Mikromobilität heißt in der öffentlichen Wahrnehmung oft: Fun-Fahrzeuge für feuchtfröhliche Großstadt-Touristen. Aber ist das wirklich so? Zumindest die Branche sieht ihren Kernmarkt anders und erholt sich gerade vom Corona-Schock. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Manchmal kommt es anders, als man denkt. Mitte Juli dieses Jahres wurde die Produktion des Pioniers der Mikromobilität Segway PT eingestellt. Was vor rund 20 Jahren als Revolution mit Absatzerwartungen von Hunderttausenden Personal Transportern pro Jahr ausgerufen wurde, endete in einem Flop. Auf weltweit nur 140.000 Einheiten kam man während der kompletten Produktionszeit. Viele Segways werden zum Beispiel weiter für touristische Führungen genutzt. Mit zum Ende beigetragen hat aber wohl auch der Boom der E-Tretroller im Verleih. Wobei gerade hier die Erwartungen hochgesteckt waren. Sind E-Scooter in deutschen Städten also vor allem etwas für Touristen?

Image vom Touri-Roller

Diese Einschätzung drängte sich im ersten Jahr auf, als die motorisierten Tretroller 2019 in den deutschen Kommunen Einzug hielten. Medial wurde intensiv über die touristische Nutzung des neuen Angebots berichtet. Steckt in dieser Form der Mikromobilität neben dem zusätzlichen Verkehrsmittel für lokale Pendler also auch eine Chance, um Stadttouristen an ihrem Zielort eine clevere Mobilität zu bieten? E-Tretroller als jederzeit verfügbares und flexibles Fahrzeug mit Frischluftgarantie zum Cruisen durch die Stadt, aber auch als Alternative zur Fahrt mit dem Taxi oder der Bahn? Das hätte man zumindest meinen können, als etwa 2019 das Beratungsunternehmen 6T in drei französischen Großstädten die Nutzer der neuen Angebote interviewte. 42 Prozent der Befragten nutzten die Scooter der Umfrage zufolge als Touristen. „E-Scooter haben sich mehr als Verkehrsmittel für Touristen im urbanen Raum herauskristallisiert“, sagte auch der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) Niedersachsen, Rüdiger Henze, in der Braunschweiger Zeitung.

5.000 E-Roller der Bosch-Tochter Coup hat das Berliner Startup Tier Mobility Anfang des Jahres samt Ladeinfrastruktur erworben. Die neuen 45-km/h-Roller ergänzen das bestehende Angebot in mehreren großen Städten.

Anbieter sehen Schwerpunkt nicht im Tourismus

War es richtig, das Image vom Touri-Roller zu bedienen? Bei den Anbietern selbst ist man alles andere als erpicht darauf, mit Tourismus identifiziert zu werden. Das Berliner Unternehmen Tier zumindest will das Thema nicht in den Blick nehmen. „Tourismus spielt bei der Planung für unsere Expansion in Städten keine Rolle“, schreibt der PR-Manager des Unternehmens, es gehe um die „nachhaltige Verbesserung der Mobilität für Bewohnerinnen und Bewohner der Städte, damit diese sich ohne eigenes Auto abgas- und emissionsfrei bewegen können“. Dazu passt, dass das Unternehmen Ende letzten Jahres den E-Roller-Sharing-Dienst Coup, eine Bosch-Tochter, übernommen hat und die 45 km/h schnellen E-Mopeds ergänzend in immer mehr Städten mit anbietet. Der E-Tretroller-Verleiher Lime gibt den Anteil der Nutzer in Deutschland, die aus der gleichen Stadt kommen oder dort arbeiten, mit 84 Prozent an. Auch hier lässt sich also kaum behaupten, dass es sich vor allem um ein Gefährt für Touristen handelt. Die Zahlen, die sich auf 2019 beziehen, sind selbst in Madrid kaum anders: Dort sind 80 Prozent der Lime-Nutzer aus der Stadt oder beruflich dort angesiedelt. Bei Lime immerhin heißt es, dass Touristen und Geschäftsreisende für das E-Scooter-Geschäft generell eine Rolle spielen, obwohl der Großteil der Nutzer an allen deutschen und internationalen Lime-Standorten einheimisch sei. Man verweist auf große Unterschiede: „Städte wie Berlin, Madrid oder Málaga verzeichnen einen Anteil von 20 bis 25 Prozent touristischer Nutzung, in anderen Städten wie Hannover, Dortmund oder Wiesbaden liegt der Anteil bei unter zehn Prozent“, sagt Lime-Geschäftsführer Jashar Seyfi. Gern möchte man die touristische Seite ausbauen. „Ja, es gibt erste Gespräche und wir arbeiten schon mit einigen Städten, Hotels und Hotelketten sowie Organisationen wie der Messe Hamburg zusammen“, sagt Seyfi. Dennoch stehe das Unternehmen erst am Anfang. Man habe sich vorgenommen, mit Blick auf 2021 mit weiteren Städten und touristischen Partnern ins Gespräch zu kommen.

Branche in der Krise?

Geht es um die allgemeine Wahrnehmung, dann steht es nicht gut um die Gefährte. E-Scooter gelten – gerade in Verbindung mit Partygängern und urbanem Tourismus – vielfach als Plage. Junge Menschen auf der Straße, unter Alkoholeinfluss, ohne Blick für den Verkehr der Stadt, das sind die Vorurteile, die sich mitunter in der Praxis bestätigen. Die Presse für die neue Variante der E-Mobilität war im ersten Jahr alles andere als gut, und im Corona-Jahr 2020 diskutieren viele weiterhin über die Gefährte als Stolperfallen oder Technikleichen am Wegesrand. Corona hat die Branche hart getroffen, zwischenzeitlich war das Geschäft eingebrochen. Die Betreiber hatten mit Nachfrageproblemen ebenso zu kämpfen wie mit Imageproblemen. Sie wollen sich mit Macht als Teil der nachhaltigen urbanen Mikromobilität etablieren. Und tatsächlich: Wenn man sich den Mobilitätsmix in Großstädten anschaut, merkt man, dass sich einiges verändert hat. E-Tretroller sind inzwischen ebenso wenig aus dem Stadtverkehr wegzudenken wie die kaum hörbaren E-Roller.

„In Großstädten verzeichnen wir 20 bis 25 % touristische Nutzung, in anderen Städten liegt der Anteil bei unter 10 % .“

Jashar Seyfi, Geschäftsführer Lime

Neue Mobilitätsformen per Fahrrad, E-Tretroller oder Segway könnten sich zu einem wichtigen Standbein im Städtetourismus entwickeln. Offenheit und Unterstützung wünscht sich auch Lime- Geschäftsführer Jashar Seyfi.

Köln-Tourismus: „Keine Erweiterung des Mobilitätsangebots“

Ob Bestrebungen, im Tourismus zu wachsen, so einfach sein werden, ist die Frage. Für diesen Artikel blieben Anfragen bei Hamburg Tourismus unbeantwortet – auch wenn die Tourismusgesellschaft der Hansestadt die Scooter auf ihrem Internetportal als Angebot aufführt. Bei Köln-Tourismus redet der neue Geschäftsführer Jürgen Amann nicht lange drumherum. Klar sei der Spaß bei der touristischen Mobilität nicht zu vernachlässigen: „Aktuell sehen wir aber nicht, dass E-Scooter langfristig und nachhaltig das Sharing-Konzept erweitern können.“ Amann sieht in den Scootern denn auch „keine Erweiterung des städtischen Mobilitätsangebots im touristischen Kontext. Hier sind andere Sharing-Angebote und der ÖPNV nachhaltiger zu beurteilen.“

Neuer Markt mit Informationen und Regelung

Bei Lime hätte man es gern anders: „Natürlich wünschen wir uns, dass Städte unseren E-Scooter-Service als Teil des städtischen Mobilitätsangebots für Touristen bekannt machen“, sagt Geschäftsführer Jashar Seyfi. Aber auch hier, sagt Seyfi, stehe man noch ganz am Anfang. Jedenfalls wird er auch eine Menge Vorurteile ausräumen müssen, wenn die E-Scooter-Nutzung im Fremdenverkehr zum aktiv beworbenen Bestandteil werden soll. Es bestehe „definitiv Aufklärungsbedarf, wenn Touristen hierzulande E-Scooter nutzen, denn die geltenden Regeln und Vorschriften unterscheiden sich stark von Land zu Land und auch teilweise innerhalb von Deutschland.“ Für die Mikromobilität im Tourismus sind die Wege also noch weit. Trotzdem, oder gerade deswegen, empfehlen Experten, sich viel stärker als bislang mit dem Thema zu befassen. Die Hersteller haben sich gerade auf Leitlinien für eine neue Generation nachhaltiger Fahrzeuge geeinigt, die Fahrzeuge sprechen neue, bislang autoaffine Nutzergruppen vor allem in der Gruppe an und auch Stadtführer setzen verstärkt auf Fahrräder und Mikromobile. Neue Formen aktiver Mobilität könnten sich so zu einem Standbein für den Städtetourismus entwickeln. Gerade in der aktuellen Krise sicher kein schlechter Gedanke für Touristiker, Planer und kommunale Entscheider.


Bilder: stock.adobe.com – Peeradontax, stock.adobe.com – Peeradontax, Lime, Pressestelle der Stadt Hamm

Das Klima ist im Umbruch und mit ihm der alpine Tourismus. Neben dem Wintersport rücken Sommeraktivitäten, wie Wandern und Mountainbiken, immer stärker in den Fokus. Wie man damit umgeht, zeigen die Region Leogang und die „Bike Republic Sölden“. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Katrin blickt zu ihrem Mann. Sie hat ein Glas Hugo in der Hand, er greift zu seinem Bier. Im Hintergrund flutet die Mittagssonne die Leoganger Steinberge. Verliebt schauen sich die beiden Fünfziger in die Augen. Er im rosa Poloshirt mit beiger Chino, sie im farbenfrohen Sommerkleid. Fehlt eigentlich nur noch ein Oberklasse-Cabrio, das vor dem Biergarten geparkt steht, um die Szene aus einer Alpen-Romanze perfekt zu machen. Stattdessen schnoddert ein Teenie „Hey Papa, ich brauche noch Geld“. Der Sohn der beiden ist mächtig dreckverkrustet und seine Protektoren an Knien, Ellenbogen und Brust zeugen von einigen Stürzen. Klaus öffnet sein Portemonnaie und 50 Euro gehen an die nächste Generation über. Nicht der erste Schein und nicht der letzte, den die Eltern ihrem bikenden Nachwuchs hier zustecken. Wir sind in der Steinadlerbar direkt neben der Mittelstation der Asitzbahn oberhalb von Leogang. Anfang Juli im Corona-Jahr 2020 lässt sich hier live erleben, wie moderner Mountainbike-Tourismus funktioniert.

Auf Flowtrails kann man sehr einfach die Schwierigkeitsstufe wählen. Zur Naturnähe gehört immer auch Staub und bei Regen manchmal auch Schlamm. Mit Service und dem richtigen Zubehör aber alles kein Problem.

Gemeinsamer Urlaub mit Erlebnischarakter

Der Zögling nimmt das Geld und sieht zu, schnell wieder zum anderen Tisch zu kommen. Dort sitzen acht Jungs. Alle zwischen 15 und 18 Jahren alt, alle in Mountainbike-Kluft und alle in „Spendierlaune“: Der hölzerne Außentisch biegt sich fast unter der Last von Getränken und Burgern. Es wird viel gelacht, lautstark über die tagesaktuelle Traktion der verschiedenen Lines/Abfahrten diskutiert und Energie für die zweite Hälfte des Bike-Tages in Leogang getankt. Derweil erzählt uns Katrin, dass sie selbst lieber ans Meer gefahren wäre, der Bikepark aber die einzige Chance gewesen sei, Paul, den Sohn, zu einem gemeinsamen Sommerurlaub zu bewegen. So sitzen die beiden in trauter Zweisamkeit bei einem Absacker-Kaffee, während Paul mit seinen Kumpels Richtung „Bongo Bongo“-Line aufgebrochen ist.

Von Sorgenkindern zu wichtigen Umsatzbringern

An den Mountainbikern hängt mittlerweile viel Umsatz, nicht nur bei den jungen Leuten, in deren Windschatten die Eltern für touristische Erträge sorgen, sondern im Gesamten. Davon berichtet Kornel Grundner, Geschäftsführer der Leoganger Bergbahnen, und fasst zusammen: „Das Sommergeschäft wird noch wichtiger werden.“ Mountainbiker hatten es lange schwer, touristisch ernst genommen zu werden. Ein starkes Wintergeschäft mit Skifahrern und Snowboardern ließ die involvierten Regionen florieren. Im Sommer sorgten Wanderer und gesetztes Klientel, laut Grundner früher „vor allem 60 Jahre und älter“, für einen Grundumsatz in den Pensionen und Hotels, die einen, wenn auch ruhigeren Betrieb jenseits der Hochsaison im Winter erlaubten. Die Rechnung ging im Jahresmittel für Gastronomie und Hotellerie auf.
Urlauber auf dem Mountainbike passten in dieses Idyll kaum hinein. Ihre touristischen Anforderungen fanden sich in den eingespielten Prozessen nicht wieder und das Fahren auf (Wander-)Wegen war in manchen Regionen schlicht illegal. Noch heute sind Waldwege in Österreich zumindest offiziell tabu, sofern der Eigner diese nicht freigibt. Dass Mountainbiker dennoch als touristische Gruppe erschlossen wurden, hat zwei Ursachen. Zum einen ist ihre Anzahl stetig gestiegen und konnte ab einem gewissen Moment in kaum einer alpinen Region mehr ignoriert werden: Organisieren, Kanalisieren und Monetisieren taten Not. Zum anderen boten die radelnden Gäste eine Möglichkeit, Ineffizienzen aus dem Wintergeschäft abzuschwächen. Denn die in Anschaffung und Unterhalt sehr kostspieligen und ressourcenintensiven Bergbahnanlagen stehen für eine starke Dysbalance zwischen winterlicher und sommerlicher Nutzung. Grundner spricht heute von 85 Prozent Wintergeschäft für seine Bahnen. 2001, im Jahr als der Bikepark in Leogang gebaut wurde, waren es 96 Prozent. Anders sieht es übrigens bei den Übernachtungen aus. Hier sei bereits Parität zwischen Sommer- und Wintersaison. Auch, wenn die Wertschöpfung im Winter bislang noch höher sei. Wichtig ist die höhere Auslastung in der „grünen Saison“ auch mit Blick auf den Personalbedarf. So können aus „weißen“ Saisonkräften, die nur während der Wintermonate beschäftigt sind, Vollzeitkräfte werden. Das gibt dem einzelnen Angestellten Planungssicherheit und erlaubt Spezialisierung und Fortbildung.

„Wir haben von Anfang an versucht, keine gemischten Wege zu machen, also Mountainbiker und Wanderer gehören für uns nicht auf den gleichen Weg. Weil einfach zu unterschiedliche Geschwindigkeit vorherrschen.“

Kornel Grundner, Geschäftsführer Leoganger Bergbahnen

Alpen und Tourismus im Klimawandel

Die Klimaerwärmung trifft die Gebirge Untersuchungen zufolge schneller und intensiver als anderswo. In den Alpen ist das mehr als deutlich sicht- und spürbar: Gletscher schmelzen, die Winter werden kürzer, wärmer und unsteter und die Pistenqualität leidet selbst in der Hauptsaison. Auch wenn man vor Ort alles tut, um dem kränkelnden Patienten „Wintertourismus“ durch immer mehr Kunstschnee-Anlagen und Ähnliches zu helfen: Die Tourismusindustrie muss sich anpassen. Deshalb richtet sich der Blick immer stärker auf das Sommerhalbjahr – unter anderem mit Mountainbikern und anderen, jüngeren Erlebnis- und Aktivtouristen.

Differenzierter Blick auf „die Mountainbiker“

Wenn man heute von Mountainbikern spricht, dann lohnt sich ein genauer Blick. Denn so unterschiedlich die Bikes inzwischen sind, so unterschiedlich sind auch die Fahrerinnen und Fahrer – wobei es viel Sinn macht, beide Geschlechter mit unterschiedlichen Ansprüchen im Blick zu haben und auch den Nachwuchs nicht zu vergessen. Ebenso ausdifferenziert sind auch die Produkte, seitdem Mitte der 1990er-Jahre Federungssysteme beim Mountainbike Einzug hielten. Inzwischen reicht das Spektrum vom leichten Cross-Country-MTB für schnelle Fahrten auf und ab durch gemäßigtes Gelände über Enduro- und Allmountainbikes, die sich akzeptabel bergauf und lustvoll bergab bewegen lassen, bis zu Freeride-/Downhill-Boliden, die gänzlich fürs Bergabfahren optimiert sind. Nicht zu vergessen sind zudem Tourenfahrer und Trail-Reisende aus der Gravel- und Bikepacking-Szene. Und als wäre das alles noch nicht genug, gibt es die allermeisten Räder inzwischen auch mit Motor – unter anderem auch für Kinder. Die konsequente Ausgestaltung auf spezifische Ansprüche und Anwendungen brachte optimierte Räder hervor, mit denen auch „normal-talentierte“ sportliche Menschen am Berg oder im Bikepark fahren können, und schafft darüber hinaus einen neuen Zugang und neue Nutzergruppen, in denen Männer, Frauen, Junge, Alte, Kinder, Sportskanonen und weniger sportliche gemeinsame Erlebnisse genießen können. Für Touristiker ergibt sich damit ein Füllhorn neuer Möglichkeiten und Sportgeschäfte vor Ort können den Markt mit neuen Verleihangeboten gezielt weiter anschieben.

Früh übt sich! Ähnlich dem „Ski-Kindergarten“ kümmern sich Fahrtechnik-Bikeschulen um kleinste Biker und vermitteleln ihnen spielerisch den Umgang mit dem Rad. Solche Kurse gibt es natürlich auch für die Großen. Sehr empfehlenswert übrigens.

Hochwertige Infrastruktur zieht Kunden

Der Fokus der lokalen Bergbahnenbetreiber, die neben den Hoteliers meist Motor hinter der Entwicklung sind, liegt in der Regel auf stationären Angeboten, die auf eine lange Verweildauer der Gäste am Ort abzielen. Radtouristische „Durchreise-Projekte“ wie etwa sogenannte Transalp-Touren quer oder längs über die Alpen werden dagegen meist von Radreiseveranstaltern forciert. Wie gelingt es, Biker anzulocken und diese an den Standort zu binden? Noch vor zehn oder 15 Jahren genügte die schlichte Existenz von ein paar ausgewiesenen Strecken. Heute sind die Biker anspruchsvoller und die Anbieter offener und mutiger geworden. Sie übersetzen die Idee vom Wintersport auf den Sommer: Statt einzelne Abfahrten oder Hotels zu bewerben, kommunizieren sie ein Paket aus perfekter Sport-Infrastruktur der kurzen Wege mit Strecken, Liften, Gastronomie, Hotellerie und Dienstleistungen. Wie das in der Praxis aussieht, lässt sich in Leogang oder Sölden erleben. Beide Regionen konkurrieren seit geraumer Zeit darum, zu zeigen, wie der perfekte Mountainbike-Urlaub aussieht – mit unterschiedlichen Ansätzen.
Leogang baute zu Anfang bewusst schwierige, selektive Bike-Strecken mit dem Ziel, neue Gäste anzulocken. Es ging nach Grundners Worten nicht darum, dem Gast vor Ort eine neue Attraktion in sein Urlaubsprogramm zu schreiben, sondern neue Gäste zu bekommen, die mit dem traditionellen Wander-Angebot nicht adressierbar waren. Auf Basis dieses Rufs, dass Leogang ein biketechnisch anspruchsvolles Terrain ist, wurden die neuen Gäste mit immer neuen Strecken weiter umgarnt. In der Sprache der Wintersportler gesagt: Erst wurden die schwarzen Pisten für mutige Könner gebaut und zuletzt der Anfängerhügel. Geradezu gegensätzlich ging Sölden in die Bike-Offensive. Viele natürliche Mountainbike Downhill-Strecken haben in Leogang ein Durchschnittsgefälle von 20 Prozent. Das ist für Anfänger deutlich zu steil. Sölden wollte es deshalb entspannter: Deshalb wurde hier das Durchschnittsgefälle der Strecken halbiert. Mit sogenannten Flowtrails, also gebauten Abfahrten, die ein flüssiges, fließendes Fahrerlebnis (daher der Name) ermöglichen. Die lassen sich mit Grundkenntnissen auf dem Mountainbike quasi von jedermann mit ein wenig Mut und adäquater Ausrüstung fahren und bieten gleichzeitig ein wunderbares Naturerlebnis. Könner fahren Kurvenaußenranderhöhungen („Anlieger“) aus oder nutzen Wellen und speziell gebaute Elemente für Sprünge, die von anderen entspannt umfahren werden können. So sind gut gemachte Flowtrails für alle, vom Anfänger bis zum ambitionierten Biker, ein attraktives Terrain. Berühmtes Beispiel ist die „Tiäre-Line“ in Sölden: Gebaut vom ehemaligen Profi-Fahrer Joscha Forstreuther bedeuten die 130 Kehren auf kaum 5,2 Kilometern puren Flow und Fahrspaß, der auch international für Furore sorgte. Wichtig für Interessierte: Die Baukosten für diese Art der Streckenführung sind zwar höher, als wenn man auf steilere Trails zurückgreift, dem gegenüber stehen aber geringere Erhaltungskosten, da der Boden weniger beschädigt wird, obwohl in Summe mehr Leute darauf fahren.

Basis für Marketing- und PR-Offensive

Als „Bike Republic Sölden“ wird die Destination inzwischen in einem Kommunikationskonzept aus einem Guss international erfolgreich vermarktet. Vor Ort besteht kaum eine Chance, mehr als ein paar Minuten auf dem Bike unterwegs zu sein, ohne ein BRS-Signet zu passieren. Leogang ist mit dem Eigenmarketing dezenter und räumt dafür Sponsoren prominente Flächen auf sogenannten Wallrides oder Rampen ein. Dafür formiert sich Leogang mit Nachbar-Bikeparks zu „Österreichs größter Bikeregion“, so der Eigenanspruch, den die Website unterstreicht: „Über 70 km Lines & Trails und 9 Bergbahnen – Saalbach, Hinterglemm, Leogang, Fieberbrunn: Sechs moderne Bergbahnen in Saalbach Hinterglemm, zwei in Leogang und eine in Fieberbrunn bringen Biker schnell und bequem auf die schönsten Gipfel und zu den Einstiegen der lässigsten Trails. Saalbach Hinter-glemm gilt schon seit vielen Jahren als führende Mountainbike-Region in Österreich. Ein enormes Wegenetz von 400 km aller Schwierigkeitsstufen für Tourenfahrer und E-Biker lässt keine Wünsche offen.“

„Der Weg geht für mich dahin, dass das ein ganzes Familienangebot wird wie im Winter.“

Kornel Grundner, Geschäftsführer Leoganger Bergbahnen

Rollenklischees im Umbruch

Zwischenzeitlich sind wir via „Flying Gangster“-Line talwärts gesaust und haben unterwegs einen bikenden Querschnitt der Gesellschaft getroffen. Nach Fahrtechnik und Radbudget durchaus divers, nach Herkunft und Geschlecht sicherlich nicht. Biken ist auch hier bislang noch „weiß und männlich“ dominiert. Hinsichtlich der Geschlechter ist ein Wandel aber deutlich spürbar. „In den Anfängen war es zu 90 bis 95 Prozent ein Männerthema“, sagt Grundner und ergänzt: Aber „auch Frauen haben absolut Spaß an Freeride und Downhill“. Das braucht Vorbilder und der Bike-Großraum von Saalbach und Leogang spielt hier eine Trumpfkarte in der Kommunikation. Die heißt Valentina „Vali“ Höll und ist ein Star in der Downhillszene. Bereits als Juniorin fuhr die gebürtige Saalbacherin Zeiten wie die Profidamen und ist nunmehr mehrfache Weltmeisterin. Sie ziert Plakatwände, Banner und Poster in der Region und fungiert auch als Aushängeschild für die MTB-Weltmeisterschaften, die im Oktober in Leogang stattfinden.

Zukunftsweisend: Spielplatz für alle

Unten angekommen, setzen wir uns auf die Terrasse des Hotel Bacher und beobachten die Szenerie. Aus verschiedenen Lines kommen die Biker an unterschiedlichen Stellen aus dem Wald auf den Hang heruntergesaust. Dort können sie aus einer Vielzahl von Ausläufen in variierenden Schwierigkeitsgraden wählen. Mancher nimmt den großen Drop, andere einen mehrere Meter messenden Gap und eine Familie rollt ohne „Airtime“ (Sprünge) zur Talstation aus. Direkt daneben übt eine Gruppe Männer mittleren Alters in der Drop Area mit unterschiedlichen Sprunghöhen. Zwei Förderbänder, Zauberteppiche genannt, wie man sie aus dem Skitourismus oder dem Transit der Flughäfen kennt, erlauben den schweißfreien Weg zurück zum Ausgangspunkt im sogenannten Riders Playground. Diese Spielwiese ist das reinste Paradies für Biker jeden Alters und jeder Könnerstufe. An unterschiedlichen Hindernissen kann sich jeder schrittweise an die eigene Grenze herantasten und Fahrtechnik und Selbstvertrauen auf- und ausbauen. Es ist Konzept, die Besucher hier – zusammen mit einer Bike-Technik-Schule – fahrtechnisch fit für die Region und die Lines des Bikeparks zu machen. Großes Familienvergnügen: Für die kleinsten Biker gibt es Strecken, die sich sogar mit dem Laufrad meistern lassen. Davon wird reichlich Gebrauch gemacht. Uns erinnert das an die Skateparks oder Golf-Übungszentren am Stadtrand. Nur viel unterhaltsamer anzuschauen für den Außenstehenden und natürlich die Familien oder Freundeskreise.

Eine gute Beschilderung ist ein wichtiger Baustein für ein reibungsloses Mit- bzw. Nebeneinander.

Blick aus der Gondel auf den Auslauf mit den Routenoptionen der verschiedenen Lines.

Kritik zeigt Bedarf nach Kommunikation und Planung

So entspannt und genussvoll sich der Besuch eines Bikeparks in Sölden oder Leogang gestaltet, so krampfig war deren Entstehung. Da waren zum einen die Widerstände vor Ort. Mancher Wintertourismusanbieter sah im vergleichsweise ruhigen Sommer den genau richtigen Gegenpol zum hektischen Winter. Die benötigten Flächen mussten gekauft oder gepachtet, gestaltet und dann unterhalten werden. So sind allein in Leogang zehn Mitarbeiter im Sommer für die „Trailpflege“ angestellt. Nutzungsrechte für Wege und Wiesen waren einzuholen und Vorbehalten des Naturschutzes und zur Störung anderer Touristen musste entgegnet werden. Ein ganz wichtiger Faktor sind auch die Bauern, die die Wiesen im Sommer für ihre Weidetiere beanspruchen. Sie von den Projekten zu überzeugen, sei teilweise eine Mammutaufgabe, wie Dominik Linser, Projektleiter der Bike Republic Sölden, erklärt. Einer seiner Ansätze: Die Köche im Ötztal nutzen gezielt Produkte aus der heimischen Landwirtschaft. So profitieren die Bauern vom wachsenden Sommertourismus. „Mittlerweile wollen einige Landwirte sogar lieber eine Mountainbike-Strecke auf ihrem Gebiet als einen Wanderweg“, erläutert Linser und liefert die Begründung: „Mountainbiker haben keine Hunde dabei, die die Tiere erschrecken können.“
Bei jeder neuen Line gehen die Verhandlungen jedoch von vorn los. Dabei ist die Zusammenarbeit mit den Landwirten sogar von Vorteil für die Trailbauer: Sie kennen die Untergründe durch jahrelange Erfahrung und wissen zum Beispiel, wo feuchte Stellen sind, die man besser umgehen sollte. Kritik an Bikeparks gibt es auch aus der Mountainbike-Szene selbst: Spezielle Parks seien Steigbügelhalter für die Argumentation, Bikeverbote in der Region auszusprechen mit dem Verweis, es seien doch extra Bikeparks eingerichtet worden. Auch hier sollte man immer daran denken, dass es eben keine homogene Kundengruppe gibt und die einen Biker überhaupt kein Interesse an den künstlichen Welten von Parks, andere kein Interesse an Liften haben und wieder andere genauso gerne auch den Uphill-Flow auf dem E-Mountainbike genießen.

Lukrativ und mit nachhaltigem Effekt

Mountainbiker sind eine attraktive Zielgruppe, die mit passend adressierten Angeboten sehr lukrativ für eine Region sein kann. Neben adäquaten Strecken braucht es auch ein komplettes Netz aus Ansprache, Strecken, Service, Gastronomie, Hotellerie und Rahmenprogramm mit alternativer Freizeitgestaltung. Anders als Ski-Touristen sind Mountainbiker auch deutlich anpassungsfähiger an Wetter und Witterung. Ihre Saison kann mit abgetautem Schnee beginnen und reicht, dank extra breiter Reifen, bis zur ersten geschlossenen Schneedecke. Es gibt bereits viele kleinere Bikeparks auch in deutschen Mittelgebirgen, die zeigen, dass auch ein kleineres Streckennetz sehr wohl konkurrenzfähig ist, besonders wenn es sich im Einzugsbereich größerer Metropolen befindet oder keine direkte Konkurrenz hat. So haben die Bikeparks im Harz ein Einzugsgebiet, das von Berlin über Hamburg bis nach Dänemark reicht. Dass Flowtrail im großen Stil auch ohne Lifte erfolgreich sein kann, zeigt der tschechische Park „Singltrek Pod Smrkem“. Er kombiniert rund ein Dutzend Flowtrail-Runden, die sich nahezu beliebig befahren lassen.
Die Effekte für die Destination sieht Bergbahnchef Grundner sehr positiv: „Wir bekommen eine zweite Saison, die nicht mehr nur dem Preiskampf ausgeliefert ist“, denn so sei das früher gewesen: Die Winterkapazitäten wurden im Sommer quasi verramscht. Dieses Prinzip kann man sich mit dem zunehmenden Abschmelzen der Wintersaison heute gar nicht mehr leisten. Statt Kapazitäten werden im Sommer deshalb verstärkt Erlebnisse vermarktet und so kann ein neuer Qualitätstourismus gedeihen: „Wir haben jetzt mehr Vier-Sterne-Hotels“, betont Grundner. Dazu kämen das Leihgeschäft und der Zusatzverkauf von Ausrüstung, Bekleidung und Ersatzteilen. Dominik Linser sieht in seiner Heimat Sölden inzwischen sogar einen prägenden Effekt für die Bewohner der Region: „Mountainbiken wird bei der Jugend immer beliebter. Unser Mountainbike-Club hat mittlerweile rund 140 junge Mitglieder.“ Durch den Sport lernen die Jugendlichen eine neue Heimatverbundenheit, Bergsportbegeisterung und bekommen erste Einblicke in den Tourismus – was wiederum langfristig für heimischen Nachwuchs bei Bergführern, Trainern, Guides oder auch Hoteliers sorgt und der Landflucht entgegenwirkt.

Unser Autor Gunnar Fehlau (links) war in der Vergangenheit mehrfach auf Einladung in der Bike Republic Sölden, um Reportagen zu realisieren, und wurde für diesen Artikel nach Leogang eingeladen. Eigene Erfahrungen und echte Begeisterung für den Bike- und Mountainbike-Tourismus in seinen unterschiedlichsten Facetten bringen aber alle im VELOPLAN-Team mit.


Bilder: Gunnar Fehlau, Tourismusverband Saalbach Hinterglemm, Felix Hens, Klemens König – Leogang

Kleine Outdoor-Abenteuer als erholsame Fluchten vom Alltag liegen im Trend. Und das Thema Bikepacking schickt sich an, aus dem Nischendasein auf die große Bühne zu treten. Gunnar Fehlau, Fahrradexperte, Buchautor und nicht zuletzt begeisterter Anhänger dieser neuen Form des sportlichen Radtourismus abseits üblicher Routen erläutert die Hintergründe und Chancen für den Tourismus. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


„Backpacking“ bezeichnet im englischen Sprachraum Rucksackreisen. Diese erfolgen keinesfalls aus „Geldmangel“, sondern sind in der Regel eine bewusste Entscheidung. Das Reisen mit dem Rucksack bringt einen in Regionen, die ansonsten nur schwer zugänglich sind. Man ist nahe an Land und Leuten und man erlebt sich selbst bei der direkten Interaktion mit Witterung und Topografie sehr intensiv. Unter anderem in Gestalt des modernen Pilgers ist dies auch in Europa in den vergangenen Jahren populär geworden. Das Bikepacking überträgt diese Idee aufs Fahrradfahren: mit leichtem Gepäck durch mitunter schweres Gelände Touren fahren.

Nordamerika mit extremer Mountainbike-Route Vorreiter

Ausgangspunkt des Bikepacking-Trends ist die „Great Divide Mountain Bike Route“ – die längste Mountainbike-Reiseroute der Welt. 1996 publizierte Michael McCoy für die Adventure Cycling Association diese Route als Kartenset. Sie führt vom kanadischen Banff/Alberta die US-kanadische Grenze und die amerikanische Wasserscheide entlang über die Rocky Mountains bis nach New Mexiko. Die in vielerlei Hinsicht extreme Tour ist 4.418 Kilometer lang und ihre Anstiege summieren sich auf 61.000 Höhenmeter. Macher Michael McCoy sieht über 50 (Tages-)Etappen vor. Montainbike-Sportler John Stamstad legte sie im Sommer 1999 im „Wettkampfmodus“ binnen 18 Tagen, 5 Stunden und 37 Minuten zurück. Weil die Strecke Passagen von bis zu 160 Meilen (ca. 257 km) ohne Versorgungsmöglichkeiten umfasst, packte Stamstad eine leichte Campingausrüstung ein und sorgte für genügend Platz, um ausreichend Lebensmittel verstauen zu können. Aus der Not, nur wenige Versorgungsmöglichkeiten zu haben, wurde eine Tugend: Das Prinzip Selbstversorgung (Self Support Racing), das jede Art privater Unterstützung verbietet, war geboren. 2010 erschien der Film „Ride the Divide“, der das Rennen entlang der Wasserscheide international bekannt machte und für einen weltweiten Boom sorgte. Mittlerweile gibt es einen reichlich gefüllten Veranstaltungskalender mit Bikepacking-Fahrten unterschiedlicher Längen und Schwierigkeitsgrade auf der ganzen Welt.

Bikepacking ist bestens geeignet, um mit Kindern in der Natur unterwegs zu sein. Auch toll: ein gemütlicher Lagerplatz mit Blick auf die Lichter der abendlichen Stadt. So macht Bikepacking Spaß –­ entsprechende Rahmenbedingungen vorausgesetzt.

Neue Produkte fördern den Trend

Die Ausrüstung für solche Fahrten, aber auch kleinere Abenteuer, hat sich inzwischen vom herkömmlichen Mountainbike- und Packtaschensortiment emanzipiert. Fahrradhersteller wie die US-Marke Salsa oder der deutsche Hersteller Bombtrack setzen voll aufs Thema „Adventure by Bike“ mit Rädern, die spezifisch fürs Bikepacking optimiert sind. Sie bieten Komfort und Zuladung, ohne die Sportlichkeit und das Tempo aus den Augen zu verlieren. Wichtigstes Merkmal der Ausrüstung sind die speziellen Taschen, die ohne ausladende Gepäckträger direkt am Rahmen, Lenker und Sattel verzurrt werden. So bleibt das Rad im Gelände handlich.

Corona als Trend-Beschleuniger

Corona kann man zweifelsohne mit als Beschleuniger des Bikepacking-Trends verstehen. In Kombination mit der Idee Mikroabenteuer entdecken viele Menschen das Fahrrad als neues Urlaubsvehikel im direkten häuslichen Umfeld, aber auch für kleine Touren und Reisen in Deutschland oder dem nahen Ausland. Zudem machen die Sportlichkeit und Naturnähe das Bikepacking für ambitionierte Radfahrer attraktiv, die sich von gemütlichen Radreisen entlang von Flussläufen nicht angesprochen fühlen. Weiterhin wird das Thema Bikepacking von der steigenden Verbreitung des sogenannten Gravelbikes befördert. Dieses „Breitreifen-Rennrad“ bringt viele Radfahrer von gut ausgebauten Radwegen und Straßen häufig und gerne auf neue Pisten wie Schotterwege (daher der Name Gravel), schlechte Straßen und Waldwege.

Kundengruppen und Wechselwirkung mit Angeboten

Gegenwärtig ist die Bikepacking-Szene noch sehr homogen: abenteuerinteressierte, naturverbundene und sportliche Radfahrer, vorwiegend männlich. Das ist jedoch gerade im Wandel: Hersteller bieten erste Kinderräder mit direktem Bikepacking-Bezug an und auch Frauen sind zunehmend in diesem Reisestil unterwegs. Dazu kommt, dass eine Wechselwirkung zum touristischen Angebot besteht: Regionale Beispiele zeigen klar, dass nicht erst eine größere Nachfrage vorhanden sein muss, um ein Angebot erfolgreich werden zu lassen. Anders gesagt: Es bieten sich vielfältige neue Optionen, um touristische Angebote gezielt zu erweitern, neue Kundengruppen anzusprechen, die Bekanntheit als Raddestination zu erhöhen und das Image zu verbessern.

Kundengruppen gezielt erschließen

Zur Adressierung der wachsenden Gruppe der Bikepacker empfiehlt sich folgender Dreiklang:

Routen
Bikepacker sind durchaus technikaffin. Insofern ist es nicht mehr zwingend notwendig, eine Strecke zu beschildern oder als Karte zu drucken. Letztlich reicht eine Download-Möglichkeit für einen GPS-Track. Dieser sollte aber technisch (keine unnötigen Punkte), aktuell (Stichwort Baustellen, Wegsperrungen usw.) und klar sein. Klar meint, dass der Track abbildet, was angekündigt wird. Eine MTB-Strecke sollte dementsprechend gemäß den gängigen Schwierigkeitsstufen klassifiziert sein und eine Gravel-Strecke sollte Straßen meiden, ohne deckungsgleich mit einer technisch anspruchsvollen MTB-Strecke zu sein. Auch ist es erfahrungsgemäß sinnvoll, lieber verschiedene Versionen einer Route anzubieten, als dass ein Track diverse Schleifen dreht, um Sehenswürdigkeiten, Umfahrungen von technischen Trials oder Anfahrten zu Restaurants zu integrieren.

Rasten
Wo bekomme ich warme Speisen, wo kann ich einkaufen und welche Stellen eignen sich für Picknicks? Das sind Fragen, die viele Bikepacker gerne bei der Planung beantwortet wissen. Jeder baut sich vorab sein „Tourengerüst“ zusammen, das seiner Fahrt eine Struktur gibt. Hier reicht letztlich auch eine Listung auf einer Internetseite, die (siehe Routen) aktuell, korrekt und klar ist. Hinweis: Sofern eine Werbegemeinschaft oder ein Interessenverband Urheber der Listungen wird, kann sich aus dem Gleichbehandlungsgebot seiner Mitglieder und den Ansprüchen der Bikepacker ein Interessenkonflikt ergeben.

Rechtsrahmen
Bikepacker sind auf der Suche nach Natur und Freiheit. Mancher kommt für den Schlaf zurück in die Zivilisation und bucht Fremdenzimmer oder Hotels. Nicht wenige bleiben auch für die Nacht in der Natur und möchten möglichst ungestört sein. Insofern sind Rast- und Biwakplätze, die ein legales nächtliches Lagern ermöglichen, Pfründe, mit denen eine Region wuchern kann. Ein sehr gutes Beispiel sind die Trekkingplätze der Pfalz. Es gibt inzwischen auch Websites und private Initiativen, die dieses Dilemma zu überwinden versuchen, wie etwa 1Nitetent.com.

Was brauchen Bikepacker vor Ort?

Die Tatsache, dass Bikepacker bereits in ganz Deutschland unterwegs sind, erlaubt nicht den Umkehrschluss, dass sie keine besondere touristische oder infrastrukturelle Ansprache benötigen. Vielmehr müssen sie gegenwärtig ohne eine solche auskommen. Vordergründig ist Bikepacking eine Art des Radfahrens, die breiter gedacht ist und neben der Versorgung für viele auch die Outdoor-Übernachtung mit umfasst. Bikepacker sind öfters auch mit Schlafsack, Isomatte etc. unterwegs und schlagen ihr Lager nachts irgendwo in der Natur auf. Genau hier wären neue Regelungen und eine Legalisierung nötig: Denn das Schlafen in der Natur bewegt sich in Deutschland je nach Standortwahl und Ausgestaltung in der rechtlichen Grauzone oder ist gar eindeutig nicht zulässig – im Gegensatz beispielsweise zu Schweden, wo das „Jedermannsrecht“ mit der Auflage „nicht stören und nichts zerstören” gilt. Für Bikepacker, die Naturnähe und Nachhaltigkeit als hohes Gut ansehen, gehört diese Philosophie ganz selbstverständlich zum Kodex.

Neue Chance für Destinationen

Bikepacker sind neue, zusätzliche Touristen und bedeuten zusätzliche Einnahmen. Sie benötigen wenig bis keine neue Infrastruktur, deren Erstellung Zeit und Geld verschlingt. Bikepacker sind zudem auch jenseits der ausgelasteten Sommerferienzeit unterwegs. Sie sind für eine besondere Ansprache adressierbar, sofern diese authentisch ist. Mittelgebirge und hügelige Regionen sind ideal für Bikepacker, was bisweilen vernachlässigte Regionen in den Fokus rückt und dazu beitragen kann, neue touristische Potenziale zu erschließen. Gerade weil das Thema Bikepacking in Deutschland auf touristischer Seite bisher kaum besetzt ist, bietet es Regionen viel Potenzial zur Profilierung.

Events als Zugpferd und lokale Kooperationen

Die Wechselwirkung zwischen Radfahrern und Region lässt sich anhand von „Rennen“ griffiger aufzeigen als anhand von Routen. 2006 starteten 34 Fahrer in Emporia, Kansas, auf einen 200 Meilen (ca. 322 km) langen Rundkurs über unbefestigte Straßen. 2019 gingen beim „Dirty Kanza“ genannten Event 3.600 Fahrer an den Start. Angesichts der großen Abreisedistanzen vermögen es nur wenige Teilnehmer morgens vor dem Start anzureisen und nach der Zieleinfahrt umgehend aufzubrechen. Das Ergebnis ist ein massiver Boost für den lokalen Handel, die Hotellerie und Gastronomie von geschätzten 3 Millionen USD am Rennwochenende. Das berühmte Rennen „Leadville 100“, das seit 1994 jährlich in der alten Minenstadt Leadville, Colorado, stattfindet, wurde überhaupt nur initiiert, um der lokalen Wirtschaft zu helfen. Auch hier spülen knapp 2.000 Teilnehmer samt Entourage viel Geld in eine strukturschwache Region. Ob Bikepacking darüber hinaus als touristisches Format für eine Region funktioniert, hängt sicher auch mit weiteren Maßnahmen und vor allem den lokalen Akteuren in der Region zusammen. Darum sind Initiativen wie „Bikepacking Roots“ wichtig, die Routen erarbeiten und die Kommunikation übernehmen. Gute Ansprechpartner sind auch lokale Fahrradhändler, die die Fahrradszene vor Ort kennen und sich über Kooperationen freuen.

Prominente Bikepacking-Touren in Deutschland

  • Bikepacking Trans Germany
  • Grenzsteintrophy
  • Hanse Gravel
  • Mainfranken Graveller

Bilder: www.ortlieb.com | Russ Roca | pd-f, www.pd-f.de / pressedienst-fahrrad, www.ortlieb.com | pd-f

Winterberg setzt auf Radtourismus: Tourismusbetriebe profitieren vom E-Bike-Boom und haben dem Sauerland in NRW ein neues Standbein gesichert, das nun mit weiterer Infrastruktur ausgebaut werden soll. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Das Fahrrad in all seinen Erscheinungsformen kann für Tourismus-Destinationen ein wahrer Segen sein. Das gilt für traditionelle Radtouren-Regionen, das gilt fürs Hochgebirge – das gilt aber gerade auch für Gebiete in Mittelgebirgslagen. Ein solches ist Winterberg, die Stadt im nordrhein-westfälischen Sauerland. „Wir verfolgen seit mehr als zehn Jahren eine Strategie, bei der wir den Bike-Tourismus ausbauen und damit ein neues Standbein für unsere Tourismus-Wirtschaft aufbauen“, sagt Michael Beckmann, Geschäftsführer der Winterberg Touristik und Wirtschaft GmbH. „Es gelingt uns immer mehr, die Wertschöpfungskette in den Sommer zu verlängern.“ Vor dem Hintergrund der Klimaveränderungen und der aktuellen Corona-Bedingungen wird klar, wie wichtig und produktiv dieser Ansatz ist.

Destination für alle Radler: Winterberg spricht nicht mehr nur Mountainbiker an, sondern auch immer stärker E-Radfahrer und auch Rennradler. Das Streckennetz wird entsprechend erweitert.

Anfang mit 25 Leih-E-Bikes

Beckmann, selbst begeisterter Mountain-, Renn- und Gravel-Biker, hatte vor einem guten Jahrzehnt so etwas wie ein Erweckungserlebnis. Mit seiner Frau war er in den bayerischen Bergen unterwegs, als die beiden plötzlich am Anstieg überholt wurden. Sie staunten zunächst, schauten sich das Gefährt an und stellten fest: Ein E-Bike von Flyer, das so gar nicht aussah wie Pedelecs, die damals das Image der E-Mobilität prägten. Die Eindrücke verarbeiteten die Winterberger Touristiker in einem eigenen Ansatz: Neben dem Hochschwarzwald stieg man ab ca. 2008 als erste Region in Deutschland in das Thema E-Bike-Tourismus im Mittelgebirge ein. „Wir haben damals als Tourismuszentrale selbst 25 Räder vermietet“, erinnert sich Beckmann. Heute ist daraus ein Geschäftsmodell geworden, inzwischen stellen die lokalen Tourismusbetriebe etwa 400 Räder zum Verleih, die meisten als elektrifizierte Bikes.

Kürzere Winter

Ein zweites Standbein für den Tourismus: Das ist gerade deswegen nötig, weil die Winter wärmer werden. Winterberg, ein beliebter Ort für Wochenend-Skifahrer aus ganz NRW, aus Hessen, den Niederlanden, Belgien und Dänemark, hatte beispielsweise eine eher schwache Skisaison 2019/20. „Wir haben das Thema der künstlichen Beschneiung früh erkannt und können deshalb einiges kompensieren, aber die langfristige Entwicklung geht schon zu kürzeren Wintern und verlangt uns neue Ideen ab“, sagt Beckmann. 2020 war schon Anfang März Schluss mit dem Skifahren, Corona und die politischen Maßnahmen beendeten die Hoffnung auf einen Endspurt. Zwar litt unter den Maßnahmen auch das Anlaufen des Sommertourismus, aber klar ist: Langfristig erhofft sich die Tourismuswirtschaft in Winterberg neue Kraft von Urlaubern auf Rädern.

Seit 2005 Magnet für Mountainbiker

Für die Kommune in den Höhenlagen NRWs ist es eine Frage der Strategie, den Tourismus der „grünen Jahreszeit“ auszubauen. Man entwarf 2016 das 2. Tourismuskonzept „Winterberg 2020plus“, darin spielt das Mountainbiken eine wichtige Rolle. Dank des Booms der E-Mountainbikes ist das Potenzial in diesem Segment erheblich gewachsen. Mountainbiker waren ja längst Teil der Winterberger Landschaft, seit 2005 der Bikepark Winterberg auf der 776 Meter hohen Kappe eröffnet hatte. Aber das Zielpublikum dieses Areals war ein deutlich kleineres als jenes, das die Touristiker im Sauerland seit einiger Zeit verstärkt in den Blick nehmen.

„Sobald wir an die Radwege möchten, haben wir es in unserer Lage sofort mit Bundes- und Landesstraßen zu tun.“

Michael Beckmann, Winterberg Tourismus

An- und Abreise gern auch ohne Auto

Wenn es um einen umweltfreundlichen und nachhaltigen Tourismus geht, der noch dazu bequem ist für die Besucher, dann sind An- und Abreise sowie die öffentliche Mobilität an der Destination entscheidend. Hier gehört Winterberg einer aktuellen Untersuchung des ADAC zufolge deutschlandweit zu den führenden Tourismus-Destinationen im ländlichen Raum. Mit öffentlicher Anbindung, Radmitnahme in den Zügen und einer guten Mobilität vor Ort punktete Winterberg in dieser Untersuchung und erreichte zehn von elf Häkchen in den geprüften Kategorien.

Planung dank Skigebiet einfacher

Seit 2015 bietet Winterberg seinen Gästen einen Trailpark mit 40 Kilometer Strecke und 20 Kilometer Trails. Hier richtet man sich explizit auch an Anfänger und an Familien und hat damit viel Erfolg. Zuletzt hat die kommunale Tourismusgesellschaft noch einmal 300.000 Euro in den Trailpark investiert, um den Flow im überwiegend aus Naturtrails bestehenden Areal zu erhöhen und die Streckenqualität zu steigern. „Wir haben das Glück, dass wir hier ohnehin ein Skigebiet haben und der Bebauungsplan uns entsprechende Maßnahmen auch für Bike-Strecken erlaubt“, sagt Beckmann. Denn man könne nicht einfach so Bike-Strecken in den Wald bauen, mit Förstern, Jägern und Waldbesitzern gebe es vorher durchaus einiges zu klären. Auch jenseits der kommunalen Grenzen gehen die Attraktionen für Radtouren und Mountainbike-Ausflüge weiter. Im umliegenden Sauerland gibt es inzwischen ein ausgiebiges Streckennetz für verschiedenste Radfahrprofile.

Wenige Konflikte auf den Wegen

Für die Touristiker gilt es auch immer wieder, gegen Vorurteile zu arbeiten, aufzuklären, neue Entwicklungen mit Forschung zu begleiten. So gab es gegen die frühen Ausprägungen des Radtourismus, die Mountainbiker und ihre Wohnmobile, durchaus Vorbehalte im Ort. Das sei längst passé, sagt Beckmann, weil die Gäste eben doch für Umsatz in den Winterberger Tourismus-Betrieben sorgen. Inzwischen prägen Biker in den warmen Monaten das Bild – und auch hier haben die Winterberger genau hingeschaut. „Wir haben früh das Konfliktpotenzial zwischen Bikern und Wanderern erforschen lassen“, sagt Beckmann. Das Ergebnis: Eigentlich sei alles halb so wild, nur an gewissen neuralgischen Punkten setze man jetzt auf verstärkte Aufklärung, Beschilderung und Hinweise. Mehr als nur ein Gimmick: „Für das gegenseitige Verständnis haben wir etwa auch das Winterberger Schelleken eingeführt“, eine Klingel für fünf Euro, mit der Mountainbiker ihre Mitmenschen auf sich aufmerksam machen können.

Längere Verweildauer

Durch den Ausbau des Sommertourismus ist es Winterberg gelungen, die durchschnittliche Verweildauer der Touristen auf 3,2 Tage zu steigern. „Wir können es nicht ganz genau beziffern, aber der Effekt von Radtouristen ist hier deutlich positiv“, sagt Beckmann. Zwar sei die Wertschöpfung der Wintertouristen noch höher, wenn man die Ausgaben für Übernachtung, Skiverleih, Skipass und Gastronomie zusammenrechnet, aber das ist eben kein Wachstumsgeschäft mehr.

Neue Strecken auch abseits der Trails

Dagegen lässt sich der Fahrradtourismus auch unter sich wandelnden klimatischen Bedingungen ausbauen, und das nimmt man im Mittelgebirge in Angriff: Winterberg möchte sich verstärkt als Ausgangspunkt für E-Bike-Touren etablieren, die nicht durch anspruchsvolles Gelände führen. Die Touristiker entwerfen neue Strecken, die mit E-Bikes komfortabel befahrbar sind. Es geht um die Einbindung attraktiver Orte wie etwa Bad Berleburg oder Schmallenberg – und um die Erweiterung der Routen. „Wir müssen allerdings vor allem eine passende Ladeinfrastruktur aufbauen und Partner gewinnen, die Ladestationen bereitstellen“, sagt Beckmann. Das passiert derzeit, weil man den Touristen ein gutes Gefühl geben möchte, wenn man sie etwa auf eine Tour zum Möhnesee schickt. Auch ist die Verzahnung mit dem ÖPNV und Schienennahverkehr wichtig, damit die Gäste wieder zurückkommen können. Ein Bus mit Bike-Anhänger ist bereits an Sonntagen im Einsatz, man darf Räder auch mitnehmen in den Innenraum des Linienverkehrs. Aber mit zunehmender Nutzerzahl dieser Radwege wird auch dieses Angebot auszubauen sein.

Effekt für die Alltagsmobilität?

Eine Hoffnung, die Touristik-Chef Beckmann hat, ist das Überschwappen des Effekts auf die Alltags-Rad-Mobilität in seiner Kommune. Bislang ist es in Winterberg eher so, dass die „harte Infrastruktur“ schwer zu verändern ist. Man hat die Bikeparks ins Gelände gelegt, hat an Wirtschaftswegen Schilder aufgestellt. „Aber sobald wir an die Radwege möchten, haben wir es in unserer Lage sofort mit Bundes- und Landesstraßen zu tun.“ Das bedeutet nicht nur finanziell, sondern auch bezüglich Regularien und Entscheidungswegen einen erheblich höheren Aufwand, als wollte man einfach eine kommunale Straße umgestalten. „Wir haben es aber leider oft mit einer Infrastruktur zu tun, die für Radfahrer eher unattraktiv ist. Das wollen wir dringend angehen“, erklärt Beckmann. Er weist auf eine Vorstudie zu einem E-Bike-Verleihsystem hin, bei dem nicht nur Touristen, sondern auch die einheimische Bevölkerung von der umweltfreundlichen Mobilität profitieren sollen. „Wir brauchen aber auch mehr Abstellboxen und bessere Radwege in den Orten“, erklärt Beckmann.

Vorstoß bei NRW-Landesregierung

Ein Beispiel ist der Ruhrtalradweg, der bis nach Winterberg hinaufführt. Der Weg ist fast komplett auf gut befahrbaren, asphaltierten Strecken angelegt – allerdings hier oben im Sauerland, auf dem Gebiet der Kommune Winterberg, auf nicht asphaltierten Wirtschaftswegen auslaufend. „Die sind nicht so gut in Schuss, und das wollen wir ändern“, sagt Beckmann. Gemeinsam mit der Ruhr Tourismus GmbH setzt man sich nun beim Land in Düsseldorf dafür ein, die Radstrecken auch im Sauerland so ausbauen zu lassen, dass sie mit allen Radgattungen bequem zu befahren sind.

Neue Möglichkeiten und mehr Impressionen

Touristiker Beckmann hat noch einiges vor mit den Fahrradgästen. „Wir können die Sommersaison verlängern, immer mehr Menschen mit E-Mobilität auch im anspruchsvollen Mittelgebirge bewegen und sogar davon ausgehen, dass es künftig auch im Winter ein Publikum für Radangebote geben wird.“ Ihm schwebt eine neue Streckensystematik in der Bike Arena vor, bei der er die neue E-Mountainbike-Realität stärker berücksichtigen will. Das setzt auch neue Schilder voraus, was durchaus ein Investment ist. Er hätte gern einen Pumptrack für Kinder und auch eine weitere Verzahnung der Radstrecken mit dem Angebot der Ski-Infrastruktur. Auch in diesem Jahr sind zwei zusätzliche Ski-Verleiher ins Geschäft mit dem Radpublikum eingestiegen. Trotz Corona, das Winterberg 2020 um wichtige Events gebracht hat, setzt die Tourismusvermarktung auch weiterhin auf die Strahlkraft sportlicher Großveranstaltungen. Die Deutsche Meisterschaft der Rennradfahrer hat man zwar für 2021 an Stuttgart abgetreten, möchte sie aber 2022 unbedingt zu Gast haben. Die Dirt Masters, ein renommiertes MTB-Festival, soll noch im September über die Bühne gehen, allerdings ohne die sonst üblichen Zuschauermassen. Mountainbike-Weltcups gehören für Beckmann ebenso zur strategischen Planung, denn all diese sportlichen Events schaffen Bilder. „Das sind Eindrücke, die Menschen von unserer Destination überzeugen und letztlich als Werbung unbezahlbar wären“, erklärt er.

Winterberg als Blaupause für Mittelgebirgsregionen?

Die Region Winterberg wurde bereits 1906 bahntechnisch und damit touristisch erschlossen und ist mit ihrer in der weiteren Umgebung einzigartigen Höhenlage von 670 bis 842 Metern der älteste Wintersportplatz im Westen Deutschlands. Dokumentationen zeigen, dass man den Fremden und dem damals aufsehenerregenden Skisport anfangs sehr kritisch gegenüberstand. Das änderte sich, als man entdeckte, welche neuen Einnahmequellen sich damit in der Region erschließen ließen. Seitdem dominiert der Tourismus als Wirtschaftsfaktor. Wichtigste touristische Einzugsgebiete sind das Ruhrgebiet, das Rheinland, die Region Niederrhein sowie die Niederlande, Belgien und Dänemark. International bekannt ist Winterberg auch als Austragungsort von Weltcuprennen des Bob- und Rennrodelsports. Schon früh hat man sich hier auch mit den absehbaren Folgen des Klimawandels beschäftigt. Beschneiungsanlagen sollen die Wintersaison verlängern, gleichzeitig sollen der Sommertourismus und der Bikesport für verschiedenste Bedürfnisse und Zielgruppen künftig die Arbeitsplätze und Einnahmen sichern. Als Kleinstadt zählt Winterberg nur 14.000 Einwohner, kommt aber auf rund 1,5 Millionen Übernachtungen pro Jahr. In der Region gibt es inzwischen 1.140 km ausgewiesene Bikerouten, 40 km ausgewiesene Trails im Trailpark Winterberg und 480 km ausgewiesene Wanderwege.


Bilder: Stephan Peters Design, F. Kraeling Motorsport-Bild GmbH, Sauerland Tourismus, Stephan Peters Design, F. Kraeling Motorsport-Bild GmbH

Radrouten sind für die touristische Erkundung einer Region bestens geeignet, sie helfen aber auch beim Alltagsverkehr, vor allem in der Stadt. Das Kölner Planungsbüro Via erläutert, warum eine gute Wegweisung auch in Zeiten von Apps unverzichtbar ist. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


„Natürlich sind die bekannten Wegweiser auch Werbung für den Radverkehr“, sagt Michael Schulze vom Kölner Planungsbüro Via. Eigentlich sind sie aber viel mehr. Bei Via werden unter anderem Fahrrad-Wegweisesysteme für Städte geplant und entwickelt. Die vor weißem Hintergrund rot oder grün bedruckten Schilder in 20 mal 80 Zentimetern Größe kennen wir alle. Aber sind diese Leitsysteme in Zeiten von Smartphones am Lenker und Software wie Komoot oder Google Maps überhaupt noch wichtig?

Schilder werben und lenken

In der City finden sich auf den langen Schildern für den Alltags-, aber auch den touristischen Verkehr Hinweise auf wichtige Orte wie Bahnhöfe, Kirchen oder wichtige Plätze mit Sehenswürdigkeitscharakter. Außerhalb leiten die Schilder in die nächsten Orte, zum Badesee, zu kulturellen Stätten oder Aussichtspunkten. Gelegentlich zeigen Piktogramme neben diesen Orten auch besonders steile Wegabschnitte, einen Park-and-Ride-Parkplatz oder auch eine Geschäftsstelle des ADFC. Viele Informationen für den Radfahrer auf kleiner Fläche also. Unterschieden wird deshalb zwischen dem genannten Vollwegweiser und dem Zwischenwegweiser – also der kleine Pfeil mit dem Fahrrad-Symbol darunter auf quadratischen Flächen. Die ersten Funktionen sind damit klar: Sie erleichtern den Weg, lenken die Radler, zeigen Entfernungen und werben gleichzeitig für interessante Ziele.

Große Unterschiede zur GPS-Navigation

Wer den Weg per Fahrradnavigation und Wegweisung vergleicht, kann oft einen deutlichen Unterschied feststellen: Die Wegweiser-Route ist gelegentlich etwas länger, dafür aber ruhiger und bietet meist mehr Erlebnischarakter; sei es aufgrund der Landschaft, durch die sie führt, oder wegen der Points of Interest, die dort vorbeigleiten. Zumindest dann, wenn es sich um touristisch relevante Regionen handelt. Natürlich funktioniert das auch für Einheimische, die so potenziell komfortabler und sicherer unterwegs sind. Tipp: Einfach ausprobieren. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Planungs-Auftraggeber haben eigene Schwerpunkte in Sachen Qualität, Direktheit der Verbindungen und Gefälligkeit der Strecke. „Das wichtigste Kriterium für die Qualität einer Route ist natürlich die Fahrradinfrastruktur beziehungsweise die Eignung der Wege für den Fahrradverkehr“, betont der Geograf Michael Schulze. Beim Planungsbüro Via werden auch Radverkehrskonzepte erstellt und klassische Radweganlagen geplant und entwickelt, „was teilweise eher schon in den Ingenieurbereich geht“, erklärt Schulze. Aber es gibt eben auch die Fahrrad-Wegweisung als Aufgabengebiet, eine Kernkompetenz von Via. Zudem müsse man natürlich berücksichtigen, dass nur wenige Radler ein Navi oder das Handy mit GPS-Wegweisung ständig am Lenker hätten.

Die Standorte der Schilder werden nach Gesichtspunkten wie Sichtachsen, Auffälligkeit in der Umgebung etc. penibel geplant. Dafür gibt es Empfehlungen der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen.

Wechselwirkung mit anderen Verkehrsträgern

Bedarf gibt es überall dort, wo in den letzten Jahren nichts oder wenig in Richtung Radrouten getan wurde, so sehen es die Planer. Selten gibt es Aufträge, wo von Grund auf ein neues Netz erstellt werden soll. Meist ist schon ein Radroutennetz vorhanden, und es soll überarbeitet werden. Und das aus guten Gründen. „Wenn einmal 15 Jahre lang nichts am System verändert worden ist, dann kommt das fast einer Neuplanung gleich“, erläutert Schulze. Verkehr sei dynamisch und Veränderungen im Auto- oder Fußgängerverkehr wirkten sich oft direkt auf den Radverkehr aus. Alles hängt mit allem zusammen. Das ist oft auch der Grund, weshalb manche Routen in der Praxis plötzlich nicht mehr funktionieren: So wird aus einer Straße eine Einbahnstraße und der Radweg endet damit plötzlich im Nichts. Oder eine Straße wird zur Fußgängerzone und für die Fahrradfahrer heißt es plötzlich „draußen bleiben“. Es gelte viele Ansprüche zu befriedigen, sagt Schulze. Ein Punkt, den viele aus ihrer eigenen, fixen Perspektive, zum Beispiel als Radler, Autofahrer oder Wanderer, oft vergessen. Dazu käme, „dass Kompromisse eben dauern“. Das geht so weit, dass bei manchen Projekten vor der Fertigstellung die Grundvoraussetzungen plötzlich andere sind. Denn leider sei es immer noch in den wenigsten Städten und Regionen so, dass die Radverkehrs-Infrastruktur an erster Stelle stehe.

Von der Idee zur Umsetzung

Wie kommt man eigentlich vom Bedarf bis zur fertig ausgeschilderten Radwegweisung? „Der gängigste Weg, wie Behörden Kontakt mit dem Planer aufnehmen, ist die Angebotsaufforderung“, sagt Schulze. Allerdings nur, solange keine Ausschreibung stattfinden muss, was beispielsweise ein bestimmtes Kostenvolumen für das Projekt vorschreibt. Diese Summe kann von Bundesland zu Bundesland variieren. Meist ist zudem ab 250.000 Euro eine europaweite Ausschreibung fällig. Der Großteil der Aufträge für die Radrouten-Wegweisung läge allerdings ohnehin unter dieser Summe. Die eigentliche Arbeit beginnt dann mit der Sichtung und Prüfung vorhandener Strukturen: Wo gibt es Lücken in einem Routennetz, wo will man weiterleiten? Neu in Auftrag gegebene Routen werden ins vorhandene Netz eingepflegt. Zu beachten sind dabei bundeseinheitliche Richtlinien und die Vorgaben der Gemeinden. So geht es zum Beispiel bei einem Auftraggeber um eine möglichst schnelle Führung zu den anvisierten Punkten, bei einem anderen um möglichst ruhige Strecken oder darum, möglichst viele Netzschnittpunkte zu erreichen. Andere Kriterien sind „steigungsarm“ oder „alltagstauglich“, was in der Praxis unter anderem „beleuchtet“ heißt. Die Planung liefe auch politisch nicht immer reibungslos: Nicht immer zögen beispielsweise die einzelnen Gemeinden und deren Behörden mit dem Bundesland an einem Strang. Überhaupt hänge eine fahrradoptimierte Planung oft mit einzelnen Personen bei der auftraggebenden Behörde zusammen. Auftraggeber ist meist das Straßenbauamt, das Amt für Straßenverkehrswesen oder das Verkehrsmanagement einer Kommune.

„Eine fahrradoptimierte Planung hängt oft mit einzelnen Personen bei der auftraggebenden Behörde zusammen.“

Michael Schulze, Planungsbüro Via

Ringen um den optimalen Weg

Der Entwurf der Wegweisung wird mit den Auftraggebern besprochen, gegebenenfalls Änderungsvorschlägen nachgegangen. Denn die optimale Wegweisung ist nicht immer das, was der Auftraggeber wünscht, wenn dadurch Einschränkungen oder besondere Kosten entstehen. Bei alledem helfen Erfahrung, Fingerspitzengefühl – und der Computer. So ist bei Via über die Jahre zusammen mit einem IT-Partner ein spezielles Computerprogramm für die Konzeption und das Management von Leitsystemen entstanden. Es ist laut Via nicht nur für Fahrradleitsysteme, sondern auch für Kfz- oder Mountainbike-Leitsysteme nutzbar und unterstützt die Planung: Standortwahl, Zielauswahl, Themenroutenauswahl, relevante Entfernungen, Steigungen, alles ist über Datenbanken integriert. Mit ihm werden zwar keine Kriterien zur Routenwahl erarbeitet, aber es erleichtert die Arbeit der Planer deutlich.

Ein Stück Fahrradkultur entsteht

Die Standorte der einzelnen Schilder werden nach Gesichtspunkten wie Sichtachsen, Auffälligkeit in der Umgebung etc. penibel geplant. Dazu sind Mitarbeiter wie Schulze zur Sichtung der tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort. Dazu kommt: Nicht überall dürfen Schilder aufgestellt werden. Oft braucht es dazu privaten Grund, was zusätzlich Zeit und Geld kostet. Für die Wegweiser selbst und deren Aufstellung gibt es Empfehlungen, die von der Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen entwickelt wurden. Aber nicht alle Gemeinden halten sich daran, oft aus finanziellen Erwägungen. Lohnenswert ist es allerdings schon, denn bei solider Planung und guten Ausführung entsteht so ein echtes Stück sichtbarer Fahrradkultur für die Öffentlichkeit.


Bilder: stock.adobe.com – hkama, Georg Bleicher

Viele ländliche Regionen mit Höhenunterschieden, wie Stolberg in der Städteregion Aachen, haben keine Fahrrad-DNA. Wie bringt man die Bürger trotzdem aufs Rad? Politik, Verwaltung und die Menschen vor Ort gehen in der Kupferstadt gemeinsam neue Wege. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Die Einladung zur Bürgerbeteiligung per Fahrrad im Jahr 2017 war ein Testballon. Aber dann standen 40 Frauen und Männer vor Georg Trocha, dem Mobilitätsmanager der 57.000-Einwohner-Stadt Stolberg, und warteten auf sein Startsignal. Sie wollten ihm die Stellen zeigen, die aus Radfahrersicht dringend verbessert werden mussten. Zu der Zeit arbeitete der Geograf bereits zwei Jahre in Stolberg. Die Politik hatte ihn ins Rathaus geholt, damit er das Leben, das Wohnen und die Mobilität in der Stadt klimafreundlicher gestaltet. Damit ist es der Stadt und den Bürgern ernst. Klar ist aber auch: In Bezug auf die Mobilität steht die Stadt vor einer großen Aufgabe.

Mehr Komfort und mehr Sicherheit: Moderne Abstellanlagen, auch an den Schulen, zeigen die Wertschätzung, die man man Radfahrenden in Stolberg entgegenbringt.

Ausgangsbasis: zwei Prozent Radfahrer

In der alten Kupfer- und Messingstadt ist das Auto das Verkehrsmittel Nummer eins. Bei der letzten Zählung kamen Radfahrer gerade mal auf einen Anteil von zwei Prozent am Gesamtverkehr. Radwege gibt es innerorts nur wenige und die, die es gibt, sind veraltet. Hinzu kommt die schwierige Topografie: Das Zentrum liegt in einem engen, lang gestreckten Tal und dehnt sich über die umgebenden Höhenrücken bis weit in den Naturpark Nord-eifel aus. Für Alltagsradler heißt das: Sie müssen immer mal wieder Steigungen von 10 bis 15 Prozent bewältigen. Früher beschwerlich oder unmöglich, aber heute gibt es ja E-Bikes. Trotzdem, wer hier den Menschen das Radfahren und das Zu-Fuß-Gehen schmackhaft machen will, braucht Fantasie und muss ungewöhnliche Wege gehen. Die Rad-Exkursion im Sommer 2017 war deshalb ein wichtiger Beginn auf Augenhöhe: Die Mitarbeiter aus der Verwaltung stellten den Bürgern ihre Ideen zum Ausbau des Wegenetzes vor. Im Gegenzug zeigten diese ihnen die Schwächen im Netz und wo sie sich im Alltag von Autofahrern bedrängt fühlten. Die Tour habe die Sichtweise der Politiker auf das Thema verändert. „Ihr Blick auf Radverkehrsplanung ist nun deutlich komplexer“, sagt Georg Trocha. Er gehe weit über die rein technischen Elemente hinaus, die beispielsweise Wegebreiten festlegt. Jetzt wissen alle: Sollen Schüler und Erwerbstätige das Rad anstelle des Autos oder des Elterntaxis für ihre Alltagswege nutzen, müssen sie entspannt, sicher und gesund am Ziel ankommen. „Die Planungsphilosophie muss sich ändern, wenn man fahrradfreundlich werden will“, betont der Mobilitätsmanager.

Bürger und Politik wollen Klimaschutz, Bildung und neue Mobilität

Der amtierende Bürgermeister Patrick Haas (SPD) hat die Wahl 2019 mit den Themen Klimaschutz, Bildung und Mobilität gewonnen. Im zweiten Wahlgang erhielt er 60 Prozent der Stimmen. Allerdings steht die Kupferstadt auch unter Zugzwang. Mehr Klimaschutz macht hier nur Sinn, wenn die Mobilität deutlich nachhaltiger wird. Der Mobilitätsmanager der Stadt Georg Trocha hat ein Konzept erstellt, das mit einer Reihe von kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen die Menschen motivieren soll, ihre Autos stehenzulassen. Das Konzept haben die Politiker zunächst mit Trocha unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutiert und dann einstimmig angenommen. Entsprechend groß ist seitdem der Rückhalt für den Umbau der Stadt aus dem Rathaus. Vorgelebt wird das unter anderem von dem sportlichen 39-jährigen Bürgermeister der Stadt, der auch zu offiziellen Terminen regelmäßig per E-Bike erscheint.

Keine Zeit für jahrelange Umgestaltung

Eine allgemeine Annahme ist, dass eine Stadt über Jahre umgebaut werden muss, damit sich gravierende Verbesserungen für Radfahrer einstellen. Doch so viel Zeit hat Stolberg nicht. Hier produziert allein der Verkehr rund ein Drittel der Treibhausemissionen. Das ist deutlich mehr als im Bundesdurchschnitt, wo der Anteil bei einem Fünftel liegt. Die Menschen hier müssen zügig umsteigen. Radfahren im Alltag muss schnell sicherer und komfortabler werden. Deshalb hat Trocha in seinem Konzept Ziele benannt, die kurz-, mittel- und langfristig umgesetzt werden können. Bereits jetzt werden Radwege regelmäßig von Sträuchern freigeschnitten, Bordsteine abgesenkt oder auf manchen Routen eine Beleuchtung installiert. Hinweise und Tipps holt er sich dafür regelmäßig von Alltagsradlern und Radaktivisten vom ADFC.

Erfolgskritisch: Routinen ändern

Mobilitätsexperten betonen immer wieder die Notwendigkeit, Routinen zu verändern, wenn man zu anderen Mobilitätsmustern gelangen will. Bei Kindern und Jugendlichen ist das leichter, weil sie noch nicht festgelegt sind. Da sie zudem viel Bewegung brauchen, um ihre motorischen und kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln, suchte Trocha Schulen als Partner. Das Goethe-Gymnasium in der Stadt hatte bereits einiges an Vorarbeit geleistet. Seit Jahren gibt es dort eine Fahrrad-AG für Fünft- und Sechstklässler und eine Flotte von Leihrädern. „60 bis 80 der rund 800 Schüler kommen hier mit dem Rad“, sagt Trocha. Das sei wenig, aber an der angrenzenden Gesamtschule mit 500 Schülern wären es gerade mal eine Handvoll. Statt selbst zu laufen oder zu radeln, werden viele Schüler mit dem Auto bis vor das Schultor gebracht. Entsprechend groß ist in dem Quartier vor und nach Schulbeginn das Gedränge auf den Straßen.

„Wenn wir es mit einem Langstreckenlauf vergleichen, sind wir gerade erst aus dem Startblock herausgelaufen. Wir wollen aber mehr – viel mehr“

Georg Trocha, Mobilitätsmanager in Stolberg

Schüler entwickeln Schulwegeplan

Die Lehrer und Trocha wollten das Chaos abstellen. Ihre Idee: Die Bildungseinrichtung sollte „Fahrradfreundliche Schule“ werden. Um das Label zu erhalten, brauchte sie einen Schulwegeplan. Das Besondere an ihrem Vorhaben war, dass die Jugendlichen den Plan erstellten und nicht die Lehrer. Allerdings konnten die Schüler das nicht allein, sondern brauchten dazu professionelle Hilfe. Im Rahmen einer Förderung vom Zukunftsnetz Mobilität NRW unterstützt jetzt der Verkehrsplaner Jan Leven vom Wuppertaler „Büro für Forschung, Entwicklung und Evaluation“ (Bueffee) die Projektgruppe. Etwa zehn Schüler der elften Jahrgangsstufe erarbeiten mit seiner Unterstützung den Wegeplan. Dabei gehen sie vor wie Verkehrsplaner. „Die Jugendlichen analysierten zunächst ihr eigenes schulisches Umfeld“, erläutert Jan Leven. Die Grundlage dafür ist eine Online-Befragung aller 800 Schüler des Goethe-Gymnasiums. Anhand ihrer Antworten identifizieren die Jugendlichen dann die Hauptrouten sowie mögliche Gefahrenstellen entlang der Strecken. Nach den Sommerferien werden sie die Strecken zu Fuß und per Rad abfahren und mögliche Gefahrenstellen fotografieren. Aus den momentan üblichen Routen, ihren Erkenntnissen und ihren Zielen zur nachhaltigen Mobilität an der Goethe-Schule entwickeln die Jugendlichen dann ihr eigenes Wegenetz. Das wird Routen bereithalten für Radfahrer, E-Tretroller-Fahrer und Kinder, die zu Fuß gehen. Damit die Empfehlungen rechtlich abgesichert sind, übernimmt Leven die Feinjustierung. „Das Ziel ist es, ein Radschulnetz zu entwickeln, das sicher befahren werden kann“, sagt Leven.

Auto sollen für sichere Wege Platz machen

Neben den bereits üblichen Routen markieren die Schüler unter anderem auch Haltestellen für Elterntaxis, mehrere Hundert Meter vom Schultor entfernt. Hier sollen Mütter und Väter zukünftig ihre Kinder verabschieden. Wie gut die Bring- und Hol-Zonen bei den Eltern ankommen, kann wahrscheinlich bereits im September getestet werden. Im Rahmen der europäischen Mobilitätswoche will Georg Trocha in Kooperation mit der Schule autofreie Tage im Wohngebiet der Goethe-Schule organisieren. Geht es nach ihm, werden dann einige der Hauptstraßen für kurze Zeit zu Fahrradstraßen. Bislang gibt es noch keine in Stolberg. Für Planer und Radfahrer wäre das die Gelegenheit, die Fahrradstraße als weiteres Planungselement zu testen. Für sein Vorhaben sucht der Mobilitätsmanager nun Verbündete. Vor allem die Anwohner müssen die Entscheidungen mittragen, denn sie werden während dieser Zeit ihre Routinen ändern müssen. „Sie müssen ihre Autos in der Garage oder in ihrer Einfahrt parken und nicht mehr auf der Straße“, sagt Trocha. Ohne die Reihen an parkenden Wagen überblicken die Kinder beim Queren besser die Straße und sind auch als Radfahrer deutlich sicherer unterwegs. Aber auch die Anlieger würden von der Projektwoche profitieren. „Sie erleben, wie ruhig ihr Viertel ohne den Bring- und Holdienst sein kann“, sagt Trocha. Den Bürgermeister Stolbergs hat er dabei voll auf seiner Seite. Der oberste Entscheider der Stadt sieht in dem Wohngebiet rund um die Goethe-Schule einen möglichen Vorreiter für ein autoarmes Quartier in seiner Stadt.

Stolberg will noch viel mehr

Mit dem Projekt will sich die Schule das Label „fahrradfreundlich“ verdienen und den Radanteil an ihrem Gymnasium verändern. Aber das ist nicht alles. Nach den Erfahrungen von Verkehrsplaner Jan Leven haben solche Projekte auch eine hohe Strahlkraft. „Sie wirken immer auch in die Stadtverwaltung“, betont er. Dort ist der Wandel längst angekommen. Bereits 2017 hat eine Umfrage zur Mobilität in der Verwaltung gezeigt, dass viele Verwaltungsmitarbeiter gerne zu Fuß, per Bahn, Fahrrad oder E-Bike ins Rathaus kommen würden. Aber es gab noch Knackpunkte: So brauchten sie zum Beispiel ihre Privatwagen für Dienstfahrten. Außerdem fehlten sichere Fahrradabstellanlagen am Rathaus. Die Verwaltung hat auf die Umfrage inzwischen reagiert und mithilfe von Förderprogrammen einen eigenen Fuhrpark aufgebaut. Jetzt gibt es drei E-Dienstwagen und fünf Dienst-E-Bikes. Das zeigt Wirkung. Mehr als 20 Mitarbeiter kommen inzwischen per Rad. Zuvor waren es nur drei. Der neue Fahrradkeller ist für sie bereits zu klein geworden. Jetzt muss angebaut werden. Für Trocha sind das gute Signale und er hat mit breiter Unterstützung aus der Bevölkerung und der Politik noch viel vor. „Wenn wir es mit einem Langstreckenlauf vergleichen, sind wir gerade erst aus dem Startblock herausgelaufen. Das, was wir jetzt machen, sind unsere Anfangsschritte. Wir wollen aber mehr – viel mehr.“

Schritte auf dem Weg zur Fahrradstadt

Zu einer guten Radinfrastruktur gehören auch gute Abstellmöglichkeiten für Fahr-räder. Das schätzen besonders Pendler. Am Stolberger Bahnhof wurde die Zahl der abschließbaren Fahrradboxen von 16 auf 36 erhöht. Außerdem werden in diesem Jahr neue Radabstellanlagen an den weiterführenden Schulen aufgestellt. Als Nächstes sollen nun die Grundschüler überdachte Fahrradstellplätze bekommen. Für den Außendienst der Mitarbeiter hat die Stadt E-Bikes angeschafft. Bald können die Stolberger auch mit „Moritz“, dem ersten „freien E-Lastenrad“ der Stadt, ihren Einkauf erledigen oder mit ihren Kindern auf Tour gehen. Das Rad wird über die Touristeninformation kostenlos verliehen. 2019 hat die Stadt erstmals beim „Stadtradeln“ mitgemacht. Während im vergangenen Jahr rund 40 Teilnehmer dabei waren, waren es in diesem Jahr bereits fast 170. Außerdem veranstaltet die Stadt seit vergangenem Jahr einen Rad-Kulturtag mit Fahrradflohmarkt, Schrauberwerkstatt, Parcours und vielen weiteren Angeboten.


Bilder: Georg Trocha

150 Prozent mehr Ausleihen als im Vorjahr durch Corona. Das ist die Bilanz von „Rad und Tour“ an der Nordsee in Cuxhaven. Neben Touristen sorgen auch viele Einwohner für einen Run auf Mieträder und E-Bikes. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Mit dem Lockdown Ende März mussten Fahrradhändler in vielen Städten ihre Geschäfte schließen. Sie durften zwar noch Räder reparieren, aber sowohl das Verkaufen als auch die Vermietung waren vielerorts verboten. Die Entscheidung war umstritten. Denn viele Menschen, die vorher gar nicht oder selten per Bike unterwegs waren, wollten nun Radfahren – in ihrer Freizeit und im Alltag. Einige Händler fanden ebenso kreative wie nachhaltige Lösungen und brachten die Menschen trotz des Lockdowns aufs Rad.

Mehr Bewegung an der frischen Luft

Einer von ihnen ist Thorsten Larschow aus Cuxhaven. Er hat vor 27 Jahren sein Geschäft „Rad und Tour“ in Cuxhaven eröffnet. Für ihn war der Slogan „stay at home“ zu Beginn des Lockdowns die falsche Strategie. „Corona ist eine Lungenkrankheit. Ich finde, die Leute sollten nicht zu Hause sitzen, sondern sich bewegen. Am besten draußen im Wald, in einer Umgebung, die gesund ist“, sagt er. Dafür ist das Fahrrad perfekt. Man kann damit gemütlich die Promenade ent-langrollen, aber auch mit Abstand Sport treiben. Larschow betreibt neben seinem Geschäft eine Mietradflotte mit 700 Fahrrädern und E-Bikes für Ausflügler und Feriengäste. Die meisten davon standen seit Ende März in den Lagern. Als ein Lieferdienst ihm 50 neue E-Bikes auf den Hof stellte, hatte er eine Idee. Er durfte die Räder zwar nicht vermieten, aber kostenlos verleihen. Unter der Devise „Bewegt euch!“ warb er auf Youtube und Facebook für die kostenlose Ausleihe. Das sprach sich schnell in Cuxhaven und Umgebung herum. 24 Stunden nach dem Aufruf standen die ersten Anwohner auf seinem Hof, bereit für einen Ausflug per Bike.

Große Begeisterung für E-Bikes

Die Ausleihe selbst war kontaktlos. Die Leute hatten online gebucht, ihre Anschrift auf dem vorbereiteten Formular auf einem Stehtisch im Hof hinterlassen und konnten so das vorbereitete Rad direkt mitnehmen. 50 Tage ging das so. Was den Radsportler Larschow besonders freut: Viele der Nutzer waren das erste Mal mit einem E-Bike auf Tour. „Es gibt immer noch viele Menschen, die E-Bikes ablehnen, weil sie meinen, Fahren mit Motor sei nur etwas für Ältere“, sagt er. Sie kamen begeistert zurück.

Neu: Online-Verleih und Lieferservice

Mit den Lockerungen strömten im Mai auch die Gäste an die Nordsee und mit ihnen zogen die Buchungen an. „Wir haben 150 Prozent mehr Ausleihen als im Vorjahr“, sagt er. Von Hektik im Laden spürt man aber wenig. Bereits vor 20 Jahren hat er für seine Mietradflotte ein Online-Buchungsverfahren eingerichtet. Die Gäste sehen so das gesamte Sortiment und reservieren nach Bedarf inklusive Zubehör. 50 Prozent der Gäste lassen sich die Räder zur Ferienwohnung liefern. Das ist in Larschows Service inbegriffen. „Gerade für Familien mit kleinen Kindern ist das praktisch“, sagt er. Wer nur ein paar Hundert Meter zur Leihstation laufen muss, kommt in der Regel selbst vorbei. Während die Online-Buchungen vor Corona unter 20 Prozent betrugen, liegen sie jetzt seinen Schätzungen zufolge zwischen 60 und 70 Prozent.

„Der Radtourismus ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Region“

Thorsten Larschow, Rad und Tour

Fahrräder als Verkehrsmittel unterschätzt

Der große Ansturm auf seine Mieträder spiegelt sich auch sonst in Cuxhavens Zentrum wider. Die kleine Innenstadt ist voll mit Radtouristen und Alltagsradlern, die sich auf den Straßen tummeln oder durch die Fußgängerzone flanieren. Die Fahrradständer sind überfüllt. Rechts und links von ihnen werden in langen Reihen Räder abgestellt. „Der Radtourismus ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Region“, so Larschow, das sei schon lange vor Corona so gewesen. „Aber das touristische Fahrrad als Verkehrsmittel hat die Politik vor Ort noch nicht im Blick.“ Das zeige das neue Verkehrskonzept für Urlauber: Um zu verhindern, dass Einheimische, Urlauber und Tagesgäste mit dem Auto an den Sandstrand nach Duhnen fahren, haben die Entscheider eine Park-and- Ride-Anlage in Cuxhaven gebaut.
Autofahrer können ihren Pkw im Zen-trum am Kreishaus abstellen und dann per Shuttlebus im Viertelstundentakt in den vier Kilometer entfernten Kurort weiterfahren. An eine Fahrradverleih-Station habe allerdings niemand gedacht. „Warum gibt man den Leuten nicht die Möglichkeit, aufs Rad zu steigen?“, fragt Larschow. Er ist sich sicher: „Einige würden das Angebot lieber nutzen, statt den Bus zu nehmen.“ Familien und Senioren, die auf den Shuttle angewiesen sind, hätten dann auch deutlich mehr Platz. Insgesamt zeigen die Erfahrungen an der Nordsee sehr klar die Bedürfnisse der Menschen.


Bilder: Mailin Busko / Rad und Tour

Im Fahrradtourismus sicher einmalig ist die von Anfang an auf Synergiegewinnung ausgerichtete Pionierarbeit des Schweizer E-Bike-Herstellers Flyer und der Planer der Herzroute. Die Erfolgsgeschichte, die gerade ihr 25-jähriges Jubiläum feiert, kann weltweit als Vorbild für Planer, Touristiker und Visionäre gelten. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2020, September 2020)


Der Gedanke an eine attraktive, mit Motorunterstützung für ganz neue Nutzergruppen fahrbare Route ist älter als das E-Bike selbst. Inspiriert durch eine Radreise durch die USA machte sich der Schweizer Paul Hasler mit seinem „Büro für Utopien“ an ein ehrgeiziges Projekt. Seine Vision: eine Fahrradroute, welche die Kultur und Vielseitigkeit der Schweiz porträtiert. Heute führt die 1989 gegründete Herzroute vom Bodensee über dreizehn Etappen, 720 Kilometer und insgesamt 12.000 Höhenmeter durch die schönsten Gegenden der voralpinen Schweiz zum Genfer See und zieht jährlich über 30.000 Besucher an.

E-Bike eröffnet neue touristische Perspektiven

Flussradwege stehen bei Radtouristen nicht zuletzt wegen der geringen Höhenunterschiede hoch im Kurs. Mindestens genauso reizvoll sind aber auch gut ausgebaute bergige Strecken abseits des Autoverkehrs. Sie bieten einmalige Weite und Fotopanoramen, an denen man sich zumindest in der Schweiz kaum sattsieht. Wie kann man die Region besser für Touristen und nicht nur für durchtrainierte Radsportler erschließen, lautete die Fragestellung auf der einen Seite für Paul Hasler. Auf der anderen Seite suchten die E-Bike-Pioniere der ersten Stunde der späteren Firma Biketec nach einer Möglichkeit, ihre Produkte bekannter zu machen und gezielt zu vermarkten. Auch sie waren dem neuen Markt gedanklich weit voraus. Bereits 1993 hatten sie einen ersten E-Bike-Prototyp, den „Roten Büffel“ gefertigt. Damals hing noch eine schwere Bleibatterie unter dem Oberrohr eines roten Tourenrads. Schnell fand man sich zusammen, aber trotzdem brauchte es in der Folgezeit einen unerschütterlichen Glauben an die Idee, eine hohe Motivation und viel Überzeugungskraft, um die Vision umzusetzen. Denn wie bei vielen bahnbrechenden Ideen wurden die neuen „Elektrovelos“ anfangs von vielen nicht ernst genommen und weniger die Chancen gesehen, als vielmehr Probleme und Risiken beschworen. Der einfache Grund, warum die Macher trotz aller anfänglichen Schwierigkeiten immer hoch motiviert blieben: Alle motorunterstützten Velo-Fahrer kamen bereits nach einer kurzen Strecke mit einem breiten Lächeln im Gesicht zurück.

Neue Akku-Generation bringt den Durchbruch

Nachdem 1995 eine erste Kleinserie von Elektrovelos unter dem Namen Flyer Classic von den Pionieren produziert wurde, nahm die Geschichte des Swiss Flyers mit der Gründung der Firma Biketec im Jahr 2001 weiter Fahrt auf. Parallel wurde die Herzroute geplant und gebaut und 2003 eröffnet. Es war dabei keineswegs ein Zufall, dass das erste landschaftlich großartige Teilstück unweit der damaligen Flyer-Produktionsstätte im bernischen Kirchberg lag. Parallel mit der Eröffnung gelang Biketec der Durchbruch mit der Flyer-C-Serie, Europas erstem Elektrorad mit dem damals revolutionären Lithium-Ionen-Akku. Der trotz neuer Technologie vor allem im Gebirge noch recht eingeschränkten Reichweite begegnete man mit Akku-Wechselstationen in Hotels und an Tourismusinformationen. So konnte man in Minuten voll aufgeladen weiterfahren.

Das Flyer-Werk ist in der Region eine Attraktion. 250 Mitarbeiter arbeiten hier, weitere 50 sind in Tochtergesellschaften in Deutschland, Österreich und den Niederlanden beschäftigt.

Nachhaltige Fertigung, nachhaltiger Tourismus

„Von Anfang an stand das Thema Nachhaltigkeit bei der Herstellung und der Wahl des Standorts zusammen mit Synergien im Vordergrund“, erläutert Anja Knaus, Pressesprecherin des E-Bike-Herstellers, der heute unter dem Namen Flyer zur deutschen ZEG-Gruppe gehört. „Das ist Teil unserer DNA und unsere Erfolgsgeschichte, die sich bis heute fortsetzt.“ Mit dem Umzug in den ebenfalls an der Herzroute gelegenen Ort Huttwil erfüllten sich die Macher um den damaligen CEO Kurt Schär, der auch heute noch als Anteilseigner der Herzroute aktiv ist, einen weiteren Traum: Nachhaltigkeit und ein authentisches E-Bike-Erlebnis vor Ort sollten neben der Schweizer Qualität überzeugen. So wurde das 2009 bezogene Werk als Minergieplus-Gebäude ausgeführt inklusive einer Fotovoltaikanlage auf dem Dach, aus der auch Strom für die Kunden-Akkus bezogen wird, gesammeltes Regenwasser für die Toiletten und vielem mehr. Zudem wurde das Werk auch als Erlebniswelt geplant. Mit Führungen durch die Produktion, Testrädern und einem Verleih sowie eigens eingerichteten Wohnmobilstellplätzen am Firmengelände.

Heute eine Bilderbuch-Erfolgsgeschichte

Die anfänglichen Bedenken sind mit den Erfolgen in kürzester Zeit gewichen. Inzwischen gibt es eine lebendige Public Private Partnership zwischen den Betreibern der Herzroute, Anliegerunternehmen und der öffentlichen Hand. „Herzroute und Flyer arbeiten eng zusammen und ergänzen sich in idealer Weise“, betont Anja Knaus. „Gemeinsam schaffen wir unvergessliche Erlebnisse auf den schönsten E-Bike-Routen der Schweiz.“ Das sehen auch die zunehmend internationalen und durchaus solventen Nutzer so. Über 30.000 Nutzer pro Saison beleben die Region, spülen Geld in die Kassen und hatten in den vergangenen Jahren sicher einen unschätzbaren Wert bei der Verbreitung des positiven Images der E-Bikes und der Region. Heute wird die Erfolgsgeschichte weitergeführt: Flyer reüssiert als E-Bike-Spezialist inzwischen europaweit mit hochmodernen Cityrädern und High-End-Mountainbikes und bietet in Huttwil ein umfangreiches Angebot inklusive Fahrtechnik-, Sicherheits- und Pflegetrainings. Die Herzroute bindet mit Schleifen entlang der Strecke immer neue attraktive Regionen ein und lässt sich für Gäste, die auf mehrtägigen Touren unterwegs sind, viel einfallen, wie zum Beispiel ein „Wohnfass“ als originelle Übernachtungsgelegenheit.


Bilder: Flyer

Wenn von Radverkehr die Rede ist, dann wird sehr oft vor allem auf verkehrliche Aspekte und Unfallgefahren eingegangen. Dabei sind viele unserer Zivilisationskrankheiten auf Bewegungsmangel zurückzuführen. In Zeiten von Corona fällt auch darauf ein besonderer Blick. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Die Deutschen sitzen viel – viel zu viel. Damit sind wir nicht alleine. Mehr als ein Viertel der erwachsenen Weltbevölkerung bewegt sich laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) so wenig, dass sie dadurch krank werden. Die Folgen für ihre Gesundheit sind absehbar, die gesellschaftlichen Kosten ebenso. Dabei muss der Einzelne gar nicht viel schwitzen oder stundenlang Sport treiben, um gesund zu bleiben. Radfahren reicht – am besten zur Schule oder zur Arbeit.

Bewegung ist und bleibt essenziell

Der Sozialmediziner Professor Hans Drexler fährt jeden Tag sechs Kilometer in das Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin in Erlangen, das er leitet. Damit schafft er das Pensum an Sport, das die WHO Erwachsenen pro Woche empfiehlt: 150 Minuten moderate Fitness oder anders gesagt 2,5 Stunden Bewegung. Das ist nicht viel. Trotzdem gelingt es vielen Erwachsenen nicht, ausreichend Bewegung in ihren Alltag zu integrieren. „Wir sind alle etwas faul“, sagt er „deshalb fahre ich mit dem Fahrrad zu Arbeit.“ Denn die Bewegung sei wichtig, um körperlich und psychisch fit zu bleiben und Krankheiten vorzubeugen.

Fahrrad-Rushhour in Kopenhagen. Nach Angaben der Stadt pendelt hier täglich die Hälfte der Menschen mit dem Fahrrad zur Arbeit oder zur Ausbildung.

Radfahren ist gut für Herz, Muskeln und Lunge

Wer regelmäßig auf zwei Rädern unterwegs ist, spart sich den Gang ins Fitnessstudio und stärkt seinen ganzen Körper. Insbesondere sein Herz-Kreislauf-System. Denn wie jeder andere Muskel muss auch das Herz trainiert werden, um gut arbeiten zu können. Bei körperlicher Anstrengung schlägt es häufiger und pumpt mehr Blut in den Körper – gleichzeitig beruhigt sich seine Pumpleistung. Infolgedessen werden Herz und Kreislauf weniger belastet und arbeiten ökonomischer. Ähnlich ist es mit der Lunge. Sie wird beim Radfahren dauerhaft mit frischem Sauerstoff versorgt. Die erhöhte Atemfrequenz fordert das umliegende Muskelgewebe und stärkt es. Eine trainierte Lunge pumpt mehr Luft durch ihre Flügel als eine untrainierte, wodurch automatisch mehr frische Luft nachfließen kann.

Gelenkschonend und gut für die Psyche

Radfahren ist Sport im Sitzen. Das klingt seltsam, ist aber ein wichtiger Faktor für Menschen, die an Ar­throse leiden oder Gewicht reduzieren wollen. Denn Radfahren im niedrigen Gang mit hoher Trittfrequenz schont die Gelenke. Außerdem ist es gut für die Psyche und hilft beim Denken. Jeder kennt das: Beim gleichmäßigen Dahingleiten kommt einem eine gute Idee oder plötzlich die Lösung für ein verzwicktes Problem in den Sinn. „In Bewegung ist die Gehirnaktivität viel höher als in Ruhe“, erläutert der Sportwissenschaftler Achim Schmidt von der Sporthochschule Köln dieses Phänomen. Aber Radfahren aktiviert nicht nur die Gehirnaktivität, es macht auch glücklich. Bei der gleichmäßigen Bewegung beim Treten schüttet der Körper nach etwa 30 Minuten Endorphine aus und Stresshormone werden abgebaut. Wer regelmäßig Rad fährt, weiß: Ob man sich den Ärger von der Seele fährt oder einfach langsam dahingleitet – es geht einem gut, wenn man vom Rad steigt.

40–50 %

Nach einer Untersuchung des Umweltbundesamts liegen 40–50 Prozent der Autofahrten unter einer Länge von fünf Kilometern. Auf dieser Distanz ist das Fahrrad aber unschlagbar schnell.

Umbrüche als Einstieg in Verhaltensänderungen

Der Einstieg ins Radfahren ist hierzulande leicht – jedenfalls in der Theorie. Zwar hat fast jeder Deutsche ein Fahrrad im Keller stehen, aber trotzdem werden im Alltag nur 11 Prozent der Wege damit zurückgelegt. Das Auto bleibt mit 57 Prozent das Verkehrsmittel Nummer eins. In der Großstadt ist das kontraproduktiv. Nach einer Untersuchung des Umweltbundesamts liegen 40–50 Prozent der Autofahrten unter einer Länge von fünf Kilometern. Auf dieser Distanz ist das Fahrrad aber unschlagbar schnell. Es lohnt sich also für den Einzelnen, umzusteigen. Das Problem ist: Der Wechsel vom Auto aufs Rad ist eine Verhaltensänderung und damit tun sich die meisten Menschen schwer.
Eine gute Gelegenheit, um das Verhalten zu ändern, sind Lebensumbrüche. Dazu gehören beispielsweise ein Umzug, der Wechsel des Arbeitsplatzes, die Geburt von Kindern, der Eintritt in die Rente oder, ganz aktuell, die Corona-Pandemie. Oft sind auch Impulse von außen hilfreich. Die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) wollte im Rahmen des Projekts zum Gesundheitsmanagement der Mitarbeiter an Unikliniken ihre unsportlichen Angestellten dazu motivieren, sich regelmäßig zu bewegen. Um ihnen den Einstieg leicht zu machen, umfasste ihr Sportangebot die verschiedensten Bewegungsformen vom Schwimmen bis zum Krafttraining. Das kam gut an. 400 Männer und Frauen meldeten sich freiwillig. Ihre Aufgabe war, sich ein halbes Jahr lang werktags durchschnittlich 30 Minuten zu bewegen. Gut ein Drittel der Teilnehmer hat den Weg zur Arbeit modifiziert. Statt Auto, Bus oder Bahn zu nutzen, fuhren sie mit dem Fahrrad zur Arbeit.

Radfahren macht jung, Krankenstand sinkt

Die neuen Fahrradpendler im Projekt waren im Schnitt 207 Minuten pro Woche unterwegs. Das entspricht etwa 20 Minuten radeln pro Strecke. Der Effekt war immens. Die Teilnehmer wurden nicht nur leistungsfähiger, ihre Zellen hatten sich auch verjüngt. Die Wissenschaftler untersuchten bei den neuen Freizeitsportlern die Länge der Chromosomen-Enden (Telomere) der weißen Blutzellen und stellten fest: Obwohl das Training moderat war, waren diese in den sechs Monaten deutlich gewachsen. Das ist ungewöhnlich, denn in der Regel verkürzen sich die Telomere bei jeder Zellteilung als natürlicher Vorgang der Alterung der Zellen und des gesamten Organismus. Als am Ende der Studie die Teilnehmer untersucht wurden, stellte sich heraus, dass die „Verjüngung“ bis zu 15 Jahre betragen kann.
Was die Forscher noch mehr überraschte: Nach dem Projektende behielten etwa drei Viertel der Teilnehmer ihr neues Verhalten bei. Sie trieben weiterhin im gleichen Umfang Sport wie zur Zeit der Untersuchung. Diese Verhaltensänderung ist besonders für Arbeitgeber interessant: Im Rahmen des Projekts wurde festgestellt, dass der Krankenstand der Trainingsteilnehmer um mehr als 40 Prozent zurückging. Gerade für eine alternde Gesellschaft und älter werdende Belegschaften ist das eine wichtige Erkenntnis.

„In Bewegung ist die Gehirnaktivität viel höher als in Ruhe.“

Achim Schmidt, Sporthochschule Köln

E-Bike-Fahren viel gesünder als erwartet

Während Pendlern, die mit dem Rad zur Arbeit fahren, die Anerkennung ihrer Kollegen gewiss ist, ernten E-Bike-Fahrer häufig immer noch mitleidige Blicke. Völlig zu Unrecht, wie Uwe Tegtbur, Professor an der MHH, und sein Team in den vergangenen Jahren in einer Studie feststellten. Sie haben die Wirkung von E-Bike-Fahren und herkömmlichesnRadfahren auf das Herz-Kreislauf-System verglichen. Dafür haben sie 60.000 Fahrten von rund 2000 E-Bike-Fahrern untersucht. Die Teilnehmer ließen sich in zwei Fahrertypen unterteilen: Ältere Menschen, die aus gesundheitlichen oder körperlichen Einschränkungen mit Motor fahren, und Pendler, die das E-Bike für die Fahrt zur Arbeit nutzen, um entspannt und ohne zu schwitzen anzukommen.
Während die Pendler immer dieselbe Strecke fuhren und selten Umwege machten, fuhren die Senioren deutlich weitere Strecken als die Berufstätigen. Sie waren auch häufiger mit dem Bike unterwegs.
Der Effekt war identisch: Beide Gruppen brachten ihr Herz-Kreislauf-System auf Touren, sobald sie 30 Minuten moderat unterwegs waren. Die Herzfrequenz der E-Bike-Fahrer lag bei den Fahrten nur etwa zehn Schläge unter dem Puls der Bio-Biker. Tegtbur vermutet, dass alle Elektroradfahrer instinktiv einen Unterstützungsmodus wählen, der ihnen das Fahren zwar erleichtert, sie aber weiterhin fordert. So erzielten sie eine Herzfrequenz, die sich positiv auf ihr Herz-Kreislauf-System auswirkte.
Das wiederum wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus. „Der Puls wird beim E-Bike-Fahren um 10 bis 20 Prozent gesenkt“, sagt Tegtbur. Für den Mediziner ist das ein wichtiger Faktor. Denn neben einem hohen Blutdruck ist ein hoher Puls ein wesentlicher Risikofaktor für Herzinfarkte. Ein gut trainiertes Herz kann in Ruhe langsamer schlagen, weil es sehr kräftig pumpt und pro Schlag sehr viel Blut transportiert. Ein schwaches Herz dagegen hat pro Schlag nur relativ wenig Volumen und muss deshalb häufiger schlagen.
Radfahren ist laut Tegtbur ein Blutdrucksenker für jeden Tag. Dabei sei die regelmäßige Bewegung deutlich effektiver als die 30-km-Tour am Sonntagnachmittag. Sie wirke dauerhafter, da sie den Blutdruck noch viele Stunden nach der Ausfahrt senke.

Radfahren nutzt auch der Gesellschaft

Der Effekt der Bewegung für den Einzelnen und für die Gesellschaft ist hoch. Zum einen, weil die Kosten für Zivilisationskrankheiten allein durch das tägliche Pendeln mit dem Rad drastisch reduziert werden. „Zum anderen, weil die Feinstaubbelastung sinkt – und so ebenfalls dazu beiträgt, Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu vermeiden“, sagt der Sozialmediziner Drexler. Kein Medikament sei so wirksam wie körperliche Bewegung. Er schätzt, dass 25 bis 30 Prozent der Kosten für Zivilisationskrankheiten mit mehr Bewegung gesenkt werden könnten.
Die Gesellschaft hätte also viel davon, wenn möglichst viele Menschen mit dem Rad zur Arbeit fahren würden. Trotzdem mahnt Drexler: „Morgens ist man häufig mit dem Kopf schon bei der Arbeit. Das heißt: Man ist unkonzentriert.“ Im Straßenverkehr kann das schnell gefährlich werden. Abhilfe schafft nur eine fehlerverzeihende Infrastruktur, die Radfahren fördert. Etwa indem sie Fahrradfahrer sicher und auf dem kürzesten Weg durch die Stadt lotst, während Autofahrer Umwege in Kauf nehmen müssen. Die niedersächsische Stadt Nordhorn an der Landesgrenze zu den Niederlanden plant seit Jahrzehnten ihre Infrastruktur mit dieser Zielsetzung. Von den Dutzenden Brücken im Zentrum sind nur eine Handvoll für Autos frei gegeben. Alle anderen dürfen ausschließlich Rad- und Fußgänger nutzen. Das Fahrrad ist in Nordhorn das schnellste Verkehrsmittel und wird von Schülern wie Politikern gleichermaßen genutzt. Über 40 Prozent aller Wege werden dort täglich mit dem Rad zurückgelegt.

Gefühlt waren während der Lockdown-Phase in einem April wohl noch nie so viele Radfahrer unterwegs – darunter viele Anfänger und Neueinsteiger.

Kindern gehen Fähigkeiten verloren

Gewohnheiten der Eltern und eine mangelhafte Radinfrastruktur prägen auch das Mobilitätsverhalten von Kindern und Jugendlichen. Die aktuelle Entwicklung ist hier alarmierend. Regelmäßig melden Schulen und Verkehrserzieher: Kinder verlernen das Radfahren. Die Grundschüler scheitern in der Fahrradprüfung daran, gleichzeitig den Arm auszustrecken und geradeaus zu fahren. Dabei sitzen die Kinder heute früher auf dem Rad als je zuvor. Das Laufrad gehört inzwischen zur Standardausrüstung vieler Dreijähriger.
Aber auf dem Weg zur Fahrradprüfung geht den Kindern die Fähigkeit offenbar verloren. Die Gründe dafür sind vielschichtig und bewegen sich oft im Extremen. Sie reichen von Freizeitstress bei den Kleinen bis zur Verwahrlosung vor dem Smartphone, vom überbehütetenden Elternhaus bis zum Haushalt, in dem schlicht das Geld fürs Fahrrad fehlt. Die Folge ist: Immer mehr Kinder haben motorische Schwierigkeiten – und das nicht nur beim Radfahren.
Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule Köln versucht seit Jahren, diesem Trend entgegenzuwirken. Er hat einen Fahrrad-Parcours für Kindergärten und Schulen entwickelt und mit der Landesregierung Nordrhein-Westfalen und dem Verkehrsverbund Rhein-Sieg eine Lehrerfortbildung initiiert nebst Online-Portal „Radfahren in der Schule“. Der Sportwissenschaftler plädiert mittlerweile sogar dafür, Radfahren in den Regelunterricht zu integrieren. „Fahrradfahren ist Teil unserer Kultur, es gehört ebenso dazu wie das Schwimmen und muss ebenso als Schulfach unterrichtet werden“, sagt er. Tatsächlich lernen alle Kinder Radfahren – sofern sie die Zeit und die Gelegenheit haben, es auszuprobieren und regelmäßig zu üben. Früher haben sie es an langen Nachmittagen mit ihren Freunden vor der Haustür beim Spielen nebenbei erledigt. Heute brauchen sie dafür einen geschützten Raum. Die Kinder von heute müssen sich auf dem Rad wohl und sicher fühlen, damit sie sich später als erwachsene Radfahrer im Straßenverkehr zurechtfinden und es dem ÖPNV und Auto vorziehen. Eltern und Erzieher legen damit nicht nur den Grundstein für die Mobilität der heutigen Kindergeneration. Sie prägen bereits heute ihre spätere Gesundheit.

Radfahren – gerade in Corona-Zeiten ein guter Tipp

In Zeiten der Lungenkrankheit Corona schützt regelmäßiges Radfahren gleich doppelt. Einerseits stärkt es die Lungen und das Immunsystem und zudem ist es auf dem Fahrrad deutlich leichter, die Abstandsregeln einzuhalten als in Bussen oder Bahnen, und sich so vor einer Tröpfcheninfektion zu schützen. Mediziner haben auf diesen Zusammenhang bereits zu Beginn der Pandemie in Deutschland hingewiesen und Radfahren zur Prävention empfohlen. So betonte der Ulmer Pneumologe Dr. Michael Barczok vom Bundesverband der Pneumologen, Schlaf- und Beatmungsmediziner (BdV) gegenüber dem Spiegel unter anderem, dass beim rhythmischen Radeln das Atmungsorgan gut belüftet und besser durchblutet werde. Man atme intensiver, das heißt, man reinige seine Lunge gut. „Und das ist in punkcto Virusprotektion optimal“, so Barczok. Langfristig wirkt sich Radfahren auch positiv auf andere Risikofaktoren aus: Neben Herz-Kreislauf-Erkrankungen auch auf Übergewicht und Diabetes. Damit wird der Körper insgesamt widerstandsfähiger – nicht nur gegen Corona.

Städte in Bewegung – Ideen für eine bewegungsaktivierende Infrastruktur

Wie wollen wir in Zukunft leben, wohnen und mobil sein? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in Nordrhein-Westfalen e. V. (AGFS) unter dem Schwerpunkt Verkehr seit ihrer Gründung im Jahr 1993.

Mit der Broschüre „Städte in Bewegung“, die auf dem Konzept der Nahmobilität beruht, sollte im Jahr 2015 „auf Grundlage aktueller Fakten und Forschungsergebnisse eine längst fällige Diskussion über Mobilität, Infrastruktur und Bewegung angestoßen werden“. Sie beinhaltet eine Fülle grundlegender Informationen zu den Themen Bewegungsmangel, Mobilität-Bewegung-Sport und der „Stadt als gesunder Lebens- und Bewegungsraum“. Dazu zeigt sie Kriterien und Bausteine der Bewegungsförderung, Good-Practice-Beispiele und gibt Hinweise für Fördermöglichkeiten. Die in Kooperation mit dem Landessportbund NRW erstellte Broschüre richtet sich vornehmlich an Entscheider in Politik, Planung, Umwelt, Sport und an alle, die sich für eine „Stadt als Lebens- und Bewegungsraum“ engagieren.

Vision der AGFS: Stadt als Lebens- und Bewegungsraum

Für die AGFS ist die „Stadt als Lebens- und Bewegungsraum Vision und Handlungsansatz zugleich“: „Als Kernaufgabe der zukünftigen kommunalen Stadt- und Verkehrsplanung sehen wir deshalb weniger den Ausbau und die Optimierung des bestehenden Systems, sondern vielmehr eine Transformation der öffentlichen Stadt- und Verkehrsräume. Ziel ist die Realisierung von lebendigen, ‚humanen‘ Straßen und Plätzen, die sich wieder neu auf den ‚Maßstab Mensch‘ beziehen, gemeinschaftlich von allen Verkehrsteilnehmern genutzt werden, aber insbesondere adäquaten Raum für körperaktive Bewegung bieten. Eine ‚gesunde Stadt‘, in der Nahmobilität ‚Basismobilität‘ ist, also ein Großteil der persönlichen Alltags- und Freizeitwege zu Fuß und/oder mit dem Fahrrad abgewickelt wird. Unsere Zielmarke im Modal Split ist, dass ca. 60 Prozent der Wege zu Fuß und mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Wir glauben, dass insbesondere die Verkehrsinfrastruktur das Mobilitäts- und Bewegungsverhalten wesentlich prägt und formt. Deshalb engagieren wir uns für eine qualitativ hochwertige, bewegungsaktivierende Infrastruktur, die über ihre Verkehrsfunktion hinaus vielfache urbane Nutzungen zulässt und zugleich entscheidende Anreize für eine gesundheitsfördernde Nahmobilität setzt.“

Als Download erhältlich in der
Mediathek unter agfs-nrw.de


Bilder: Patrizia Tilly – stock.adobe.com, Copenhagenize, Pixabay, misign – stock.adobe.com, AGFS

Europaweit erkennen die Städte und Kommunen langsam die Tragweite der Pro­bleme, denen sie aktuell gegenüberstehen. Im Bereich des Verkehrs und der öffentlichen Räume gehen immer mehr konsequent voran und ziehen u. a. geplante Maßnahmen vor. Wir haben uns bei unseren Nachbarn umgesehen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Wie soll es mittel- und langfristig weitergehen? Kaum jemand rechnet wohl ernsthaft mit dem schnellen Ende der Pandemie und einer Aufhebung der Vorsichtsmaßnahmen. Wie können Menschen auf viel zu engen Rad- und Fußwegen Abstand halten? Wie schafft man Sicherheit auch für Radfahrer, denen Erfahrung und Routine fehlen? Und was passiert eigentlich mit der Gastronomie ohne zusätzliche Flächen? In Deutschland warnen Verbände und Experten vor dem Verkehrskollaps und einem Anstieg der Unfälle mit Radfahrern. Der Hotel- und Gaststättenverband fürchtet das Aus für jeden dritten Betrieb im Gastgewerbe. Wenn es um Straßenraum, Parkplätze, Änderungen der Geschwindigkeit oder Ausnahmeregelungen geht, ist man hierzulande allerdings sehr zurückhaltend. Ganz anders im Ausland.

London

Ziel London: Verzehnfachung des Radverkehrs und
Verfünffachung des Fußgängerverkehrs nach der Lockdownphase.

Mehr Platz für Menschen: Weltweit wird intensiv an Corona- und umwelttauglichem Verkehr gearbeitet.

London

„Wir müssen die Zahl der Menschen, die den öffentlichen Verkehr nutzen, so gering wie möglich halten. Und wir können nicht zulassen, dass diese Fahrten künftig mit dem Auto erledigt werden, weil unsere Straßen sofort blockiert wären und die toxische Luftverschmutzung anschwellen würde”, so Bürgermeister Sadiq Khan zu den Herausforderungen in seiner Stadt. Mit dem „London Streetspace“-Programm sollen Straßen rasch umgestaltet werden, um eine Verzehnfachung des Radverkehrs und eine Verfünffachung des Fußgängerverkehrs zu ermöglichen, wenn die Sperrmaßnahmen gelockert werden. Da die Kapazität des öffentlichen Nahverkehrs in London potenziell nur ein Fünftel des Niveaus von vor der Krise erreichen könnte, müssten Millionen von Fahrten pro Tag mit anderen Verkehrsmitteln durchgeführt werden.

Paris

Die Region Paris will unter anderem 300 Millionen Euro in das – ohnehin geplante – Radwegenetz der Île-de-France schneller investieren mit dem Ziel, die Fahrradnutzung zu verfünffachen. Helfen sollen nicht nur neue (temporäre) Radwege, sondern auch das Fahrradverleihsystem Véligo und Kaufanreize für Pedelecs. Als Sofortmaßnahme wurden Fahrradreparaturen mit 50 Euro pro Rad subventioniert, finanziert werden künftig auch zusätzliche Fahrradständer sowie Radkurse und Sicherheitstrainings. Die Bürgermeisterin Anne Hidalgo sieht sich in ihren Plänen für ein lebenswerteres Paris, die von den Einwohnern mit großer Mehrheit mitgetragen werden, bestätigt. Eine Rückkehr zu alten Verhältnissen sei nach ihren Worten völlig undenkbar.

Brüssel

Dem Vorbild der Stadt Wien, die als eine der ersten Metropolen während der Ausgangsbeschränkungen temporäre Begegnungszonen geschaffen hat, ist auch Brüssel gefolgt und macht deutlich mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer. So wurde das gesamte Zentrum zur Begegnungszone deklariert. Innerhalb des inneren Stadtrings haben Fußgänger und Radfahrer Vorrang. Busse, Straßenbahnen und Autos dürfen zwar weiter in die Zone einfahren, aber nur mit bis zu 20 km/h. Im Hinblick auf weitere Verbesserungen soll ab 2021 im gesamten Stadtgebiet Tempo 30 gelten.

Mailand

Insgesamt 35 Kilometer neuer Radwege sollen in Mailand demnächst entstehen – bis Ende des Sommers allein 22. Aktuell entsteht eine „Maxipiste“ für Fahrräder vom Zentrum in Richtung Norden. Auf einem ersten Teilstück hat man zwei von vier Autospuren umgewidmet. Radfahrer und Fußgänger haben damit viel mehr Platz, ebenso wie die Gastronomen. Zudem soll in weiten Teilen Tempo 30 gelten. Um schnelle Änderungen zu ermöglichen und die Bedingungen für Radfahrer zu verbessern, wurde das italienische Verkehrsgesetz geändert. Und es gibt Kaufprämien vom Staat für Fahrräder. 60 Prozent des Kaufbetrags –maximal 500 Euro – werden volljährigen Einwohnern von Kommunen mit mehr als 50.000 Einwohnern erstattet.


Bilder: Guillaume Louyot – stock.adobe.com, www.abus.de | pd-f