Lernen vom Osten
Im Mai trifft sich die Radverkehr-Elite zum Weltkongress VeloCity in Leipzig. Die Stadt hat sich bereits einmal grundlegend in ihrer Geschichte gewandelt. Diese Erfahrung will sie für die Mobilitätswende nutzen und teilen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)
Einmal im Jahr trifft sich die internationale Fahrrad-Fachwelt aus Forschung und Praxis zum Erfahrungsaustausch bei der VeloCity. Nach Kopenhagen, Paris, Vancouver und Nijmegen steht im Jahr 2023 Leipzig auf dem Reiseplan der Radverkehrs-expertinnen. „Leading the Transition“ – den Übergang gestalten, ist Leipzigs Motto für den Weltkongress des Radverkehrs. Der Slogan ist auch als Appell gedacht. „Wir befinden uns in Leipzig bereits mitten in der Mobilitätswende“, sagt Tobias David, Referent des Bürgermeisters. Wie überall in Deutschland ist der Umstieg vom Auto auf klimafreundlichere Alternativen auch dort kein Selbstläufer. „Aber gesellschaftliche Transformation ist möglich“, betont David. Die Leipziger Bevölkerung wisse das. Sie hat sie bereits durchlebt, 1989, als in den Straßen ihrer Stadt die friedliche Revolution gegen das DDR-Regime startete. Nach der Wende wurden nach und nach beschädigte und zerfallene Straßen und Häuser wieder hergerichtet und das von Kohlebaggern zerfressene Umland wandelte sich zur Seenlandschaft. „Um das zu schaffen, braucht man eine Vision und Leader“, sagt David. „Menschen, die vorangehen, die andere begeistern, mitnehmen und Zeithorizonte aufzeigen, bis wann was erreicht werden kann“, sagt er. Diese Qualitäten seien jetzt wieder notwendig, um die Mobilitätswende zu gestalten. Von außen betrachtet sind die Erfolge in Leipzig beim Radverkehr eher durchschnittlich. 2018 lag der Anteil der Radfahrerinnen bei 18 Prozent am Gesamtverkehr. „In Sachsen sind wir das kleine gallische Dorf des Radverkehrs“, meint Robert Strehler, Vorstandschef beim Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) in Leipzig. Während im Umland der Radverkehr stagniere, nehme er in Leipzig zu. Lob verteilt der Fahrradaktivist nicht leichtfertig. Erst im Sommer hat sein Landesverband der Regierung von Michael Kretschmer schlechte Noten für den Ausbau des Radverkehrs ausgestellt. Nach zweieinhalb Jahren im Amt habe die Landesregierung gerade mal zwei von 15 Projekten zum Radverkehr in Sachsen umgesetzt, kritisierte der ADFC-Landesverband. Das sei in Leipzig anders. „Der politische Wille, den Radverkehr auszubauen, ist hier in den Ämtern angekommen“, sagt Strehler. Mehr noch: „Die Stadt baut auf Zusammenarbeit“, meint er.
Die sucht die Stadt auch mit dem ADFC, der zur Arbeitsgemeinschaft „AG Rad“ gehört. „Viele unserer Mitglieder sind Verkehrs- und Stadtplaner und bringen in dem Gremium ihre Erfahrung ein“, so Strehler. Die Vertreterinnen der Stadt akzeptierten sie als Expertinnen. „Dort findet echte Beteiligung statt“, sagt er.
Rein geografisch hat Leipzig gute Voraussetzungen, Fahrradstadt zu werden. Die Stadt ist flach, kompakt und in alle vier Himmelsrichtungen von Parks und Flüssen durchzogen, die zum Radfahren einladen. „In 20 Minuten kommt man mit dem Rad überallhin“, sagt Strehler. Schneller gehe es mit dem Auto auch nicht. Im Gegenteil. Oft dauere es sogar länger. Denn für Autos wird der Platz mittlerweile oft knapp auf der Straße. Das liegt unter anderem daran, dass Leipzig schnell wächst. In den vergangenen zehn Jahren wuchs die Stadtbevölkerung um 100.000 auf 615.000 Menschen. „50.000 brachten beim Umzug ihren Wagen mit“, sagt David. Die Verkehrsbelastung wachse spürbar – auf der Straße und bei der Parkplatzsuche.
Um mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen, baut die Stadt seit Jahren sukzessiv das Radwegenetz aus. „Zwischen 2010 und 2020 wuchs das Netz von 376 km auf 526 km“, so David. Manchmal hilft der ADFC beim Ausbau auch etwas nach. 2012 unterstützte der Verband die Klage eines Bürgers, der Radfahren auf dem Promenadenring einforderte. Seit den 1970er-Jahren war der 3,6 km lange Innenstadtring fürs Fahrrad tabu. Eine rechtliche Grundlage gab es für das Verbot nicht. Deshalb entschied das Oberverwaltungsgericht 2018, dass die Stadt dort auch für Radfahrer*innen Platz schaffen müsse.
Im Frühjahr 2022 wurde der erste Abschnitt auf einer ehemaligen Fahrspur markiert: auf 600 Meter Länge ein 2,25 Meter breiter Radstreifen mit grüner Farbe. Trotz des Urteils war und ist der Umbau kein Selbstgänger. „Im Vorfeld und danach gab es viele Diskussionen und Konfrontationen“, sagt Strehler. Noch sei Radfahren dort nicht attraktiv. Dafür sei das Teilstück zu kurz und es fehle die Anbindung ans Radnetz. Aber der Anfang ist gemacht. In den kommenden Jahren solle der Radverkehr auf dem Promenadenring nun sukzessive ausgebaut werden.
„Manche Radverkehrsplanung, die jetzt auf die Straße gebracht wird, ist bereits viele Jahre alt und überholt“
Robert Strehler,
Vorstandschef beim Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC), Leipzig
Tempo 30 per Lärmaktionsplan
Geht es nach der Stadtregierung, steigt der Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehr bis 2030 auf 23 Prozent. Um das zu schaffen, setzt die Stadt auf einen Mix, der Autofahren einschränkt und den Umweltverbund von Bus und Bahn und den Fuß- und Radverkehr stärkt.
Dazu gehört, dass bis 2024 an rund 30 Hauptverkehrsstraßen Tempo 30 angeordnet werden soll. „Wir berufen uns dafür auf unseren Lärmaktionsplan“, sagt David. Überschreitet der Schallpegel tagsüber den Wert von 70 Dezibel und nachts von 60, können Städte das Tempo auf diesen Straßen als Schutzmaßnahme reduzieren. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass bei Straßenlärm, der im Haus einen Schallpegel von 65 Dezibel erreicht, das Risiko für Herz-Kreislauf-Störungen um 20 Prozent höher ist als bei 50 bis 55 Dezibel.
Für die Stadtfraktion ist das niedrigere Tempo ein Schlüssel, um die Situation für Radfahrerinnen, Fußgängerinnen und Anwohner*innen in den betroffenen Straßen schnell zu verbessern. Prinzipiell will die Politik Tempo 30 noch viel umfangreicher ausweisen, hinderlich sei dafür aber die aktuelle Rechtslage. „Leipzig hat im Herbst 2021 die Initiative ,Lebenswerte Städte durch angepasste Geschwindigkeit´ gestartet“, sagt David. Inzwischen sind ihr über 300 Städte und Gemeinden beigetreten. „Wir fordern die Bundesregierung auf, die Straßenverkehrsordnung und das Straßenverkehrsrecht zu ändern“, sagt er. Ob und wann die Änderung kommt, ist nicht absehbar. Um trotzdem die Mobilitätswende voranzubringen, sucht Leipzig Wege, um Tempo 30 umzusetzen.
„Wer den Autoverkehr in der Innenstadt reduzieren will, muss immer auch das Umland mitdenken und besser anbinden“
Tobias David,
Referent des Bürgermeisters
Weniger Autos an S-Bahnhöfen und in der Innenstadt
„Wer den Autoverkehr in der Innenstadt reduzieren will, muss immer auch das Umland mitdenken und besser anbinden“, sagt David. Pendlerinnen und Besucherinnen bräuchten eine echte Alternative, um die Strecken zurücklegen zu können. Ein großer Schritt war 2013 die Eröffnung des Leipziger City-Tunnels. Die Bahnstrecke verbindet die Innenstadt nun über verschiedene S-Bahnlinien mit den umliegenden Regionen. „Jetzt brauchen wir sichere Abstellanlagen für Fahrräder an S-Bahn-Stationen“, sagt David. Der Handlungsbedarf ist groß. 2019 war Leipzig die Hauptstadt der Fahrraddiebe. Um die Radanreise zum Bahnhof zu erleichtern, will die Stadt zunächst an insgesamt zwölf Standorten abschließbare Fahrradabstellanlagen installieren.
Vieles, was die Stadt macht, findet der ADFC gut und richtig. Kritik gibt es dennoch: „Manche Radverkehrsplanung, die jetzt auf die Straße gebracht wird, ist bereits viele Jahre alt und überholt“, sagt Strehler. Viele der Radstreifen, die jetzt auf das Pflaster gemalt werden, sind für Cargobikes und die gewachsene Zahl an Radfahrenden viel zu schmal. Die Planungen sollten angepasst werden, auch wenn das aufwendig ist.
Mit diesem Problem ist Leipzig nicht allein. Momentan überholt die Entwicklung die Planung vielerorts mit Riesenschritten. Vielleicht finden die Expert*innen bei der VeloCity im Mai eine Antwort auf dieses Problem.
Bilder: Stadt Leipzig, Robert Strehler, Maike Rauchhaus