Tempora mutantur. Die Zeiten ändern sich. Bürgermeister und Kommunen stehen heute überall auf der Welt vor einer zentralen Herausforderung: Wie sollen sie Mobilität erhalten während der öffentliche Verkehr als Leistungsträger, wohl nicht nur kurzfristig, vor schwierigen Zeiten steht? Wir werfen einen Blick auf temporäre Lösungen in Deutschland und Europa. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Gerade ungeübte Radfahrer brauchen die Gewissheit, sicher und bequem ans Ziel zu kommen.

Solange die Pandemie nicht beherrschbar ist, wollen und müssen Städte und Kommunen aktive Mobilität mit ausreichend Abstand sicherstellen. Mit seiner Entscheidung pro Radverkehr hat sich Berlin zu Beginn der Krise mit der kolumbianischen Hauptstadt Bogota an die Spitze einer internationalen Bewegung gestellt. Seitdem wirkt Corona in der Hauptstadt wie ein Beschleunigungsprogramm der ohnehin geplanten Verkehrswende.

Andauernde Pandemie forciert Umbau

Für Radfahrer und Fußgänger läuft es zurzeit gut in Berlin. Allein im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wurden in den vergangenen Wochen rund 20 Kilometer temporäre Radwege mit Baustellenbaken markiert. Für die grüne Umwelt- und Verkehrssenatorin Regine Günther hat die Umverteilung des Raums Priorität. Sie lässt ihre Verwaltung Abschnitte des bereits fertig geplanten Radwegenetzes mit provisorischen Mitteln wie Baustellenbaken umsetzen. Dabei soll es aber nicht bleiben. „Unser Ziel ist es, aus diesen vorgezogenen Maßnahmen möglichst überall dauerhafte Anordnungen zu machen und die provisorische Technik durch dauerhafte zu ersetzen“, betont die Berliner Senatorin.

Pop-up-Lösungen als ideales Tool

Nach wenigen Wochen zeigt sich: Die Pop-up-Lösungen haben für die Planer durchaus Vorteile. Der Praxistest mache Schwächen auf der Strecke oder Sicherheitsrisiken für Radfahrer sichtbar, sagt Felix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes in Friedrichshain-Kreuzberg. Ist das der Fall, kann sein Team schnell und kostengünstig nachjustieren. Bei neu gebauten Radwegen war das bislang nicht möglich. Die Radfahrer in Berlin erhalten demnach eine deutlich alltagstauglichere Radinfrastruktur als ohne Probelauf. Über ein Dutzend Pop-up-Bikelanes gibt es inzwischen in der Hauptstadt, und im Wochenrhythmus kommen neue hinzu. Mal werden Lücken im Netz geschlossen, mal an Hauptstraßen neue, sichere Radwege in Fahrspurbreite markiert, wo es zuvor keine Radanlage gab.

Neue Kundengruppen auf neuen Radwegen

Die neuen Radwege kommen nicht nur gut an in der Bevölkerung, sie gewinnen auch neue „Kundengruppen“. Burkhard Stork, Bundesgeschäftsführer des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs trifft dort Menschen, die er seit Jahren aufs Rad bringen will: Kinder, Erwachsene, die jahrelang nicht im Sattel saßen, und Menschen mit Migrationshintergrund. Er erkennt sie an ihren Rädern, die im Keller Staub angesetzt haben, und ihrem Fahrverhalten. „Sie sind deutlich langsamer unterwegs als der typische Berliner Radfahrer“, sagt Stork. „Wenn wir die Verkehrswende wollen, brauchen wir eine Radinfrastruktur, die Menschen dazu einlädt, aufs Rad zu steigen“, wiederholt der Fahrradlobbyist seit vielen Jahren. Die Pop-up- Bikelanes machen genau das.

Die Broschüre erklärt, wie man Pop-up-Bikelanes einrichtet und in nur zehn Tagen auf die Straße bringt. Download unter mobycon.nl

Gesucht: Beschleuniger im Radwegebau

Ob die Lösung permanent oder temporär ist, ist für Stork momentan zweitrangig. Die Menschen brauchten erst mal die Gewissheit, sicher und bequem ans Ziel kommen. In den Niederlanden und Kopenhagen ist das der Fall. Allerdings benötigten die Planer dort Jahrzehnte, um ihr Radwegenetz entsprechend aufzubauen. Die Zeit hat Deutschland nicht. Zwar hat das Bundesverkehrsministerium für den Ausbau des Radverkehrs 900 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, aber Stork mahnt: „Das Geld muss in den kommenden vier Jahren investiert werden, sonst ist es weg.“ Das schafft aus seiner Sicht aber kaum eine Stadt. In Berlin dauert der Bau eines Radwegs von der Planung bis zur Fertigstellung immer noch vier Jahre – manchmal sogar länger. Deshalb fordert Stork, Radwegenetze zügig zu planen und sie zunächst als Pop-up-Lösungen anzulegen. „Pop-up ist das neue Maß im Radwegebau“, betont der international anerkannte und bestens vernetzte Experte.

Berlin als Modellstadt und zur Nachahmung empfohlen

In Deutschland ist die Hauptstadt Berlin bislang eine Ausnahme. Hier wird sichtbar, wie Corona bestehende Prozesse beschleunigt. Hier ist die Bevölkerung ebenso wie die Politik und die Verwaltung für einen Wechsel bereit. Bereits zuvor hat die Zivilgesellschaft in Berlin das 2018 beschlossene Mobilitätsgesetz durchgesetzt und damit den Bau moderner Radwegenetze mit Protected Bikelanes legitimiert. Der Anklang bei anderen deutschen Städten und Kommunen ist bislang noch sehr verhalten. Echte Nachahmer für die Einrichtung gibt es kaum, obwohl sich immer mehr Initiativen vor Ort für ihre Einrichtung stark machen. So hat Greenpeace Ende Mai in Zusammenarbeit mit anderen Verbänden in 30 deutschen Städten mit Warnstreifen, Pylonen und Piktogrammen auf die Probleme aufmerksam gemacht. Am Geld und am Know-how kann es eigentlich nicht liegen. Felix Weisbrich vom Berliner Straßen- und Grünflächenamt will Kollegen zum Nachahmen animieren. In seinem Auftrag hat das Planungsbüro Mobycon gerade einen Leitfaden zum Bau von Pop-up-Bikelanes erstellt.


Bilder: Peter Broytman, Peter Broytman, Mobycon

Beim Stadtradeln motivieren die Kommunen in ganz Deutschland ihre Bürger zu mehr Bewegung ohne Pkw – und gewinnen aus GPS-Daten der Teilnehmer eine neue Informationsquelle für radgerechte Verkehrsplanung. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Es ist inzwischen über die meisten politischen Grenzen ein gemeinsames Ziel: Städte und Gemeinden wünschen sich einen möglichst hohen Anteil von Menschen, die statt des Autos ihr Fahrrad für die täglichen Strecken nutzen. Um ihre Bürgerinnen und Bürger zu motivieren, müssen sie allerdings mehr tun, als auf die Eigenmotivation der Menschen zu vertrauen. Wenn sie Luft und Gesundheit verbessern möchten, sollten sie den Radverkehr fördern – mit positiven Botschaften und stabiler Infrastruktur. Es sind genau diese Aspekte, die das Klima-Bündnis mit seiner Kampagne „Stadtradeln“ seit 2008 vorantreibt. Auch im Corona-Jahr, in dem alles anders ist als sonst, läuft die Kampagne wieder – und soll nicht nur mehr Velos auf Deutschlands Straßen bringen, sondern auch solide Daten über ihre Fahrten vor die Augen der Fachleute in den Behörden.

77 Millionen Kilometer mit dem Rad

Das Stadtradeln ist eine Erfolgsgeschichte: Schlossen sich vor zwölf Jahren die ersten 23 Kommunen für einen Radel-Aktionszeitraum zusammen, so waren es im vergangenen Jahr schon 1127 Städte und Gemeinden mit insgesamt 407.000 Menschen, die während der dreiwöchigen Aktion ihre Radfahrten mitzählten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen so auf 77 Millionen Kilometer auf dem Fahrrad. Das Potenzial dieser bewegten Massen ist enorm – denn mit der eigenen App der Kampagne lassen sich unkompliziert von großen Teilnehmergruppen relevante Nutzungsdaten sammeln. „Die Menschen bewegen sich gern mit dem Rad und möchten jetzt auch dabei helfen, die Bedingungen für den Radverkehr vor ihrer Haustür zu verbessern“, sagt Sebastian Reisch, der die Kampagne beim Klima-Bündnis betreut.

Movebis bringt neue Erkenntnisse

So ist aus einer Kampagne mit dem übergeordneten Ziel des Klimaschutzes inzwischen ein vielversprechender Ansatz entstanden, um auch den Radverkehrsplanern Daten zu liefern, die ähnlich verlässlich sind wie die Informationen aus dem Kraftverkehr. Dafür arbeitet das Klima-Bündnis seit 2017 im Projekt Movebis mit einem Team der TU Dresden zusammen, gefördert aus der Forschungsinitiative mFund des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur. „Wir haben Stadtradeln als tragfähige Plattform identifiziert, um möglichst repräsentative Erkenntnisse über das tatsächliche Verhalten der Radfahrer für die Planer zu erschließen“, erklärt Sven Lißner, Verkehrsingenieur und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Verkehrsökologie an der Dresdner TU.

Mit der Heatmap erkennen die Nutzer auf einen Blick, wo Radfahrer die vorhandenen Wege nutzen und wie sich der Verkehr auf das Netz der Stadt verteilt. Im Webtool lässt sich nach Belieben zoomen, um die Details zu betrachten.

Beim genauen Blick in die Daten auf Straßenbasis lässt sich gut erfassen, wo der Verkehr schnell fließt – und wo es stockt. Hier sieht man etwa an Brückenaufgängen, dass die In­frastruktur den Radverkehr bremst.

Aus den Fahrten wird ein Datenschatz

Der Ansatz: Die Teilnehmer der Kampagne erfassen, sofern sie die Stadtradeln-App nutzen, die GPS-Spuren ihrer Strecken. Diese Informationen werden dann anonymisiert und zusammengefasst, um Erkenntnisse über die Nutzung von Routen, Wegbeziehungen, Durchschnittsgeschwindigkeiten und auch Wartezeiten zu erlangen. Aus einzelnen Fahrten wird also ein Datenschatz, der sich beispielsweise in Heatmaps gut visualisieren und somit schnell auch auf Straßen- oder Viertelsebene analysieren lässt. Hier unterscheidet sich Movebis nicht grundlegend von den bereits in der vergangenen VELOPLAN-Ausgabe vorgestellten Angeboten wie Bike Citizens oder Strava Metro. „Allerdings hat sich bewahrheitet, dass wir mit Stadtradeln auf einen Schlag eine deutlich größere Datenbasis erreichen und auch die Gesamtbevölkerung erheblich besser repräsentieren“, erklärt Lißner.

407.000

2019 zählten 407.000 Menschen in 1127 Städten und Gemeinden
ihre Radfahrten während der dreiwöchigen Aktion mit.

Repräsentative Erkenntnisse

Lißner forscht schon seit vielen Jahren daran, ob und unter welchen Bedingungen sich die App-Daten von Radfahrern für die Planung des Verkehrs nutzen lassen. Die Einwände etwa gegen die Strava-Daten sind ihm geläufig: Die Nutzer sind meistens weit sportlicher und schneller unterwegs als durchschnittliche Radbürger in Deutschland, außerdem vor allem männlich – daher sei die Aussagekraft für die Behörden eher begrenzt. Zwar hat Lißner mit seinen Kollegen gezeigt, dass sich auch solche Erkenntnisse besser nutzen lassen, als ganz auf empirische Einblicke in den Radverkehr zu verzichten. Aber mit den Daten der Stadtradler hat Movebis die Sache deutlich erleichtert: Fünf Testkommunen und das Bundesland Hessen haben etwa im vergangenen Jahr bei dem Modellversuch mitgemacht – und 28,2 Prozent der Teilnehmer haben über die App Daten geliefert. So konnten die Forscher erkennen, dass immerhin 44,7 Prozent der Nutzer weiblich waren. Auch ältere Jahrgänge waren gut vertreten, das Durchschnittsalter 37,2 Jahre. „Wir haben hier einen guten Querschnitt und auch viele Menschen erfasst, die sonst nicht so viel mit dem Rad unterwegs sind“, sagt Lißner.

Heatmap, Mengen, Geschwindigkeiten

In diesem Jahr hat Movebis das Projekt auf zehn Testkommunen erweitert. Wenn die dreiwöchige Kampagne zum Stadtradeln in den jeweiligen Kommunen dann startet, erscheinen die Verkehrsströme der Velofahrer fast in Echtzeit auf der Web-Plattform von Movebis. Auf dieser Web-Oberfläche betrachtet man eine Heatmap, also farblich abgestufte Darstellung der Aktivitäten auf dem Straßennetz, die Verkehrsmengen und die Geschwindigkeiten. Bei der Recherche zu diesem Artikel leuchtete es an der Ostseeküste hell auf – Rostock hatte gerade seine Stadtradeln-Kampagne gestartet.

„In Zukunft wird es einen noch größeren Bedarf nach vertrauenswürdigen Erkenntnissen für Radverkehrsplaner geben.“

Sven Lißner, Verkehrsingenieur und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Verkehrsökologie an der Dresdner TU

Die Realität radgerecht interpretieren

Was auf dieser Karte hinterlegt wird, sind die GPS-Spuren und die Erkenntnisse darüber, mit welcher Geschwindigkeit sich die Teilnehmer von Datenpunkt zu Datenpunkt bewegt haben. Doch um daraus auch sinnvolle Erkenntnisse für die Planer zu gewinnen, ist viel Denkarbeit nötig. Denn der Radverkehr folgt nicht immer den offiziellen Wegen. So würde ein herkömmlicher Algorithmus eine Fahrt über einen nicht zum Straßenplan gehörenden Privatplatz etwa einer darunterliegenden Tiefgarage zuordnen und entsprechende Wege auf der Karte anzeigen. Um die Daten also möglichst nah an der fahrradgerechten Realität zu interpretieren, müssen die Wissenschaftler neue Regeln formulieren. „Wenn man zu pauschal vorgeht, erfasst man viele Details nicht, die aber gerade für den Radverkehr besonders relevant sind“, erklärt Lißner. Das gilt auch für das Erfassen von Wartezeiten an Wegkreuzungen, was den Kommunen künftig ebenfalls aus den Stadtradeln-Daten ermöglicht wird.

Ausgründung geplant

Das Förderprojekt Movebis läuft in diesem Jahr aus. Für die Zeit danach haben Lißner und sein Team schon klare Pläne: Während die Erkenntnisse mit Ablauf des Förderzeitraums allen teilnehmenden Kommunen zur Verfügung gestellt werden, zielen die Forscher auf eine Ausgründung. „In Zukunft wird es einen noch größeren Bedarf an vertrauenswürdigen Erkenntnissen für Radverkehrsplaner geben“, sagt Lißner. Diesen Markt möchte das Team auf wissenschaftlich valider Grundlage bearbeiten.

Neue Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung

Die teilnehmenden Städte gewinnen mit der Stadtradeln-App neben dem Zugriff auf diesen Datenschatz noch weitere Informationen und treten in den Austausch mit Bürgern. 459 der 1127 teilnehmenden Kommunen nutzten im vergangenen Jahr das Angebot RADar. Dieses Tool ermöglicht es seinen Nutzern, Mängel und Hinweise zum Verkehrsnetz direkt aus der Stadt-radeln-App oder aus dem Web an die zuständige Stelle bei der Behörde zu übermitteln. „Das ist eine zeitgemäße Form der Bürgerbeteiligung, die sehr gut angenommen wird, die aber auch ernst genommen werden sollte“, sagt Sebastian Reisch vom Klima-Bündnis.

Es rollt weiter – trotz Corona

Trotz oder gerade wegen Corona: Auch 2020 rollt es weiter mit dem Stadtradeln, pedalieren die Menschen in Deutschland, Frankreich und Luxemburg für bessere Luft und weniger Stau – und liefern damit wichtige Erkenntnisse für die Forscher. „Bei den teilnehmenden Kommunen haben wir trotz der Pandemie beinahe den Stand des Vorjahrs erreicht“, sagt Sebastian Reisch, „und das kann sich im Laufe des Jahres ja sogar noch steigern.“ So steht auch für 2020 fest: Die Forscher werden genug Futter für die Analyse des Radverkehrs bekommen.

Die Aktion

Klimaschutz ist vor Ort möglich. Diesen Ansatz verfolg der kommunale Zusammenschluss Klima-Bündnis mit seiner Kampagne. An 21 aufeinanderfolgenden Tagen sammeln die Menschen in ihren Gemeinden möglichst viele Radkilometer und fahren so gemeinsam im Wettbewerb gegen andere Orte. Corona-bedingt hat das Klima-Bündnis den Aktionszeitraum der jährlichen Kampagne 2020 bis zum 31. Oktober verlängert. In diesem Zeitraum rufen die Städte und Gemeinden ihre Bürger dazu auf, möglichst viele Strecken mit dem Fahrrad zurückzulegen und die Strecken zu dokumentieren. Ziel ist es, Menschen im Alltag aufs Rad zu bringen, indem sie die Vorteile erleben. Die teilnehmenden Kommunen entrichten dem Klima-Bündnis je nach ihrer Einwohnerzahl eine Gebühr – in den meisten Bundesländern übernimmt allerdings inzwischen die jeweilige Landesregierung diese Kosten im Zuge einer Förderung.

www.stadtradeln.de


Bild: Klima-Buendnis

Die Bewegungs- und Koordinationsfähigkeiten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland haben rapide abgenommen. Dr. Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule Köln zeigt in einem Gastbeitrag die Hintergründe auf und warnt vor einer Entwicklung, die ohne aktives Gegensteuern in eine Sackgasse führen könnte. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Radfahren schult die Bewegungs- und Koordinationsfähigkeit viel mehr, als den meisten bewusst ist.

Das Fahrrad boomt und Politiker fangen an, diese bewährte Mobilitätsform wahrzunehmen. Auch in den Visionen zur Verkehrswende spielt das Fahrrad eine bedeutende Rolle. Es könnte so weitergehen, doch am Horizont braut sich ein Szenario zusammen, das den meisten Verkehrsplanern völlig fremd scheint: Kinder fahren immer weniger und zunehmend schlechter Fahrrad. Doch die Kinder von heute sind die Radfahrer von morgen, und was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Radfahren bei Kindern rückläufig

„Kinder fahren weniger und schlechter Fahrrad als noch vor zehn Jahren.“ Diese Feststellung wird von Lehrkräften an Grund- und weiterführenden Schulen, von Verkehrssicherheitsberatern der Polizei sowie von Eltern oft geäußert. In der wissenschaftlichen Literatur findet sich zu dieser subjektiven Wahrnehmung von Experten als einzige Quelle eine Studie der Unfallforscher der Versicherer (UDV) zur Häufung von motorischen Schwierigkeiten. Auf Grundlage einer Befragung von 347 Verkehrserziehungsdienststellen (Polizei und Schulen) aus dem Jahr 2009 ergibt sich allerdings ein recht eindeutiges Bild: Während bei der gleichen Fragestellung im Jahr 1997 nur 45,6 Prozent der Befragten angaben, dass die Anzahl der Kinder mit auffallenden motorischen Schwierigkeiten zunähme, stieg der Wert bei der Befragung im Jahr 2009 auf 72 Prozent an. Besonders betroffen schienen Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund zu sein, insbesondere Mädchen, sowie Kinder aus sozial schwächeren Familien, überbehütete, übergewichtige Kinder und Kinder mit Bewegungsmangel. Auffällig auch: Die motorischen Schwächen sind bei Kindern in Großstädten und Städten stärker ausgebildet als bei Kindern auf dem Land. Heute, gut zwölf Jahre nach dieser Befragung, hat sich die Situation nochmals verschärft. Das radspezifische Fertigkeitsniveau der Grundschüler sinkt erkennbar weiter, während die Zahl der Kinder, die sehr schlecht oder gar nicht Fahrrad fahren, steigt.

„Kinder lieben das Radfahren und sind hoch motiviert.“

Angela Baker Price, Lehrerin und Fachberaterin für Mobilitätserziehung in Grundschulen

Große Unterschiede und viel Potenzial an Grundschulen

Das gleiche Bild zeichnen Lehrkräfte an Schulen. Angela Baker Price, Grundschullehrerin und Fachberaterin für Mobilitätserziehung für die Grundschulen der Städteregion Aachen, betont: „Die meisten Kinder fahren weniger und vor allem schlechter Rad als noch vor 15 Jahren.“ Allerdings gäbe es andererseits auch Kinder aus radaffinen Familien, die ihr Fahrrad schon in der Grundschule perfekt beherrschten. Die erfahrene Pädagogin unterrichtet schon seit über 30 Jahren Kinder im Radfahren und stellt fest, dass die Schere zwischen Nichtradfahrern und Radfahrern mehr und mehr auseinandergeht. Während es vor allem in bildungsnahen Schichten recht viele radaffine Familien gibt, sinkt der Anteil bei bildungsfernen Bevölkerungsschichten dagegen drastisch. „Das stellt die Lehrkräfte methodisch vor erhebliche Probleme, denn ich muss absolute Könner im Fahrradtraining mit herausfordernden Übungen beschäftigen und mich gleichzeitig um die Kinder kümmern, die noch nicht fahren können.” Aber Baker-Price sieht auch große Potenziale: „Trotz aller Probleme stelle ich immer wieder fest, Kinder lieben das Radfahren und sind hoch motiviert. Wenn wir diese Chance nicht nutzen, dann sind wir es selber schuld, dass Kinder weniger Rad fahren.“

Best-Practice-Ideen:

Kreis Euskirchen: Der Kreissportbund führt mit Mitteln der Bezirksregierung Fahrradangebote für Kinder und Jugendliche durch. Zusätzlich werden Fortbildungen für Lehrkräfte an Grundschulen angeboten.

Städteregion Aachen: Eine extra geschaffene Stelle für den Radverkehr kümmert sich hier auch intensiv um die Belange junger Radfahrer. So werden Radlernkurse angeboten, Fortbildungen organisiert, Materialien angeschafft und Maßnahmen in Gremien und AGs zur Verbesserung des Radverkehrs durchgeführt.

www.radfahreninderschule.de ist ein Portal für Lehrkräfte an Grund- und Weiterführenden Schulen zum Thema Fahrradunterricht. Hier werden mit Videos erprobte Unterrichtsübungen und Konzepte gezeigt, die einfach nachzumachen sind. Ziel ist, einen möglichst spaßbetonten Fahrradunterricht durchzuführen, der die Sicherheit der Kinder erhöht, indem er ihre Fahrfertigkeiten verbessert. Zudem finden sich hier alle rechtlichen Grundlagen und Termine für Fortbildungen in den Städten und Landkreisen in NRW.

Pumptracks: Der neueste Trend für Kinder und Jugendliche. Auf einer etwa tennisplatzgroßen Fläche versucht man sein Mountainbike ohne zu treten durch Pumpbewegungen mit Armen und Beinen in Schwung zu halten. Einige Kommunen in Deutschland haben schon Pump Tracks eingerichtet und geben radbegeisterten Kids somit eine Anlaufstelle. In Skandinavien ist man schon viel weiter, denn hier finden sich die kostengünstigen Anlagen in sehr vielen Kommunen.

Mehr unter velosolutions.com

Problem: Skepsis bei Lehrern und Eltern

Lehrkräfte äußern in Gesprächen immer wieder große Ängste und Bedenken gegenüber Unterrichtsangeboten, bei denen Fahrrad gefahren wird. Und während an Grundschulen deutschlandweit die Verkehrserziehung und damit das Radfahren verpflichtend auf dem Lehrplan steht, ist es an weiterführenden Schulen sehr schlecht um das schulische Radfahren bestellt. „Wandertage oder Klassenfahrten mit dem Rad sind die absolute Ausnahme“, sagt Prof. Helmut Lötzerich von der Deutschen Sporthochschule in Köln, der sich mit dem Thema im Rahmen einer Schulbefragung befasst hat.
Auch Eltern setzten seltener auf das Fahrrad als Transportmittel. „Das Radfahren mit den Kindern im Stadtverkehr ist uns zu gefährlich“, so Lars Schulz aus Köln, Vater von zwei Grundschulkindern. „Da fahren wir lieber mit dem Auto. Radtouren machen wir am Wochenende und im Urlaub.“ Damit steht er nicht alleine da. Das Verkehrschaos vor Schulen zeigt, dass viele Eltern ihre Kinder am liebsten bis in den Klassenraum fahren würden. Schulleitungen bitten die Eltern jedes Halbjahr schriftlich, auf das Elterntaxi zu verzichten, doch die modernen Helikoptereltern können oder wollen gerade diese Bitte anscheinend nicht erfüllen. Dabei verunglücken überdurchschnittlich viele Kinder in den chaotischen Situationen vor den Schulen. Im Widerspruch dazu steht das oft auch schriftlich formulierte Verbot, Kinder mit dem Rad in die Grundschule zu schicken. Eine gängige Praxis, obwohl den Schulleitungen dazu die gesetzliche Grundlage fehlt, denn der Schulweg ist Sache der Eltern. Die zentrale Frage lautet also: Wo und vor allem mit wem sollen Kinder Rad fahren, wenn sowohl die Eltern als auch die Lehrer vor dem Thema kapitulieren?

Auf „Pumptracks“ bewegt man sich durch Pumpbewegungen mit Armen und Beinen fort. Kostengünstig einzurichten und beliebt bei Klein und Groß.

Mit dem Fahrrad zur Schule: Früher eine Selbstverständlichkeit, heute vielen zu gefährlich.

Bewegungslos mit Smartphone

Mögliche Gründe für die skizzierte Entwicklung finden sich genug, harte Fakten in Form von wissenschaftlichen Studien gibt es jedoch kaum. Ein wesentlicher Treiber für die abnehmenden Radfertigkeiten in den letzten Jahren ist der ausgeprägte und zunehmende Bewegungsmangel von Kindern, der durch die Nutzung von Smart­phones und anderen digitalen Endgeräten noch verstärkt wird. Während vor wenigen Jahren noch Spielekonsolen und Fernseher die Kinder im Haus fesselten, sind das heute die immer verfügbaren Smartphones mit ihren hochattraktiven Inhalten. Kinder, die ein Smartphone bedienen, bewegen sich nicht. Schon im Kleinkindalter haben über 70 Prozent der Kinder Nutzungszeiten von über 30 Minuten pro Tag. Das wurde in einer repräsentativen Studie der Drogenbeauftragten des Bundestags ermittelt.

„Wo und vor allem mit wem sollen Kinder Rad fahren, wenn sowohl die Eltern als auch die Lehrer vor dem Thema kapitulieren?“

Dr. Achim Schmidt, Deutsche Sporthochschule Köln

Elterntaxi erschwert Bewegungskoordination

Der zweite wesentliche Treiber für weniger Radmobilität sind die Eltern bzw. deren Verhalten. Kinder werden zu einem hohen Prozentsatz zur Schule und zu Terminen mit dem Auto gefahren. Selbstgetätigte Wege durch eigene Muskelaktivität gehören im Alltag vieler Kinder zur Ausnahme. Die Gründe hierfür sind die Angst vor Kontrollverlust, Stichwort Helikoptereltern, sowie der zeitlich verdichtete Alltag der Familien. Und Kinder, die sich wenig bewegen, fahren auch weniger und schlechter Fahrrad. Die Transferwirkung von Bewegung auf die Koordination anderer Bewegungsarten ist in der Sportwissenschaft hinlänglich bekannt.

Corona zeigt: Es geht auch anders

Jeder, der mit offenen Augen im Verkehr unterwegs ist, nimmt die während der Schönwetter-Corona-Krise zunehmende Zahl von Kindern und Familien auf Fahrrädern wahr. Gleiches gilt für Rennradfahrer, Inlineskater und Jogger. Oftmals sind Erwachsene mit mehreren Kindern auf Rädern unterwegs, auch aus Bevölkerungsschichten, die man normalerweise nicht auf Rädern sieht. Manche Kinder fahren nunmehr täglich Rad und ihre Eltern unterstützen das.
Das wundert nicht, denn trotz aller Widerstände und hemmender Faktoren ist Radfahren bei Kindern und Jugendlichen außerordentlich beliebt. Bei 4- bis 17-jährigen Mädchen steht Radfahren an erster Stelle der Sportarten. Bei Jungen wird es ab dem Alter von elf Jahren von Fußball von Platz eins verdrängt. Dazu kommt: Kinder motivieren Eltern. Jeder, der Kinder hat, weiß, dass Kinder oftmals der Motor für neue Familienaktivitäten oder Verhaltensänderungen sind. So ist es auch beim Radfahren.

Nachahmenswert: Überall auf der Welt, wie hier in Seattle, USA, bilden Eltern begleitete Fahrradgruppen (Bike Bus/Bike Train) für den Schulweg.

Aktive Förderung gefragt

Es bleibt zu hoffen, dass einiges von dieser Aufbruchsstimmung in den Familien erhalten bleibt und künftig zunehmend mehr Menschen und vor allem Kinder und Jugendliche mit dem Rad im Alltag unterwegs sein werden. Aber auch Kommunen können viel tun, um aktiv steuernd einzugreifen. Die Liste der Fördermöglichkeiten für den Radverkehr von morgen ist lang. Jede Kommune muss für sich entscheiden, welche Maßnahmen Aussicht auf Erfolg haben und was realisierbar ist. Am Geld scheint es oftmals nicht zu mangeln, denn die Töpfe für Verkehrs- und Mobilitätserziehung und damit für das Radfahren von Kindern und Jugendlichen sind gut gefüllt. Wichtig ist, dass sich jemand engagiert kümmert. Denn die Verortung dieses Themas innerhalb der kommunalen Verwaltung ist sehr unterschiedlich. Sie reicht von Radverkehrsbeauftragten, Umwelt- oder Mobilitätsmanagern bis hin zu Verkehrsplanern.

Für mehr Fahrradmobilität von Kindern und Jugendlichen

  • kindgerechte Radinfrastruktur ausbauen
  • Umgestaltung von Kreuzungen zur Erhöhung der Sicherheit von „kleinen“ Radfahrenden
  • Arbeitskreis Schule ins Leben rufen (Grundschule, Sek I, Sek II)
  • Netzwerk Kinder- und Jugendmobilität aufbauen
  • Fortbildungen für Lehrkräfte an Schulen zum Thema Fahrrad
  • Fortbildungen für Erzieher*innen an Kitas
  • Erhebungen zur Radnutzung bei Kindern und Jugendlichen (ggf. als Projektarbeiten an weiterführenden Schulen)
  • Pro-Fahrrad-Kampagnen in Kommunen
  • gezielte Kinder- oder Familienangebote schaffen
  • „Bike Bus“-/„Bike Train“-Projekte fördern

Dr. Achim Schmidt

ist Sportwissenschaftler am Institut für Outdoor Sport und Umweltforschung der Deutschen Sporthochschule Köln und Fahrradexperte. Er befasst sich seit vielen Jahren unter anderem mit der Fahrradsozialisation von Kindern und Möglichkeiten zur Förderung von Bewegung und aktiver Mobilität.


Bilder: Dr. Achim Schmidt, www.pd-f.de / Luka Gorjup, Clint Loper, Klima-Bündnis – Laura Nickel

Vor dem Hintergrund absehbarer ökonomischer Verwerfungen sagen Marktexperten einen neuen Boom der Sharing-Economy und Pay-per-use-Angebote voraus. Wir werfen einen Blick auf eta­blierte Lösungen der Fahrradbranche für Unternehmen, Tourismus, Kommunen und Privatkunden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise werden zunehmend sichtbar und spürbar. Aber auch in Bezug auf die Geschäftsfelder, Prozesse und Arbeitsabläufe sprechen Experten inzwischen von seismischen Erschütterungen. Mögliche Auswirkungen auf die Arbeitswelt beschreibt zum Beispiel der Personalberater Heiner Thorborg im Manager Magazin. Seiner Einschätzung nach sind Verschiebungen hin zum Homeoffice und damit verbunden eine Neuausrichtung des Facility- und Mobilitätsmanagements beispielsweise in vollem Gange. Geschäftsreisen würden weniger, Firmenwagen künftig abgeschafft oder durch deutlich kleinere Flotten mit umweltfreundlicheren und kostengünstigeren Alternativen ersetzt. Auch in anderen Bereichen, wie dem Tourismus sind Umbrüche absehbar: So könnten hier flexibel buchbare Fahrrad- und E-Bike-Angebote statt kostenintensiver und aktuell nur schwer nutzbarer Einrichtungen, wie Wellness-
Oasen, zur neuen Zukunfts- und Überlebensstrategie gehören. Auch die Kommunen stehen vor vielfältigen Herausforderungen und müssen die Frage beantworten, wie Mobilität in den Städten und auf dem Land künftig für Einwohner und Mitarbeiter flexibel gewährleistet werden kann.

Neu gedacht: kostengünstig und gesund

Ein Neudenken von Mobilität macht allein wohl mehr Sinn, als uns eigentlich bewusst ist. Das zeigen der Markterfolg der E-Bikes, von denen 2019 fast 1,4 Millionen verkauft wurden und die große Zahl der Abschlüsse beim Fahrrad- und E-Bike-Leasing. Erfahrungen von Unternehmen, Verwaltungen und Mitarbeitern zeigen immer wieder, dass Management und Mitarbeiter gleichermaßen positiv überrascht und zufrieden sind, wenn statt Autos Fahrräder und E-Bikes zum Einsatz kommen. Unternehmen aus der Fahrradbranche wundert das nicht. Sie betonen immer wieder die positiven Effekte, bis hin zum „eingebauten Lächeln“ bei E-Bike-Fahrern. Dank neuer Technologien bieten sie eine breite Palette an Produkten für praktisch jeden Bedarf – auch im B2B-Markt. Ausgereift und vielfach erprobt sind inzwischen Full-Service-Angebote und vernetzte Lösungen mit Buchungssystemen via Smartphone-App, mit der sich einzelne Räder buchen und komplette Flotten verwalten lassen. Sowohl bei den Produkten als auch bei den Vernetzungslösungen gehören Unternehmen aus Deutschland und Europa zu den Markt- und Innovationsführern.

Nextbike – Spezialist für Public Bikesharing

Seit über 14 Jahren aktiv und europäischer Marktführer im Bikesharing ist das Unternehmen Nextbike mit Hauptsitz in Leipzig. Nextbike versteht sich als Ergänzung zu Bus und Bahn und ist aktuell in über 200 europäischen Städten mit seinen markanten Fahrrädern und E-Bikes aktiv. 2019 wurde Nextbike von der Stiftung Warentest als Testsieger im deutschen Bikesharing-Markt ausgezeichnet. Warum das Unternehmen unter Nutzern nicht bekannter ist, liegt vor allem daran, dass die Räder in vielen Städten quasi unter fremder Flagge fahren – oft unter der lokaler Verkehrsbetriebe, aber auch von Städten oder externer Sponsoren, wie Deezer in Berlin. Interessant ist auch das starke Interesse von auf den ersten Blick nicht besonders fahrradaffinen Ländern wie Polen. Gerade hier tut sich offenkundig in Bezug auf nachhaltige Mobilität eine ganze Menge.

„Allgemein erhoffen wir uns ein nachhaltiges Umdenken, dass die viel besprochene Mobilitätswende mit mehr Nachdruck umgesetzt wird.“

Niclas Schubert, Movelo

Movelo – Corporate E-Bike-Sharing

Seit 2005 ist das Unternehmen Movelo als Spezialist für E-Bike-Sharing bekannt. Vom Anbieter von Flyer-E-Bikes in Tourismusdestinationen hat sich das Unternehmen inzwischen aber deutlich weiterentwickelt und neu positioniert. Schwerpunkt ist ein „Plug & Play-System“ für das Corporate E-Bike-Sharing, bestehend aus E-Bikes und E-Cargobikes, Docking-Stationen und Flottenmanagement-Software, mit dem Unternehmen ihren Mitarbeitern eine Alternative zum Auto bieten können. Spezifische Zielgruppen sind, neben Unternehmen, vor allem Pflegedienste, Tourismusdestinationen und der Immobiliensektor. Businesskunden wird eine flexible monatliche Gebühr berechnet. Da das Produkt modular aufgebaut ist, ist es einfach, die Flotte zu erweitern oder zu verkleinern, wenn die Nachfrage nach E-Bikes unter den Mitarbeitern variiert. Heute sind nach Unternehmensangaben 5000 Movelo E-Bikes im Umlauf und über 1000 Lade- und Mietstationen aktiv. Zur aktuellen Corona-Situation befragt, sagt Geschäftsführer Niclas Schubert: „Allgemein erhoffen wir uns ein nachhaltiges Umdenken, dass die viel besprochene Mobilitätswende mit mehr Nachdruck umgesetzt wird. Solange die Abstandsregelung gilt, ist das E-Bike für viele das optimale Verkehrsmittel für den Weg in die Arbeit. Wir haben rasch auf die Situation reagiert und bieten Unternehmen Kurzzeitmieten an.“ Ein spezielles Angebot gibt es aktuell zudem für Lieferdienste.

ZEG Eurorad: Travelbike und Sharea

Mit Dienstleistungen und speziellen Angeboten ist die Firma Eurorad, eine Tochter des ZEG-Verbunds von 960 unabhängigen Fahrrad-Fachhändlern, seit einigen Jahren im Tourismus- und B2B-Bereich aktiv. Unter der Marke Travelbike gibt es ein Full-Service-Angebot für Tourismusdestinationen in vielen verschiedenen Regionen in Deutschland und Österreich. Zusammen mit lokalen ZEG-Partnern bietet Travelbike maßgeschneiderte Angebote für den E-Bike-Verleih, vom coolen Strandrad bis hin zum E-Mountainbike.
Ein ähnliches Konzept wie Movelo bietet Eurorad mit Sharea als neuem Anbieter für Zweirad-E-Mobilität. Kunden können E-Bikes, E-Lastenräder oder E-Kickscooter für spezifische Zeiträume mit einem digitalen Verleihsystem mieten. Dazu gibt es spezielle Hubs, eine Vielzahl möglicher Fahrzeuge und ebenfalls Full-Service-Pakete in Zusammenarbeit mit ZEG-Händlern vor Ort. Für Kommunen und Investoren interessant: Nach einer Eurorad-Präsentation lassen sich zum Beispiel für ein Münchner Wohnquartier mit 50 Einheiten und 3300 qm Wohnfläche durch die Einrichtung eines Radverleihsystems und der gleichzeitigen Reduzierung von Parkflächen von 1 auf 0,3 Stellplätze pro Wohneinheit Kosteneinsparungen von rund 650.000 Euro realisieren.

Starkes Wachstum für Abo-Angebote: Allein in Deutschland hat Swapfiets 35.000 Kunden und über 500 Mitarbeiter.

Swapfiets – alles im Abo und aus einer Hand

Seit dem Start im Jahr 2014 ist der niederländische Fahrrad-Abo-Anbieter Swapfiets, erkennbar an den blauen Vorderreifen, jedes Jahr um mindestens 500 Prozent gewachsen, heißt es in einer Pressemitteilung. Swapfiets ist in Dutzenden von Städten und neben den Niederlanden inzwischen auch in Belgien, Deutschland und Dänemark aktiv. Für Deutschland gibt Swapfiets 35.000 Kunden und über 500 Mitarbeiter an. Mit den Rädern werden bislang vor allem junge urbane Kunden angesprochen. Kurzfristig kündbare Abos ab 15 Euro pro Monat bedeuten für sie keine große Investition und vor allem keinen Stress mit Reparaturen und Diebstahl. Geplant ist neben der internationalen Expansion auch die Ausweitung des Geschäfts auf E-Bikes und E-Tretroller und der Einstieg in das Geschäftsfeld der Business-Räder mit neuen Modellen.

Bond: Spezialist für schnelle Sharing-E-Bikes

Der etablierte Schweizer Sharing-Anbieter von schnellen S-Pedelecs hat Anfang des Jahres seine internationalen Expansionspläne bekannt gegeben und dazu auch gleich seinen Namen von Smide zu Bond (Bike on Demand) gewechselt. Neue Standorte seien dazu in europäischen Städten und den USA geplant. Aktuell gebe es durch Corona Verschiebungen bei der Nutzung, erläutert Dr. Raoul Stöckle, CEO & Mitgründer von Bond: „Wir sehen zum Beispiel einen deutlichen Rückgang an den ‚normalen‘ Fahrten, dafür aber auch eine Steigerung bei den Tages- und Langzeitmieten. Es zeigt sich klar, dass Bond als Ersatz für das Auto und den öffentlichen Verkehr genutzt wird.“ Trotz oder gerade wegen der Corona-Krise blickt Raoul Stöckle für sein Unternehmen positiv in die Zukunft: „Mittel- und langfristig dürfte Covid dem ganzen (E-)Bike – egal ob Sharing oder Besitz – einen großen Schub verleihen.“ Dies habe man insbesondere in China gesehen. Nachdem die Restriktionen teilweise aufgehoben wurden, sei die Bike-Sharing-Nutzung innerhalb einer Woche um 80 Prozent gegenüber der Vor-Covid-Zeit gestiegen. Von den Kosten her unterscheide sich die Nutzung der schnellen E-Bikes kaum vom ÖPNV. Abgerechnet wird nach Kilometern, dazu gibt es Abos für Viel- und Gelegenheitsfahrer und Boni für das Abstellen in bestimmten Zonen oder an den Ladepunkten. Nach den Machern von Bond spricht Vieles für die schnellen E-Bikes. „Wichtig ist unserer Erfahrung nach bei den Nutzern nicht nur das Argument, gut und sicher anzukommen, sondern auch das Gefühl, etwas Gutes für sich zu tun und dabei Spaß zu haben.“ Das spezielle Gefühl, das viele Kunden anziehe, sei „wie Gehen auf einer Rolltreppe.“

Gesunde Mobilität zum günstigen Preis. Die Mietkosten für ein schnelles E-Bike 45 unterscheiden sich laut Bond kaum von einem ÖPNV-Ticket.

Neue Mobilität fördern, nicht ausbremsen

Über die Hindernisse für die Nutzung von schnellen S-Pedelecs haben wir in der letzten VELOPLAN-Ausgabe bereits ausführlich berichtet. Für die Zukunft wünscht sich auch Raoul Stöckle von Bond eine größere Offenheit der Gesetzgeber. Noch wichtiger sei aber eine faire Behandlung solcher Angebote durch die Städte und Kommunen. „Die Kunden wollen es, für die Vermeidung von Autoverkehr und Emissionen ist es wichtig, aber in der Praxis werden wir durch lokale Regularien vielerorts ausgebremst.“ Zusätzlich zu den europaweit sehr unterschiedlichen und in Deutschland restriktiven Regeln im Straßenverkehr beträfe dies vor allem die Zulassung in Kommunen, verbunden mit der Verpflichtung, Gebühren für die Nutzung des Straßenraums zu zahlen. „Neben den Ausschreibungen für Radverleihsysteme sollte immer auch noch Platz sein für weitere Anbieter.“ Im Sinne dringend nötiger Innovation sei es wichtig, für Angebote im Bereich nachhaltige Mobilität abseits des Pkws keine Markthindernisse, zum Beispiel durch indirekte Subventionen bestehender Lösungen und Anbieter aufzubauen, sondern neue Angebote aktiv zu fördern oder zumindest nicht auszubremsen. „Das wünschen wir uns für die Zukunft.“


Bilder: Nextbike, Movelo, Swapfiets, Bond

Abbiegefehler von Kraftfahrenden sind die häufigste Ursache von Unfällen. Rechtsabbiegende Lkw sind dabei die Hauptverursacher von Radunfällen mit Todesfolge. Jedes Jahr sterben laut ADFC allein 30 bis 40 Radfahrende unter den Rädern von abbiegenden Lkw. Als Opfer überdurchschnittlich häufig betroffen seien Frauen, Kinder und Senior*innen auf dem Rad. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Beispielhafte Verkehrsführung „Protected Intersection“ in Vancouver, Kanada

Mit der Zunahme des städtischen Lkw- und Radverkehrs werden die Zahlen nach Einschätzung des Fahrradclubs ADFC und des Bundesverbands Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) e. V. künftig weiter steigen.
Die Verbände haben deshalb im Februar 2020 mit einem gemeinsamen Positionspapier dringend an die Kommunalpolitik und die Transportbranche appelliert, mehr Sicherheit für Radfahrende zu schaffen. Gefordert wird ein Bündel von Maßnahmen:
• Kreuzungen sicher umbauen – Verkehrsströme räumlich trennen!
Um schwere Unfälle an Kreuzungen zu verhindern, müssen Lkw und Rad- sowie Fußverkehr räumlich getrennt und gute Sichtbeziehungen hergestellt werden. Die Bundesmittel für den Radverkehr aus dem Klimapaket sollen zur schnellen Entschärfung von Kreuzungen durch Sicherheitselemente, wie aufgepflasterte Schutzinseln und deutlich vorgezogene Haltelinien, genutzt werden.
• Grünphasen trennen – Ampelschaltungen entschärfen!
Geradeausfahrender Radverkehr und rechts abbiegende Kfz sollten nicht gleichzeitig Grün haben. Die Lösung sind getrennte Ampelphasen für die unterschiedlichen Verkehrsströme. Kürzere Grünphasen für den Kfz-Verkehr sind zugunsten der Verkehrssicherheit und der Gleichberechtigung der Verkehrsarten in Kauf zu nehmen.
• Lkw-Abbiegeassistenten – zum Standard machen!
Der verpflichtende Einbau von Lkw-Abbiegeassistenten muss schnellstmöglich umgesetzt werden. Bis die europaweite Pflicht greift, müssen Kommunen ihre Fuhrparks freiwillig mit Abbiegeassistenten aus- beziehungsweise nachrüsten. Auch an Transportunternehmen geht der Appell, Lkw-Flotten mit Abbiegeassistenten nachzurüsten und die Fördermittel des Bundes aus der „Aktion Abbiegeassistent“ zu nutzen. Hersteller müssen schnellstmöglich Abbiegeassistenten mit Notbremsfunktion marktreif entwickeln.
• Sichere Anfahrt zu Baustellen – nur konfliktarme Routen!
Bei großen innerstädtischen Bauvorhaben müssen Kommunen darauf achten, dass die Anfahrtsrouten der Baustellenfahrzeuge möglichst konfliktarm geplant werden. Hauptachsen des Radverkehrs und Baustellenverkehr müssen wo immer möglich voneinander getrennt sein.
• Toten Winkel überwinden – Verkehrsteilnehmende sensibilisieren
Theoretisch gibt es seit der Einführung der vorgeschriebenen Zusatzspiegel an Lkw im Jahr 2007 keinen Toten Winkel mehr. In der Praxis kann der Fahrer / die Fahrerin während eines komplexen Abbiegevorgangs nicht alle Spiegel gleichzeitig im Auge behalten. Toter-Winkel-Kampagnen sind daher genauso irreführend wie die Aussage, der Lkw-Fahrer/die Lkw-Fahrerin könne stets alles überblicken. Alle Verkehrsteilnehmenden müssen für die Gefahr sensibilisiert werden. Vor Fahrtantritt müssen Lkw-Fahrer*innen auf freie Sicht und die richtige Spiegeleinstellung achten.
• Unfallforschung verbessern – Forschungslücke Kreuzungsdesign schließen
ADFC und BGL beklagen eine Forschungslücke zur Bewertung unterschiedlicher Kreuzungs- und Signalisierungsarten. Diese muss geschlossen werden. Auf Basis dieser Forschung müssen neue Design-Standards für sichere Straßen und Kreuzungen entwickelt und schnell in den technischen Regelwerken verankert werden. Schwere Unfälle müssen auch im Hinblick auf die Verbesserung der Infrastruktur systematisch ausgewertet werden.

Auf Bundes- und EU-Ebene setzt sich der ADFC für folgende Maßnahmen ein:

• Elektronische Warnsysteme und Abbiegeassistenten, die den Lkw im Gefahrenfall automatisch stoppen.

• Tief gezogene Windschutz- und Seitenscheiben, die Fußgänger und Radfahrende vor und neben dem Lkw für den Fahrer sichtbarer machen.

BMVI verweist auf EU-Regelungen und nationales Förderprogramm

Die österreichische Hauptstadt Wien hat Lkw über 7,5 Tonnen ohne Abbiegeassistenten ab April dieses Jahres von ihren Straßen verbannt. In Deutschland verweist das Bundesverkehrsministerium auf die europaweite schrittweise Einführung von Abbiegeassistenten, die aber erst 2024 für alle Neufahrzeuge wirksam wird und die Nachrüstung von Bestandsfahrzeugen nicht miteinschließt. Stattdessen setzt das BMVI seit 2018 auf nationale Geldanreize und eine freiwillige Selbstverpflichtung. Die Förderung des BMVI betrifft „Nutzfahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 3,5 Tonnen und Kraftomnibusse mit mehr als neun Sitzplätzen einschließlich Fahrersitzplatz, die im Inland für die Ausübung gewerblicher, freiberuflicher, gemeinnütziger oder öffentlich-rechtlicher Tätigkeit angeschafft und betrieben werden.“ Im Haushalt 2020 stehen laut BMVI erneut rund zehn Millionen Euro für die Umsetzung des Förderprogramms zur Verfügung. Förderrichtlinie, Informationen zur Antragstellung sowie Fragen und Antworten zum Förderprogramm finden Sie auf der Homepage des Bundesamts für Güterverkehr (BAG).


Bilder: ADFC -Jens-Lehmkühler, Madi Carlson/familyride

Rund 3.200 Menschen sterben in Deutschland pro Jahr im Straßenverkehr. Weitere 15.000 werden lebensgefährlich verletzt. Viele leiden ihr Leben lang schwer an den Folgen. Unsere Autorin Andrea Reidl hat die Aufgabe übernommen, Opfern ein Gesicht zu geben. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


In der öffentlichen Wahrnehmung kommen die Schwerstverletzten kaum vor. Die wenigsten kehren jemals wieder in ihren Beruf zurück. Beate Flanz ist eine von ihnen. Sie fühlt sich von der Gesellschaft vergessen.
Beate Flanz hatte keine Chance. Sie hätte nichts tun können, um den hüfthohen Reifen des Sattelschleppers an der Kreuzung auszuweichen. Die erfahrene Radfahrerin hatte das gewusst, seit sie aus dem Koma erwacht war. Trotzdem war sie erleichtert, als drei Gutachten vor Gericht ihre Annahme bestätigten: Der Fahrer des Lastwagens war schuld an dem Unfall. Er hatte nicht aufgepasst und war an der grünen Ampel in Berlin Wilmersdorf zügig rechts abgebogen. Die Radfahrerin in ihrer leuchtend roten Jacke war da längst auf der Fahrbahn. Er rammte sie mit seiner Fahrerkabine, um sie dann mit 32 Tonnen Kies auf der Ladefläche mitsamt ihrem Fahrrad zu überrollen und zerquetschen. Er bemerkte davon nichts und fuhr weiter – bis Zeugen ihn stoppten.

Hohe Unfallzahlen und hinter jeder steckt ein Schicksal

Verkehrsunfälle sind europaweit ein größeres Problem, als uns bewusst ist. Laut dem wissenschaftlichen Beirat des Bundesverkehrsministeriums sind sie die häufigste Todesursache von EU-Bürgern im Alter zwischen 1 und 45 Jahren. In Deutschland verunglücken etwa 390.000 Menschen jedes Jahr im Straßenverkehr – das sind mehr als in Bochum leben. Rund 3.200 Menschen sterben bei diesen Unfällen, 67.000 werden schwer verletzt und weitere 15.000 in den vergangenen fünf Jahren lebensgefährlich – also schwerstverletzt.
Beate Flanz war 2017 eine von ihnen. Sie gehörte zu den wenigen Fällen, die in der Lokalpresse und in den Abendnachrichten erwähnt werden. Normalerweise sind Unfallopfer nur eine Meldung im Polizeireport und später eine Zahl in der Verkehrsunfallstatistik. Wenn überhaupt. Wer später als 30 Tage nach dem Unfall seinen Verletzungen erliegt, geht nicht in die Zahl der Verkehrstoten ein. Auch die Schwerstverletzten, bei denen von einer echten Genesung kaum die Rede sein kann, verschwinden aus dem Blickfeld der Gesellschaft. Für sie gibt es keine Extrastatistik. Niemand zählt sie. Versehrt bleiben sie trotzdem. Viele, wie Beate Flanz, sind schwerstbehindert bis an ihr Lebensende.
Anfangs hatte die 52-Jährige überlegt, vom Balkon zu springen. Wer sie heute in Berlin mit ihrer leuchtend roten Lockenmähne auf dem Liegerad sieht, ahnt von ihren Selbstmordgedanken nichts. Schein­bar mühelos tritt sie die Pedale ihres E-Liegerads und gleitet über den glatten Asphalt des Radwegs. Aber mühelos ist gar nichts mehr, seit sie im Oktober 2017 überfahren wurde. Die Unfallchirurgen haben zwar von ihrer rechten Körperhälfte gerettet, was sie konnten. Aber der Sattelschlepper hat der sportlichen Frau wenig gelassen. Ihr Bein musste über dem Knie amputiert werden, ihr Arm ist seltsam verformt, taub und unbrauchbar. Ebenso wie ihre rechte Gesichtshälfte. „Ich kann auf der Seite nichts hören und nichts sehen“, sagt sie. Der Gesichtsnerv ist zerstört und sie kann den Mund nicht mehr schließen. Auch nicht beim Essen. Beim Kauen und Trinken fällt die Hälfte wieder heraus oder rinnt an Kinn und Hals herunter. Aber nicht nur körperlich hat der Unfall die lebensfrohe Frau gebrochen. Er hat auch ihr Wesen verändert.
„Vor dem Unfall war für Beate das Glas immer halb voll. Sie war lebenslustig, unheimlich beliebt und kam mit jedem klar“, beschreibt Bettina Schmitt ihre Freundin. Sie war ein Motor, der stets andere antrieb. Für ihren Arbeitgeber leitete sie eine Betriebssportgruppe, sie fuhr mit Freunden und Pferden in Urlaub und kombinierte als ADFC-Tourenleiterin ihre Ausfahrten mit Qigong-Einheiten. „Bewegung und draußen sein waren mein Ein und Alles“, sagt die Wahlberlinerin – mit ihrem Pferd, per Rad oder Kanu und im Winter mit Skiern. Unstimmigkeiten im Freundeskreis spülte sie gerne mit ihrem Lachen fort. Sie war hilfsbereit, eine, die in der Urlaubszeit immer die Katzen der anderen fütterte.

Bewegung und draußen sein waren für die engagierte, lebensfrohe Wahlberlinerin Beate Flanz bis zu ihrem Unfall alles.

Bruch im Leben und alleingelassen von der Gesellschaft

Seit dem Unfall ist sie diejenige, die Hilfe braucht – bei 98 Prozent aller alltäglichen Dinge. Für die dynamische Frau ist die Abhängigkeit eine Tortur. Immer noch will sie, was irgendwie geht, selbst erledigen. Eilt ihr jemand ungefragt zu Hilfe, raunzt sie ihn an. Den Taxifahrer ebenso wie ihre Freunde, ihre Assistenten oder auch ihre Mutter. Das kommt bei ihren Vertrauten nicht gut an. Sie erkennen ihre alte Freundin in der neuen brüsken Beate nicht wieder. Während die Fürsorge ihrer Freunde Beate Flanz schnell zu viel wird, vermisst sie für die vielen neuen Alltagsfragen eine Anlaufstelle. Elf Monate lag sie im Krankenhaus. Als die Sozialarbeiterin ihr mitteilte, sie werde in ein paar Tagen entlassen, und fragte, ob sie jemanden habe, der sich zu Hause um sie kümmere, war die ehemalige Sachbearbeiterin einer Rentenversicherung fassungslos. Sie lebte allein. Sie kam mit einem Bein und einem Arm kaum die Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Wie sollte sie eine Einkaufstasche tragen oder gar den Müll rausbringen? Dafür fehlte eine Hand. Die linke hält den Gehstock. Wie sollte sie ihr neues Leben in den wenigen Tagen regeln? Und viel wichtiger: Was brauchte sie überhaupt alles?

Unfallopfer brauchen bessere Informationen und Hilfe

Diese Fragen und Probleme kennt Rechtsanwalt Eduard Herwartz seit Jahren. Er vertritt Unfallopfer und ihre Angehörigen. Wenn sie zu ihm kommen, haben sie oft bereits jahrelang Hilfe gesucht, haben auf Schadensersatz gewartet oder sind an Versicherungen verzweifelt, die Zahlungen für Therapien und Prothesen ablehnen und hinauszögern. Um den Betroffenen zu zeigen, was ihnen zusteht und an wen sie sich wenden können, hat er mit seinem Verein „Deutsche Interessengemeinschaft für Verkehrsunfallopfer e. V.“ (DIVO) einen Leitfaden geschrieben. Auf 55 Seiten beschreibt er sämtliche Ansprüche vom Betreuungsgeld, das Angehörige bereits für ihre Besuche im Krankenhaus beantragen können, über Finanzhilfen für notwendige Umbauarbeiten in der Wohnung bis hin zur Übernahme von Reise- und Betreuungskosten einer Begleitperson bei Urlaubsreisen. Die DIVO hat die Broschüre bundesweit an die wichtigsten Stellen verschickt. „Aber nur engagierte Krankenhäuser und Sozialarbeiter verteilen sie“, stellt Herwartz ernüchtert fest.
Beate Flanz kennt die Broschüre nicht. „Für die Opfer von Gewalttaten gibt es den ‚Weißen Ring‘“, sagt sie. 50.000 Mitglieder sind bundesweit im Einsatz und vermitteln den Hilfesuchenden Kontakte zu Therapeuten, Anlaufstellen, finanzielle Hilfe, Rechtsbeistand und vielem mehr. Oftmals begleiten sie die Opfer sogar zu Behörden oder unterstützen sie beim Ausfüllen von Dokumenten. Opfer von Verkehrsunfällen sind dagegen weitestgehend auf sich alleine gestellt. Dabei sind sie viele und ihr Bedarf ist entsprechend groß.

Mit Unterstützung kann die dynamische Frau wieder Rad fahren. Bei 98 Prozent aller alltäglichen Dinge ist sie aber auf fremde Hilfe angewiesen.

Prävention – Entscheidung von Politik und Gesellschaft

In Deutschland sinkt die Zahl der Verkehrsopfer seit ein paar Jahren nur noch leicht. In den vergangenen zehn Jahren wurden jährlich etwa 400.000 Verkehrsteilnehmer verletzt. Technische Fortschritte in den Fahrzeugen und eine optimierte Notfallversorgung haben zuvor jahrzehntelang die Unfallzahlen reduziert. Von 1970 bis 2008 sank die Zahl der Getöteten um rund 80 Prozent und die der Schwerverletzten zwischen 1996 und 2008 um 46 Prozent. Aber seit rund zehn Jahren stagnieren die Werte und sind bei ungeschützten Verkehrsteilnehmern in letzter Zeit sogar wieder gestiegen. Fast scheint es so, dass Deutschland eine gewisse Zahl in Kauf nimmt, um die individuelle Mobilität in ihrer gewohnten Weise zu erhalten.
In Deutschland wird Vision Zero, also keine Verkehrstoten und keine Schwerverletzten, vielfach als Ziel ausgegeben. Allerdings ist die Umsetzung in Ländern wie Schweden, der Schweiz oder den Niederlanden bereits seit Ende der 1990er Jahre deutlich konsequenter. Schwedens Strategie ist: Wenn es irgendwo kracht, dann muss der Verkehrsplaner dafür sorgen, dass dies nie wieder passieren kann. Um Konflikte von vornherein zu vermeiden, werden der Rad- und Autoverkehr dort strikt voneinander getrennt und Kreuzungen durch Kreisel ersetzt.

„Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann.“

Richard von Weizsäcker, Zitat aus dem „Leitfaden für Unfallopfer & Angehörige“ des DIVO e. V.

Geschwindigkeit: Schlüssel zur Unfallvermeidung

Inzwischen ziehen immer mehr Städte und Länder nach. Die finnische Hauptstadt Helsinki hat für 2019 zum ersten Mal seit Beginn vergleichbarer Aufzeichnungen gemeldet, dass keine Fußgänger oder Fahrradfahrer im Straßenverkehr ums Leben gekommen sind. Einer der Schlüsselfaktoren für den Erfolg war laut der Vize-Bürgermeisterin Anni Sinnemäki die Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit im Ballungsgebiet. In den meisten Wohngebieten und im Zentrum der 630.000-Einwohnerstadt gilt heute Tempo 30, auf den Hauptverkehrsadern Tempo 40. Eine Langzeitstudie aus London bestätigt dies. Die Einführung von 20-mph-Zonen (32 km/h) reduzierte von 1986 bis 2006 die Verkehrsopfer in der englischen Hauptstadt um rund 42 Prozent. Seitdem werden 200 Menschen weniger pro Jahr verletzt.
„Die Zeit ist reif für Tempo 30 in den Innenstädten, auch in Deutschland“, sagt Bernhard Schlag. Er ist Verkehrspsychologe, Seniorprofessor an der Universität Dresden und war bis 2017 Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bundesverkehrsministeriums. Allerdings reiche ein Tempolimit allein oftmals nicht aus. „Breite mehrspurige, gerade verlaufende Straßen mit glattem Asphalt suggerieren den Fahrern ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit“, erklärt er. Die moderne Fahrzeugtechnik verstärke dieses Gefühl noch. Während man in den 1970er Jahren in „Ente“ und „Käfer“ die Geschwindigkeit hören und spüren konnte, dämpften die heutigen Fahrzeuge diese Eindrücke. Wer die Geschwindigkeit tatsächlich senken wolle, sollte die Straße umgestalten und den Platz zugunsten von Radfahrern und Fußgängern neu verteilen. Schlag fordert ein generelles Umdenken in der Verkehrsplanung. „Menschen machen Fehler“, sagt er, „deshalb muss die Verkehrswelt so gestaltet werden, dass sie Fehler verzeiht.“ Bei Tempo 30 könnten Fehler noch korrigiert werden – von den Verursachern ebenso wie von potenziell Betroffenen. Außerdem müssten Tempolimits kontrolliert und konsequent bestraft werden. Die aktuellen Bußgelder gehen dem Experten nicht weit genug. „Geldstrafen tun nicht richtig weh“, sagt er. Er setzt sich dafür ein, dass bei Geschwindigkeitsüberschreitungen viel früher Fahrverbote und ein Verlust des Führerscheins drohen. „Fahrverbote sind für Autofahrer, die viel und gerne fahren, deutlich wirkungsvoller.“

Neue Regeln und neue Technologien könnten helfen

Seit der Änderung der Straßenverkehrsordnung im Frühjahr 2020 dürfen Lkw über 3,5 Tonnen beim Rechtsabbiegen innerorts nur noch Schrittgeschwindigkeit fahren, das heißt 7 bis 11 km/h. Ob diese Regelung Beate Flanz’ Unfall verhindert hätte? „Der Fahrer war zu schnell und mit seiner Aufmerksamkeit ganz woanders“, sagt sie. Die Gerichtsgutachten hätten das eindeutig bestätigt. Hinzu kommt, dass der Sattelschlepper ohne Abbiegeassistenzsystem unterwegs war. Das System hätte den Fahrer warnen und den Wagen stoppen können. Die EU will ab 2022 nur noch Lastwagen und Busse mit diesen Systemen zulassen. Zwei Jahre später soll die neue Technologie dann zur Pflicht werden – allerdings nur für Neufahrzeuge. Für Radfahrer sind das schlechte Neuigkeiten. Experten schätzen, dass zwischen 30 und 40 von ihnen pro Jahr von Lastwagenfahrern beim Rechtsabbiegen übersehen werden. Die meisten dieser Unfälle enden tödlich.

Makaber: Unfallkosten steigern das Bruttosozialprodukt

Die volkswirtschaftlichen Kosten für Verkehrsunfälle betragen laut der Bundesanstalt für Straßenwesen zwischen 34 bis 35 Milliarden Euro im Jahr, wobei der Anteil an Sachschäden höher liegt als die bezifferten Kosten für die getöteten und verletzten Menschen. Makaber ist dabei, dass die volkswirtschaftlichen Kosten für das Bruttosozialprodukt als Plus gezählt werden, da Unfallkrankenhäuser, Rehakliniken, Werkstätten und Therapeuten ihre Leistungen als Umsatz abrechnen.

Wie viel ist uns ein Menschenleben wert?

Studien aus der Unfallforschung zeigen, dass Abbiegeassistenten über die Hälfte der tödlichen Abbiegeunfälle verhindern könnten. Aber den Speditionen ist der Preis von 2000 bis 3000 Euro oftmals zu hoch. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Preis einer Zugmaschine beträgt rund 100.000 Euro. Beate Flanz ist bestürzt, wie wenig den Entscheidern ein Menschenleben wert ist. Außerdem wundert sie sich, dass Versicherungen keinen Druck machen. Schließlich habe allein ihre Behandlung im Krankenhaus rund 300.000 Euro gekostet.

Sind wir zu sehr an Unfälle und Gefahren gewöhnt?

Die Spedition und der Lastwagenfahrer, der Beate Flanz mit seinem Sattelschlepper überrollte, haben sich nie bei der 52-Jährigen gemeldet. Bis heute wartet sie auf eine Entschuldigung. Während die Folgen des Unfalls ihr Leben nun rund um die Uhr bestimmen, kam der Lastwagenfahrer aus ihrer Sicht glimpflich davon. Er wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt, die zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurden. „Das Verkehrsrecht ist ein sehr mildes Recht“, erklärt Wilfried Echterhoff, Professor der Psychologie und Vorstandsvorsitzender Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland (VOD). Es sei historisch gewachsen und gehe von der Grundannahme aus, dass alle Menschen sich gemeinsam in einem unsicheren Straßenraum bewegen. „Wahrscheinlich entstehen 98 Prozent der Unfälle durch kleine Unachtsamkeiten der Verkehrsteilnehmer. Die Folgen sind oft massiv und für die Verursacher überraschend“, sagt Echterhoff. Die Schuldigen verletzen die Opfer also nicht absichtlich. Für Echterhoff reicht diese Begründung für das geringe Strafmaß allerdings nicht mehr aus. Der VOD setzt sich unter anderem dafür ein, dass die Verhältnismäßigkeit hergestellt wird. „Die Aufmerksamkeit muss auf das Schädigungspotenzial gelegt werden“, fordert Echterhoff. Wenn beispielsweise ein Autofahrer in einem Tempo-30-Bereich mit bis zu 90 km/h fahre, koste ihn das 280 Euro und nur zwei Punkte in Flensburg. Nach dem Schädigungspotenzial habe der Fahrer dann aber bereits alle Voraussetzungen geschaffen, einen Menschen zu töten. Das sollte laut VOD das Strafmaß widerspiegeln.
Eine Reform sei jedoch schwierig. Das läge laut Echterhoff vor allem daran, dass die Gesellschaft sich an den Straßenverkehr gewöhnt und angepasst habe. Obwohl die Menschen dort täglich Situationen ausgesetzt würden, die im Berufsleben verboten seien. „In der betrieblichen Arbeitssicherheit ist es unmöglich, dass einen Meter hinter unserem Arbeitsplatz ein Auto mit 50 km/h vorbeirauscht“, betont Echterhoff. Im Straßenverkehr dagegen sei das gängige Praxis. Es sei für Radfahrer und Fußgänger selbstverständlich auf einer schmalen Verkehrsinsel zu warten, während einen halben Meter vor und hinter ihnen Lastwagen und Autos vorbeifahren. „Wir haben uns an die Gefährdung gewöhnt, weil der Verkehr sich über viele Jahrzehnte langsam entwickelt hat“, sagt er.

150.000

Schwerstverletzte verschwinden aus der Statistik –bleiben aber.
Allein in zehn Jahren summiert sich die Zahl auf 150.000.
So viel wie eine Großstadt.

Ein schwerer Unfall betrifft mehr als hundert Menschen

Allerdings kann diese Gewöhnung auch gestört werden. Beispielsweise durch einen Unfall. Jeder Unfalltod betrifft im Mittel über 100 Menschen, das hat der Deutsche Verkehrssicherheitsrat im Rahmen der Studie „Runter vom Gas“ festgestellt. Betroffen seien Angehörige, Freunde, Bekannte, Unfallzeugen, Einsatzkräfte und Ersthelfer, aber auch die Unfallverursacher selbst. Sie alle könnten seelische Narben davontragen. Für Bettina Schmitt hatte der Unfall ihrer Freundin Beate solche Folgen. Von einem Tag auf den anderen traute sie sich nicht mehr aufs Fahrrad. Dabei war die Berlinerin eine versierte Rennradfahrerin, Triathletin und quasi mit dem Rad verwachsen. 30 bis 40 Kilometer fuhr sie täglich damit durch die Stadt. Zwei bis drei Beinahe-Unfälle pro Tag gehörten dabei zu ihrem Alltag. „Ich habe das immer mit Gehirnjogging abgetan“, sagt sie. Sie sei immer vorausschauend gefahren – ebenso wie Beate Flanz. „Ich konnte mir nie vorstellen, dass mir oder ihr etwas passiert.“

Nur eine Illusion von Sicherheit?

Für Außenstehende ist ihre Reaktion vielleicht schwer nachvollziehbar. Schließlich hat sie den Unfall noch nicht einmal gesehen. Für Professor Echterhoff dagegen ist sie logisch. Er sagt: „Der Unfall hat eine Illusion zerstört. Wir meinen, den Verkehr im Griff zu haben, das Geschehen steuern zu können.“ Wenn diese Illusion zerstört werde, beginne die Angst. Eine berechtigte Grundangst lasse sich auch nicht wegtherapieren. „Sie ist real, sie beschreibt ein Lebensrisiko“, sagt er. Den Betroffenen bleibt dann nur noch eines: Ihr Verkehrs-verhalten zu ändern. Bettina Schmitt hat sich ein Auto gekauft. Aber selbst damit bekommt sie auf stark befahrenen Straßen Angst. Besonders wenn neben ihr Lastwagen auftauchen. „Ich weiß jetzt, dass sie mich zerquetschen können“, sagt sie.

Wie fühlt sich ein Leben als Schwerstverletze(r) an?

Im Gegensatz zu ihrer Freundin hat Beate Flanz keine Angst mehr im Verkehr. Mit ihrem Liegerad ist sie in Berlin und Umgebung unterwegs, wann immer es geht. Sie sagt, wenn sie am Kanal die Kurven entlangfahre, dann denke sie häufig darüber nach, einfach geradeaus zu fahren. „Ich bin am Rad festgebunden, der Akku ist schwer und das Rad auch, damit gehe ich unter wie ein Stein.“ Im Oktober ist der Unfall drei Jahre her. Verändert hat sich seitdem für sie kaum etwas. „Bei mir wird nichts mehr besser“, sagt sie, „das Auge wächst nicht mehr nach, das Bein und der Arm auch nicht.“ Im Gegenteil. „Ich habe jeden Morgen wenn ich aufwache das Gefühl, mich erneut durch die 32 Tonnen Kies kämpfen zu müssen. „Ich beginne jeden Tag bei -100“, sagt sie. „Es muss schon was passieren, damit ich mich besser fühle.“
Dabei helfen auch die vielen Logopädie-, Ergo- und Physiotherapiestunden jede Woche wenig. Sie können den großen körperlichen Verlust nicht ausgleichen, sondern nur den weiteren Verfall aufhalten.
Noch kann Beate Flanz die Kosten für ihre Assistenten und Extratherapien aus der Einmalzahlung ihrer Unfallversicherung und dem Schmerzensgeld bezahlen. „Aber dafür ist das Geld ja eigentlich nicht gedacht“, sagt sie und ihre Stimme kippt. Einmal hat sie seit ihrem Unfall Urlaub gemacht – eine Radreise mit einer Gruppe. Die Kosten für die Begleitperson zahlte sie ebenfalls aus eigener Tasche, weil die Versicherung sich weigerte. „Es ist nicht vorgesehen, dass Menschen diese Unfälle überleben und dann noch so aktiv sind wie Sie“, hatte ihr ihre Ärztin vor einiger Zeit gesagt. Die Medizinerin weiß, wovon sie spricht. Schwerstverletzte Unfallopfer sind selten aktiv. Sie bleiben zu Hause. Sie werden von ihren Angehörigen gepflegt oder in Heimen und fallen nicht auf. Kaum jemand der vielen Schwerstverletzen kehrt wieder in seinen Job zurück. Und die wenigen, die es doch versuchen, geben laut Echterhoff irgendwann erschöpft auf.

Informationen und Hilfe für Verkehrsopfer

  • Deutsche Interessengemeinschaft für Verkehrsopfer (divo.de) Mit Leitfaden für Unfallopfer & Angehörige: Unfall – Schwerverletzt – Hilfe.
  • Subvenio e. V. (subvenio-ev.de)
  • Institut für Psychologische Unfallnachsorge (unfallnachsorge.de)
  • Verkehrsopferhilfe e. V. (verkehrsopferhilfe.de)
  • Notfallseelsorge (notfallseelsorge.de)
  • Traumahilfe (traumahilfe-ev.de)

Bilder: stock.adobe.com – AA+W, Beate Flanz (privat)

Das S-Pedelec (E-Bike 45) fristet ein Schattendasein in der deutschen Verkehrslandschaft. Schade. Denn das schnelle E-Bike könnte mithelfen, unsere Verkehrsprobleme zu lösen. Hier die Hintergründe, Praxiserfahrungen und Optionen für die Zukunft. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Das S-Pedelec ist ein Fahrzeug, das wir in unserer Verkehrswelt bis heute fast nicht vorfinden. Selten, dass man im Alltag ein solches „Fahrrad mit Mofa-Kennzeichen“ sieht. Dabei könnte man diese schnelle Variante des beliebten Pedelecs gezielt dafür einsetzen, den Individualverkehr autoärmer, geschmeidiger und natürlich umweltfreundlicher zu machen. Denn deutlich besser noch als mit dem mit 25 Stundenkilometern langsameren Bruder lassen sich damit auch Strecken von 5 bis 15 Kilometer ähnlich schnell wie per PKW zurücklegen. Mit leichtem Tritt erreicht man je nach Variante 30 bis 35 Stundenkilometer. 45 km/h sind nur bei einigen Modellen relativ lang zu halten und bei den meisten Rädern nur schwer zu erreichen.
Nebeneffekte: Man bewegt sich, ist draußen und tut etwas für seine Gesundheit. Das S-Pedelec als Autoersatz, dieses Konzept liegt nahe – zumindest für den kurzen bis mittleren Arbeitsweg vieler Menschen. Das Gefährt ist wendig wie ein Fahrrad, mit 25 bis 30 Kilogramm meist nur wenig schwerer als ein E-Bike 25 und macht auch noch richtig Spaß. Was also hält die E-Bike-verrückten Deutschen also davon ab, damit zur Arbeit zu fahren?

Radverkehrsförderung, die ausgrenzt: Die Weiterfahrt ist hier leider auch für S-Pedelecs verboten – für 20 Meter.

Erfahrungsbericht:

Durch die City ist es stressig

Sebastian Graf pendelt seit einem guten Jahr fast täglich mit seinem S-Pedelec von Gau-Algesheim nach Rüsselsheim – gute 38 Kilometer. Etwa 1¼ Stunden braucht er dafür. Der Opelianer fährt dabei etwa sechs Kilometer durch Mainz. Für ihn der anstrengendste Teil. „Auf der mehrspurigen Straße schneiden dich Autofahrer oft, versuchen dich wegzuhupen“, sagt er. Aber es wird allmählich besser: „Dadurch, dass ich jeden Tag fast zur selben Zeit an derselben Stelle bin, tritt bei den Autofahrern ein Gewöhnungseffekt ein.“ Die Pendler „kennen“ das Rad mit Nummernschild allmählich. Ein weiteres Problem: Seine Geschwindigkeit werde oft unterschätzt. Von Autos überholt zu werden, die direkt danach abbiegen und ihn zum harten Bremsen zwingen, sei Alltag. Außerhalb der Stadt dagegen kann Graf die Fahrt genießen. Allerdings nutzt er immer dieselbe, ausgetüftelte Route, und die führt ihn über viele kleine Seitenstraßen und am Rhein entlang. „Anders ginge es gar nicht“, so der 44-jährige. Heißt verallgemeinert: Wo kleine Straßen vorhanden sind, die man auch mit dem S-Pedelec benutzen darf, läuft es flott und angenehm.

„Mitschwimmen“ nicht auf gängigen Stadtstraßen

Wir haben S-Pedelec-Fahrer und -Fahrerinnen nach ihren Erfahrungen gefragt. Zunächst scheint ganz wichtig: Man unterschätzt den Unterschied zwischen der Geschwindigkeit des Rads und den innerstädtischen 50 km/h. Denn die mit Tretunterstützung bis 45 km/h zugelassenen Räder werden nur selten wirklich so schnell bewegt. Der Pkw-Verkehr in 50er-Zonen bewegt sich aber meist um 55 Stundenkilometer oder mehr. Von einem „Mitschwimmen“ der schnellen Pedelecs kann man also nur in Tempo-30-Zonen sprechen. In der Innenstadt sind die Erfahrungen der von uns Befragten ähnlich. Nach dem Motto Probieren geht über Studieren hat auch der Chefredakteur dieses Magazins Reiner Kolberg in seiner Wahlheimat Köln einige gesammelt und stellt generell fest: „Schnelle E-Bikes sind eigentlich eine tolle Sache. Man kommt flott voran, passt die Geschwindigkeit aber auch entspannt an die Verkehrssituation an – ganz anders als beim Radfahren, denn zum Beschleunigen nach dem Abbremsen braucht man nur wenig Kraft. Wenn man sicher und gleichzeitig gesetzeskonform unterwegs sein will, steht man in der Praxis allerdings schnell vor unerwarteten und legal unlösbaren Problemen.“

Gefährlich und nicht zu Ende gedacht: Der Gesetzgeber zwingt S-Pedelecs in Deutschland auf ungeeignete Straßen, zu langen Umwegen oder illegalem Handeln.

Vom Gesetzgeber ausgebremst

Liegen auf der Fahrradroute etwa gegen die Fahrtrichtung freigegebene Einbahnstraßen, muss der S-Pedelec-Fahrer umdenken und neu planen. Denn gegen die Richtung fahren, selbst wenn es wie im Bildbeispiel nur 20 Meter sind, geht nur mit dem Fahrrad oder Pedelec. Mehrspurige Straßen in der City können zumindest gefühlt sehr gefährlich sein, wenn Autofahrer dort mit höherem Tempo unterwegs sind. Bei Stau steht auch das S-Pedelec – anders als das normale Fahrrad oder Pedelec, das gemütlich auf dem Radweg vorbeifahren kann. Der Geschwindigkeitsvorteil relativiert sich so schnell. Ein legal tatsächlich unlösbareres Problem: Viele Brücken sind gesetzeskonform mit dem S-Pedelec gar nicht passierbar. Denn vielfach sind die Fahrbahnen nur für Fahrzeuge ab 60 Stundenkilometer freigegeben oder sie können aufgrund des großen Geschwindigkeitsunterschieds nicht gefahrlos genutzt werden. Das Ausweichen auf den Radweg böte sich an, ist aber laut StVO verboten. Gleiches gilt für „Kompromisslösungen“ neben stark befahrenen, mehrspurigen Straßen, wo der danebenliegende Fußweg mit „Radfahrer frei“ gekennzeichnet ist. Bekanntes Beispiel: das Rheinufer an der Kölner Altstadt. Während Radfahrer und E-Biker hier bei Begegnungen mit Schrittgeschwindigkeit fahren müssen, hat ein S-Pedelec hier nichts zu suchen. Doch der schnellste Umweg über die Stadt dürfte zwei- bis dreimal so viel Zeit in Anspruch nehmen. Hochgefährlich und aus praktischer Sicht wenig nachvollziehbar ist die aktuelle Gesetzeslage auch in Bezug auf Bundesstraßen, auf die die „schnellen“, aber im Vergleich zu anderen Verkehrsteilnehmern viel langsameren S-Pedelec-Fahrer gezwungen werden. Selbst wenn gleich nebenher ein Radweg oder sogar ein gut ausgebauter Radschnellweg vorhanden sein sollte. Von Selbstversuchen kann man hier nur abraten.

5000

Verkaufte S-Pedelecs pro Jahr
in Deutschland: 5.000 – Schweiz: 18.000

Von Europas S-Pedelec-Paradiesen lernen

Bei unseren südwestlichen Nachbarn ist das S-Pedelec ein wichtiger Bestandteil des täglichen Verkehrs: „In der Schweiz wurden 18.000 S-Pedelecs im Jahr 2018 verkauft“, so der dort beheimatete Journalist Urs Rosenbaum. Das sind etwa 12 Prozent der gesamten 135.000 E-Bikes 2018. Zum Vergleich: In Deutschland betrug die Zahl der verkauften Pedelecs zuletzt insgesamt knapp eine Million. Davon waren laut Zweirad-Industrie-Verband ZIV gerade einmal 0,5 Prozent S-Pedelecs – also etwa 5.000.
„Die Schweizer S-Pedelec-Zahl ist voraussichtlich noch leicht wachsend, die Kurve hat sich aber, nicht zuletzt aufgrund des enormen Erfolgs der E-Mountainbikes, etwas abgeschwächt“, erklärt der Geschäftsführer des Unternehmens Dynamot, das auch den „Marktreport Velohandel Schweiz“ herausgibt. Nach einer Statistik des alle fünf Jahre erscheinenden Mikrozensus von 2015 werden die schnellen Räder in der Schweiz zu 41 Prozent für den Arbeits- oder Ausbildungsweg genutzt. Mehr noch als normale Pedelecs (25 %) und Fahrräder ohne Motor (27 %). In der Schweiz wird das schnelle Rad also vor allem als Pendlerfahrzeug eingesetzt. Einen der Gründe für die Länderunterschiede sieht Urs Rosenbaum in der Infrastruktur, vor allem im Punkt Radwegbenutzungspflicht: „Bei uns muss auch mit dem S-Pedelec auf dem Radweg gefahren werden. Außerorts ist das auf jeden Fall sinnvoll. Darüber, die Verpflichtung für innerörtliche Radwege aufzuheben, wird derzeit wieder diskutiert.“ Wie in Deutschland sind übrigens auch in der Schweiz die Regelungen zur Benutzung des Radweges Bundessache.
Allerdings könnten diese in Zukunft aufgeweicht werden (siehe Interview mit Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer). Das schnelle Velo hat bei den Eidgenossen aber auch eine ganz andere Historie als in Deutschland: „Die ersten E-Bikes waren bei uns S-Pedelecs“, so Rosenbaum, „und es herrscht seit 20 Jahren volle Rechtssicherheit für Nutzer. Technische Vorgaben, Helmpflicht etc. – alles ist klar geregelt.“

Geschwindigkeitsgrenzen in den Niederlanden

Mopeds/Bromfietsen (45 km/h max.) und S-Pedelecs dürfen (und müssen dann auch) in den Niederlanden auf Fahrradwegen mit dem Zusatzschild „Bromfietspad“ fahren. Hier gilt dann eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h innerorts und 40 km/h außerorts. Nur auf der Straße dürfen 45 km/h gefahren werden. Auf Radschnellverbindungen wird die Nutzung von S-Pedelecs nach Einzelentscheidung und Untersuchungen zur Sicherheit auf der Straße zugelassen.

Wo die Möglichkeiten, da floriert der Markt

Auch als Hersteller kann man den Länderunterschied deutlich spüren. „Der Markt in Deutschland ist für S-Pedelecs praktisch nicht vorhanden“, sagt Ruud Sjamaar, der bei Klever Mobility, einem deutsch-taiwanesischen Hersteller und Tochter des Motorroller-Produzenten Kymco für die Benelux-Länder und die DACH-Region zuständig ist. „In der Schweiz und in Belgien ist die Akzeptanz am größten, die Niederlande holen gerade auf. In Belgien sprechen wir von gut fünf Prozent an S-Pedelecs,“ so der Manager der Marke Klever, die sich auf leistungsstarke Pedelecs und S-Pedelecs mit Heckmotor spezialisiert hat. Der vielleicht entscheidende Unterschied in der Infrastruktur: „In diesen beiden Ländern ist es so, dass der S-Pedelec-Fahrer innerstädtisch die Straße, auf dem Land den Radweg nutzt.“ Und: In Belgien werden Pedelecs und seit 2016 auch S-Pedelecs steuerlich gefördert: Wer mit dem E-Bike zur Arbeit kommt, für den gibt es pro Kilometer 23 Cent. In Deutschland, wo das S-Pedelec steuerrechtlich wie ein Auto behandelt wird, gibt es zwar die Möglichkeit, ein schnelles E-Bike zu leasen, das steuerlich dieselbe Vergünstigung bekommt wie der Dienstwagen. Meist bieten die Unternehmen aber nur Dienstwagen- und/oder E-Bike-25-Leasing an.

Meinungen von Verbänden und Experten

Die meisten deutschen Branchenverbände fordern rechtliche Nachbesserungen für die schnelle E-Bike-Klasse. „Das enorme Potenzial des S-Pedelecs wird sich nur entfalten, wenn sie auch auf Radwegen fahren dürfen – zumindest auf solchen, die dafür geeignet sind“, erklärt Dirk Sexauer, einer der Geschäftsführer des Branchenverbands Service und Fahrrad die Haltung des VSF. Ähnlich sieht man das beim Wirtschaftszusammenschluss Zweirad-Industrie-Verband ZIV: „Das Fahren mit S-Pedelecs muss sicherer werden! Außerörtliche Radwege sowie Radschnellwege und Fahrradstraßen sollten für S-Pedelecs freigegeben werden. Zudem wäre eine Geschwindigkeitsbegrenzung für S-Pedelecs ein denkbarer Ansatz, um das Fahren auch innerorts auf geeigneten Radwegen zu ermöglichen“, heißt es dazu in einem Themenpapier des Verbands.
Der ADFC als Vertreter der Fahrradfahrer sieht die Forderung nach Freigabe von Radwegen für S-Pedelecs im Hinblick auf die Sicherheit der langsameren Radfahrer und E-Bike-25-Fahrer sehr skeptisch. Allerdings betont Roland Huhn, ADFC-Referent Recht, in einem Beitrag in der Zeitschrift Radwelt, dass man die Ergebnisse der Tübinger Regeländerungen mit Spannung erwarte.
Die aktuelle Rechtslage absurd findet Tilman Bracher, Verkehrsforscher am Deutschen Institut für Urbanistik, wie er in einem Artikel in der Zeit betonte. „S-Pedelecs werden benutzt wie andere Pedelecs auch“, sagt er. Ihre Fahrer seien nicht schneller unterwegs, als es die Verkehrslage erlaubt. „Warum auch?“ Schließlich führen Porschefahrer in der Innenstadt auch nicht Tempo 200. S-Pedelecs böten Pendlern eine echte Chance, das Auto zu ersetzen. Das Problem sei die fehlende Lobby.
Für Mut zu neuen Lösungen plädiert auch der Bundesverband eMobilität (BEM): Einerseits würde im Hinblick auf den klassischen Autoverkehr eine Sicherheit postuliert, die es gar nicht gäbe, andererseits würden Gefährdungsszenarien in neuen Bereichen ausgemalt, die kaum eine Grundlage hätten. „Was wir brauchen, sind Testfelder für neue Mobilität, damit überhaupt erst einmal Erfahrungswerte gesammelt werden können“, so ein Sprecher des Verbands.

S-Pedelecs – rechtliche Bestimmungen in Deutschland

Anders als das Pedelec mit Unterstützung bis 25 km/h braucht das S-Pedelec, amtliche Typenbezeichnung L1-eB, zweirädriges Kleinkraftrad, eine Betriebserlaubnis und ein Versicherungskennzeichen. Der Motor darf bis zu 4000 Watt Leistung haben, aber nur bis zum Vierfachen der Pedalkraft unterstützen. Benötigt wird mindestens ein Führerschein der Klasse AM („Rollerführerschein“), der beispielsweise im Führerschein Klasse B, PKW, enthalten ist. Inner- wie außerorts ist die Nutzung des Radwegs verboten (auch bei Kennzeichnung „Mofa frei“ oder „E-Bike frei“). Ein Fahrradhelm ist Pflicht. Wie beim Auto gilt eine Mindestprofiltiefe der Reifen von einem Millimeter und entsprechende Promille-Grenzen. Nicht erlaubt ist u. a. das Befahren von in Gegenrichtung freigegebene Einbahnstraßen sowie das Ziehen von Kinderanhängern.

Quelle: FIS/Forschungs-Informationssystem, Herausgeber: BMVI, Stand: 19.10.2019.


„Wenn der Bund nicht will, dann müssen es die Städte eben selbst machen“

Interview mit dem Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, der einen Teil des örtlichen Radnetzes für S-Pedelecs freigegeben hat.

Herr Palmer, Sie konnten im November 2019 einen Teil des Radnetzes von Tübingen für die S-Pedelec-Nutzung freigeben. Wie groß ist der Bereich?
Das sind insgesamt 80 Einzelstrecken. Sie werden jetzt nach und nach für den S-Pedelec-Verkehr geöffnet und zu einem Netz zusammengeschlossen.

Was war das Ziel dabei?
Ich habe vor zehn Jahren selbst festgestellt, dass es bis 15 Kilometer Strecke kein schnelleres und dabei umweltfreundlicheres Fahrzeug gibt. Das sollte doch besser genutzt werden können. Die Ausnutzung der Vorteile wird durch die Infrastruktur unmöglich gemacht. Das fängt schon damit an, dass vom S-Pedelec-Fahrer auf Bundesstraßen geradezu Selbstmördertum erwartet wird. Dann habe ich gesehen, dass die Schweiz einen zehnmal höheren Anteil an S-Pedelecs hat. Das ist ein regulatorisches Problem.

Haben Sie sich an den Bundesverkehrsminister gewandt?
Ich habe mich nacheinander an drei Bundesverkehrsminister gewandt. Aber man wollte keine Veränderung. Dann habe ich schließlich mit dem Landesverkehrsministerium eine „Duldungslösung“ erreicht und konnte die Freigabe umsetzen.

Was waren die Hindernisse auf dem Weg dorthin?
Wie bei jeder Veränderung gibt es Streit – es soll ja am besten immer alles so bleiben wie bisher. Das Hauptargument war die vermeintlich fehlende Sicherheit durch die höhere Geschwindigkeit, die S-Pedelecs fahren können.

Wie kann man dem Argument einer unterstellten hohen Geschwindigkeit begegnen?
Die bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit wird beim Porsche-Fahrer nicht als Argument dafür gesehen, dass man ihn nicht in 30er-Zonen ließe. Und wenn man Autofahrern zutraut, die Geschwindigkeit anzupassen, dann sollte man das auch S-Pedelec-Fahrern zutrauen.

Wie war das Feedback auf die Änderungen?
Fast nur positive Reaktionen. An einen einzigen negativen Kommentar in der Zeitung kann ich mich erinnern.

Was kann man anderen Gemeindeverantwortlichen etc. empfehlen – wie packt man das an?
Ganz einfach: Sich das regionale Radroutennetz ansehen, feststellen, wo weist es Lücken auf und wie kann ich sie schließen – und dann Radstrecken freigeben.

Wie erreicht man die Akzeptanz in der Bevölkerung?
Großer Widerstand ist nirgends zu erwarten in Zeiten von Fridays for Future. Der Anzahl der Anfragen nach bei mir ist dagegen durchaus zu erwarten, dass bald einige Städte folgen. Wenn der Bund nicht will, dann müssen es die Städte eben selbst machen!


Bilder: Klever, Reiner Kolberg, Pixabay, Georg Bleicher, Manfred Grohe

Experten fordern Strategien zum Übergang in Richtung postfossile Mobilität und auch die Politik geht das Thema ernsthaft an. Wichtige Bausteine: Verhaltensänderung und eine Neuorganisation der Rahmenbedingungen. Finanzielle Mittel stehen bereit und aktuell werden umfangreiche Reformen auf den Weg gebracht. Aufbruch in eine neue Zeit statt Business as usual? (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


„Die Bundesregierung ist unseren Empfehlungen gefolgt und will in den kommenden zehn Jahren eine Verdreifachung des Radverkehrs. Das wären niederländische Verhältnisse in Deutschland“, konstatiert Burkhard Stork, Bundesgeschäftsführer des ADFC, im Gespräch. Mit den bestehenden Regelwerken sei dieses äußerst ambitionierte Ziel allerdings keinesfalls zu erreichen und auch die neuen finanziellen Mittel aus dem Bundesverkehrsministerium drohten zu verpuffen. „Wir brauchen ein völlig neues Denken.“

„Planer, die wirklich etwas bewegen wollen, müssen den Mut haben, deutlich über die ERA hinauszugehen.“

Burkhard Stork, Bundesgeschäftsführer ADFC

„Wir brauchen ein völlig neues Den­ken“, sagt Burkhard Stork, Bundesgeschäftsführer ADFC.

Zentrale Verkehrsinstanz sieht weitgehenden Reformbedarf

Brauchen wir in Deutschland wirklich vollkommen neue Ansätze? Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV), die die grundlegenden Regelwerke, wie die Straßenverkehrsordnung (StVO), Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) und das Straßenverkehrsgesetz (StVG) erarbeitet, macht hier klare Aussagen: Aufgrund der vereinbarten Klimaziele könne es ein „Business as usual“ im Bereich Verkehr künftig nicht mehr geben, so eine Kernaussage des 2016 veröffentlichten Ergebnisberichts der Forschungsgesellschaft mit dem Titel „Übergänge in den postfossilen Verkehr. Notwendigkeiten, Entwicklungstrends und -pfade“. Mit einer Umstellung auf Elektroantriebe allein seien die Klimaziele im Verkehrssektor nicht zu erfüllen. Was unabdingbar dazu kommen müsse, seien Verhaltensänderungen, also eine Verkehrsvermeidung, sowie der Umstieg auf ÖPNV, Fahrrad und Zufußgehen. Kann das funktionieren? Mit Blick auf Städte wie Stockholm und Kopenhagen kommen die Wissenschaftler zu einem klaren Ergebnis, verbunden mit einer Aufforderung an die Politik, sich an den erfolgreichen Beispielen zu orientieren und konsequent tätig zu werden: „Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Erreichung der CO2-Minderungsziele sind (…) nicht völlig unrealistisch, sondern bei entsprechend hohem politischem Willen durchaus zu erreichen.“

„Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Erreichung der CO2-Minderungsziele sind bei entsprechend hohem politischem Willen durchaus zu erreichen.“

Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen

ADFC: Gesamtstrategien gefordert

Wenn man von Städten wie Amsterdam als Vorbild ausgeht, dann wird schnell klar, dass es in Berlin, München und vielen anderen Städten und Kommunen nicht mit Veränderungen im Kleinen getan sein wird. Da die Zeit drängt und der Ausbau des ÖPNV nicht nur viel Geld, sondern vor allem Zeit kostet, erscheint es nur logisch, den Radverkehr in den Mittelpunkt zu stellen. 900 Millionen Euro zusätzlich bis 2023 hat das BMVI „für eine flächendeckend gut ausgebaute und sichere Radinfrastruktur“ eingestellt und stellt damit in den nächsten vier Jahren laut ADFC insgesamt 1,46 Milliarden Euro für die Radverkehrsförderung zur Verfügung. Aber Geld allein reiche nicht aus und zudem kämen die Mittel zu einem „schwierigen Zeitpunkt“, wie ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork erläutert. Das Problem: „Die Gesetze und Regelwerke sind noch nicht so weit und auch die Kommunen nicht.“ Hier gäbe es eine große Desorientierung. So seien seiner Erfahrung nach die Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) aus dem Jahr 2010 immer noch nicht in allen Kommunen angekommen. Mehr noch: Wenn man von echter Radverkehrsförderung spräche, müsse man sagen, „die ERA kann das aktuell nicht“. Planer, die wirklich etwas bewegen wollten, müssten heute den Mut haben, deutlich über die ERA hinauszugehen. Dabei sei es essenziell wichtig für die Kommunen, sich jetzt Gedanken zu machen über neue Gesamtstrategien und Planungen, damit sie das Geld später zielgerichtet ausgeben könnten.

ADFC-Vertreter Ulrich Syberg und Burkhard Stork bei der Übergabe des erstellten Gutachtens an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer auf dem NRVK 2019.

Grundlegende Veränderungen für mehr Radverkehr nötig

Wie kommt man zu Verhaltensänderungen und bringt deutlich mehr Menschen aufs Rad? Wenn man sich den Status quo anschaut und in den nächsten Jahren ernsthaft zu den Fahrradnationen aufschließen will, dann kommt man an einer ganzen Reihe von Änderungen, neuen Ansätzen und Prioritäten wohl nicht vorbei. So verfolge die ERA nach Meinung von Burkhard Stork bislang falsche Ansätze und auch das Straßenverkehrsgesetz, das dieses Jahr überarbeitet wird, brauche eine ganz andere Ausrichtung. Beispielsweise müssten Vision Zero, die Lebensqualität, der Umweltschutz und die Aktivierung der Menschen unbedingt mit aufgenommen werden. Die Erfahrungen erfolgreicher Fahrradstädte zeigten, „Radverkehrsplanung ist immer eine Angebotsplanung“, so der international erfahrene Experte. Und auch an anderer Stelle ist für Stork ein Umdenken nötig: „Wir bauen auf die Mobilitätsbedürfnisse von Männern auf und haben vor allem Pendler im Blickpunkt.“ Das müsse dringend geändert werden. Das Ziel, viel mehr Menschen als bislang aufs Fahrrad zu bringen, sei nur mit einer hervorragenden Infrastruktur zu erreichen, auf der alle sicher und komfortabel unterwegs sein können.

Wie kann das in der Praxis umgesetzt werden?

Aktuell seien die Voraussetzungen für Bürgermeister und Planer besser denn je. Das BMVI arbeite beispielsweise an Lotsenstellen für die Fördermittelvergabe und wolle künftig auch mehr Mittel für externe Beratung zur Verfügung stellen. „Die Bundesregierung bietet für die nächsten Jahre massiven Rückenwind für die Regierenden im ganzen Land“, so Stork. „Die Botschaft: Macht jetzt!“ Dabei ginge es ausdrücklich nicht um kleinere Verbesserungen hier und da. „Die Bundesregierung fordert ausdrücklich geschlossene und gute Radverkehrsnetze. Dabei sollen Straßen zu Fahrradstraßen umgewidmet und Autofahrspuren zu geschützten Radfahrstreifen umgestaltet werden.“ Wichtig auf dem Weg in ein neues Zeitalter seien vor allem die Planungsabteilungen: „Planer sind die Pioniere.“


Fachliche Positionen des ADFC

Mit dem Ziel, lebenswerte Städte und sichere Mobilität für alle zu schaffen, hat der ADFC im letzten Jahr unter dem Titel „Gute-Straßen-für-alle-Gesetz“ ein umfangreiches Gutachten zur Reform des Straßenverkehrsrechts vorgelegt. Die beauftragten Juristen der Wirtschaftskanzlei Becker Büttner Held betonen, dass ein modernes Straßenverkehrsgesetz nicht allein der Gefahrenabwehr dienen dürfe, sondern der aktuellen gesellschaftlichen Forderung nach lebenswerten Städten, sauberer Luft und attraktiven Alternativen zum Auto Rechnung tragen müsse. Viele Punkte wurden inzwischen, zum Teil nach Intervention des Bundesrats, in die StVO übernommen. Weitere Reformen sollen hier, genau wie im StVG, noch folgen. Vom ADFC unter anderem geforderte Punkte:

  • Vision Zero, also null Verkehrstote, als oberste Zielsetzung.
    Das Verkehrssystem müsse menschliche Fehler ausgleichen – und die ungeschützten Verkehrsteilnehmer, also Menschen, die zu Fuß gehen, Rad oder Roller fahren, aktiv schützen.
  • Berücksichtigung von Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutz.
    Bisher seien nur die Flüssigkeit des Kfz-Verkehrs und die Gefahrenabwehr Gesetzesziele.
  • Nachhaltige Stadt- und Verkehrsentwicklung.
    Kommunen sollen die Möglichkeit bekommen, Maßnahmen zur Vermeidung von Autoverkehr zu ergreifen und Anreize für umwelt- und klimafreundliche Verkehrsmittel zu setzen.
  • Tempo 30 als Regel, Tempo 50 als Ausnahme.
    Bisher könnten Kommunen Tempo 30 nur in wenigen Ausnahmefällen anordnen.

Zu den Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) stellt der ADFC in seinen „Leitlinien für sichere, zukunftsfähige Radverkehrsinfrastruktur“ fest, dass sie als verbindliche Grundlage der Straßenplanung unverzichtbar sein. Sie und alle anderen relevanten technischen Regelwerke und Rechtsvorschriften müssten aber auch daraufhin überprüft werden, ob sie den veränderten Voraussetzungen für den Radverkehr (zum Beispiel zunehmender Radverkehr, mehrspurige Fahrräder, höhere Radverkehrsgeschwindigkeiten, Verdichtung der Städte, Sicherheitsempfinden) und den gewachsenen Ansprüchen an die Radverkehrsinfrastruktur entsprächen. Wo das nicht der Fall ist, seien Regelwerke und Vorschriften grundlegend und widerspruchsfrei weiterzuentwickeln. Dies gelte insbesondere für die anstehende Überarbeitung der ERA, bei der vor allem die Nutzerakzeptanz berücksichtigt und die Kombination von Minimallösungen ausgeschlossen werden müsse.
Insgesamt müssten gemäß ADFC „verkehrsplanerische und verkehrspolitische Entscheidungen eine hohe Qualität der Radverkehrsinfrastruktur zum Ziel haben, die alle Nutzergruppen anspricht“. Lebensqualität in einer modernen Stadt bedeute, dass „Straßen für alle“ geplant, gebaut und umgestaltet werden. Straßen sollten Orte des Lebens sein.


Über den ADFC

Der ADFC vertritt als Lobbyver­band und Verkehrsclub rund 190.000 Mitglieder und ist im Be­reich Radverkehr ein auch internati­onal anerkannter Know-how-Trä­ger. Dabei arbeitet er mit allen Vereinen, Organisationen und Institutionen zusammen, die sich für mehr Radverkehr und für mehr Sicherheit und Umweltschutz im Verkehr einsetzen.


Bilder: BMVI, Veenstra / ADFC

Nach der Winterpause startet in Deutschland die zweite E-Scooter-Saison. Zeit, den Stand der Dinge zu prüfen. Wie sieht es mit der Nutzung aus, wie mit der Technik und wo geht es künftig hin? Erster Eindruck: Mit neuen Ideen, Gestaltungswillen und Hightech-Einsatz lassen sich viele Probleme lösen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Bewegen sich Menschen nur noch auf elektrischen Rollern durch die Stadt? Beim Start der E-Scooter befürchteten viele, dass sie vor allem Fußwege und öffentliche Verkehrsmittel ersetzen würden. Danach sieht es allerdings nicht aus. Die Agora Verkehrswende hatte schon im Herbst 2019 Zahlen aus den USA und Frankreich veröffentlicht, die das nicht bestätigten.

Studie aus Paris: keine Verdrängung durch E-Scooter

Eine aktuellere Studie aus Paris für den Anbieter Dott zeigt ähnliche Ergebnisse: Demnach gaben 37 Prozent der Befragten an, dass sie zu Fuß gegangen wären, wenn kein Roller zur Verfügung gestanden hätte. Allerdings sagten nur sechs Prozent der Befragten, dass sie weniger zu Fuß gingen, seit es E-Scooter gibt. Beim ÖPNV sind die Zahlen ähnlich: 18 Prozent der E-Scooter-Fahrten fanden in Kombination mit dem ÖPNV statt, wobei in fast der Hälfte der Fälle der Roller nur für eine Strecke, also den Hin- oder Rückweg genutzt wurde. Bevorzugt wurden die E-Scooter für kurze Strecken unter drei Kilometern mit einer durchschnittlichen Dauer von 13 Minuten eingesetzt; fast zwei Drittel der Fahrten dauerten weniger als eine Viertelstunde. Dabei wurden sie für notwendige Fahrten nach Hause oder zum Studium/der Arbeitsstelle genutzt, häufig aber auch in der Freizeit. Der Roller scheint sich aktuell zudem zu einer beliebten Form der gemeinschaftlichen Mobilität zu entwickeln. So wurden rund ein Fünftel der Fahrten von mehreren Personen unternommen. Viele Fahrten fanden zwischen 17 und 21 Uhr und noch spät in der Nacht statt, wenn keine Bahnen oder Busse mehr fuhren.

Stuttgart: Zusatzverkehr mit Entlastungspotenzial

Die Pariser Studie deckt sich mit Erfahrungen aus Stuttgart. Ralf Maier-Geißler ist Leiter des Referats „Strategische Planung und nachhaltige Mobilität“ in Stuttgart. Er bekommt die Analysen der Anbieter und kann von seinem Büro in der Innenstadt aus die Entwicklung auch direkt beobachten. Den Daten zufolge ist der Großteil der Nutzer unter 30 Jahre alt. Die Strecken, die mit E-Scootern zurückgelegt werden, sind hier kürzer als in Paris. Im Schnitt 1,2 Kilometer beziehungsweise acht Minuten. Kein Vergleich auch zum RegioRad, dem Leihradangebot der Stadt. „Dort sind wir beim fast Zwanzigfachen“, so Maier-Geißler. Anhand der Auswertung der Bewegungsdaten, die die Stadt von den Anbietern bekommt, prüft er die These, ob damit die sogenannte Anschlussmobilität gefördert wird. Im Moment sieht es in Stuttgart aber eher so aus, als ob es sich um zusätzliche Fahrten handelt, die nicht den Autoverkehr, sondern eher den Fußweg oder eine ÖPNV-Strecke ersetzen. Letzteres findet Maier-Geißer nicht schlimm, wenn sie in den Stoßzeiten stattfinden und damit den ÖPNV entlasten.

Potenzial zur Ergänzung des Umweltverbunds

Trotz des rasanten Wachstums macht die Mikromobilität bislang in der Summe nur einen sehr kleinen Teil der städtischen Mobilität aus. So erreichten die E-Scooter in Paris einen Anteil am Gesamtverkehr von 0,8 bis 2,2 Prozent. In der Reihenfolge der Gründe, den Roller zu nehmen, steht dabei an erster Stelle die Geschwindigkeit, gefolgt von der Bequemlichkeit und der Möglichkeit, von Tür zu Tür zu kommen. Die Agora sieht in ihrer Studie die Verknüpfung mit dem ÖPNV als große Chance für den Umstieg vom Auto, dazu müsse aber der gesamte Umweltbund attraktiver gemacht werden. E-Scooter-Anbieter, Kommunen und ÖPNV müssten vor allem an drei Punkten anpacken: Bei der Tarifgestaltung, der Verfügbarkeit und der digitalen Integration. Tatsächlich gibt es in hier inzwischen Bewegung: Lime und Circ haben bereits Sparpakete eingeführt: Bei Lime gibt es einen Wochenpass, der für knapp sieben Euro die Kosten für das Entsperren enthält, bei Circ gibt es eine ganze Reihe von Optionen, vom Einstundenpass für 3,99 Euro, über den Wochenpass bis zum Monatsplan mit 30 Tagen Gratisentsperrungen und 120 Minuten Guthaben. Daneben arbeiten die Anbieter mit Algorithmen und Kommunen mit Abstellplätzen in ÖPNV-Nähe daran, sicherzustellen, dass ausreichend E-Scooter für Anschlussfahrten vorhanden sind. Und Vorreiterstädte integrieren E-Scooter-Angebote inzwischen in ihre digitalen Navigations- und Buchungssysteme. Am weitesten ist dabei die Stadt Berlin mit der BVG-App Jelbi. Sie ermöglicht es, Fahrten mit verschiedenen Mobilitätsformen über eine Oberfläche zu planen und zu bezahlen.

Klare Ansagen auf dem Display bei Lime

Zweite Wachstumsphase bei E-Scooter-Anbietern

In der ersten Wachstumsphase ging es den Anbietern zufolge hauptsächlich darum, sichtbar zu sein und Marktanteile zu gewinnen. Das erfolgte häufig auf Kosten der Nachhaltigkeit. Dieses Jahr geht es nach den Aussagen vieler Anbieter darum, wirtschaftlich zu arbeiten – und das fängt bei den Rollern an. So gehören die aktuellen E-Scooter in Stuttgart seit dem Start im Januar 2019 schon zur dritten Generation. Die Modelle von Tier und Cirq kommen jetzt zum Beispiel mit einem Wechselakku, sodass zum Laden nicht mehr die kompletten Scooter eingesammelt werden müssen. Die neuen Modelle sollen im harten Verleihbetrieb außerdem wesentlich länger halten. Bis zu 18 Monate Laufzeit gegenüber drei bis vier Monaten bei der ersten Generation verspricht beispielsweise Tier.

Lösbares Problem: Abstellflächen

Größere Probleme gibt es bislang noch beim Abstellen. Aber auch hier sind Lösungen in Sicht: In Berlin hat der Senat für die Bezirke die Möglichkeit geschaffen, Kfz-Stellflächen in Parkzonen für Tretroller und Fahrräder umzuwandeln. Hunderte Parkplätze sollen so Platz für die bis zu 16.000 E-Scooter in der Stadt schaffen. Außerdem sollen in Fünf-Meter-Bereichen von Kreuzungen, an denen Autos nicht parken dürfen, Abstellplätze für Fahrräder und Scooter entstehen. Auch in Köln richtet man demnächst gesonderte Abstellflächen ein. Christian Leitow, Mitarbeiter im Team des Kölner Fahrradbeauftragten, vertraut dabei auf die „Macht der Linien“ und eine „Incentivierung“, sprich Belohnung, oder Bestrafung durch die Scooter-Anbieter. In Paris funktioniert das bereits beim Unternehmen Bird. Der Anbieter hat legale Abstellplätze in der App markiert und überprüft, ob die Nutzer ihre Roller auch dort abstellen. Tun sie es, werden sie anfangs noch belohnt. Tun sie es nicht, werden sie später bestraft. Für die Anbieter selbst hat das in Bezug auf die Verfügbarkeit Nachteile, andererseits aber wiederum Vorteile beim Servicen der Flotte.

Hightech-Einsatz hilft Anbietern und Kommunen

Wenn es Probleme gibt, setzen Start-ups auf Technik – und sie sind dabei sehr kreativ. So kann der kalifornische Anbieter Lime inzwischen erkennen, ob sein E-Scooter auf dem Bürgersteig gefahren wird. Dazu filtern die Entwickler aus den Daten der Beschleunigungssensoren Vibrationen heraus und ordnen diese dem jeweiligen Untergrund zu. Eigenen Aussagen zufolge erkennt man in San José Gehwegfahrer mit 95-prozentiger Sicherheit. In der App folgt dann prompt eine Mahnung. Da mit E-Scootern häufig dann auf Gehwegen gefahren wird, wenn es keine Radwege gibt, sind diese Daten aber auch für Städte interessant. So können sie erkennen, wo Bedarf für eine bessere Infrastruktur besteht. Das ITF schlägt vor, ähnliche Techniken zu nutzen, um etwa schlechte Straßenbeläge zu dokumentieren oder aus Beinahe-Unfällen (erkennbar zum Beispiel durch Bremsen und Schlingern), gefährliche Straßenabschnitte zu ermitteln. Das Tracking der Fahrten bietet auch für Polizei und Kommunen Ansatzpunkte, um die Sicherheit zu verbessern. So berichtet Ralf Maier-Geißer, dass die Stadt Stuttgart aus den Daten der Anbieter ablesen kann, an welchen Stellen besonders häufig die gesperrte Fußgängerzone gequert wird. Dort könne dann ganz gezielt kon­trolliert werden.

Weniger Unfälle als angenommen

Auch das Thema Sicherheit ging immer wieder durch die Medien: unvorsichtige junge Menschen, die, alkoholisiert oder zu zweit, auf dem Bürgersteig führen und sich bei Stürzen schwer verletzten. Ist das wirklich so? Anfang des Jahres überraschte der Versicherer DEVK, indem er die Preise für die Versicherung privater E-Scooter für Fahrer ab 18 Jahren um bis zu 42 Prozent senkte. Die Begründung: Sie seien weniger in Unfälle verwickelt als erwartet. Nur die Jüngeren zahlen weiterhin den vollen Betrag. Auch bei Leihrollern scheint die Situation nicht so dramatisch zu sein, wie ursprünglich angenommen. Im Fe­bruar veröffentlichte das International Transport Forum (ITF) eine Studie zur Sicherheit der Mikromobilität. Zusammenfassend heißt es hier:

  • Die Gefahr eines tödlichen Unfalls oder einer schweren Verletzung ist auf einem Leih-E-Scooter nicht größer als auf einem Fahrrad.
  • In 80 Prozent der tödlichen Unfälle sind motorisierte Fahrzeuge beteiligt.
  • Der Verkehr wird für alle sicherer, wenn E-Scooter oder Fahrräder die Fahrten von Autos und Motorrädern ersetzen.

Wie sicher oder gefährlich das Fahren mit E-Scootern in Deutschland tatsächlich ist, wird sich künftig gut prüfen lassen. Denn das Statistische Bundesamt nimmt die Zahlen als eigenen Eintrag mit in die Unfallstatistik auf.

Mehr Sicherheit ist machbar

Um die Sicherheit zu erhöhen und schwere Unfälle zu verhindern, gibt das International Transport Forum eine Reihe von Empfehlungen. Die reichen von geschützten Wegen über Tempo 30 bis hin zu Design-Verbesserungen bei den Scootern – unter anderem mit größeren Rädern und veränderten Geometrien, um die Fahreigenschaften auf schlechten Straßen und Radwegen zu verbessern. Außerdem sollten Blinker vorgeschrieben werden, denn im Gegensatz zum Fahrrad ist es auf dem Roller schwierig, beim Abbiegen Handzeichen zu geben. Das schlägt auch der Verkehrsgerichtstag vor, dessen Empfehlungen in der Vergangenheit schon häufiger von der Politik aufgegriffen wurden. Er empfiehlt außerdem mehr Aufklärung über die Verkehrsregeln durch die Anbieter und setzt sich ein für eine „Prüfbescheinigung zum Führen eines Elektrokleinstfahrzeuges“. Ob die wirklich notwendig ist? Christian Leitow vom Team des Fahrradbeauftragten in Köln berichtet, dass es immer noch Beschwerden über das Fahrverhalten mancher Nutzer gäbe, diese aber deutlich abgenommen hätten. Erstens, weil im Winter defensiver gefahren werdem, und zweitens, weil die Ausprobierphase des Sommers wohl vorbei sei und sich zudem ein gewisser Lerneffekt eingestellt habe.


Bilder: Mack Male, Creative Commons, Lime, René Mentschke, Creative Commons

Der Zielsetzung „Mehr Radverkehr“ kann oder mag sich heute kaum noch ein Entscheider ernsthaft verschließen. Was in der Konsequenz die Frage aufwirft, wer denn die künftigen Radfahrer und Radfahrerinnen sein sollen. Expertinnen und weibliche Entscheider werben für einen Perspektivwechsel. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2020, März 2020)


Wenn es um Mobilität geht, bestimmen seit Jahrzehnten vorwiegend Männer die Rahmenbedingungen. „Ausgebremst – Städteplaner sind autofahrende Männer“, war der provokant gewählte Titel einer im Jahr 1989 in Graz organisierten Tagung. Mit ihm brachten Verkehrsplanerinnen zum Ausdruck, dass Frauen in der Verkehrsplanung und -umsetzung kaum vorkamen. Rund 15 Jahre später stellte ein zwischen 2003 und 2005 durchgeführtes Forschungsprojekt der österreichischen Regierung fest, dass sich die Situation nur punktuell verbessert hatte. Nur vier Prozent weibliche Verkehrsplaner befanden sich demnach in leitender Funktion und wirkten am österreichischen Generalverkehrsplan und den Verkehrskonzepten der Länder mit. Ebenso frappierend: Auch bei der Bürgerbeteiligung zeigten sich „enorme Unterschiede hinsichtlich der Beteiligung der Geschlechter“, sprich, eine große Mehrheit bei Männern. Kann man das auf Deutschland übertragen? Wahrscheinlich. Denn ohne Statistiken zu bemühen und zu werten, lässt sich auch hier und heute jederzeit eine deutliche Männerdominanz feststellen.


Mobilität von Männern für Männer

Selbstverständlich kann man Männern nicht absprechen, willens und, wenn sie professionell agieren, auch in der Lage zu sein, sich in die Bedürfnisse anderer hineinzuversetzen. Andererseits ist das Thema weibliche Mobilität deutlich komplexer, als Mann denkt. Nicht zuletzt geht es dabei auch um Rollenbilder, gesellschaftliche Strukturen, Menschenbilder und Vorstellungen von Gesellschaft und Zusammenleben. Komplexe Anforderungen also, die viel mehr umfassen als nur einen möglichst reibungslosen Verkehrsfluss von A (Wohnung) nach B (Büro) und wieder zurück. Sobald man sich näher mit dem Thema beschäftigt, stellt man fest, dass die Pendlermobilität als Leitthema hierzulande sowohl in der politischen Diskussion als auch in der Presse immer wieder in den Vordergrund gestellt wird. Dafür gibt es Gründe, wie Meike Spitzner, Projektleiterin Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik beim Wuppertal Institut, in einem Interview mit der Zeit erläuterte. Die Idee der autogerechten Stadt hat demnach ihre Wurzeln in den Familien- und Rollenbildern der Fünfzigerjahre. Männer verdienten das Geld und „ihnen baute man Autos, Straßen und Parkplätze, damit sie möglichst schnell vorankamen“. Und Frauen? „Da ihre Arbeit nicht unmittelbar Geld brachte, gab es auch keinen wirtschaftlichen Anreiz, ihre Situation zu verbessern“, so Meike Spitzner. Und heute? Zwar hat die Erwerbstätigkeit von Frauen in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen, aber es herrscht immer noch das Hinzuverdiener-Modell vor: Väter arbeiten in Vollzeit, während die Mütter in Teilzeit hinzuverdienen. So ist es bei rund 70 Prozent der erwerbstätigen Paare mit minderjährigen Kindern und bei Ehepaaren sogar noch mehr. Hausarbeit, Kinderbetreuung, Pflege und soziale Kontakte werden weiterhin überwiegend von Frauen geleistet, wie Erhebungen zeigen. Damit verbunden unterscheiden sich hier auch die Anforderungen, Bewegungsmuster und Formen von Mobilität sehr deutlich.

Rollenmobilität: Die Marken- und Kommunikationsexpertin Verena Begemann hat klassische Wege aufgeschlüsselt.

Frauen bewegen sich anders

„Women move differently – what everyone working in mobility should know” – mit diesem Thema hat es die Berliner Mobilitätsberatung „White Octopus“ im Januar dieses Jahres auf die Agenda des World Economic Forum in Davos geschafft. Das Thema scheint in der Breite also ebenso unbekannt wie aktuell zu sein. Die Kernthesen:
Mobilität ist nicht geschlechtsneutral und kann eine männliche Vorliebe haben.
Frauen haben andere Bedürfnisse und Verhaltensweisen, wenn es um den Transport geht.
Das Verständnis ihrer Perspektive könnte die Mobilität für alle verbessern.
Die Mobilität von Frauen sei durch Trip-Chaining und Zeitarmut gekennzeichnet, fassen die Autorinnen die Ergebnisse von Studien zusammen. „Frauen haben eine geringere Reichweite, wenn sie die gleiche Menge an Zeit reisen. Frauen tragen Gepäck und begleiten Menschen, häufiger in öffentlichen Verkehrsmitteln und zu Fuß. Das Auto ist weniger häufig die Standardlösung.“ Ein Workshop, den die Beraterinnen mit 40 Mobilitätsfachfrauen 2019 in Berlin durchführten, bestätigte diese Ergebnisse weitgehend und lieferte weitere Ansätze: So würden die verletzlicheren Frauen von einem ständigen Gefühl der Unsicherheit begleitet, das sich vor allem nachts und auf der letzten Meile verstärkt zeige. Dadurch würde ihr Mobilitätsverhalten entscheidend mitgeprägt. Ein großes Problem zeige sich auch in der Vereinbarkeit von familiärer Betreuung und bezahlter Arbeit. Für viele Mütter seien „Reiseketten“ zur zweiten Natur und Zeitmangel ein ständiger Begleiter geworden. „Ein zuverlässiges System ist in dieser Hinsicht entscheidend. Bei all ihren Verpflichtungen haben die Frauen immer noch das Recht und die Verpflichtung, pünktlich zu erscheinen. Egal was passiert, die Show muss weitergehen.“ Unsichere und unzuverlässige Verkehrssysteme scheinen damit ebenso wenig geeignet wie zu teure. Denn auch das Budget bestimme stark ihre Mobilitätsoptionen. Auch zwischen beruflichen Terminen bewegten sich Frauen ständig in einem Spannungsfeld: Status, Aussehen, Frisur, die Möglichkeit, Kleidungsstücke zu wechseln und aufzubewahren, oder unterwegs noch etwas vorzubereiten oder zu erledigen – alles Probleme, die sicher auch Männer kennen, sehr wahrscheinlich allerdings in einem anderen Maß.

Kind zur Schule bringen, kurz in die Post, Hund zum Tierarzt und noch schnell bei den Schwiegereltern vorbei: Die Aufgaben und Wege von Frauen sind vielfältig.

Gute und sichere Mobilität: wichtig für alle

Die Wichtigkeit guter Mobilität für Familien unterstreicht auch die Marken- und Kommunikationsexpertin Verena Begemann. Sie hat sich für verschiedene Branchen mit dem Gender-Thema befasst und kennt die vielfältigen Anforderungen als Mutter von zwei Kindern aus erster Hand. „Vielfach wird vergessen oder ausgeblendet, dass Mobilität das zentrale Element von Teilhabe am sozialen Leben ist. Dabei profitieren von einer guten, sicheren, funktionierenden und bezahlbaren Mobilität alle: die Frau, der Mann, die Kinder, zu pflegende Angehörige und nicht zuletzt auch die Gesellschaft an sich.“ Nur Ziele auszugeben, zum Beispiel mehr Radverkehr oder weniger Begleitmobilität (Stichwort Elterntaxi), ist für sie der falsche Weg. „Wie bei Marken müssen wir uns fragen, was eigentlich die konkreten Bedürfnisse und Anreize sind und wo möglicherweise Hindernisse wie Imageprobleme oder bewusste und unbewusste Ängste liegen“, so die Kommunikationsexpertin. „Nur so gelingt es, bestehende Nutzer zu binden und neue hinzuzugewinnen.“

Beteiligungsverfahren anders denken

Dr.-Ing. Silvia Körntgen verweist im Gespräch darauf, dass Personen mit spezifischen Nutzungsansprüchen an den öffentlichen Raum oder sozial benachteiligte Gruppen geringere Chancen hätten, ihre Interessen durchzusetzen. Dazu zählten Frauen ebenso wie Kinder und Jugendliche, Rentner, mobilitätseingeschränkte Personen oder Menschen mit Migrationshintergrund. Hier gelte es Beteiligungsverfahren anders zu gestalten. Gut geeignet seien zum Beispiel problemorientierte Bestandsanalysen im Rahmen von Stadtteilspaziergängen.

Großes Potenzial für Familienentlastung

Auch die Fahrradbranche habe Frauen als Kundengruppe neu entdeckt und böte inzwischen ein ausdifferenziertes Angebot. „Bei Alltagsrädern, aber auch bei Mountainbikes und vor allem bei Lastenrädern eröffnet dabei die Motorunterstützung völlig neue Optionen. Übrigens nicht nur für Frauen, sondern für alle und alle Altersgruppen“, erklärt Begemann. Ausgereifte Produkte seien da, jetzt müsse es darum gehen, auch die Rahmenfaktoren zu verbessern und da gebe es noch sehr große Potenziale. Beispiel Elterntaxi: „Eltern, die sich selbst nicht sicher fühlen auf der Straße, werden ihre Kinder nur allein zur Schule oder zu sozialen Aktivitäten fahren lassen, wenn es keine andere Möglichkeit gibt.“ Umgekehrt stecke in jedem Weg, den ein Kind allein zurücklegt, ein riesiges Entlastungspotenzial für Familien. „Tretroller sind hier aus meiner Sicht zum Beispiel eine völlig unterschätzte Lösung, weil sie pro­blemlos in jeden Kofferraum passen, in Bus und Bahn mitgenommen werden können und auch Kindern, die auf dem Rad noch nicht sicher sind, eine Möglichkeit geben, selbstständig unterwegs zu sein.“ So rollert der achtjährige Sohn der Bielefelderin mit seinen Freunden zum Beispiel nachmittags immer selbstständig zum Sportplatz, „abends, wenn es dunkel ist, holt die Kinder ein Elternteil aus unserer WhatsApp-Gruppe Elterntaxi ab.“ Ein gutes Beispiel, wie digitale Medien und Intermodalität verschmelzen und auch außerhalb von Ballungszentren neue Angebote schaffen.

Probleme: Aggression und fehlende Sicherheit

Mehr objektive und subjektiv empfundene Sicherheit wären eine gute Basis, um mehr Menschen aufs Fahrrad zu bekommen. Die Realität entwickelt sich hier aber alles andere als positiv: „Nach den Erkenntnissen der Polizei sind aggressive Verhaltensweisen im Verkehr in den letzten Jahren häufiger geworden”, sagt Julia Fohmann vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR). Damit stößt sie auf große Zustimmung in der Bevölkerung: In einer im September 2019 veröffentlichten Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach beklagten 90 Prozent der befragten Verkehrsteilnehmer eine zunehmende Aggressivität – ein Thema, mit dem sich kürzlich auch der 58. Deutsche Verkehrsgerichtstag in Goslar auseinandersetzte. Ernüchternde Ergebnisse zeigte auch der ADFC-Fahrradklima-Test 2018, der einen Trend verzeichnet, nachdem sich Menschen beim Radfahren immer unsicherer fühlen (Note 4,2 gegenüber 3,9 in 2016). 74 Prozent der Befragten sagten außerdem, dass man Kinder nur mit schlechtem Gefühl allein mit dem Rad fahren lassen könne – in den Großstädten waren es sogar 85 Prozent. Als Problem gesehen werden vor allem zu viel Verkehr, zu schnelles Fahren, rücksichtslose Autofahrer und Fahrzeuge auf dem Radweg.

ADFC: Mehrheit braucht stressarmes Radfahren

Ein aggressives Verkehrsklima ist laut ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork „Gift für den Radverkehr“. Es führe dazu, dass die Menschen sich lieber in Autotrutzburgen verschanzen anstatt, wie politisch erwünscht, gern und häufig auf das Rad zu steigen. „Rücksichtkampagnen reichen nicht. Wir brauchen Infrastruktur, die schützt, und Sanktionen, die richtig wehtun!“ Vom ADFC gefordert wird unter anderem die konsequentere Verfolgung von gefährlichem Verhalten, mehr Polizeistaffeln auf dem Fahrrad und kommunale Bauprogramme für physisch geschützte Radwege. Laut Untersuchungen des Verbands hätten große Teile der Bevölkerung grundsätzlich Interesse, Rad zu fahren. 60 Prozent der Menschen gehörten zur Gruppe der „Interessierten, aber Besorgten“, die stressarme Strecken bräuchten. Die Mehrheit dieser Gruppe stellen Frauen, Kinder, deren Eltern sowie ältere Menschen.

Neue Philosophien: Städte als Begegnungsräume

Wie sehr Städte und Stadtviertel durch verkehrsreiche Straßen zerschnitten, von parkenden Autos zugestellt und durch rücksichtslose Autofahrer zu gefährlichen Orten gemacht werden, erlebt Dr. Ute Symanski hautnah in ihrem Büro in Köln-Ehrenfeld sowie in Gesprächen mit Verbänden, Vereinen, Verkehrsexperten und Entscheidern auf allen Ebenen. Der Organisationssoziologin, Beraterin und politischen Aktivistin (u. a. Radkomm-Konferenz, Aktionsbündnis Auf-
bruch Fahrrad NRW) geht es, was auf den ersten Blick vielleicht unverständlich wirkt, gar nicht zentral um Rad- und Autoverkehr, sondern um mehr „Begegnungsräume“ für Menschen. Ihr Ausgangspunkt „Die Stadt gehört den Menschen, die in ihr leben“ findet in Diskussionen und auch politischen Prozessen inzwischen breite Zustimmung, wie unter anderem das einstimmige Votum des Verkehrsausschusses im NRW-Landtag für ein Radverkehrsgesetz zeigte.

Ziel: lebenswerte Städte und Dörfer

Für Niederländer ist es ganz normal, dass Städte eine hohe Aufenthaltsqualität und Sicherheit für alle bieten. Die zweite Bürgermeisterin von Utrecht, Loot van Hoojidink, bringt die Philosophie auf den Punkt: „Meine Hauptfrage lautet: In was für einer Stadt wollen wir leben?“ Von dieser Frage käme man direkt zum Fahrrad. „Radfahren hat so viele Vorteile; es geht um Lärm, es geht um saubere Luft, es geht um das Klima, aber auch darum, wie freundlich es in einer Stadt ist. Man hat wirklich die Vorstellung, dass die Menschen der Chef auf der Straße sind und nicht die Maschinen.“ Von mehr Radverkehr spricht auch die niederländische Ingenieurin und Geschäftsführerin der SOAB Mobilitäts- & Raumplanung Ineke Spapé gerne erst in zweiter Linie, obwohl sie oft als „Fahrradprofessorin“ tituliert wird. „Mehr Radfahren lohnt, Ziel sind aber lebenswerte Städte und Dörfer!“ Für sie gehört das Thema Radverkehr auch nicht allein in die Hände von Verkehrsplanern. Vielmehr ginge es darum, auch andere Bereiche mit einzubeziehen, wie zum Beispiel Gesundheit, Tourismus, Wirtschaft, Raumplanung etc. Ihr „Thermometer für (Verkehrs-)Sicherheit: mehr Frauen, Kinder, Omas.“

Konsequentes Umsteuern statt Pillepalle

Kommentar von Reiner Kolberg

Ambitionierte Ziele haben sich Bund, Länder und Kommunen in Bezug auf den Radverkehr gesetzt. Doch die Realität und die Erfahrungen zeigen hier, wie auch beim Klima oder der E-Mobilität, dass mit dem Setzen von Zielen in der Praxis nichts gewonnen wird, wenn sie nicht mit klaren Maßnahmen, messbaren Teilzielen und deren Kontrolle verbunden werden.

Deutlich mehr Menschen aufs Fahrrad oder E-Bike werden wir wohl nur bekommen, wenn es gelingt, auch einen guten Teil der Unsicheren und der Bequemen zu gewinnen. Aber warum sollte man aufs Rad umsteigen, wenn es mit dem Auto gefühlt oder tatsächlich einfacher und sicherer geht? Und Hand aufs Herz: Lassen Sie Ihre Kinder heute guten Gewissens allein mit dem Rad durch die Stadt fahren?

„Honig für Radfahrer, Essig für Autofahrer“, beschreibt die Expertin Ineke Spapé das Erfolgsrezept vieler niederländischer Kommunen. Für Deutschland wäre das nicht weniger als eine 180-Grad-Wende. Zeitnah gelöst werden müssten zudem auch im Straßenverkehr sichtbare soziale Probleme, wie aggressives Fahren, Rasen oder die Nutzung des Autos zum Demonstrieren von Macht und Dominanz. Gegen dieses nach Experten klassisch männertypische Verhalten gehen andere Länder entschieden vor: Mit verschärfter Überwachung und harten Sanktionen, bis hin zum Einziehen des Pkws vom Halter (nicht vom Fahrer), wie kürzlich im dänischen Parlament diskutiert wurde. Starker Tobak für Autoverleiher oder Vermieter. Andererseits: Wie bekommt man mehr Sicherheit und mehr Radverkehr, wenn man es bei Veränderungen im Kleinen belässt und Probleme nicht bei der Wurzel packt?


Bilder: ADFC – Westrich, Eyecon Design, Verena Begemann, stock.adobe.com – Kara, Babboe