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Radverkehr als zentraler Baustein im Verkehrskonzept

Die Niederlande stellen für viele das Land dar, wie man es sich hier nach einer Verkehrswende wünscht. Beispiele zeigen: Mit Radwegen allein ist es nicht getan. Man muss dranbleiben und in größeren Zusammenhängen denken. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2020, Juni 2020)


Wer an der Station Centraal in Amsterdam aus dem Zug steigt, steht mitten in einer Großstadt – und in einer Mobilitäts-Idylle: Über den weiten Vorplatz nur Radfahrer, Taxis und kleine E-Autos auf schmalen Wegen. Ansonsten ist der Platz von Fußgängern bevölkert, viele auf dem Weg zur wenige Meter entfernten Straßenbahn- und Busstation. Von hier aus fahren Bahnen in alle Winkel der weitverzweigten Stadt, die sich in den letzten Jahren sogar über künstlich angelegte Inseln im Norden ausgebreitet hat. Kurz vor dem Haupteingang des Bahnhofs beginnt die nahezu autofreie Einkaufsstadt.
In den letzten 15 bis 20 Jahren gab es auch durch Zuwanderung einen Schub an Arbeitsplätzen in der größten Stadt der Niederlande. Sie wächst kontinuierlich. Heute hat sie gut 850.000 Einwohner, vor 20 Jahren waren es noch 680.000. Die Räder der Fahrradpendler stehen wenige Meter von den Gleisen entfernt in teils schwimmenden Fahrradparkhäusern am Hinterausgang des Bahnhofs. Ihre Zahl wird laufend aufgestockt, trotzdem hinkt die Stadt dem weiter wachsenden Bedarf oft hinterher. Amsterdam ist aber auch die touristisch wichtigste Stadt in den Niederlanden. In den letzten Jahren lockte sie immer mehr Touristen und Hotelketten an.

Beispiel Amsterdam: die permanente Arbeit an der Lebensqualität

Die holländische Weltstadt wird, wie alle größeren Wirtschaftszentren, täglich von enormen Pendlerströmen heimgesucht. Natürlich leidet auch die Grachtenstadt unter der Verkehrslast, vor allem in Sachen Autoverkehr, auch wenn man es am bahnhöflichen Idyll zunächst gar nicht sieht. Staus wie in München oder Köln auf und neben den Hauptverkehrsadern, schlechte Luft, zu wenig Platz. Das gibt es auch hier. Doch die Stadt kämpft dagegen an. Autos aus dem Innenstadtbereich heraus zu halten, ist nicht einfach. Offizielle Internetseiten der Stadt raten davon ab, die Stadt per Auto zu besuchen. Ein dichtes Netz aus Park & Ride-Plätzen sorgt für etwas Entlastung. Die relativ hohen Gebühren eines elektronisch gesteuerten Bezahlsystems schrecken vom Besuch per Auto ab.
Und die Bewohner? In den Wohnvierteln wurden in den letzten 15 Jahren Parkausweise für Anwohner extrem verteuert. 535 Euro kosten sie in Amsterdam im Schnitt. Und die Parkplätze werden abgebaut: jährlich um etwa 1.500. Wer innerhalb der Stadt umzieht, muss im neuen Viertel auf seinen Parkausweis obligatorisch verzichten.
Intelligente Verkehrsplanung und -routing, ein ständig optimiertes Netz der öffentlichen Verkehrsmittel und, natürlich, das bekannte feingliedrige und eigenständige Radwege-Netz sind hier die größten Mobilitäts-Garanten. „Für unsere Städte gibt es nur eine Möglichkeit zu mehr Lebensqualität, und der führt über die Verringerung des Autoverkehrs“, sagt Bernhard Ensink, strategischer Berater beim Verkehrsplanungs- und Beratungsunternehmen Mobycon. Mittlerweile hat die Firma 45 Mitarbeiter an drei niederländischen Standorten, zudem einen Standort in Nordamerika. Ensink hat Erfahrung in Sachen Lenkung von Mobilitätsströmen und Förderung von Fahrradverkehr. Er war Gründer und Leiter der internationalen Fachkonferenz Velocity und leitete ab 2006 den Dachverband der europäischen Radfahrerverbände ECF.

Neue Herausforderungen und Pop-up-Radwege durch Corona

Die aktuelle Corona-Krise bringt neue Herausforderungen und bedeutet für Mobycon noch mehr Arbeit: Das Unternehmen war auch als Berater bei Corona-Pop-up-Radwegen in Berlin involviert. Für ihre Planung wurde kurzfristig sogar ein Handbuch in mehreren Sprachen herausgegeben – abrufbar auf der Internetseite mobycon.com. Eine Erfahrung aus Ensinks langjähriger Beratung und Analyse, die er für allgemeingültig hält: „Überall, wo mehr als 30 Stundenkilometer gefahren werden darf, macht Mischverkehr keinen Sinn!“ Eine klare Trennung der Wege für Autos und Fahrräder – ein Konzept, wie man es in den Niederlanden fast überall bestätigt bekommt. „In Holland ist es so, dass ambitionierte Städte mit eigenem Personal Projekte und Programme erarbeiten.“ Für die erste Analyse und Beratungen wird gern auf externe Unternehmen zurückgriffen. „Die Analyse ist das Wichtigste. Unterschiedliche Ausgangslagen brauchen unterschiedliche Maßnahmen“, sagt er und verweist auf Projekte in Delft und Rotterdam, wo regionale Fahrrad-Schnellstraßen gebaut wurden. In anderen Städten hätte man diese vielleicht ganz anders angelegt – entscheidend seien die Arten der Pendlerströme, vorhandene In­frastrukturen und vieles mehr. Und stehen bleiben gibt es nicht: Seit einigen Jahren werden bei Mobycon auch spezifische Besonderheiten für die schnellen S-Pedelecs in die Netzplanung einbezogen.

Fahrradsozialisation: in den Niederlanden eine gesellschaftliche Aufgabe

Natürlich muss man nicht nur baulich nachhelfen, um die Bewohner und Touristen auf die Räder zu bekommen, sondern zunächst gesellschaftlich. Wie mit einer Fahrrad-Bürgermeisterin für Amsterdam. Diese Ehrenamtsstelle gibt es in Amsterdam seit 2016 und mittlerweile auch andernorts. Katelijne Boer­mas Aufgabe ist es unter anderem, in der Bevölkerung Ideen für noch mehr Fahrradmobilität aufzuspüren und weiterzugeben – auch an die Behörden. Vernetzung ist für sie hier ein Zauberwort. Ein Fokus ihrer aktuellen Arbeit ist das Thema „Kinder aufs Fahrrad“. Helikopter-Eltern sind keine deutsche Erfindung, auch in Amsterdam gibt es den Trend, Kinder per SUV zur Schule und zu Freizeitaktivitäten zu chauffieren. Hier versucht man, dem entgegenzutreten. Aufklärung, Lernprogramme, Verbreitung von Lastenrädern. Schließlich sollen die Kinder nicht an das Auto gewöhnt werden, sondern an intelligente Nutzung nachhaltiger Mobilitäten – und das Fahrrad. Mit bis ins Detail abgestimmten Programmen lernen Kinder hier, gut und sicher Fahrrad zu fahren.

Vernetzt denken bringt Mobilitäts-Mehrwert. Die Hälfte der Bahnreisenden nutzt in den Niederlanden das Fahrrad als Zubringer.

Fahrradparadies? Das ist nur die halbe Geschichte

Das Bild der Niederlande als Fahrradnation ist richtig, aber es ist nur die Perspektive der letzten 30 bis 40 Jahre. Oft wird vergessen, dass auch Städte wie Amsterdam nicht als „Biketown“ geboren wurden. Es hilft, die Situation in Deutschland zu verstehen, wenn man sich die Geschichte der Fahrradnation vor Augen führt. Zunächst gleicht die Vergangenheit der Niederlande der bundesdeutschen Geschichte: Vor dem Zweiten Weltkrieg dominierte das Fahrrad das Stadtbild uneingeschränkt. Radwege? Auch sie gab es, aber Autos waren in der Unterzahl, in den meisten kleineren Städten waren Radwege kaum vorhanden, da unnötig. Durch eine dem deutschen Wirtschaftswunder ähnliche ökonomische Dynamik erreichten die Niederländer nach dem Krieg schnell einen hohen Wohlstand. Prosperität hieß auch hier: Konzentration auf das Auto. Ab Mitte der 1950er Jahre musste deshalb in vielen Städten mehr Platz fürs Auto geschaffen werden. Ganze Straßenzüge wurden abgerissen und neu aufgebaut. Mehrspurige Führungen, riesige Parkplätze in den Innenstädten. Es gab die ganze Palette an Umwidmungen der Flächen, die man auch aus Deutschland kennt. Die Zahl der Radfahrer sank dabei jedes Jahr um sechs Prozent.

„Wir müssen jetzt darüber nachdenken, was wir der jungen Generation vermitteln“

Katelijne Boerma, Amsterdamer Fahrrad-Bürgermeisterin

Mehr Auto-Mobilität – mehr Unfälle

Die durchschnittlich pro Tag zurückgelegte Strecke pro Person versiebenfachte sich auf fast 30 Kilometer. 1971 erreichte eine Folge der Entwicklung seinen traurigen Höhepunkt: 3300 Menschen starben bei Verkehrsunfällen, darunter ein hoher Prozentsatz an Kindern.
Hier trennen sich die Entwicklungen der beiden Länder: Ab den Siebzigern gingen die Holländer zu Tausenden auf die Straßen, um gegen die Verkehrstoten zu demonstrieren. Sie forderten sicherere Straßen und lebenswertere Innenstädte für Menschen, denen der Platz zum Leben weggenommen worden war. Wesentlich mit zu einem Umdenken beigetragen hat dabei die Ölkrise 1973. Sie verstärkte den Protest und stellte neben mehr Sicherheit und Menschenfreundlichkeit im Verkehr auch den Umweltgedanken und die Unabhängigkeit vom Erdöl in den Mittelpunkt. Einige kleinere Städte gingen voraus und schufen autofreie Innenstädte. Wo Mischverkehr bleiben sollte, da wurde ein neues Radwegenetz entwickelt – mit getrennten Wegen für Autos und Räder, Autostraßen wurden oft zurückgebaut. Wo komplette Fahrrad-Netze umgesetzt wurden, stieg der Anteil der Fahrradnutzung binnen kurzer Zeit wieder um bis zu 75 Prozent an. Mit fahrradpolitischen Richtlinien, die nicht verpflichtend waren, aber vom ganzen Land übernommen wurden, hatten sich die Niederlande auf den Weg zum Fahrradland gemacht, wie wir es heute kennen. Nebeneffekt: Laut Statista gab es im Jahr 2018 nur 678 Verkehrstote im ganzen Land.
Eine Voraussetzung für so einen Wandel ist unerlässlich: „Das Fahrrad muss als vollwertiges Verkehrsmittel anerkannt werden – von allen Beteiligten, vom Verkehrsplaner über die Behörden bis hin zum Nutzer“, betont auch Bernhard Ensink.

Fahrradanteil Utrecht: 40 Prozent und steigend

Eine der Städte, die in und nach den Siebzigern weitreichend umgebaut wurden, ist Utrecht. Die Stadt zählt 350.000 Einwohner, 125.000 Radfahrer sind laut Statistik täglich mit dem Rad in der City unterwegs. Das braucht entsprechend breite Radwege für die Rushhours, aber auch Parkmöglichkeiten. Um die 35.000 Plätze sollen es allein in der Innenstadt sein. Doch Utrecht ist auch eine Durchgangsstadt. Sie liegt zentral im Land, der Bahnhof Utrecht Centraal spielt eine herausragende Rolle für den Fernverkehr. Vor allem ins 45 Kilometer entfernte Amsterdam pendeln die Bewohner und die der umliegenden Ortschaften zur Arbeit. Für die Möglichkeit, das mit der Bahn in 25 Minuten zu tun, sorgt unter anderem auch das größte Fahrradparkhaus der Welt. Von der Einfahrt ins Parkhaus unter dem Bahnhof bis zum Zug brauchen Pendler etwa 10 Minuten – inklusive sicherem Abstellen des Zweirads. Seit Ende 2019 sind allein dort 12.500 Rad-Parkplätze vorhanden, dazu um die Ecke mehrere Hundert weitere für Spezial- und Lastenräder. Das Parkhaus ist mit einem Leitsystem ausgestattet, das die Reihen angibt, in denen sich freie Plätze befinden.
Dieses Beispiel zeigt: Vernetzt zu denken bringt Mobilitäts-Mehrwert. Wer Auto-Pendlerströme vermindern will, sorgt für gute Anschlüsse bei der alternativen Mobilität schon auf halbem Weg dorthin. In den Niederlanden erreicht rund die Hälfte der Pendler den Bahnhof mit dem Fahrrad. Schon innerhalb der Stadt sichert ein auf den Radverkehr zugeschnittenes Wegenetz eine komfortable Anfahrt zum Bahnhof. Am Ankunftsort wird die Fahrt mit dem öffentlichen Verkehr OV oder Leihrädern von OV Fiets. Diese auch am kleinsten holländischen Bahnhof vorhandenen Leihräder kosten 3,85 Euro je Tag. Deutlich günstiger wird es mit dem Jahresticket, das nur wenige Euro kostet. Von der Stadt finanzierte Fahrradlehrer geben Unterricht oder helfen Neuzugezogenen, sich auf dem Rad in der Großstadt zurechtzufinden. E-Tretroller, die hierzulande vor Kurzem noch als vermeintliche Mobilitätsrevolution gefeiert wurden, sind in den meisten niederländischen Städten übrigens so gut wie nicht vertreten; sie werden einfach nicht gebraucht.

Auf einem guten Weg: Die vorhandenen Radschnellwege in den Niederlanden in Grün, die orangefarbenen sind in der Planungs- oder Ausführungsphase. Zentren sind bereits teils sehr gut abgedeckt. Grau: Verbindungsrouten der Kluster.

Niederländer denken größer und vernetzter

„Hier in Holland sind alle Autofahrer auch Fahrradfahrer“, sagt Marion Kresken vom IPV Delft, einem Ingenieurbüro in der gleichnamigen Stadt, das sich mit der Planung und Durchführung von Radweganlagen, speziell Brücken beschäftigt. „Das fördert das Verständnis füreinander und für die Radnetz-Planungen ungemein. Überhaupt gibt es in den Niederlanden viel mehr Institutionen und Verbände, die netzwerkartig zusammenarbeiten und vom öffentlichen Träger auch gern einbezogen werden. Man analysiert zusammen und denkt zusammen nach, das kann sehr effektiv sein.“ Und auch die unterschiedliche Mentalität und Lebensweise wirke sich auf die Entwicklung und Dynamik hin zur neuen Mobilität aus. „Man denkt hier vernetzter, größer.“ Ein gutes Beispiel ist der geradezu ikonische Hovenring in Eindhoven, der die Radfahrer aus dem gefährlichen Kreuzungsverkehr nimmt und ihnen auf lichter Höhe einen eigenen Kreisverkehr gibt. Dabei war nicht der Wunsch nach einem besseren Fluss des Fahrradverkehrs der Anlass, „sondern der Wunsch nach ungehindertem Autoverkehr“, erklärt dazu Bernhard Ensink. Der kühne Entwurf von IPV Delft kam bei den Entscheidern in Niederlanden gut an. „Unsere Entwürfe für deutsche Projekte sind dagegen oft zu gewagt, was die Reichweite der Lösungen anbetrifft“, so Marion Kresken. In Deutschland traue man sich derzeit weniger zu und es sei komplizierter, etwas auf die Beine zu stellen.

IPV Delft hat den Hovenring in Eindhoven mitentwickelt und gebaut. Der erhöhte Kreisverkehr wurde wie eine Hängebrücke mit Abspannseilen an einem Pylon aufgehängt. Die Anfahrrampen für die Radfahrer sind relativ lang, um die Steigung gering zu halten. Täglich nutzen etwa 4000 bis 5000 Radfahrende das Bauwerk. Die Kosten des Projekts betrugen elf Millionen Euro.

Beispiel Houten – Modellstadt statt Utopie

Die Kleinstadt Houten, wenige Kilometer südlich von Utrecht, wird auch „Verkehrskonzept der Zu-kunft“ genannt. Das ursprüngliche 8000-Einwohner-Dorf im Umkreis von Utrecht wurde so umgebaut, dass man von seinem Viertel aus die angrenzenden Wohnviertel zu Fuß oder mit dem Fahrrad direkt erreichen kann; mit dem Auto aber muss man auf eine Umgehungsstraße, der Weg wird ungleich länger und unbequemer. Die direkten Wege sind umgekehrt dadurch ruhig und sicher. Das Rad hat Vorrang vor dem Autoverkehr. Das neue Zentrum von Houten ist fast komplett autofrei, Radverkehrs- und Autostraßen sind praktisch völlig entkoppelt. Die Trennung der Verkehrsspuren hat Erfolg: Seit 30 Jahren soll es in Houten keinen tödlichen Unfall gegeben haben. Die neuen Bereiche der Stadt wurden von Anfang an als Viertel der alternativen Mobilität und der kurzen Wege für Fußgänger und Radfahrer geplant. Die Einkaufsregion im neuen Zentrum rund um den Bahnhof ist – gegen anfängliche Bedenken der Einzelhändler – gut besucht. Die Zufahrt zu den umliegenden günstigen Parkhäusern ist unkompliziert, die Wege sind kurz.

Deutschland als Fahrradland?

Auch wenn Konzepte wie die von Amsterdam, Utrecht oder Houten nicht auf jede Stadt und schon gar nicht für jede Stadtgröße transformierbar sind: Sie zeigen, wie viel Lebensqualität möglich wird, wenn Autos nicht mehr den Verkehrsraum bestimmen. Mobycon-Berater Bernhard Ensink kennt die Entwicklung beider Länder auf dem Verkehrs-sektor und glaubt an Deutschland als potenzielle Fahrradnation: „In Deutschland will man jetzt schneller voran, man spürt es in allen Kontakten bis hin zum Verkehrsminister. Ich glaube fest, dass Deutschland ein Fahrradland werden kann!“


Bilder: Hector Hoogstad Architecten – Petra Appelhof, Georg Bleicher, Fietsersbond