Kurz nach der Ankündigung des VELOPLAN-Starts erreichte uns eine Mail, in der in Bezug auf Radverkehrsplanung zwei Problemfelder angesprochen wurden: Fachliche Kompetenz und fachliche Kapazitäten in den Kommunalverwaltungen. Grund genug, uns mit dem Themengebiet in der ersten Ausgabe und sicher auch in Zukunft intensiver zu beschäftigen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Ausreichendes und ausreichend qualifiziertes Personal ist ein Problem in der Wirtschaft, aber vor allem im öffentlichen Dienst. „Der Staat hat Geld genug – aber keine Angestellten, die es ausgeben könnten“, titelte jüngst das Magazin Stern unter der Überschrift „Kassen voll, Land kaputt“. Keine andere Branche sei so stark vom Fachkräftemangel betroffen wie der öffentliche Dienst. Schon jetzt könnten über 200.000 Stellen nicht besetzt werden, bis zum Jahr 2030 würde sich die Zahl der unbesetzten Stellen im Staatsdienst auf 800.000 vervierfachen.

„Bei uns in der AGFK ist es inzwischen keine Frage mehr, dass wir eine Verkehrswende brauchen.“

Günter Riemer, AGFK-Vorstandsvorsitzender

Mittel für Radverkehr können oft nicht abgerufen werden

Eine schnelle Verkehrswende mit ausreichenden finanziellen Mitteln vom Bund? Das klingt verführerisch einfach. In der Praxis gibt es aber Probleme. So ist es unter Fachleuten kein Geheimnis, dass aktuell und in Zukunft wegen fehlendem Personal Mittel nicht abgerufen werden können und damit für den Radverkehr in den Kommunen verloren gehen. Das erklärte auf einem Symposium in Bochum auch Susanne Düwel, Leiterin des Bochumer Tiefbauamts. Zwar verfüge die Verwaltung hier über eine ausreichende Anzahl an Verkehrsplanern – aber ohne Expertise zu fahrradspezifischen Lösungen.
Die gleichen Erfahrungen macht Günter Riemer als Erster Bürgermeister der Stadt Kirchheim unter Teck und Vorstandsvorsitzender der Aktionsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundliche Gemeinden und Kommunen in Baden-Württemberg e. V. (AGFK). Aus allen Bereichen würden ihn in der AGFK Klagen über fehlende Kapazitäten bei Planern erreichen. „Insbesondere geht es um spezifische Kompetenzen im Bereich Radverkehr, die dringend benötigt werden.“ Oftmals sei einfach das Know-how nicht so vorhanden, wie es erforderlich wäre. „Ich habe das in der Praxis während meines Studiums zum Bauingenieur selbst erfahren – eine sehr autokonforme Berufsausbildung“, so Günter Riemer. „Radverkehr ist aber ein separates Aufgabengebiet.“
Auch die Zusammenarbeit mit externen Dienstleistern, also Planungsbüros, helfe nicht wirklich weiter, da es nur vier bis fünf spezialisierte Büros in Deutschland gäbe und sich die üblichen Büros schwer täten mit dem Thema Radverkehr.

Günter Riemer (r.) im Gespräch mit Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (l.) und Michael Adler von der Agentur tippingpoints

Bestehende Strukturen verhindern schnelle Maßnahmen

„Planungsverläufe sind langwierig“, erläutert Günter Riemer im Gespräch. „Die Mühlen mahlen langsam.“ Damit sich hier etwas zum Positiven ändere, sei vor allem der Bund in der Pflicht. „Wenn Bundesminister Scheuer sagt, die Kommunen sollen mehr Mut haben, Dinge anzupacken und umzusetzen, dann muss er dafür auch die Rahmenbedingungen schaffen.“ Aktuell habe man beispielsweise ein sich immer weiter ausdehnendes Konglomerat an Vorschriften. Dementsprechend
wäre seiner Meinung nach mehr Offenheit und Entscheidungskompetenz bei den Kommunen wichtig. Zum Beispiel im Rahmen von Experimentier- oder Öffnungsklauseln.
Aber nicht nur bei der Planung kämpfe man mit Schwierigkeiten, sondern auch in Bezug auf die Umsetzung. Denn in Baden-Württemberg gäbe es kaum geeignete Fachfirmen. „In der Vergangenheit wurden auch hier Kapazitäten abgebaut. Man muss auch ganz klar sagen: Geld zu haben für den Radverkehr ist ein ganz neues Symptom.“ Wichtig wäre vor allem auch eine Stetigkeit in der Finanzierung.

65 %

Bei Klimaschutzmanagern werden
bis zu 65 Prozent der Personalkosten gefördert.
Für Mobilitätsplaner gibt es bislang keine Förderung.

Wünschenswert: Gleichzeitige Förderung von Personal

Ausschließlich Planung und Bau zu fördern, greift vor dem Hintergrund fehlenden Personals aus Sicht des AGFK-Vorstandsvorsitzende zu kurz. Aber auch dafür gäbe es Lösungen: „Wir finden den Plan der Bundesregierung, den Radverkehr deutlich zu fördern, sehr gut. Aber ich würde da gerne die konkrete Forderung anschließen, nicht nur Bau und Planung zu fördern, sondern auch das Personal. So könnten die 80 größeren Kommunen in Baden-Württemberg, aber vor allem die Landkreise, durch eine gezielte Förderung bislang fehlendes Fachpersonal aufbauen.“ Für Günter Riemer keine abwegige Vorstellung. Schließlich würden Klimaschutzmanager beispielsweise mit 65 Prozent der Personalkosten gefördert. Bei der Mobilitätsplanung gäbe es dagegen keine Förderung.

Erforderlich: Mehr Zusammenarbeit und mehr Kompetenzen

Eigenverantwortung und eine gute Zusammenarbeit löst Probleme und stärkt die Identifikation und die Zufriedenheit. An beidem mangelt es nach Günter Riemer, der sich im Kompetenznetzwerk AGFK regelmäßig mit den Facharbeitskreisen trifft, allerdings öfters. Beispielsweise gäbe es nach wie vor das Problem, dass die Planung an den Gemarkungsgrenzen aufhöre. Seine Kritik: Bewohner orientierten sich in ihrem Mobilitätsverhalten nicht an Ortsgrenzen und Verwaltungsabläufen. Hier wäre es deshalb wünschenswert, wenn Bundesländer und Landkreise stärker als bislang an gemeinsamen Zielen arbeiten und vermehrt Projekte gefördert würden, bei denen mehreren Kommunen mit eingebunden werden.
Zudem bräuchten Straßenbauverwaltungen mehr Einfluss auf die Entscheidungsgewalt und zusammen mit der Kommune „mehr Freiheit, die Dinge anzupacken“: „Es muss die Möglichkeit geben, auch Dinge zu machen, die sich im Nachhinein als nicht optimal erweisen. Sonst bewegt sich nichts. Nichts zu tun und Themen nur zu diskutieren, das reicht heute einfach nicht mehr aus.“

Studie: Öffentliche Hand kann mehr

Warum im öffentlichen Dienst der Nachwuchs fehlt, wird oft diskutiert. Die Autoren der McKinsey-Studie „Die Besten, bitte – wie der öffentliche Sektor als Arbeitgeber punkten kann“ bemängeln, dass der öffentliche Sektor für die Allgemeinheit arbeite, dabei aber Gefahr liefe, die Beschäftigten innerhalb ihrer Organisation zu vernachlässigen. Es gäbe aber durchaus Handlungsmöglichkeiten. Das sollten Arbeitgeber den Studienmachern zufolge tun:

  • Vorteile der Arbeit im öffentlichen
  • Sektor klar benennen
  • z.B. Sicherheit des Arbeitsplatzes,
  • Nutzen für die Allgemeinheit, gute Work-Life-Balance
  • Nachwuchsarbeit zur Chefsache machen
  • gezielte Karriereförderung motiviere Mitarbeiter
  • inspirierendes Arbeitsumfeld schaffen
  • Weiterbildungen anbieten
  • Austauschprogramme zwischen
  • Führungskräften von Behörden und
  • Unternehmen

Bilder: Rawpixel.com stock.adobe.com, AGFK-BW

Über Jahre hinweg wurde das Radfahren auch von Vertretern der Bundespolitik immer als wichtig und förderungswürdig betont. Nur von konkreten Maßnahmen war oft wenig zu spüren. Das ändert sich scheinbar gerade. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


„Mehr Radverkehr” war ebenso wie „mehr Elektroautos” ein in der Bundespolitik über die Jahre hinweg genauso oft wie folgenlos wiederholtes Mantra. Im politischen Mainstream wurde Verkehr noch bis vor Kurzem gleichgesetzt mit Autoverkehr. Radfahrer hingegen wurden noch vor wenigen Jahren aus Sicht von Bundespolitikern verkehrspolitisch mitunter in die selbe Schublade wie Oldtimer- oder Wohnmobil-Besitzer gesteckt: zwar irgendwie präsent im Straßenbild, aber insgesamt doch eher ein Freizeit- und Tourismus-Phänomen.
Aber inzwischen entsteht Handlungs- und Veränderungsdruck: Nicht nur Klima- und Verkehrsexperten sehen ein großes Problem in der Lücke zwischen den Zielen und Verpflichtungen auf der einen Seite und fehlenden konkreten Maßnahmen und Erfolgen auf der anderen. Mehr und mehr Druck kommt auch aus der Bevölkerung, zum Beispiel mit Radentscheiden, aber auch von den Kommunen, Verbänden und nicht zuletzt Gerichten sowie der Europäischen Union. Letztere stellen, und das ist neu, empfindliche Sanktionen in Aussicht.

„Ich bin Verkehrsminister und damit auch der Fahrradminister. Ich werde den Radverkehr in den nächsten Jahren deshalb deutlich stärken.“

Andreas Scheuer, Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur

Bundespolitik verändert sich gerade

Abseits von Sonntagsreden und Feigenblatt-Politik hat das Thema Radverkehr Fahrt aufgenommen. An ihre Stelle gerückt ist eine breite Diskussion zu Zielen und, auch das ein Novum, konkreten Maßnahmen. Zum Beispiel im Hinblick auf eine nach Expertenmeinungen längst überfällige Reform der StVO und vielen weiteren Themen. Die Veränderungen auf bundespolitischer Ebene sind augenfällig und an vielen Stellen zu beobachten. Hier einige Beispiele aus jüngster Zeit.

Bundesminister Scheuer (im Bild mit Ulrich Syberg und Burkhard Stork vom ADFC) kam per Bahn und Fahrrad und zeigte sich gesprächsbereit und bestens aufgelegt.

Anschub durch Verkehrsminister: NRVK 2019

Eine positive Überraschung für Fahrrad-Aktivisten war zum Beispiel der 6. Nationale Radverkehrskongress (NRVK) am 13./14. Mai in Dresden. Zu der mit rund 800 Teilnehmern bestens besuchten Veranstaltung erschien der Bundesverkehrsminister nicht nur persönlich – er reiste auch mediengerecht mit der Bahn und dem Fahrrad an und brachte für viele Anwesende völlig unerwartet acht Leitziele und Beispiele für geplante Maßnahmen mit.
Entsprechend positiv fielen die Resümees einiger Teilnehmer aus. Mit seinem Auftritt, seinen Worten und konkret angekündigten Maßnahmen habe der Minister ein klares Zeichen gesetzt und allen, die mit dem Thema Radverkehr befasst sind, den Rücken gestärkt. Ohne Flurschäden sei ein Zurückrudern jetzt kaum möglich, und demnach wohl auch unwahrscheinlich. Beeindruckt und für die Zukunft positiv gestimmt zeigte sich auch ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork: „Minister Scheuer hat verstanden, dass es ohne mehr Platz und Wegequalität für den Radverkehr nicht geht. Er hat bei vielen von uns das Gefühl hinterlassen, dass man den Radverkehr in Zukunft nicht mehr gegen einen CSU-Minister vorantreiben muss, sondern jetzt vielleicht mit ihm.“

Neuer Nationaler Radverkehrsplan: NRVP 3.0

Gestartet wurde auf dem NRVK auch der Erarbeitungsprozess zum neuen Nationalen Radverkehrsplan (NRVP 3.0) mit dem die Bundesregierung ihre „aktive Rolle als Impulsgeber, Förderer und Koordinator der Radverkehrsförderung übernehmen und ausbauen“ möchte. Nach dem Abschluss eines Onlinebeteiligungsverfahrens und eines Dialogforums im Ministerium mit Experten, zu dem 20 Fachleute aus Universitäten und Verbänden, darunter auch der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) und der Verbund Service und Fahrrad (VSF) als feste Mitglieder eingeladen sind, soll das Bundeskabinett dann Anfang 2021 den neuen NRVP 2030 offiziell beschließen.

Parlamentskreis Fahrrad: ganz große Koalition für mehr Radverkehr.

Parlamentskreis Fahrrad als feste Institution

Nur etwas mehr als ein Jahr ist es her, dass im Bundestag der fraktionsübergreifende Parlamentskreis Fahrrad gegründet wurde nach langer Vorarbeit durch die inzwischen auch in Berlin vertretenen Fahrradverbände, regelmäßigen parlamentarischen Abenden, interfraktionellen Radtouren und vielen Gesprächen im kleinen Kreis. Inzwischen ist der Parlamentskreis Fahrrad mit 44 parlamentarischen Mitgliedern unter dem Vorsitz von Gero Storjohann (CDU) ein feste Institution, die sich mehrmals im Jahr trifft und sich mit Experten und Gästen von Interessenvertretungen austauscht. Laut Gero Storjohann wurde im ersten Treffen zu Beginn des Jahres deutlich, „dass für den Radverkehr schon viel auf den Weg gebracht wurde, es aber auch noch einiges bedarf, um ihm den gleichen Stellenwert wie anderen Mobilitätsformen zu verschaffen“. Daran werde der Parlamentskreis gemeinsam arbeiten. Unter anderem geht es dabei auch um eine Vernetzung und einen Know-how-Transfer, zum Beispiel mit dem Verkehrsausschuss, dem BMVI und natürlich auch den Parteien selbst. „Der Wandel in den Köpfen ist gelungen: Radverkehr wird als wichtiges Thema betrachtet“, so Albert Herresthal vom Fachverband der Fahrradwirtschaft VSF.

Rege Diskussionen im Plenum und in Fachforen bei der „Bewegungskonferenz: Freie Fahrt fürs Rad!“

Grüne Bewegungskonferenz im Bundestag

Wie bringt man, auch auf Bundesebene, mehr Bewegung in das Thema Verkehrswende? Das war eines der Hauptthemen bei der Bewegungskonferenz, zu der die Bundestagsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen am 13. und 14. September einlud. Unter dem Motto „Freie Fahrt fürs Rad!“ gab es für Interessierte und Experten im Paul-Löbe-Haus eine Fülle von Informationen mit Kurzvorträgen, Diskussionen und Workshops sowie ein Rahmenprogramm u.a. mit einer Radtour zu neuralgischen Punkten der Berliner Verkehrsplanung.
Mit Reden und Moderationen vertreten waren von Grüner Seite unter anderem Anton Hofreiter (Vorsitzender der Bundestagsfraktion), Cem Özdemir (Vorsitzender Ausschuss Verkehr und digitale Infrastruktur) und weitere Parteiexperten. Das Thema Radverkehr sei zwar in der Bundespolitik angekommen, so Cem Özdemir und vieles ginge nun endlich in die richtige Richtung. Für eine Verkehrswende griffen die angegangenen Maßnahmen allerdings immer noch deutlich zu kurz. Angesichts der aktuellen Probleme zeigte sich Cem Özdemir sicher: „Das Fahrrad führt aus der Krise!“ Trotzdem würden Radfahrer immer noch als „Stiefkinder der Politik“ behandelt. Dass müsse sich ändern.

278.000 Arbeitsplätze in der Fahrradwirtschaft

Als Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag wünscht sich Cem Özdemir „nicht immer nur von der wirtschaftlichen Bedeutung des Autos, sondern öfters auch von der Bedeutung des Fahrrades und des Fahrradtourismus zu hören“. Tatsächlich steht die Fahrradbranche in Deutschland nach Verbandsangaben für 16 Milliarden Euro Gesamtumsatz und 278.000 Vollzeit-Arbeitsplätze.


Bilder: JFL Photography stock.adobe.com, BMVI, ADFC/Deckbar-Photographie, Reiner Kolberg

Am 21. November 2019 haben das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, die Verkehrsministerkonferenz der Länder sowie die kommunalen Spitzenverbände zusammen ein „Bündnis für moderne Mobilität“ geschlossen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


In der Präambel des gemeinsam unterzeichneten Urkunde heißt es: „Die Mobilität im 21. Jahrhundert steht inmitten eines grundlegenden Veränderungsprozesses mit anspruchsvollen Herausforderungen, aber auch vielfältigen Chancen. Zunehmender motorisierter Verkehr belastet Menschen, Infrastrukturen sowie Klima und Umwelt.“ So klar haben die Verantwortlichen die Situation bislang nur selten öffentlich auf den Punkt gebracht.

Ziel: Mehr Platz für umweltfreundliche Verkehrsmittel

Auch bei den Zielen finden sich neue Töne: Moderne Mobilität müsse die Lebensqualität erhöhen, gesellschaftliche Teilhabe und wirtschaftliche Aktivität ermöglichen und das Klima und die Umwelt schonen – heute und für zukünftige Generationen. Dazu gehöre auch, den öffentlichen Verkehrsraum auf den sich verändernden Mix aus Individual- und öffentlichen Verkehr auszurichten und den umweltfreundlichen Verkehrsmitteln mehr Platz einzuräumen. Der Deutschlandfunk titelte darauf hin schon vom „Abschied von der autogerechten Stadt“.
Um all das zu erreichen, sollen Kommunen mehr Gestaltungsspielräume ermöglicht und in Abstimmung mit dem Bund entsprechende Vorgaben und Gesetze geändert werden. Zudem stockt das BMVI mit Mitteln aus dem neuen Klimapaket die Höhe der Fördermittel deutlich auf. Im Folgenden wollen sich die Bündnispartner über konkrete Vorhaben abstimmen, die gemeinsam angegangen werden sollen. Einmal jährlich wird sich das Bündnis auf Spitzenebene treffen, um den Fort-
schritt zu überprüfen.

900 Mio.

Um diese Summe stockt das BMVI
Gelder für den Radverkehr von 2020 bis 2023 auf

Kernpunkte festgelegt

Auch die Kernpunkte der Vereinbarung und die Finanzierung stehen bereits: Im Mittelpunkt soll der kontinuierliche Erfahrungsaustausch zwischen Kommunen, Ländern und Bund stehen. Dabei gelte es ganzheitlich auf das Thema zu schauen und ebenso Vorschriften in den Blick zu nehmen. Als wichtige Arbeitsbereiche identifiziert wurden u.a. die gerechtere Aufteilung des Straßenraums, der Ausbau des Radverkehrs (z.B. Gestaltung von flächendeckenden Radverkehrsnetzen), die Neugestaltung des Bewohnerparkens und der Parkraumbewirtschaftung, Einrichtung von Tempo-30-Zonen, Ausbau des ÖPNV, Digitalisierung und Vernetzung (z.B. Modellversuche für Ride-sharing-Angebote auf dem Land) sowie der Infrastrukturausbau für alternative Antriebe.
Wichtig sei auch der schnellere Abruf von Fördermitteln. Genügend Geld stünde dank des Klimapakets zur Verfügung. So werden für den Radverkehr für den Zeitraum 2020 bis 2023 über 1,4 Milliarden Euro bereitgestellt, mehr als 900 Millionen Euro zusätzlich in diesem Zeitraum. Zudem stünde das Geld durch die mittelfristige Finanzplanung auch nach einem Regierungswechsel zur Verfügung. Im gleichem Zeitraum werden auch die Mittel für den öffentlichen Personennahverkehr vor allem auf der Schiene um insgesamt rund 1,2 Milliarden Euro zusätzlich aufgestockt.

„Ich will, dass die Bürger schnell spüren, dass die Dinge besser laufen.“

Andreas Scheuer, Bundesminister

Signal zum Aufbruch für die Kommunen

Eine große Chance und ein wichtiges Signal an die Städte sieht ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork in der getroffenen Vereinbarung. Gerade vor dem Hintergrund der deutlich gestiegenen finanziellen Mittel. „Ab 2020 ist erstmals richtig Geld vom Bund da, um in den Kommunen hochqualitative Radwegenetze, Fahrradbrücken und Fahrradparkhäuser zu finanzieren.“ Es ging nicht mehr nur um Kosmetik, sondern es könne ambitioniert und qualitätvoll gebaut werden. Dabei hieße es auch bei der Umverteilung des Straßenraums Konflikte anzugehen und Haltung und Führungsstärke zu beweisen. Dabei sagte Burkhard Stork die volle Unterstützung des ADFC zu, der mit 450 Gliederungen und rund 180.000 Mitgliedern bundesweit stark vertreten ist.

Bundesminister Scheuer fordert schnelles Handeln

„Ich will, dass die Bürger schnell spüren, dass die Dinge besser laufen.“ Oder etwas unkonventioneller: „Es gab Zeiten, da mussten wir zu allen Maßnahmen ,No’ sagen. Jetzt können wir sagen: Greift ab, lasst Euch was einfallen, das ist auch der Hintergrund dieses Bündnisses. Also: Keine langen Planfeststellungsverfahren, sondern: Themen – niederschwellig – Ausschreibung – machen!“


Bild: BMVI

Nicht umsonst trägt VELOPLAN den Begriff Mikromobilität mit im Titel. Aber was ist damit eigentlich gemeint? Und was haben Computer mit Tretrollern und Pedelecs zu tun? Zeit für eine Einordnung und einen Ausblick. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


In der Schweiz sind schnelle Pedelecs sehr beliebt, als Kauf- oder Sharing-Variante . In Deutschland boomt der Markt für Cargo-E-Bikes.

Seit Juni 2019 ist in Deutschlands Städten zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung nichts mehr wie zuvor: An gefühlt jeder Straßenecke stehen elektrifizierte Tretroller und überall flitzen Menschen mehr oder weniger sicher auf den kippeligen Fahrzeugen herum – und haben dabei offensichtlich eine Menge Spaß. Aber sind diese Fahrzeuge wirklich die Zukunft der Mobilität oder bringen sie einfach nur Chaos in die Städte?

Disruptive Veränderungen durch „Blitzscaling“

Die Silicon-Valley-Mentalität der ersten US-Anbieter, die mit Milliarden-Finanzunterstützung nach Europa kamen und dort wie die Heuschrecken beispielsweise in Paris eingefallen sind, erschreckte viele Beobachter. Die Anbieter nennen dieses (gewollt) schnelle Wachstum „Blitzscaling“, und so gibt es in Paris derzeit gut 30.000 E-Scooter von acht Anbietern.
In Berlin stehen inzwischen ebenfalls 10.000 Scooter von vier Anbietern. Und die Menschen fahren damit. Aber nicht nur im Urlaub oder in der Freizeit, wie es häufig scheint. Der Anbieter Tier zählte im Sommer nur ungefähr zehn Prozent Touristen und eine Auswertung des Beratungsunternehmens Civity zeigt, dass die Nutzerzahlen am Nachmittag und an den Wochenenden am höchsten sind. Allerdings habe Tier in seiner Auswertung auch festgestellt, dass angeblich 30 Prozent der Nutzer tatsächlich die Fahrzeuge als Ersatz für Auto oder Taxi nutzen.
Innerhalb eines halben Jahres sind in Deutschland fast so viele E-Scooter zugelassen worden, wie insgesamt E-Autos fahren. Das zeigt ganz gut die aktuellen Umwälzungen in der Mobilität. Es sieht so aus, als läge die große Dynamik in der Mobilität nicht in besseren Autos – weder elektrisch, noch autonom, noch geteilt. Die Dynamik kommt von unten, von kleinen, persönlichen Fahrzeugen.

Horace Dediu analysierte über Jahre scharfsinnig den Umbruch im Markt für Mobile Computing. Jetzt ist für ihn die Mobilität reif für die Disruption.

Mobilität von unten neu denken

Der Begriff Mikromobilität (oder Micromobility) stammt von Horace Dediu, Business-Analyst und Experte für Mobile Computing. Seine Definition: Fahrzeuge bis 500 kg Gewicht, elektrisch angetrieben und relativ langsam. Oder etwas abstrakter: Mobilität mit menschlichem Maß. Vor gut drei Jahren beschrieb der US-Amerikaner erstmals Analogien zwischen den Entwicklungen in der Computerbranche und in der Mobilität. Wie der Mikrocomputer den klassischen Computer und seine Hersteller vom Markt verdrängte, verdränge die Mikromobilität die klassische Mobilität, also das Auto und dessen Hersteller vom Markt.
Martin Mignot, einer der frühen Investoren beim E-Scooter-Verleiher Bird erklärte in einem Interview, warum sich sein Unternehmen entschieden hat, zu investieren: „Es ist ein neuartiges Produkt, das einfach zugänglich ist und sehr wenig Voraussetzungen zur Nutzung erfordert. Die Daten der ersten Nutzer zeigten, dass viele Frauen, viele ältere und viele jüngere Menschen, diese Fahrzeuge nutzten, ganz anders als zum Beispiel Mopeds. Die Scooter hatten das Zeug zu einem universellen Phänomen, dass weltweit funktionieren konnte. Es sieht so aus, als täte es das.“

E-Mobilität ist Mikromobilität

Am 1. Oktober 2019 waren in Deutschland knapp 118.000 reine Elektroautos zugelassen, bei einem Gesamtbestand von 64,8 Millionen Fahrzeugen. Gerade hat die Bundesregierung die Kaufprämien noch einmal erhöht und ein Programm zum Bau von Ladestationen gestartet.
Aber die Elektromobilität ist schon da: Allein 2018 wurden hierzulande 980.000 E-Bikes verkauft und für das Jahr 2019 rechnet der Zweirad-Industrie-Verband mit 1,1 Millionen Verkäufen. Insgesamt sind in Deutschland aktuell 4,5 Millionen E-Bikes unterwegs, davon 4,8 Prozent E-Lastenräder, also fast 50.000 Stück. Und noch mehr als im privaten Bereich sehen Experten bei gewerblich genutzten Cargobikes und in der Radlogistik einen Milliardenmarkt.
Auch das motorlose Fahrrad ist alles andere als tot: Fast vier Millionen wurden 2018 verkauft; der Gesamtbestand in Deutschland liegt bei 75 Millionen Fahrrädern.

Mikromobilität ist mehr

Das Schöne am Begriff Mikromobilität ist, dass er so viel umfassen kann. Vom motorisierten Skateboard bis zum vierrädrigen E-Transportrad mit 300 kg Traglast, vom E-Scooter über das Fahrrad bis zum schnellen Pedelec. Der Begriff erlaubt es zudem, nicht mehr in Fahrzeugen zu denken, sondern in Bedürfnissen. Und das Fahrrad ist nicht mehr die einzige Alternative zum Auto. Es geht um Fortbewegung von A nach B.
Dabei sind E-Scooter nur ein kleiner Teil in der großen Palette der Möglichkeiten. Die meisten Scooter-Fahrten sind um die zwei Kilometer, mit dem Fahrrad verdoppelt sich die Entfernung und das Pedelec vergrößert die Reichweite noch weiter. Corinne Vogel vom Schweizer E-Bike-Verleiher Smide weiß, dass ihre Nutzer im Durchschnitt fünf bis sechs Kilometer fahren, viele davon täglich als Pendler. Mit schnellen S-Pedelecs und Elektrorollern, wie denen von Emmy oder Coup, hat man immer das richtige Fahrzeug für einen bestimmten Weg zur Verfügung. Und wenn es darum geht, größere Waren oder Kinder zu transportieren, stehen in immer mehr Städten Cargobikes zur Ausleihe bereit oder werden gekauft – auch weil sie von vielen Kommunen gefördert werden.
Wie diese Fahrzeuge sich weiter ausdifferenzieren, ist kaum vorherzusagen und Überraschungen sind immer möglich. Auffällig starke Aktivitäten kann man bei gewerblichen Transportlösungen beobachten.

Noch offen: die richtige Geschwindigkeit

Wichtig für den Erfolg der Mobilität ist der ungehinderte Zugang. Was den Pedelecs zum Durchbruch verholfen hat, war die geniale Idee, den Motor an das Treten zu koppeln, so dass sie immer noch als Fahrrad gelten. Sie verlangen deshalb weder Führerschein noch Helm.
Viele Pedelec-Fahrer wünschen sich allerdings ein etwas schnelleres Rad. Die 25 km/h, bei der die Motorunterstützung des Pedelecs endet, sind auf einem sportlichen Rad schnell erreicht. S-Pedelecs wiederum, die bis 45 km/h unterstützen, dürfen nicht auf Radwegen fahren, auf der Straße ist es jedoch oft zu gefährlich. Auch Einbahnstraßen in Gegenrichtung sind mit der schnellen Klasse tabu. Deshalb installieren nicht wenige Nutzer Tuning-Kits, um ihre Pedelecs schneller zu machen oder fahren S-Pedelecs ohne Kennzeichen. Beides ist nicht legal und kann im Falle eines Unfalls schwerwiegende Folgen haben.
Dabei genügt vielleicht eine kleine Änderung, für die sich neben Hannes Neupert vom ExtraEnergy e.V., einem der profiliertesten Fürsprecher des Pedelecs, auch der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) auf europäischer Ebene einsetzt: Unterstützung bis 32 km/h – was ganz nebenbei der in vielen Ländern üblichen Grenze von 20 Meilen pro Stunde entspricht.
Die Geschwindigkeitsunterschiede auf dem Radweg wären dadurch geringer und bei einem allgemeinen Tempolimit von 30 km/h könnten sie auch im Autoverkehr mithalten. Es hat sich auch gezeigt, dass viele Fahrer schneller E-Bikes sowieso meistens in diesem Geschwindigkeitsbereich unterwegs sind. Der Schweizer E-Bike-Sharer Smide drosselt zum Beispiel seine Räder auf 35 km/h. Die Option, 45 km/h freizuschalten, nutzen nur wenige. Es fehlen vielfach noch geeignete Wege.

Lissabon: Surfen auf der gleichen Welle

Die Stadt Lissabon hat ambitionierte Pläne. Sie möchte den Modal Share für Autos bis zum Jahr 2030 auf 30 Prozent senken. Dazu soll in erster Linie der ÖPNV dienen, aber auch Systeme, die diesen ergänzen. Pedro Machaco ist der Mobilitätsmanager im Auftrag des Bürgermeisters und offen für neue Mobilitätsanbieter. Natürlich müssen dabei bestehende staatliche Gesetze und kommunale Regeln beachtet werden. Sein pragmatischer Ansatz: „Solange sie uns die Echtzeitdaten geben und die Regeln akzeptieren, dürfen sie frei arbeiten und wir beobachten sie dabei genau. Wir surfen mit ihnen gemeinsam auf der gleichen Welle.“ Einmal im Monat trifft er sich mit allen Beteiligten, bespricht die Situation und erklärt dabei, dass sie sich nicht als Konkurrenten sehen sollen, sondern als Verbündete. Zusammen könnten sie dem Autoverkehr Anteile abnehmen und den Kuchen für alle größer machen.

Straßenräume flexibel neu denken

Kommunen haben viele Ziele, die sie erreichen wollen oder müssen: Luftreinhaltung, Klimaziele, wirtschaftliche Entwicklung, Lebensqualität und Verkehrssicherheit oder den Modal Split. Sie können sich die neuen Gegebenheiten und Möglichkeiten zu Nutze machen, diese zu erreichen: Die Reichweite des ÖPNV lässt sich erweitern, wenn kleine Fahrzeuge als Zubringer zur Verfügung stehen, mit Transporträdern und Verteilung von Paketen über Mikrodepots werden große Dieseltransporter überflüssig.
Dazu muss nicht immer ein vollständiges Verkehrskonzept oder ein Masterplan erstellt werden. Die Mikromobilität lädt zum Ausprobieren ein. Mit Echtzeitdaten und Monitoring der Ergebnisse lassen sich planerische Modellversuche schnell umsetzen und auf ihre Wirkung untersuchen. Aus den Bewegungsdaten der Scooter- und Bike-Sharing-Anbieter lassen sich die Wege der Menschen ablesen. Und damit mehr Menschen die neuen Möglichkeiten nutzen, muss man den etablierten Verkehrsmitteln vielleicht auch Platz wegnehmen.
Eine gute Orientierungshilfe bei der Umsetzung liefert das Berliner Mobilitätsgesetz, das der Initiator des Volksentscheids Fahrrad Berlin Heinrich Strößenreuther in seinem Buch „Der Berlin-Standard“ beschreibt. Das Mobilitätsgesetz schreibt vor, dass Radwege an allen Hauptverkehrsstraßen so gestaltet werden müssen, dass Radfahrer sicher überholen können. Auf der einen Seite sollen Kraftfahrzeuge darauf nicht halten oder fahren können und auf der anderen Seite soll die Trennung zum Gehweg klar erkennbar sein.

Zusammenarbeit lohnt sich

Vereinzelt gibt es sie noch, die Fälle, in denen Mobilitätsanbieter ihre Fahrzeuge über Nacht in Städten aufstellen und anschließend warten, ob sich jemand beschwert. Vor allem die asiatischen Anbieter Obike und Ofo überfluteten in den Jahren 2017 und 2018 deutsche Städte mit billigen Leihrädern, die die Bürgersteige versperrten, Vandalismus anzogen und die Kommunen verärgerten. Deutsche Anbieter wie Call-A-Bike und Nextbike arbeiten allerdings schon länger mit Kommunen zusammen und auch die neuen Anbieter setzen auf Kommunikation. Je mehr, desto besser.

Zum Vertiefen: Informationen und Argumente

Neue Fahrzeuge, neue (lösbare) Probleme

Der Vorteil an der Mikromobilität: Die Voraussetzungen sind sehr gering. Kein Führerschein, kein Helm. Das macht Spaß, auch zu zweit auf einem Roller oder mit ein wenig Alkohol. Was aber nur wenigen bewusst ist: Beim Thema Alkohol gelten die gleichen scharfen Regeln wie beim Auto, für Fahrer unter 21 Jahren und Führerscheinneulinge in der Probezeit zum Beispiel 0,0 Promille. Von einer Straftat kann schon ab 0,3 Promille die Rede sein, wenn der Fahrer alkoholbedingte Ausfallerscheinungen zeigt. Allein während des Oktoberfests hat die Polizei insgesamt 414 alkoholisierte E-Scooter-Fahrer angehalten. 254 von ihnen mussten sofort ihren Führerschein abgeben. Dazu sind die Nachrichten voll von Berichten über Unfälle mit E-Scootern.
Das Problem der Tandemfahrten löst der Anbieter Lime mit einer Funktion namens „Gruppenfahrten“: Ein Nutzer kann dabei bis zu fünf Scooter entsperren. Und sobald Alkohol-Tester zuverlässig und günstig in Fahrzeuge integrierbar sind, werden Anbieter diese vielleicht auch als Zugangsbeschränkung einbauen.
Wenn Medien über die wachsenden Unfallzahlen berichten, erwähnen sie häufig nicht das Offensichtliche, nämlich, dass mehr Fahrten stattfinden als vorher. Beim Anbieter Tier sind es seit dem Start im Oktober 2018 europaweit zehn Millionen Fahrten. Und bei diesen gab es laut Aussage des Mitgründers Lawrence Leuschner nur 250 gemeldete Unfälle. Dabei sind die Ursachen sehr unterschiedlich. Caroline Hjelm, Chief Marketing Officer von Voi (Schweden) berichtet, dass Millenials ohne Führerschein oft die einfachsten Regeln nicht kennen. Deshalb bietet der Anbieter jetzt eine Online-Fahrschule an. Wer sie absolviert, wird mit Freifahrten belohnt.


Bilder: Deutsche Messe, Hannover – micromobilityc expo 2019, smide.ch, Riese und Müller, Horace Dediu, Filip stock.adobe.com