,

Mikromobilität: Fluch oder Segen?

Nicht umsonst trägt VELOPLAN den Begriff Mikromobilität mit im Titel. Aber was ist damit eigentlich gemeint? Und was haben Computer mit Tretrollern und Pedelecs zu tun? Zeit für eine Einordnung und einen Ausblick. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


In der Schweiz sind schnelle Pedelecs sehr beliebt, als Kauf- oder Sharing-Variante . In Deutschland boomt der Markt für Cargo-E-Bikes.

Seit Juni 2019 ist in Deutschlands Städten zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung nichts mehr wie zuvor: An gefühlt jeder Straßenecke stehen elektrifizierte Tretroller und überall flitzen Menschen mehr oder weniger sicher auf den kippeligen Fahrzeugen herum – und haben dabei offensichtlich eine Menge Spaß. Aber sind diese Fahrzeuge wirklich die Zukunft der Mobilität oder bringen sie einfach nur Chaos in die Städte?

Disruptive Veränderungen durch „Blitzscaling“

Die Silicon-Valley-Mentalität der ersten US-Anbieter, die mit Milliarden-Finanzunterstützung nach Europa kamen und dort wie die Heuschrecken beispielsweise in Paris eingefallen sind, erschreckte viele Beobachter. Die Anbieter nennen dieses (gewollt) schnelle Wachstum „Blitzscaling“, und so gibt es in Paris derzeit gut 30.000 E-Scooter von acht Anbietern.
In Berlin stehen inzwischen ebenfalls 10.000 Scooter von vier Anbietern. Und die Menschen fahren damit. Aber nicht nur im Urlaub oder in der Freizeit, wie es häufig scheint. Der Anbieter Tier zählte im Sommer nur ungefähr zehn Prozent Touristen und eine Auswertung des Beratungsunternehmens Civity zeigt, dass die Nutzerzahlen am Nachmittag und an den Wochenenden am höchsten sind. Allerdings habe Tier in seiner Auswertung auch festgestellt, dass angeblich 30 Prozent der Nutzer tatsächlich die Fahrzeuge als Ersatz für Auto oder Taxi nutzen.
Innerhalb eines halben Jahres sind in Deutschland fast so viele E-Scooter zugelassen worden, wie insgesamt E-Autos fahren. Das zeigt ganz gut die aktuellen Umwälzungen in der Mobilität. Es sieht so aus, als läge die große Dynamik in der Mobilität nicht in besseren Autos – weder elektrisch, noch autonom, noch geteilt. Die Dynamik kommt von unten, von kleinen, persönlichen Fahrzeugen.

Horace Dediu analysierte über Jahre scharfsinnig den Umbruch im Markt für Mobile Computing. Jetzt ist für ihn die Mobilität reif für die Disruption.

Mobilität von unten neu denken

Der Begriff Mikromobilität (oder Micromobility) stammt von Horace Dediu, Business-Analyst und Experte für Mobile Computing. Seine Definition: Fahrzeuge bis 500 kg Gewicht, elektrisch angetrieben und relativ langsam. Oder etwas abstrakter: Mobilität mit menschlichem Maß. Vor gut drei Jahren beschrieb der US-Amerikaner erstmals Analogien zwischen den Entwicklungen in der Computerbranche und in der Mobilität. Wie der Mikrocomputer den klassischen Computer und seine Hersteller vom Markt verdrängte, verdränge die Mikromobilität die klassische Mobilität, also das Auto und dessen Hersteller vom Markt.
Martin Mignot, einer der frühen Investoren beim E-Scooter-Verleiher Bird erklärte in einem Interview, warum sich sein Unternehmen entschieden hat, zu investieren: „Es ist ein neuartiges Produkt, das einfach zugänglich ist und sehr wenig Voraussetzungen zur Nutzung erfordert. Die Daten der ersten Nutzer zeigten, dass viele Frauen, viele ältere und viele jüngere Menschen, diese Fahrzeuge nutzten, ganz anders als zum Beispiel Mopeds. Die Scooter hatten das Zeug zu einem universellen Phänomen, dass weltweit funktionieren konnte. Es sieht so aus, als täte es das.“

E-Mobilität ist Mikromobilität

Am 1. Oktober 2019 waren in Deutschland knapp 118.000 reine Elektroautos zugelassen, bei einem Gesamtbestand von 64,8 Millionen Fahrzeugen. Gerade hat die Bundesregierung die Kaufprämien noch einmal erhöht und ein Programm zum Bau von Ladestationen gestartet.
Aber die Elektromobilität ist schon da: Allein 2018 wurden hierzulande 980.000 E-Bikes verkauft und für das Jahr 2019 rechnet der Zweirad-Industrie-Verband mit 1,1 Millionen Verkäufen. Insgesamt sind in Deutschland aktuell 4,5 Millionen E-Bikes unterwegs, davon 4,8 Prozent E-Lastenräder, also fast 50.000 Stück. Und noch mehr als im privaten Bereich sehen Experten bei gewerblich genutzten Cargobikes und in der Radlogistik einen Milliardenmarkt.
Auch das motorlose Fahrrad ist alles andere als tot: Fast vier Millionen wurden 2018 verkauft; der Gesamtbestand in Deutschland liegt bei 75 Millionen Fahrrädern.

Mikromobilität ist mehr

Das Schöne am Begriff Mikromobilität ist, dass er so viel umfassen kann. Vom motorisierten Skateboard bis zum vierrädrigen E-Transportrad mit 300 kg Traglast, vom E-Scooter über das Fahrrad bis zum schnellen Pedelec. Der Begriff erlaubt es zudem, nicht mehr in Fahrzeugen zu denken, sondern in Bedürfnissen. Und das Fahrrad ist nicht mehr die einzige Alternative zum Auto. Es geht um Fortbewegung von A nach B.
Dabei sind E-Scooter nur ein kleiner Teil in der großen Palette der Möglichkeiten. Die meisten Scooter-Fahrten sind um die zwei Kilometer, mit dem Fahrrad verdoppelt sich die Entfernung und das Pedelec vergrößert die Reichweite noch weiter. Corinne Vogel vom Schweizer E-Bike-Verleiher Smide weiß, dass ihre Nutzer im Durchschnitt fünf bis sechs Kilometer fahren, viele davon täglich als Pendler. Mit schnellen S-Pedelecs und Elektrorollern, wie denen von Emmy oder Coup, hat man immer das richtige Fahrzeug für einen bestimmten Weg zur Verfügung. Und wenn es darum geht, größere Waren oder Kinder zu transportieren, stehen in immer mehr Städten Cargobikes zur Ausleihe bereit oder werden gekauft – auch weil sie von vielen Kommunen gefördert werden.
Wie diese Fahrzeuge sich weiter ausdifferenzieren, ist kaum vorherzusagen und Überraschungen sind immer möglich. Auffällig starke Aktivitäten kann man bei gewerblichen Transportlösungen beobachten.

Noch offen: die richtige Geschwindigkeit

Wichtig für den Erfolg der Mobilität ist der ungehinderte Zugang. Was den Pedelecs zum Durchbruch verholfen hat, war die geniale Idee, den Motor an das Treten zu koppeln, so dass sie immer noch als Fahrrad gelten. Sie verlangen deshalb weder Führerschein noch Helm.
Viele Pedelec-Fahrer wünschen sich allerdings ein etwas schnelleres Rad. Die 25 km/h, bei der die Motorunterstützung des Pedelecs endet, sind auf einem sportlichen Rad schnell erreicht. S-Pedelecs wiederum, die bis 45 km/h unterstützen, dürfen nicht auf Radwegen fahren, auf der Straße ist es jedoch oft zu gefährlich. Auch Einbahnstraßen in Gegenrichtung sind mit der schnellen Klasse tabu. Deshalb installieren nicht wenige Nutzer Tuning-Kits, um ihre Pedelecs schneller zu machen oder fahren S-Pedelecs ohne Kennzeichen. Beides ist nicht legal und kann im Falle eines Unfalls schwerwiegende Folgen haben.
Dabei genügt vielleicht eine kleine Änderung, für die sich neben Hannes Neupert vom ExtraEnergy e.V., einem der profiliertesten Fürsprecher des Pedelecs, auch der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) auf europäischer Ebene einsetzt: Unterstützung bis 32 km/h – was ganz nebenbei der in vielen Ländern üblichen Grenze von 20 Meilen pro Stunde entspricht.
Die Geschwindigkeitsunterschiede auf dem Radweg wären dadurch geringer und bei einem allgemeinen Tempolimit von 30 km/h könnten sie auch im Autoverkehr mithalten. Es hat sich auch gezeigt, dass viele Fahrer schneller E-Bikes sowieso meistens in diesem Geschwindigkeitsbereich unterwegs sind. Der Schweizer E-Bike-Sharer Smide drosselt zum Beispiel seine Räder auf 35 km/h. Die Option, 45 km/h freizuschalten, nutzen nur wenige. Es fehlen vielfach noch geeignete Wege.

Lissabon: Surfen auf der gleichen Welle

Die Stadt Lissabon hat ambitionierte Pläne. Sie möchte den Modal Share für Autos bis zum Jahr 2030 auf 30 Prozent senken. Dazu soll in erster Linie der ÖPNV dienen, aber auch Systeme, die diesen ergänzen. Pedro Machaco ist der Mobilitätsmanager im Auftrag des Bürgermeisters und offen für neue Mobilitätsanbieter. Natürlich müssen dabei bestehende staatliche Gesetze und kommunale Regeln beachtet werden. Sein pragmatischer Ansatz: „Solange sie uns die Echtzeitdaten geben und die Regeln akzeptieren, dürfen sie frei arbeiten und wir beobachten sie dabei genau. Wir surfen mit ihnen gemeinsam auf der gleichen Welle.“ Einmal im Monat trifft er sich mit allen Beteiligten, bespricht die Situation und erklärt dabei, dass sie sich nicht als Konkurrenten sehen sollen, sondern als Verbündete. Zusammen könnten sie dem Autoverkehr Anteile abnehmen und den Kuchen für alle größer machen.

Straßenräume flexibel neu denken

Kommunen haben viele Ziele, die sie erreichen wollen oder müssen: Luftreinhaltung, Klimaziele, wirtschaftliche Entwicklung, Lebensqualität und Verkehrssicherheit oder den Modal Split. Sie können sich die neuen Gegebenheiten und Möglichkeiten zu Nutze machen, diese zu erreichen: Die Reichweite des ÖPNV lässt sich erweitern, wenn kleine Fahrzeuge als Zubringer zur Verfügung stehen, mit Transporträdern und Verteilung von Paketen über Mikrodepots werden große Dieseltransporter überflüssig.
Dazu muss nicht immer ein vollständiges Verkehrskonzept oder ein Masterplan erstellt werden. Die Mikromobilität lädt zum Ausprobieren ein. Mit Echtzeitdaten und Monitoring der Ergebnisse lassen sich planerische Modellversuche schnell umsetzen und auf ihre Wirkung untersuchen. Aus den Bewegungsdaten der Scooter- und Bike-Sharing-Anbieter lassen sich die Wege der Menschen ablesen. Und damit mehr Menschen die neuen Möglichkeiten nutzen, muss man den etablierten Verkehrsmitteln vielleicht auch Platz wegnehmen.
Eine gute Orientierungshilfe bei der Umsetzung liefert das Berliner Mobilitätsgesetz, das der Initiator des Volksentscheids Fahrrad Berlin Heinrich Strößenreuther in seinem Buch „Der Berlin-Standard“ beschreibt. Das Mobilitätsgesetz schreibt vor, dass Radwege an allen Hauptverkehrsstraßen so gestaltet werden müssen, dass Radfahrer sicher überholen können. Auf der einen Seite sollen Kraftfahrzeuge darauf nicht halten oder fahren können und auf der anderen Seite soll die Trennung zum Gehweg klar erkennbar sein.

Zusammenarbeit lohnt sich

Vereinzelt gibt es sie noch, die Fälle, in denen Mobilitätsanbieter ihre Fahrzeuge über Nacht in Städten aufstellen und anschließend warten, ob sich jemand beschwert. Vor allem die asiatischen Anbieter Obike und Ofo überfluteten in den Jahren 2017 und 2018 deutsche Städte mit billigen Leihrädern, die die Bürgersteige versperrten, Vandalismus anzogen und die Kommunen verärgerten. Deutsche Anbieter wie Call-A-Bike und Nextbike arbeiten allerdings schon länger mit Kommunen zusammen und auch die neuen Anbieter setzen auf Kommunikation. Je mehr, desto besser.

Zum Vertiefen: Informationen und Argumente

Neue Fahrzeuge, neue (lösbare) Probleme

Der Vorteil an der Mikromobilität: Die Voraussetzungen sind sehr gering. Kein Führerschein, kein Helm. Das macht Spaß, auch zu zweit auf einem Roller oder mit ein wenig Alkohol. Was aber nur wenigen bewusst ist: Beim Thema Alkohol gelten die gleichen scharfen Regeln wie beim Auto, für Fahrer unter 21 Jahren und Führerscheinneulinge in der Probezeit zum Beispiel 0,0 Promille. Von einer Straftat kann schon ab 0,3 Promille die Rede sein, wenn der Fahrer alkoholbedingte Ausfallerscheinungen zeigt. Allein während des Oktoberfests hat die Polizei insgesamt 414 alkoholisierte E-Scooter-Fahrer angehalten. 254 von ihnen mussten sofort ihren Führerschein abgeben. Dazu sind die Nachrichten voll von Berichten über Unfälle mit E-Scootern.
Das Problem der Tandemfahrten löst der Anbieter Lime mit einer Funktion namens „Gruppenfahrten“: Ein Nutzer kann dabei bis zu fünf Scooter entsperren. Und sobald Alkohol-Tester zuverlässig und günstig in Fahrzeuge integrierbar sind, werden Anbieter diese vielleicht auch als Zugangsbeschränkung einbauen.
Wenn Medien über die wachsenden Unfallzahlen berichten, erwähnen sie häufig nicht das Offensichtliche, nämlich, dass mehr Fahrten stattfinden als vorher. Beim Anbieter Tier sind es seit dem Start im Oktober 2018 europaweit zehn Millionen Fahrten. Und bei diesen gab es laut Aussage des Mitgründers Lawrence Leuschner nur 250 gemeldete Unfälle. Dabei sind die Ursachen sehr unterschiedlich. Caroline Hjelm, Chief Marketing Officer von Voi (Schweden) berichtet, dass Millenials ohne Führerschein oft die einfachsten Regeln nicht kennen. Deshalb bietet der Anbieter jetzt eine Online-Fahrschule an. Wer sie absolviert, wird mit Freifahrten belohnt.


Bilder: Deutsche Messe, Hannover – micromobilityc expo 2019, smide.ch, Riese und Müller, Horace Dediu, Filip stock.adobe.com