Was ist das Besondere an der Verkehrsplanung?
Im Bereich Radverkehr haben wir es zum Beispiel bei den Fahrern mit einer schnellen, willkürlichen Reaktion und einem hohen Maß an Spontanität und Flexibilität zu tun. Insgesamt ist das Gebiet unheimlich spannend und attraktiv. Andererseits gibt es auch hohe Herausforderungen. Man wird von unterschiedlichsten Seiten mit unterschiedlichsten Vorstellungen konfrontiert. Für den einen ist das schwierig – für andere, und auch für mich, ist es das Salz in der Suppe.

Für wen ist der Beruf geeignet?
Für Menschen, die flexibel, kreativ und kommunikativ unterwegs sind, kann das ein wunderbarer Beruf sein. Interessante Aufgaben mit interessanten Menschen, das ist das, was herausfordert und zufrieden stellt. Das Gehalt war für mich nie das Wichtigste. Mir macht mein Beruf wirklich Spaß – auch noch nach rund 30 Jahren.

Was würden Sie Nachwuchsplanern raten?
In der praktischen Arbeit ist es wichtig, sich Rückendeckung zu holen. Dann kann man auch Dinge anstoßen und ausprobieren. Planern muss aus meiner Sicht immer klar sein: Die Richtlinien sind erste Anhaltspunkte, keine Gesetze. Eine Eins-zu-eins-Übersetzung klappt nicht – es kommt immer auf die Gegebenheiten an. Mit Mindestmaßen sollte man möglichst wenig planen. Und schon gar nicht in Kombination. Der Verstand muss noch eine Rolle spielen.

Wie sehen Sie die Personalsituation?
Im Moment haben wir eine Situation, wo wir händeringend nach Nachwuchs suchen, gerade in den Kommunen. Die Bereitschaft, als Mitarbeiter auch schwierige Situationen auszuhalten, ist meiner Wahrnehmung nach geringer geworden.

Bekommen Sie auch Mitarbeiter aus der Privatwirtschaft? Wo liegen die Unterschiede in den Aufgaben, im Vergleich zu Planungsbüros?
Viele haben zuerst in Planungsbüros gearbeitet und gehen dann in die Kommunen. In den Büros hat man vielleicht mehr Freiheiten. Andererseits ist man sehr auf bestimmte Aufgaben fixiert. In den Kommunen gibt es mehr Themenbereiche, mehr Abwechslung. Hier fließen neben verkehrlichen Aspekte genauso Stadtentwicklung und städtebauliche Aspekte mit ein. Hier gibt es interdisziplinäre Zusammenarbeit und eine hohe Vielfalt, die mich immer gereizt hat und immer noch reizt.

Was hat sich in der Vergangenheit verändert?
Die Anforderungen werden komplexer. Seit fünf bis acht Jahren findet ein Umdenken statt. Es wird mehr interdisziplinär gedacht. Wir führen viele Gespräche und führen regelmäßig Sicherheitsaudits durch. Die große Veränderung ist, dass das Thema Verkehr und hier der Radverkehr immer mehr ins Bewusstsein dringt.

Vor welcher zentralen Herausforderung steht Ihre Kommune?
Mobilität endet nicht an der Gemarkungsgrenze. Im Verkehr kommt es zu enorm zunehmenden Pendlerströmen. Hier in Offenburg haben wir prozentual bei 60.000 Einwohnern und über 30.000 Pendlern eine größere Pendlerdichte bezogen auf die Einwohnerzahl, als zum Beispiel in Stuttgart oder Frankfurt.

Zum Vertiefen: Informationen und Argumente

Mehr Kompetenz für Fahrradplaner

Nach vielfach geäußerten Expertenmeinung-en gibt es in Deutschland bei ausgebildeten Radverkehrsplanern deutlichen Nachholbedarf. Verschiedene Initiativen wollen das ändern.

Radverkehr wird Uni-Fach

Das BMVI hat das Förderprogramm „Stiftungsprofessuren Radverkehr“ gestartet. Zum Sommersemester 2020 sollen W2- und W3-Professuren an deutschen Hochschulen inklusive Personal eingerichtet und über einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren gefördert werden. Mit den Professuren will das BMVI Fachkräfte auszubilden lassen, die ihr Know-how dann vor Ort einbringen und in den Kommunen und Städten umsetzen. Förderungswürdig sind Professuren zu radverkehrsrelevanten Themen aus den Fachrichtungen Ökonomie, Verkehrsplanung, Politikwissenschaft, Psychologie, Rechtswissenschaften, Technik und Digitalisierung.

Neue Weiterbildung: Fachplaner für Radverkehr

Seit November dieses Jahres bietet das Europäische Institut für postgraduale Bildung (EIPOS), die neue Fortbildung „Fachplaner für Radverkehr“ an. In sechs Studienkursen können sich Bau- und Verkehrsingenieure, Raumplaner, Landschaftsarchitekten und Geografen berufsbegleitend qualifizieren. Die Kurse werden in Kooperation mit der TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik und der Landeshauptstadt Dresden, Geschäftsbereich Stadtentwicklung, Bau, Verkehr und Liegenschaften angeboten. Der Pilot mit 18 Teilnehmern pro Jahr ist aktuell ausgebucht.

www.eipos.de

Bild: Mathias Kassel