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Plan-Build-Ride hat ausgedient

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 03/2021, September 2021)


Kommt Ihnen unser Titel „Plan-Build-Ride“ bekannt vor aus Ihrem Unternehmen, Ihrer Organisation oder Verwaltung? „Plan-Build-Run“ war viele Jahre das gelebte Mantra in der IT – und mehr oder weniger bewusst sicher auch ein gutes Stück im Verkehrssektor. Grob gesagt war diese Philosophie in erster Linie auf Sicherheit, Prozesskonformität und Effizienz ausgelegt. Innovationen bedeuten vor allem weitere Effizienzsteigerungen und Kostensenkungen, nicht mehr, nicht weniger. Damit fuhr man jahrelang gut. Mit der heutigen Realität hat das System, das Unternehmen und das Denken einer ganzen Generation prägte, aber nur noch wenig gemein. Längst fordert die enorme Geschwindigkeit der allgemeinen Veränderungen neue Ansätze. Umkehrt beschleunigen diese wiederum Veränderungen.
„Das Plan-Build-Run-Modell ist tot“, behaupteten schon vor über zehn Jahren die Technologieberater von Forrester Research. Die Zukunft sei „Agilität“. Dieser neue Ansatz hat Konzerne wie Amazon, Google oder Tesla mit hervorgebracht und tatsächlich gibt es heute kaum noch ein Unternehmen, das sich nicht intensiv mit dem Thema befasst. Allerdings ist Umfragen zufolge der Anteil der Mitarbeitenden, die damit bislang noch nicht viel anfangen können, groß. Zeit also, auch in den Bereichen Mobilität und Verkehrsplanung über Agilität als neue Basis und Zukunftsstrategie nachzudenken? Sicher ist, dass auch hier die Geschwindigkeit der Veränderungen immer weiter zunimmt. Ein Treiber ist das Ziel Klimaneutralität mit seinen Verpflichtungen, wie dem Pariser Abkommen und dem Green Deal der EU, ein anderer die Einsicht, dass sich die Städte und Kommunen beim Thema Mobilität in einer Sackgasse befinden. „Die Städte wollen die Verkehrswende“, sagte im Februar letzten Jahres der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages Helmut Dedy im VELOPLAN-Interview (online unter veloplan.de).

Schneller Wandel und Disruption

„Allein durch alternative Antriebe werden wir die Klimaziele im Verkehr keinesfalls erreichen“, sagt der gefragte Analyst und Mikromobilitätsexperte Horace Dediu. Weltweit steige mit dem zunehmenden Wohlstand auch die Anzahl der Pkw, ihr Gewicht und ihre Motorisierung. Den zusätzlichen Material- und Energieverbrauch könne keine Technologie auffangen. Wer sich die Statistiken anschaut, wird ihm kaum widersprechen wollen. Auch in Deutschland steigen die Pkw-Zulassungen und der Anteil an schweren SUVs weiter und die durchschnittliche PS-Zahl ist im letzten Jahr um 7 auf nun 165 gestiegen. Notwendig ist nach der Meinung von Experten wie Horace Dediu ein Umdenken auf breiter Ebene hin zu kleineren, leichteren und umweltfreundlicheren Fahrzeugen.
Mit neuen Technologien entwickeln sich heute zudem auch Geschäftsmodelle um ein Vielfaches schneller. Während vielerorts beispielsweise noch über den zunehmenden Internethandel und steigendes Paket- und Lieferaufkommen geredet (oder geschimpft) wird, sind längst Fakten geschaffen. Amazon und Zalando oder Start-ups wie Lieferando oder Flaschenpost krempeln komplette Märkte um. Schnelligkeit und maximale Verfügbarkeit werden zum Geschäftsmodell. On-Demand-Lieferdienste, wie „Gorillas“, versprechen heute Lebensmittellieferungen – dank E-Bikes – innerhalb von zehn Minuten. Was macht das mit den Kaufhäusern, dem Einzelhandel und unseren Städten? Und welche Funktionen müssen sie künftig erfüllen?
„Der Wandel verlangsamt sich nicht“, sagt der amerikanische Keynote-Speaker Scott Stratten (UnMarketing Inc.). In seinen Vorträgen macht er das anhand eingängiger Bilder deutlich: „Es hat 76 Jahre gedauert, bis sich Elektrizität in den amerikanischen Haushalten durchgesetzt hat, 43 Jahre für den Kühlschrank, 27 Jahre für die Mikrowelle, 6 Jahre für das Internet, 4 Jahre für Smartphones, 2 Jahre für Social Media. Sehen wir da ein Muster?“ Für die junge Generation der Millennials, also die ca. zwischen 1980 und 2000 Geborenen, sei „Disruption“ die einzige bekannte Erfahrung und „ein Asset für jedes Business und ein Asset für diese Welt“. Der Begriff Disruption steht dabei für Revolution statt Evolution. Eine alte, etablierte Lösung wird durch eine potenziell deutlich einfachere, schnellere oder bequemere in rasantem Tempo ersetzt. Unter dieser Perspektive kann man das schnelle Verschwinden von CDs und DVDs ebenso besser verstehen wie den sprichwörtlichen Durchmarsch der E-Scooter-Sharer. Mit enormer Geschwindigkeit bei der Innovation und Expansion, viel Investorenkapital im Rücken und dem festen Willen, Fakten zu schaffen und Konkurrenz aus dem Rennen zu schlagen, träfen die Betreiber nach Scott Stratten auf absolut unvorbereitete und völlig andersdenkende Städte und Verantwortliche. Von heute auf morgen würden einige Tausend E-Kickscooter in einer Stadt aufgestellt, verbunden mit der impliziten Botschaft „kommt damit klar“. Widerstand sei weitgehend sinnlos, denn genau das sei das Wesen von Disruption: „Wandel, ohne Zeit, ihm zu widerstehen.“

Mehr Agilität

Angesichts der enormen Herausforderungen und der Geschwindigkeit der in vielerlei Hinsicht unumkehrbaren Veränderungen wirken viele der seit Jahren andauernden Diskussionen um Fahrrad versus Auto oder Jahrzehnte alte Normen, Gesetze und Verwaltungsvorschriften wie aus der Zeit gefallen. Was will man bewegen mit Planungshorizonten von fünf oder mehr Jahren und Reformen, die ein um das andere Mal auf die nächste Legislaturperiode vertagt oder nur in homöopathischen Dosen umgesetzt werden? „Da brennt die Hütte und wir legen einen Plan auf, wie wir die Temperatur des Feuers messen und machen anschließend ein Konzept zur optimalen Temperatur des Löschwassers“, so die Meinung von Dr. Christoph Hupfer, Professor für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik an der Hochschule Karlsruhe zur Situation der Radverkehrsförderung im Rahmen einer Podiumsdiskussion im März dieses Jahres.
Auf der anderen Seite waren die Voraussetzungen für neue Mobilität noch nie so gut wie jetzt. Auf technischer Seite wächst gerade viel zusammen, mit extrem leistungsfähiger und gleichzeitig preiswerter Technik und der weltweiten Marktdurchdringung mit Smartphones. Finanzkräftige Investoren suchen nach neuen, klimafreundlichen Geschäftsfeldern und Anbieter aus allen Bereichen tun sich mit Kooperationspartnern für neue Services und Geschäftsmodelle zusammen. Auch die in den letzten Jahrzehnten dominante Vorstellung, dass Straßenräume für den motorisierten Individualverkehr, sprich Pkw, freigehalten werden müssten, bekommt immer mehr Risse. Ein großer Teil der Bevölkerung wünscht sich Veränderungen hin zu mehr umwelt-, menschen- und städteverträglichem Verkehr und mehr Lebensqualität. Und vielen geht es längst nicht schnell genug. Neuverteilung und Umgestaltung sind machbar und engagierte Bürgerinnen und Bürger wirken gerne aktiv mit. Das zeigen Beispiele aus ganz Europa, und das macht Hoffnung und Lust auf mehr. „Wenn wir jetzt die Potenziale nutzen, auch aus der Bevölkerung und den Hochschulen, dann können wir sehr viel schneller in die Pötte kommen“, so Professor Christoph Hupfer zu den Chancen für mehr Radverkehr und eine echte Mobilitätswende. Zeit also für mehr Tempo, mehr Flexibilität oder, wie Berater und Coaches wohl sagen würden, mehr Agilität.


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