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Bundespolitik steigt in den Fahrradsattel

Über Jahre hinweg wurde das Radfahren auch von Vertretern der Bundespolitik immer als wichtig und förderungswürdig betont. Nur von konkreten Maßnahmen war oft wenig zu spüren. Das ändert sich scheinbar gerade. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


„Mehr Radverkehr” war ebenso wie „mehr Elektroautos” ein in der Bundespolitik über die Jahre hinweg genauso oft wie folgenlos wiederholtes Mantra. Im politischen Mainstream wurde Verkehr noch bis vor Kurzem gleichgesetzt mit Autoverkehr. Radfahrer hingegen wurden noch vor wenigen Jahren aus Sicht von Bundespolitikern verkehrspolitisch mitunter in die selbe Schublade wie Oldtimer- oder Wohnmobil-Besitzer gesteckt: zwar irgendwie präsent im Straßenbild, aber insgesamt doch eher ein Freizeit- und Tourismus-Phänomen.
Aber inzwischen entsteht Handlungs- und Veränderungsdruck: Nicht nur Klima- und Verkehrsexperten sehen ein großes Problem in der Lücke zwischen den Zielen und Verpflichtungen auf der einen Seite und fehlenden konkreten Maßnahmen und Erfolgen auf der anderen. Mehr und mehr Druck kommt auch aus der Bevölkerung, zum Beispiel mit Radentscheiden, aber auch von den Kommunen, Verbänden und nicht zuletzt Gerichten sowie der Europäischen Union. Letztere stellen, und das ist neu, empfindliche Sanktionen in Aussicht.

„Ich bin Verkehrsminister und damit auch der Fahrradminister. Ich werde den Radverkehr in den nächsten Jahren deshalb deutlich stärken.“

Andreas Scheuer, Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur

Bundespolitik verändert sich gerade

Abseits von Sonntagsreden und Feigenblatt-Politik hat das Thema Radverkehr Fahrt aufgenommen. An ihre Stelle gerückt ist eine breite Diskussion zu Zielen und, auch das ein Novum, konkreten Maßnahmen. Zum Beispiel im Hinblick auf eine nach Expertenmeinungen längst überfällige Reform der StVO und vielen weiteren Themen. Die Veränderungen auf bundespolitischer Ebene sind augenfällig und an vielen Stellen zu beobachten. Hier einige Beispiele aus jüngster Zeit.

Bundesminister Scheuer (im Bild mit Ulrich Syberg und Burkhard Stork vom ADFC) kam per Bahn und Fahrrad und zeigte sich gesprächsbereit und bestens aufgelegt.

Anschub durch Verkehrsminister: NRVK 2019

Eine positive Überraschung für Fahrrad-Aktivisten war zum Beispiel der 6. Nationale Radverkehrskongress (NRVK) am 13./14. Mai in Dresden. Zu der mit rund 800 Teilnehmern bestens besuchten Veranstaltung erschien der Bundesverkehrsminister nicht nur persönlich – er reiste auch mediengerecht mit der Bahn und dem Fahrrad an und brachte für viele Anwesende völlig unerwartet acht Leitziele und Beispiele für geplante Maßnahmen mit.
Entsprechend positiv fielen die Resümees einiger Teilnehmer aus. Mit seinem Auftritt, seinen Worten und konkret angekündigten Maßnahmen habe der Minister ein klares Zeichen gesetzt und allen, die mit dem Thema Radverkehr befasst sind, den Rücken gestärkt. Ohne Flurschäden sei ein Zurückrudern jetzt kaum möglich, und demnach wohl auch unwahrscheinlich. Beeindruckt und für die Zukunft positiv gestimmt zeigte sich auch ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork: „Minister Scheuer hat verstanden, dass es ohne mehr Platz und Wegequalität für den Radverkehr nicht geht. Er hat bei vielen von uns das Gefühl hinterlassen, dass man den Radverkehr in Zukunft nicht mehr gegen einen CSU-Minister vorantreiben muss, sondern jetzt vielleicht mit ihm.“

Neuer Nationaler Radverkehrsplan: NRVP 3.0

Gestartet wurde auf dem NRVK auch der Erarbeitungsprozess zum neuen Nationalen Radverkehrsplan (NRVP 3.0) mit dem die Bundesregierung ihre „aktive Rolle als Impulsgeber, Förderer und Koordinator der Radverkehrsförderung übernehmen und ausbauen“ möchte. Nach dem Abschluss eines Onlinebeteiligungsverfahrens und eines Dialogforums im Ministerium mit Experten, zu dem 20 Fachleute aus Universitäten und Verbänden, darunter auch der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) und der Verbund Service und Fahrrad (VSF) als feste Mitglieder eingeladen sind, soll das Bundeskabinett dann Anfang 2021 den neuen NRVP 2030 offiziell beschließen.

Parlamentskreis Fahrrad: ganz große Koalition für mehr Radverkehr.

Parlamentskreis Fahrrad als feste Institution

Nur etwas mehr als ein Jahr ist es her, dass im Bundestag der fraktionsübergreifende Parlamentskreis Fahrrad gegründet wurde nach langer Vorarbeit durch die inzwischen auch in Berlin vertretenen Fahrradverbände, regelmäßigen parlamentarischen Abenden, interfraktionellen Radtouren und vielen Gesprächen im kleinen Kreis. Inzwischen ist der Parlamentskreis Fahrrad mit 44 parlamentarischen Mitgliedern unter dem Vorsitz von Gero Storjohann (CDU) ein feste Institution, die sich mehrmals im Jahr trifft und sich mit Experten und Gästen von Interessenvertretungen austauscht. Laut Gero Storjohann wurde im ersten Treffen zu Beginn des Jahres deutlich, „dass für den Radverkehr schon viel auf den Weg gebracht wurde, es aber auch noch einiges bedarf, um ihm den gleichen Stellenwert wie anderen Mobilitätsformen zu verschaffen“. Daran werde der Parlamentskreis gemeinsam arbeiten. Unter anderem geht es dabei auch um eine Vernetzung und einen Know-how-Transfer, zum Beispiel mit dem Verkehrsausschuss, dem BMVI und natürlich auch den Parteien selbst. „Der Wandel in den Köpfen ist gelungen: Radverkehr wird als wichtiges Thema betrachtet“, so Albert Herresthal vom Fachverband der Fahrradwirtschaft VSF.

Rege Diskussionen im Plenum und in Fachforen bei der „Bewegungskonferenz: Freie Fahrt fürs Rad!“

Grüne Bewegungskonferenz im Bundestag

Wie bringt man, auch auf Bundesebene, mehr Bewegung in das Thema Verkehrswende? Das war eines der Hauptthemen bei der Bewegungskonferenz, zu der die Bundestagsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen am 13. und 14. September einlud. Unter dem Motto „Freie Fahrt fürs Rad!“ gab es für Interessierte und Experten im Paul-Löbe-Haus eine Fülle von Informationen mit Kurzvorträgen, Diskussionen und Workshops sowie ein Rahmenprogramm u.a. mit einer Radtour zu neuralgischen Punkten der Berliner Verkehrsplanung.
Mit Reden und Moderationen vertreten waren von Grüner Seite unter anderem Anton Hofreiter (Vorsitzender der Bundestagsfraktion), Cem Özdemir (Vorsitzender Ausschuss Verkehr und digitale Infrastruktur) und weitere Parteiexperten. Das Thema Radverkehr sei zwar in der Bundespolitik angekommen, so Cem Özdemir und vieles ginge nun endlich in die richtige Richtung. Für eine Verkehrswende griffen die angegangenen Maßnahmen allerdings immer noch deutlich zu kurz. Angesichts der aktuellen Probleme zeigte sich Cem Özdemir sicher: „Das Fahrrad führt aus der Krise!“ Trotzdem würden Radfahrer immer noch als „Stiefkinder der Politik“ behandelt. Dass müsse sich ändern.

278.000 Arbeitsplätze in der Fahrradwirtschaft

Als Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag wünscht sich Cem Özdemir „nicht immer nur von der wirtschaftlichen Bedeutung des Autos, sondern öfters auch von der Bedeutung des Fahrrades und des Fahrradtourismus zu hören“. Tatsächlich steht die Fahrradbranche in Deutschland nach Verbandsangaben für 16 Milliarden Euro Gesamtumsatz und 278.000 Vollzeit-Arbeitsplätze.


Bilder: JFL Photography stock.adobe.com, BMVI, ADFC/Deckbar-Photographie, Reiner Kolberg