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Der Wegbereiter

Jahrzehntelang wurden Fußgänger*innen mit Restflächen abgespeist. Das funktioniert nicht mehr. Wenn die Mobilitätswende gelingen soll, brauchen die Städte mehr Grün und attraktive Wege in jedem Quartier. In Köln soll nun Nico Rathmann als erster Fußverkehrsbeauftragter den öffentlichen Raum fit machen für mehr Fußverkehr. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2022, Sept. 2022)


Auch wenn die Autos ausgesperrt werden, wie hier in der Ehrenstraße, bedeutet das noch nicht das Ende der Konflikte zwischen Verkehrsteilnehmern. Auch Radfahrerinnen und Fußgängerinnen kommen sich dort immer wieder in die Quere.

Herr Rathmann, Sie sind Kölns erster Fußverkehrsbeauftragter. Gehört zu Fuß gehen zu Ihrer Jobbeschreibung?
Das fragt tatsächlich jeder. Aber nein, gehört es nicht. Ich lebe seit März wieder im Rheinland und lerne nun im Laufe der Zeit die Stadt besser kennen. In meiner Rolle als Fußverkehrsbeauftragter werde ich allerdings in den kommenden Monaten in verschiedenen Stadtteilen in Anlehnung an das Wiener Konzept der Geh-Cafés Stadtspaziergänge organisieren. Das sind Stadtrundgänge mit Experten, etwa vom Fuss e.V. (Fachverband Fußverkehr Deutschland, Anm. d. Red.) und mit Anwohner*innen. So verschaffe ich mir einen Überblick, wo es beim Fußverkehr in Köln hakt.

Wie geht man vor, wenn zügig ein flächendeckendes Fußverkehrsnetz für eine Großstadt wie Köln entstehen soll?
Um schnell in die Umsetzung zu kommen, müssen wir zunächst definieren, was guten Fußverkehr ausmacht. Daraus entwickeln wir Standards und Maßnahmen, die wir stadtweit umsetzen. Die Basis dafür ist eine gute Datengrundlage. Die haben wir aber noch nicht.

Welche Daten brauchen Sie?
Uns interessiert beispielsweise, wie viele Menschen täglich in den Straßen unterwegs sind und wie die Flächen verteilt sind. Paris erhebt unter anderem die Breiten der Gehwege seit Jahren. Sie haben ein sehr ausgeklügeltes System entwickelt. Auf digitalen Karten erkennen Planer*innen allein anhand der Farbe, wie breit der Gehweg vor Ort ist. Paris erfasst zudem das Stadtmobiliar. Also die Bänke und Pflanzkübel, aber auch Tische und Stühle, die Cafés und Restaurants auf Fußwegen platzieren. Das sind Basisdaten, um ein sinnvolles Fußverkehrsnetz zu erstellen.

Scanfahrzeuge und Software-Experten können diese Daten relativ zügig per Video erheben, indem sie die Straßen abfahren, die Straßenquerschnitte filmen und mithilfe Künstlicher Intelligenz das Videomaterial gezielt auswerten. Werden Sie dieses Vorgehen auch in Köln nutzen?
Das beschreibt eine Lösung. Wie wir vorgehen, werde ich mit dem neuen Amtsleiter besprechen, der im August sein Amt antritt.

Müssen sämtliche Daten erhoben werden, bevor in Köln erste Veränderungen pro Fußverkehr umgesetzt werden?
Der Wandel braucht tatsächlich Zeit. Aber wir arbeiten mehrgleisig. Ein wichtiger Baustein könnte hier zum Beispiel sein, zügig ein flächendeckendes digitales Schulwegenetz zu erstellen. Dazu brauchen wir zwar ebenfalls Daten, aber sie können relativ schnell erhoben und ausgewertet werden. Diese Daten können ganz klassisch durch eine Befragung an Grundschulen erhoben werden. Eine modernere Version, um Schulwege zu kartieren, hat der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg im Frühjahr mit dem Startup FixMyCity umgesetzt.

Wie hat FixMyCity das digitale Schulwegenetz erstellt?
Das Startup hat die anonymisierten Wohnorte von 17.000 Sechs- bis Dreizehnjährigen aus Friedrichshain-Kreuzberg mit den kürzesten Wegen zur nächstgelegenen Schule und zum nächsten Spielplatz verknüpft und auf einer Karte visualisiert. Im nächsten Schritt wurden weitere Parameter hinzugefügt wie etwa Ampeln, Ze-brastreifen, Unfallzahlen oder die erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Mit diesen Daten wurden verschiedene interaktive Karten erstellt, die Hauptrouten der Schüler*innen zeigen und an welchen Stellen der Handlungsbedarf am größten ist. Kinder verunfallen nämlich am häufigsten, wenn sie die Straße überqueren. Mit einer guten Datengrundlage kann der Bedarf für eine Querungshilfe besser abgeschätzt und schlussendlich auch transparent priorisiert werden.

Ist das nicht ein sehr eingeschränkter Blick auf den Fußverkehr? Wie repräsentativ ist die Auswertung der Schulwege für alle übrigen Alltagswege?
Die Erhebung von Schulwegen sollte immer ein integraler Bestandteil eines Fußwegenetzes sein. Kinder gehen täglich immer die gleichen Wege. Anders als Seniorinnen oder Pendlerinnen. Deshalb sind Schulwege eine gute Basis für ein Fußwegenetz. Köln hat fast 150 Grundschulen in 86 Stadtteilen. Erstellen wir für sie Schulwegenetze, decken wir eine große Fläche in der Stadt ab. Hinzu kommt, dass Grundschulkinder besonders schutzbedürftig sind. Aufgrund ihrer Größe haben sie einen schlechteren Überblick im Verkehr. Allein aus diesem Grund sollten wir sie auf ihren Wegen besonders schützen. Verbesserungen auf Schulwegen kommen schlussendlich allen Fußgänger*innen zugute.

Zurück zu den Stadtspaziergängen. Welche Daten werden Sie dort erhalten und wie wollen Sie sie nutzen?
Mir schwebt vor, einen Steckbrief zu erstellen, der den groben Zustand des Bezirks beschreibt und aufzeigt, welche Kosten entstehen und welchen Effekt eine Maßnahme auf den Fußverkehr hat. Mängel können beispielsweise zu hohe Bordsteine sein, fehlende Querungen, fehlende Bänke oder zugestellte Gehwege. Wichtig ist: Mir geht es nicht um individuelle Verbesserungen an einer Straßenecke oder um die Absenkung eines bestimmten Bordsteins in einem Bezirk. Wir agieren stadtweit. Wir müssen grundlegende Qualitätsstandards festlegen und ein Gesamtkonzept entwickeln. Dafür ist Transparenz wichtig. Die Menschen müssen verstehen, warum wir an manchen Kreuzungen Bordsteine absenken oder Zebrastreifen einrichten und an anderen nicht. Dafür brauchen wir Daten. Unsere Richtlinie, um Entscheidungen zu treffen, ist beispielsweise die Zahl der Menschen, die in den Straßen unterwegs sind, aber auch die Zahl der Autos, die Durchschnittsgeschwindigkeit, die dort herrscht, oder die Unfallhäufigkeit. Wir treffen keine individuellen Entscheidungen, sondern beschließen immer auf Basis der Datenlage vor Ort.

Gibt es eine Stadt, die beim Fußverkehr heute bereits viel richtig macht?
Paris. Wir kennen alle die schönen breiten Boulevards, wo Fußgänger*in-nen wirklich viel Platz haben. Wenn man dort durch die Innenstadt geht, findet man an fast jeder Kreuzung einen Zebrastreifen, selbst in den kleinen Seitenstraßen. Das macht den Menschen das Queren unkompliziert und komfortabel. Der Fußverkehr wird in Paris immer mitgedacht. Dort werden die Fußwege zudem konsequent freigehalten. Sharing-Fahrzeuge, vom Fahrrad bis zum Scooter müssen alle auf der Straße parken.

„Die Basis für Standards und Maßnahmen ist eine gute Datengrundlage. Die haben wir aber noch nicht.“

In Köln werden die Gehwege teilweise von Autos zugeparkt, sodass Fußgängerinnen auf die Straße ausweichen müssen. Gehen Sie mit der Fußverkehrsstrategie dagegen vor?
Wenn die Mindestbreiten für Fußgängerinnen nicht mehr eingehalten werden, könnte das Gehwegparken untersagt werden. Aus meiner Sicht wäre das ein faires Verfahren und außerdem eine sehr transparente Entscheidung.

Was verstehen sie genau unter Mindestbreiten?
Die genauen Standards werden wir für Köln noch festlegen. Aber Rollstuhlfahrer*innen oder auch Eltern mit Kinderwagen sollten auf Gehweg bequem unterwegs sein. Je nach Frequenz des Fußverkehrs in manchen Straßen könnte das Parken stellenweise auch komplett unterbunden werden. Aber auch für derlei Entscheidungen ist eine gute Datengrundlage notwendig. Diese Entscheidungen fallen auch nicht von heute auf morgen, sondern im Rahmen von Fünf- bis Zehnjahresplänen.

Köln hat bereits mit dem Umbau pro Fußgängerinnen in der Innenstadt begonnen. Beispielsweise in der Ehrenstraße, einer einspurigen beliebten Einkaufsstraße in Domnähe. Sie war immer stark befahren, inzwischen sind die Autos hier weitestgehend ausgesperrt und Radfahrerinnen und Fußgängerinnen teilen sich die Straße. Ist das für Köln ein Ansatz mit Zukunft?
Das beobachten wir gerade. Zur Ehrenstraße landen immer wieder Beschwerden von Fußgängern und Fußgängerinnen auf meinen Schreibtisch. Offiziell ist die Straße eine Fußgängerzone, in der Radfahren erlaubt ist. Momentan kommen sich Radfahrerinnen und Fußgänger*innen dort jedoch immer wieder in die Quere. Aus meiner Sicht ist dieser Konflikt bei temporären Maßnahmen ein zu erwartender Effekt, weshalb am Anfang die gegenseitige Rücksichtnahme noch mehr gefragt ist als sonst. Da der Raum noch nicht selbsterklärend ist, wird es noch eine Weile dauern, bis sich alle an die neue Situation gewöhnt haben. Dennoch ist die Maßnahme richtig: Den Menschen wird Raum zurückgegeben und genau das ist das Ziel.

Paris sperrt eine seiner Prunkstraßen, die Champs Élysées, einmal im Monat für den Autoverkehr. Dann gehört er ausschließlich den Menschen. Ist das auch in Köln denkbar?
In Paris ist das wahrscheinlich leichter umzusetzen. Die kurzzeitige Sperrung ist ein schönes Konzept, um Dinge auszuprobieren und den Menschen zu zeigen, wie viel Raum in der Stadt tatsächlich zur Verfügung steht. Bei solchen Angeboten ist die Regelmäßigkeit entscheidend. Die Menschen müssen die Gelegenheit bekommen, den Raum für sich zu entdecken und zu bespielen. Wenn wir den Fußverkehr stärken und attraktiver gestalten wollen, geht es genau darum: Attraktive Räume in der Stadt zu schaffen, die die Allgemeinheit in Besitz nimmt.

Köln hat im Zentrum sehr viele schmale Straßen. Am Friesenwall, einer Nebenstraße der Ehrenstraße, haben Ihre Kollegen mit einem Multifunktionsstreifen die Gehwege bereits frei geräumt. Werden Sie das Konzept weiterführen?
Das Konzept wird bereits auf weitere Fahrradstraßenabschnitte ausgeweitet, voraussichtlich noch in diesem Jahr wird der Mauritiuswall nach dem gleichen Prinzip umgestaltet.
Der Multifunktionsstreifen ist ein cleverer Schachzug für schmale einspurige Straßen wie den Friesenwall. Dort hatte vor dem Umbau niemand so richtig Platz. Anwohnerinnen und Besucherinnen haben in beide Richtungen am Fahrbahnrand geparkt und den Gehweg blockierten Fahrräder, Mülleimer und Parkscheinautomaten. Der Friesenwall ist Bestandteil des Fahrradstraßennetzes, deshalb musste die Fahrbahn frei geräumt werden. Dabei hat die Analyse der Parkdaten geholfen. Die Kolleginnen haben festgestellt: Selbst wenn die Zahl der Stellplätze halbiert würde, wären für die Anwohnerinnen noch ausreichend Stellplätze vorhanden. Gäste und Besucher*innen könnten in die umliegenden Parkhäuser ausweichen. Aufgrund dieser Analyse wurde das Parken am linken Fahrbahnrand abgeschafft und der Multifunktionsstreifen installiert.

Das ist ein etwa handtuchbreiter Streifen …
… am linken Fahrbahnrand, der alles beherbergt, was vorher auf dem Gehweg störte: Parkscheinautomaten, Verkehrsschilder und Mülleimer. Außerdem wurden dort Fahrradbügel aufgestellt, sowie Blumenkübel und Sitzmöglichkeiten. Jetzt sind die Gehwege frei und Falschparken unmöglich. Schöner kann man kaum Platz schaffen.

Vorher-Nachher: Ein Multifunktionsstreifen schafft auf dem Friesenwall mehr Platz auf dem Gehweg.

Köln hat im Zentrum recht wenig Grünflächen. Die vergangenen Wochen und Monate haben nochmals gezeigt: Die Sommer werden heißer und längere Hitzeperioden setzen den Städten besonders zu. Wie wollen sie Kölns Straßen für die Fußgängerinnen kühlen?
Sie haben recht: Die Sommer werden länger. Sie beginnen im Mai und enden im Oktober. Deshalb brauchen wir zukünftig mehr Grün in den Straßen. Allerdings müssen die Straßenquerschnitte den Umbau auch erlauben. Kölns Straßen sind an vielen Stellen sehr schmal. Dort, wo wir nicht begrünen können, müssen wir uns mit Alternativen, etwa mit Sonnensegeln behelfen. Wir werden langfristig darüber nachdenken müssen, Schattenwege in den einzelnen Quartieren zu schaffen. Damit die Fußgängerinnen auch im Hochsommer vor der Sonne geschützt unterwegs sein können. Trinkbrunnen können trotz der hohen hygienischen Anforderungen eine weitere Möglichkeit sein, um mit den zukünftigen Hitzewellen besser umzugehen.

Erfordern der Klimawandel und die notwendigen Anpassungen an große Hitze und Starkregen von Ihnen bei der Umsetzung einer Fußverkehrsstrategie noch mehr Tempo?
Auf jeden Fall. Wir wollen viele Wege ersetzen und vermeiden, die mit dem Auto zurückgelegt werden. Dafür muss zu Fuß gehen deutlich attraktiv werden. Es gibt also viel zu tun.

Infos zur Person

Nico Rathmann (38) arbeitet seit März als Fußverkehrsbeauftragter in Köln. Der Diplom-Geograf hat in Köln studiert. Zuvor war er bereits in Heidelberg (fünf Jahre) zuständig für den Fußverkehr beim Verkehrsmanagement der Stadt.


Bilder: Stadt Köln, Andrea Reidl, verenaFOTOGRAFIERT