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Nordhorn will 40 Prozent plus X

Die an der niederländischen Grenze gelegene Kleinstadt Nordhorn hat sich hohe Ziele gesetzt. Für 40 Prozent aller Wege nehmen die Menschen hier bereits das Fahrrad. Aber das reicht den Politikern längst nicht mehr. Sie wollen mehr Radverkehr in Nordhorn, viel mehr. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2020, Dezember 2020)


Nordhorns „grünes Radnetz“ verläuft entlang der vielen Kanäle und dem Fluss Vechte. Hier ist Radfahren sicher und komfortabel. Weiterhin verbessert die Stadt fortwährend die Bedingungen für Radler auf dieser Strecke.

Die Nähe zur Radfahrnation hat die Stadt und ihre Bewohner geprägt. „Fietsen“ ist hier selbstverständlich. Noch mehr Radverkehr ist aber gar nicht so einfach. In der 50.000-Einwohner-Stadt gibt es bereits an nahezu allen Hauptverkehrsstraßen straßenbegleitende Radwege und nicht nur ein lückenloses Radwegenetz, sondern gleich zwei. Trotzdem ist das Potenzial an Umsteigern weiterhin hoch. Während die einen Rad fahren, fahren die anderen Auto: immerhin 49 Prozent. Um die Klimaziele zu erreichen und die Luftqualität in der Stadt zu verbessern, sollen zukünftig möglichst viele Autofahrer zum Radfahren verführt werden. Dafür hat sich die Stadt Hilfe geholt. Ein Planungsbüro aus Köln hat 2017 ein Radverkehrskonzept erstellt, das die Verwaltung jetzt nach und nach umsetzt. Dabei zeigt sich: Wer einen Radverkehrsanteil von „40 Prozent plus x“ will, muss in vielen Bereichen umdenken.

„Der Radverkehr wird bei jeder Planung immer mitgedacht.“

Anne Kampert, Klimaschutzmanagerin der Stadt Nordhorn

Kurze Wege für Radfahrer

Eine fahrradfreundliche Infrastruktur beginnt bei der Planung von Wohngebieten. In der Regel entscheide man sich am Morgen für das Verkehrsmittel, das man den Tag über nutzen werde, sagt die Klimaschutzmanagerin Nordhorns, Anne Kampert, die für nachhaltige Mobilität zuständig ist. Für eine Fahrradstadt heißt das: Der Weg von der Wohnung in die Innenstadt muss per Rad unschlagbar schnell sein. Deshalb werden neue Wohngebiete in Nordhorn inzwischen so geplant, dass Radfahrer und Fußgänger Vorrang haben. Während Autofahrer lange Umwege fahren müssen, sind für Radfahrer die kurzen Wege reserviert – zu allen wichtigen Punkten der Stadt. Im Idealfall verlaufen die Routen abseits des Autoverkehrs. Die Ausgangslage dafür ist günstig. Die Strecken vom Stadtrand ins Zentrum sind kaum länger als fünf Kilometer. Die neuen Wohngebiete müssen nur auf dem direkten Weg ans Radwegenetz angeschlossen werden. Davon hat die Wasserstadt gleich zwei. Das grüne Netz verläuft entlang der vielen Kanäle und dem Fluss Vechte, das rote Netz entlang der Hauptverkehrsstraßen. Bevor die Wege entlang der Gewässer zu Radwegen wurden, waren es alte Treidelpfade. Auf ihnen zogen Arbeitspferde schwere Lastkähne über die Kanäle. Seit Jahrzehnten sind hier nun Radfahrer und Fußgänger unterwegs. Jetzt will die Stadt den Standard der Strecken steigern. Das lohnt sich.

Nordhorn hat zwei Kreisverkehre umgebaut. Bodenschwellen bremsen nun den Autoverkehr und Poller zwingen die Fahrer dazu, im rechten Winkel abzubiegen. Seit dem Umbau sind beide Knotenpunkte unauffällig.

Breite Verbindungen und Vorfahrt

Der Radweg „Am Verbindungskanal“ verbindet mehrere Stadtteile und den Norden mit dem Süden der Stadt. Er ist eine der Hauptrouten. Allerdings reichte die Breite von 1,80 Metern für die stetig wachsende Zahl an Radlern kaum noch aus. Weil die angrenzende Lindenallee denkmalgeschützt ist, baute die Stadt einen parallel verlaufenden zweiten Radweg. Außerdem wurden die beiden Kreuzungen auf der Strecke pro Rad umgestaltet. „Zuvor mussten die Radfahrer hier absteigen, die Autofahrer hatten Vorfahrt“, sagt Kampert. Jetzt ist es umgekehrt. Damit die Pkw-Fahrer tatsächlich bremsen, wurde unter anderem die Straßenbreite für Autos an den Kreuzungen mit Blumenbeeten auf die Hälfte verjüngt und rot markiert. Das Vorhaben kam im Vorfeld nicht gut an. „Viele fanden den Umbau für die Radfahrer zu gefährlich“, erinnert sich Anne Kampert. Das ist inzwischen vergessen. Jetzt haben die Radfahrer auf der sieben Kilometer langen Strecke Vorfahrt. Unfälle gab es dort laut Anne Kampert keine und die Rückmeldungen sind positiv.

Duales Netz und Aufklärungskampagnen

Wie alle anderen Städte hat Nordhorn aber auch ein zentrales Problem: Es fehlt der Platz. Breite geschützte Radwege, auf denen selbst Lastenräder einander überholen können, sind kaum machbar. Trotzdem will die Stadt ein Wegenetz schaffen, auf dem sportliche und ungeübte Radfahrer sicher und im eigenen Tempo nebeneinander unterwegs sein können. Eigentlich gibt es das bereits. Anne Kampert erklärt: „Viele der Radwege, die Hauptstraßen begleiten, sind nicht mehr benutzungspflichtig.“ Schnelle Alltagsradler und E-Bike-Fahrer radeln hier im Mischverkehr mit, während Kinder und langsamere Erwachsene gemütlich über den Radweg rollen. Also ist das Problem bereits gelöst? Mitnichten. „Viele Verkehrsteilnehmer kennen die Regeln nicht“, sagt die Klimaschutzmanagerin. Die Folgen sind Streit und Stress zwischen Radfahrern und Autofahrern. Nordhorn will mit einer Aufklärungskampagne gegensteuern. „Wir haben Fahrrad-Piktogramme auf Hauptstraßen aufgebracht, um den Autofahrern zu zeigen: Radfahren auf der Fahrbahn ist hier erlaubt“, sagt sie. Sie nennt das „duales Netz“. Es ist Nordhorns Kniff, die Verkehrsregeln sichtbarer zu machen. Das versucht Anne Kampert auch in Fahrradstraßen. Seit August wird in der Wasserstadt der Asphalt in Fahrradstraßen an ihrer Ein- und Ausfahrt in einem hellen, leuchtenden Grün markiert. Das Signal an alle ist deutlich: „Das Fahrrad ist hier das Verkehrsmittel, für das die Straße da ist“, sagt Anne Kampert. Sie dürfen hier plaudernd nebeneinander fahren. Autofahrer müssen sich ihrer Geschwindigkeit anpassen oder dürfen maximal 30 km/h fahren. Auch diese Regeln sind nicht neu. Damit sich aber alle daran erinnern, hat die Verwaltung ein Banner mit den Regeln neben der neuen Grünmarkierung aufgestellt. Das Fahrradstraßenschild direkt daneben geht dabei fast unter. Überflüssig ist es dennoch nicht. „Die Markierungen auf der Straße werden erst rechtskräftig durch das Verkehrsschild“, sagt Anne Kampert.

Auch in der Fahrradstadt fehlen im Zentrum mancherorts gute Abstellanlagen. Anne Kampert und ihr Team sind dabei, nachzubessern, und haben Parkplätze in Einkaufsstraßen in Parkraum für Fahrräder umgewandelt.

Radverkehr wird von allen getragen

In Nordhorn ist es wie in Holland. Alle fahren Fahrrad. Der Bürgermeister, die Politiker, die Lehrer und die Schüler. Die Politiker nehmen den Ausbau der Infrastruktur ernst. Sie geben Anne Kampert immer wieder Tipps, was man noch besser machen könnte, und beteiligen sich an Aktionen pro Fahrrad. Dafür stehen sie im Winter auch schon mal morgens um 6.30 Uhr an den Hauptradrouten und verteilen Schokoherzen an Radfahrer. „Allerdings nur an die, die mit Licht unterwegs waren“, sagt Anne Kampert. Die „Lichtaktion“ war keine Ausnahme. Auch beim jährlichen Stadtradeln bieten der Bürgermeister, der Stadtbaurat und viele andere bekannte Personen aus der Stadt Radtouren zu ihren Themenschwerpunkten an. Beim Ziel Radverkehrsanteil 40 plus x ziehen Politik und Verwaltung konsequent an einem Strang. Das spiegelt auch das nächste Projekt, dessen Vorplanung gerade anläuft. Auf einer vierspurigen Hauptstraße soll der Platz neu verteilt werden. „Zwei Fahrspuren reichen für den Autoverkehr dort inzwischen aus“, sagt Anne Kampert. Jetzt sollen auf den ehemaligen Pkw-Spuren großzügige Radwege entstehen. Die Planung übernimmt das Straßenbauamt. Einen Radverkehrsplaner hat Nordhorn nicht. „Der Radverkehr wird bei jeder Planung immer mitgedacht“, sagt Anne Kampert. Das gilt für Straßen, Gebäude, Plätze und Wohngebiete. Das hat hier Tradition – wie in den Niederlanden.

Zahlen und Fakten

Die ehemalige Textilstadt Nordhorn liegt westlich von Osnabrück in Niedersachsen, direkt an der Grenze zu den Niederlanden. 2017 wurden in der Stadt 42 Prozent aller Wege mit dem Rad zurückgelegt und 9 Prozent zu Fuß. Der Anteil der Bus- und Bahnfahrer betrug gerade mal 2 Prozent. Das kann sich aber zukünftig ändern. Seit 2019 ist Nordhorn wieder per Bahn erreichbar. Die Bahntrasse soll über die Landesgrenze hinweg in die Niederlande verlängert werden. Nordhorn fördert den Kauf von Lastenrädern mit und ohne Motor mit bis zu 500 Euro. 2020 und 2021 mit insgesamt 20.000 Euro. Die Stadt stellt regelmäßig weitere Fahrradabstellanlagen auf, außerdem sind alle Einbahnstraßen in Gegenrichtung für Radfahrer freigegeben. Auch ein Winterdienst für Radwege ist selbstverständlich. Seit Jahren gibt es einen Plan, der genau festlegt, bis wann die Radwege freigeräumt und gestreut sein müssen. Im Landkreis werden auch die Radwege zwischen den Städten gestreut.


Bilder: Stadt Nordhorn