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Christian Rudolph verantwortet als Professor das Masterstudium Radverkehr an der TH Wildau. Im Interview mit Veloplan spricht er über den Fachkräftemangel, den Austausch mit Unternehmen und dem Ausland und Sicherheit als höchstes Gut des Radverkehrs. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2023, Dezember 2023)


In Städten und Gemeinden wird der Radverkehr vielfach vom Fachkräftemangel gebremst. Worauf ist der eigentlich zurückzuführen?
Wir haben in den letzten Jahren viel zu wenige Studierende im Bereich Verkehr und Mobilität zu verzeichnen. Was ich wiederum gar nicht verstehen kann, bewegen wir uns doch alle statistisch jeden Tag im Schnitt rund eine Stunde im Verkehr. Bei den aktuellen Staus und Verspätungen, müsste doch jeder das Bedürfnis haben, das System zu verbessern. Ich denke, besonders problematisch ist, dass das Thema Verkehr in den letzten Jahren politisch so aufgeheizt ist, da will sich niemand die Finger verbrennen. Zudem machen sich die geburtenschwachen Jahrgänge nun bemerkbar, was allgemein die niedrige Absolventenzahl betrifft.
Was wir aber auf jeden Fall sagen können: Radverkehrsplanerinnen und -planer werden deutschlandweit händeringend gesucht! Sowohl die öffentliche Hand als auch private Planungsbüros bekommen ihre offenen Stellen in diesem Bereich nicht besetzt. Hier haben unsere Absolventinnen und Absolventen tolle Chancen, einen attraktiven Beruf zu bekommen. Im Rahmen des Studiums geben wir unterschiedlichsten Institutionen die Möglichkeit, von ihren Projekten und aktuellen Fragestellungen zu berichten und den Studierenden Einblicke in das jeweilige Berufsbild zu geben. So bauen die Studierenden schon während des Studiums ein breites Netzwerk auf, das ihnen nach dem Studium zur Verfügung steht.

„Der Austausch mit dem Ausland ist immens wichtig, um überhaupt mal andere Planungsphilosophien mitzukriegen.“

In den letzten Jahren hat das Thema Radverkehr schon durch die sieben Stiftungsprofessuren mehr Präsenz in der deutschen Hochschullandschaft bekommen. Wie ist Deutschland denn insgesamt akademisch aufgestellt für diesen Schwerpunkt?
Durch die Verbindungen, die die Stiftungsprofessuren auch zum Ausland aufgenommen haben, vor allem nach Dänemark und in die Niederlande, ist der internationale Austausch mit Best Practices da. Aber der Bekanntheitsgrad, also dass Radverkehr ein eigenes Studienfach ist, ist leider noch zu gering. An 7 von über 400 Hochschulen gibt es nun die Professuren Radverkehr. Das fühlt sich an wie der bekannte Tropfen auf den heißen Stein.
Dennoch ist das Wissen um gute Radverkehrsplanung an den deutschen Hochschulen grundsätzlich vorhanden. Aber fehlendes Personal und langwierige Planungsprozesse bremsen die Mobilitätswende förmlich aus. Wenn wir die Verkehrswende wollen, können Planfeststellungsverfahren für Radschnellwege nicht 15 Jahre dauern, sondern es muss deutlich zügiger gehen. Daher ist es ganz wichtig, dass die Mobilitätswende stärkeren politischen Rückwind bekommt – und zwar auf allen Ebenen!

Christian Rudolph ist Professor an der TH Wildau in Brandenburg. In der Lehre greift er auf ein Netzwerk an Kontakten zurück, das seine Mitarbeiter*innen und er in vielen Jahren der Mobilitätsforschung aufgebaut haben.
Das Studium bei Christian Rudolph findet nicht nur im Hörsaal statt. Exkursionen ins Ausland spielen im Radverkehrsmaster an der TH Wildau eine wichtige Rolle. Dort lassen sich andere Planungsphilosphien hautnah erleben.

Was sind die typischen Bachelor-Studiengänge, auf deren Grundlage die Studierenden in den Radverkehrsmaster starten und in denen der Radverkehr vielleicht noch mehr Gewicht braucht?
Zunächst natürlich alle Studiengänge, die sich mit dem Verkehrs- und Transportwesen auseinandersetzen. Und natürlich Stadt- und Raumplanungsstudiengänge. Zudem bieten Studiengänge wie Verkehrsgeogeografie, Bauingenieurwesen, Geoinformatik und Logistik ein gutes Fundament für unser Masterstudium Radverkehr. Diese Studiengänge erfüllen die Zulassungsvoraussetzungen, alles andere muss man prüfen.

Wie genau wissen Sie denn, wie die Studierenden auf den Master-Studiengang gestoßen sind?
Das ist dann so divers wie die Kanäle, auf denen wir dafür werben. Ich habe mal ein Interview mit Mario Barth morgens im RBB gehabt, das hatte der Bruder eines unserer Studierenden gehört. Eine Woche später saß der bei uns in der Vorlesung. Andere kommen auch über Info-Webseiten und Webportale, Mundpropaganda, unsere Projekte oder meinen Instagram-Kanal zu uns. Tatsächlich ist es eine Blackbox für uns, welche Kanäle wir bespielen müssen, um junge Leute mit unseren Themen zu erreichen.

Radverkehr ist eingebettet in ein diverses Verkehrssystem und kann nicht einzeln betrachtet werden. Der Schwerpunkt des Masterstudiums Radverkehr an der TH Wildau liegt daher auf intermodalen Verkehrsnetzen.

Sie haben viele externe Unternehmen und Institutionen in Ihren Lehrveranstaltungen zu Gast. Wie kommen diese Kooperationen zustande?
Das basiert im Großen und Ganzen auf den Netzwerken, die ich und meine Mitarbeitenden in den letzten Jahren aufgebaut haben. Ich bin nun schon über 13 Jahren in der Mobilitätsforschung und konnte mir ein breites Netzwerk aufbauen. Die Zusammenarbeit ist super bereichernd, macht viel Spaß und bereichert die Seminare extrem. Wenn wir zu einem Thema niemanden aus unseren Netzwerken kennen, dann wird kurzerhand die Suchmaschine angeschmissen und zum Hörer gegriffen.
So ist auch der Kontakt zu Ecocounter entstanden, einem Hersteller für Zählgeräte, die den Radverkehr erfassen können. Mittlerweile war die Firma schon zweimal zum Semesterstart mit einer mobilen Zähleinheit bei uns auf dem Campus. Die Studierenden lernen, wie man das Zählgerät in Betrieb nimmt und wie die Funktionsweise ist. Sie sollen dann selbst das pneumatische System auf dem Boden befestigen. Und dann wird das System getestet. Das ist ein cooles Gimmick.
Die Zusammenarbeit mit der FH Amsterdam lief umgekehrt. Hier hat mich der Dozent angeschrieben, ob wir Lust auf eine Kooperation hätten. Wir waren nun schon zweimal mit unseren Studierenden in Amsterdam und Utrecht und die Niederländer haben uns auch schon zweimal besucht. Die Exkursion zum weltgrößten Fahrradparkhaus gehört mittlerweile fest zum Studium dazu.

Würden Sie Unternehmen generell empfehlen, vermehrt auf die Unis zuzugehen, um Partnerschaften einzugehen oder sich präsent zu zeigen?
Warum nicht? Das obliegt dann immer dem jeweiligen Studiengangssprecher oder Modulverantwortlichen, ob er dem dann auch Raum geben will. Fachhochschulen sind ja grundsätzlich anwendungs- und praxisorientiert. Auch bei den Masterarbeiten liegt die Priorität darauf, dass die Studierenden in einem Unternehmen ihre Abschlussarbeit schreiben. So können sie meist ein reales Problem bearbeiten und schon etwas Praxisluft schnuppern. Also klar, ich würde jedem Unternehmen empfehlen, auf die Hochschulen zuzugehen, sich zu präsentieren oder gemeinsame Projekte zu initiieren, semesterbegleitend oder als Abschlussarbeit.

„Planerinnen und Planer müssen lernen, Angsträume zu vermeiden, also dunkle, nicht einsehbare Ecken in Fahrradabstellanlagen und Parkhäusern zum Beispiel.“

Die Exkursionen scheinen ein Highlight des Studiums zu sein. Wie wichtig ist dieser Austausch, um den Radverkehr voranzubringen, und wie übertragbar sind die Dinge, die man in anderen Ländern lernen kann?
Aus meiner Sicht ist es extrem wichtig, die Menschen – gerade auch Entscheidungsträger – einmal in diesen Kontext zu bringen, um ihnen zu zeigen, wie sich eine Welt anfühlen kann, in der der Radverkehr ein gutes Ökosystem hat. Niederländische Städte wie Utrecht, Zwolle, Den Haag und Amsterdam eignen sich besonders gut. Hier kann man direkt erleben, wie es sich anfühlt, eine ausreichende Infrastruktur zu haben, sodass man bequem nebeneinander fahren und sich dabei unterhalten kann. Solche Erfahrungen können zu einem Sinneswandel beitragen. Wenn man in das Fahrradparkhaus in Utrecht einfährt und an 12.000 Fahrrädern vorbeifährt, das hat schon Impact. Von daher ist dieser Austausch immens wichtig, auch um überhaupt mal andere Planungsphilosophien mitzukriegen: Hier wird zuerst für den Fuß- und den Radverkehr geplant, dann für das Kfz. Das ist eine ganz andere Herangehensweise, die sich in den letzten 50 Jahren in den Niederlanden entwickelt hat. Vorher war da ja auch alles autoorientiert.

Sicherheit ist für Christian Rudolph das höchste Gut des Radverkehrs. Deshalb bekommt dieses Thema auch im von ihm verantworteten Master viel Aufmerksamkeit. Die zukünftigen Expert*innen, die Radverkehr studieren, werden auf dem Arbeitsmarkt händeringend gesucht.

Am meisten Austausch besteht also mit den Niederlanden. Welche Länder sind sonst noch wichtig?
Im Sommer hatten wir eine Roadshow, das ist ein Format, bei der sich die sieben Stiftungsprofessuren mit ihren Themen der Öffentlichkeit präsentieren können. Das findet online statt, ca. ein bis zwei Stunden in der Mittagspause. Neulich hatten wir Oboi Reed aus Chicago zu Gast, der zum Thema Inklusion und Alltagsrassismus einen Vortrag gehalten hat. Das ist auch ein Thema, das uns sehr umtreibt, also der diskriminierungs- und barrierefreie Zugang zu Mobilität für alle.
In Dänemark sind wir noch auf der Suche nach Partnern, gerade die Metropole Kopenhagen mit dem größten Radschnellwegenetz der Welt ist eine äußerst spannende Region.

Worum geht es bei dem Thema Diskriminierungs- und Barrierefreiheit im Detail?
Auf der einen Seite geht es darum, dass der öffentliche Raum für alle da ist und sich alle sicher fühlen müssen. Jeder Mensch nimmt den öffentlichen Raum anders wahr und fühlt sich unterschiedlich sicher beziehungsweise bedroht. Ein Mann nimmt ihn anders wahr als eine Frau, ein Kind anders als ein Erwachsener und je nach kulturellem Background werden Situationen anders eingeschätzt beziehungsweise wahrgenommen.
Auf der anderen Seite müssen Planerinnen und Planer lernen, Angsträume zu vermeiden, also dunkle, nicht einsehbare Ecken in Fahrradabstellanlagen und Parkhäusern zum Beispiel. In Deutschland ist es im Winter nun mal ab 16 Uhr dunkel.
Wir wollen die Studierenden dafür sensibilisieren, dass der Radverkehr immer diverser wird: Fatbikes, Lastenräder, Fahrräder mit Anhängern, Elektroräder, E-Scooter usw. weisen sehr unterschiedliche Geschwindigkeitsniveaus auf. Mit Elektrofahrrädern beziehungsweise Dreirädern können auch ältere Leute noch lange mobil sein und so ein weitestgehend von Dritten unabhängiges Leben führen. Dies führt zu Herausforderungen bei der Planung. Für ältere Menschen mit schwerem Fahrrad stellen hohe Bordsteine schnell mal ein unüberwindbares Hindernis dar. Wir sensibilisieren die Studierenden für die unterschiedlichen Nutzungsansprüche.

„Fühlen die Menschen sich subjektiv nicht sicher, nutzen sie das Fahrrad nicht als Alltagsfahrzeug, und sind sie objektiv nicht sicher, dann ist ihr Leben faktisch gefährdet.“

Welcher der Themenschwerpunkte im Master liegt Ihnen als Professor besonders am Herzen?
Das ist eigentlich schon die Sicherheit. Fühlen die Menschen sich subjektiv nicht sicher, nutzen sie das Fahrrad nicht als Alltagsfahrzeug, und sind sie objektiv nicht sicher, dann ist ihr Leben faktisch gefährdet. Von daher ist die Sicherheit das höchste Gut der Radfahrenden und das Thema, das alles überspannt. Und es betrifft natürlich alle, aber besonders Kinder, die sich noch nicht so gut konzentrieren können und auch mal einen Fahrfehler machen, und ältere Menschen, die vielleicht nicht mehr so gut die Balance halten können. Deshalb brauchen wir sichere, baulich separierte Infrastrukturen und eine Geschwindigkeitsharmonisierung unter den verschiedenen Verkehrsteilnehmenden.
Das wäre ein großer Gewinn für alle. Bei hohem Verkehrsaufkommen und hohen Geschwindigkeiten sind Infrastrukturen anzuwenden, die diese Verkehre trennen. Bei Protektionselementen besteht die große Herausforderung, wie sich diese städtebaulich verträglich einbinden lassen. Zu diesem Thema läuft gerade eine Masterarbeit bei uns im Studiengang. Der Student setzt sich mit den Anforderungen der Träger öffentlicher Belange, also Müllabfuhr, Feuerwehr, Rettungsdienst, Polizei, Reinigungsdienste etc. auseinander. Ich denke, die Arbeit wird spannende Erkenntnisse hierzu hervorbringen.

Der Master an der TH Wildau hat den Schwerpunkt „Radverkehr in intermodalen Verkehrsnetzen“. Wie kam dieser Fokus zustande?
Meine Kollegen haben die Grundstruktur des Masterstudiums kreiert. Sie hatten die Idee, den Radverkehr nicht singulär zu betrachten, sondern integriert in das Gesamtverkehrssystem, um die Stärken des jeweiligen Verkehrssystems bestmöglich ausnutzen zu können. Über intelligente Verknüpfungen kann die Kombination Fahrrad-ÖPNV eine attraktive Alternative zum Kfz-Verkehr darstellen.
Um den Umweltverbund – also Fußverkehr, Radverkehr und ÖPNV – zu stärken, braucht es Schnittstellen auf der technologischen, aber auch auf der informatorischen Seite. Den Reisenden müssen alle Informationen zu den bestehenden Mobilitätsangeboten zur Verfügung gestellt werden. Da geht es dann auch um nahtlose Abrechnungsmodelle, zum Beispiel bei der Integration von Sharing-Angeboten.

Wie bewerten Sie das Thema Fahrradmitnahme im Zug als Kombination von ÖPNV und Radverkehr?
Das ist in der Tat ein komplexes Thema und es gibt keine allgemeingültige Antwort. Wir wollen natürlich nicht, dass alle Berufspendler ihr Fahrrad morgens in der Rush-Hour mit in die U-Bahn nehmen. Hier sind gute Abstellmöglichkeiten am Bahnhof auf der ersten Meile und Sharing-Angebote auf der letzten Meile gefragt. Auf der anderen Seite macht es natürlich Spaß, mit seinem eigenen Fahrrad am Wochenende mit dem Zug raus aus der Stadt zu fahren, um dort gleich im Grünen die Radtour beginnen zu können. An warmen langen Wochenenden stellt die Fahrradmitnahme für die Betreiber eine große Herausforderung dar. Da muss man schauen, wie man in diesen Zeiten Züge mit ausreichend Kapazitäten zur Mitnahme zur Verfügung stellen kann.


Bilder: TH Wildau – Mareike Rammelt, Christian Rudolph, TH Wildau, Uwe Voelkner – Fotoagentur FOX

Im Mai letzten Jahres haben wir mit dem Experten für strategische Personalarbeit im öffentlichen Sektor Rolf Dindorf ein Interview zum Thema Mitarbeitergewinnung geführt. Denn überall in den öffentlichen Verwaltungen fehlt Personal. Sein Credo: Kommunalverwaltungen müssen mit einem strategischen Personalmanagement langfristig gezielt planen. In seinem aktuellen Gastbeitrag geht es nun um das wichtige Thema Mitarbeiterbindung – vom „Onboarding“ neuen Personals bis zum Thema „Arbeit mit 67“. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2021, Dezember 2021)


In Zeiten von Fachkräftemangel und demografischem Wandel gewinnt die Mitarbeiterbindung in den Kommunen deutlich an Bedeutung. In den nächsten zehn Jahren scheiden etwa 30 Prozent der kommunalen Bediensteten aufgrund ihres Alters aus dem Dienst. Aktuell werden Angaben des dbb Beamtenbundes zufolge in den Kommunalverwaltungen etwa 145.000 Mitarbeitende gesucht. Da der Wettbewerb um Fachkräfte auf dem Markt enorm ist, gilt es stark umworbenes Personal wie z.B. Bauingenieure zu halten. Neben der Personalgewinnung wird somit auch das Binden von Beschäftigten ein zentraler Bestandteil der Personalstrategie.

29,4 %

Rund ein Drittel der Mitarbeitenden
in den Kommunalverwaltungen
scheidet in den nächsten zehn Jahren aus.

Warum das Thema Personalbindung von Bedeutung ist

„Land unter“ wird es in den nächsten Jahren verstärkt in Kommunalverwaltungen heißen. Fachkräftemangel in Bereichen wie Radverkehrsplanung, Kindergarten, Pflege, Landschaftsarchitektur, IT usw. führen zu hoher Arbeitsbelastung, schlechter Stimmung, schleppenden Planungs- und Prüfungsprozessen, unzufriedenen Bürgerin-nen und Fluktuation in den Rathäusern. Auch die Verkehrswende kommt nur langsam voran. Sorgenfalten erzeugen schon heute die Planung und der Bau von Qualitätsradwegen und zusammenhängenden Radwegenetzen. Die Personallage in den Ländern und Kommunen wird sich durch veränderte Mobilitätskonzepte noch verschärfen. Die Zahl der Neueinstellungen wird rapide steigen. Gleichzeitig reicht die Zahl der Berufsanfän-gerinnen nicht, damit der Nachfrage Rechnung getragen werden kann. Häufig unterschätzt wird in den Verwaltungsspitzen der wachsende Wettbewerb um Mitarbeitende innerhalb des öffentlichen Sektors. Wer sich frühzeitig auf die Entwicklung einstellt und geeignete Bindungsmaßnahmen einleitet, wird sich beim Kampf um die besten Köpfe auf der Gewinnerseite wiederfinden. Weiterhin lohnt sich die Mitarbeiterbindung auch aus wirtschaftlicher Perspektive: Wenn weniger Mitarbeitende wechseln, entfallen die Kosten für Personalgewinnung und Einarbeitung. Führungskräfte müssen seltener Bewerbungsgespräche führen und Mitarbeitende weniger Zeit für aufwendige Einarbeitungsprozesse aufbringen. Auch die Einschaltung eines Headhunters – über die Kommunen zunehmend nachdenken – entfällt.

Totengräberstimmung beim Arbeitgeberimage?

Ein attraktives Arbeitgeberimage als Teil einer Personalstrategie fällt nicht vom Himmel. Es erfordert einen Marathon aus Fleiß, Disziplin, Strategie, Innovation, Geld und Willen seitens der Verwaltungsleitung. Das Angebot an attraktiven Ausbildungsplätzen ist eine Möglichkeit, sein Arbeitgeber-image aufzuwerten. Doch für ein solches Angebot muss auch systematisch geworben werden. Nicht jeder Jugendliche (und deren Eltern) kennt die angebotenen Jobs wie beispielsweise Fachkraft für Straßen- und Verkehrstechnik. Positives Beispiel: Gelsenkirchen. Die Stadt wirbt unter anderem auf Instagram mit einer attraktiven Personalgewinnungskampagne.
Klappern gehört zum Handwerk, haben sich mehrere deutsche Städte gesagt. Unter dem Dach der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. (FGSV) wurde der Animationsfilm „Das Berufsbild als BauingenieurIn oder VerkehrsingenieurIn in der kommunalen Bauverwaltung“ produziert (Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=ZkxECFxKS5g). Illustriert wird die Vielseitigkeit der Aufgaben im Umfeld von kommunaler Mobilität, Verkehrsplanung und Straßenbau.

Woher nehmen? Deutschlandweit herrscht in den kommenden Jahren ein hoher Mangel an Fachkräften. Alarmierend sind die Zahlen für den öffentlichen Sektor. Mitarbeitergewinnung und -bindung kann man deshalb gar nicht hoch genug einschätzen.

Mitarbeiterbindung – 10 praxisorientierte Lösungen

Wie lässt sich eine verbesserte Mitarbeiterbindung in Landes- und Kommunalbehörden erreichen? Auf der Höhe der Zeit agieren Verwaltungsspitzen mit einer ausgefeilten Personalstrategie, die sowohl Personalgewinnungsstrategien als auch Mitarbeiterbindungslösungen umfasst.
Erfahrungsgemäß haben sich folgende Ansätze bei der Personalbindung bewährt:

  1. Statt Vogel-Strauß-Politik gilt es Ursachenforschung in den Rathäusern und Landesämtern zu betreiben. Warum verlassen uns qualifizierte Mitarbeitende? Was haben wir falsch gemacht? Wo können wir uns verbessern? Das verlangt eine systematische Analyse und konsequente Umsetzung der Schlussfolgerungen.
  2. Jede öffentliche Verwaltung muss eine glaubhafte Mission besitzen. „Egal, wie sehr die Welt sich verändert, die Menschen haben immer noch das elementare Bedürfnis, ein Teil von etwas zu sein, auf das sie stolz sein können. Sie haben ein elementares Bedürfnis nach Leitwerten und Zielen, die ihrem Leben und ihrer Arbeit Sinn geben.“ (Prof. Peter Drucker: Die fünf entscheidenden Fragen des Managements. Weinheim 2009. S.51.) Gerade in der immer komplexeren Arbeitswelt suchen Beschäftigte nach Sinn in der Arbeit. Punkten Sie daher mit einer Mission und sinnstiftenden Führungskultur. Das untermauert die Mitarbeiterbindung.
  3. Setzen Sie eine Duftnote beim Bewerbungsprozess. Eine effiziente Mitarbeiterbindung beginnt schon mit dem Bewerbungsprozess. Im Vorfeld der Einstellung sollte geprüft werden, ob der oder die Bewerbende zur Kreisverwaltung passt. Hat derjenige etwa zu hohe Erwartungen oder gänzlich andere Bedürfnisse, stimmt die Passung zwischen Dienstherr und Bewerbendem nicht. Demotivation oder Kündigung sind absehbar.
  4. „Am ersten Tag gab es keinen Schreibtisch und Stuhl für mich.“ Ein geschickter Schachzug liegt im richtigen Einarbeiten (Onboarding) neuer Mitarbeitender. Die Erfahrung zeigt, dass hier noch viel Luft nach oben liegt. Personalgewinnung endet nicht mit der Zusage. Der Prozess umfasst ein umfassendes Onboarding-Programm. Ein effektiver Einarbeitungsprozess (gerade auch in Zeiten von Corona) trägt deutlich zur Mitarbeiterbindung bei.
  5. Ein wesentlicher Bestandteil der Roadmap zur erfolgreichen Mitarbeiterbindung ist ein modernes Arbeitsumfeld. Manche Amtsräume verströmen den Charme der 80er-Jahre. Die Arbeitsplätze (technische Ausstattung) und Raumkonzepte sind digital, flexibel und teamorientiert umzugestalten. Damit die moderne Arbeitsweise in der kommunalen Bauverwaltung gelingt, bedarf es auch der steten (!) technologischen IT-Ausstattung. Eine technische Frischzellenkur – nicht nur in den Gesundheitsämtern – ist zwingend erforderlich. Dabei gilt es gedanklich einen Grundpfeiler einzurammen: Die digitale Transformation einer wissensbasierten Verwaltung erfordert ein regelmäßiges Update der digitalen Infrastruktur. Entsprechendes muss im Haushaltsplan berücksichtigt werden.
  6. Greifen Sie durch: Zeigen Sie individuelle Entwicklungsmöglichkeiten auf. Fehlende Karriere- und Weiterbildungsmöglichkeiten führen zur Frus-tration. Eine Fachlaufbahn ohne Personalverantwortung ist ein weiteres Beispiel für Mitarbeiterbindung. Die hybride Arbeitswelt braucht digitale Kompetenzen. Was versteht man unter digitalen Kompetenzen? Etwa die Umwandlung eines Word-Dokumentes in ein PDF? Oder doch mehr? Wer verfügt über welche digitalen Kompetenzen in welchem Umfange (Stichwort: strategischer Fort- und Weiterbildungsplan)? Sind die Ausbildungsinhalte noch zeitgemäß? Deutlich wird, dass man nicht am falschen Ende sparen darf. Investitionen in die Fort- und Weiterbildung der Führungskräfte und Mitarbeitenden (strategische Kompetenzen, Medienkompetenz, Selbstmanagement, Eigenverantwortung, hybrides und agiles Führen, Informations- und Datenkompetenz, Veränderungsbereitschaft, Problemlösungskompetenzen, Vertrauen) sind zwingend über Jahre erforderlich, damit die nötige Breitenwirkung erzielt wird. Ergänzend müssen Verwaltungsspitzen über Anreize nachdenken, wie sich die Beschäftigten in den Amtsstuben für ein digitales Mindset öffnen.
  7. Verfolgt man die Diskussion um den Fachkräftemangel im öffentlichen Sektor, geht es rasch darum, wie sich (junge) Fachkräfte der Generation Z gewinnen lassen. Wo bleibt die Generation Silberhaar? Wer „Arbeiten bis 67“ beschließt, muss auch entsprechende Anstellungsangebote machen. Lippenbekenntnisse allein reichen da nicht. Beim Blick auf die demografische Entwicklung wird klar, dass die Generation Z nicht reichen wird, die Lücken der Babyboomer in der öffentlichen und privaten Wirtschaft zu schließen. Die strategische Personalentwicklung im öffentlichen Dienst wird sich daher verstärkt der Generation 50plus zuwenden müssen. „Jung schlägt Alt“ ist immer noch in den Köpfen zahlreicher Führungskräfte auf der Kommandobrücke des öffentlichen Dienstes. Dabei hat ein 50-jähriger Radverkehrsplaner noch 17 Jahre zu arbeiten. „Jung und Erfahren – Hand in Hand“ lautet die zukunftsorientierte Zusammenarbeit zur Steigerung der Produktivität, Vermeidung von Fehlzeiten und zum Erhalt wertvollen Erfahrungswissens. Doch wie gelingt der erfolgreiche Schulterschluss zwischen der Generation Z und den Babyboomern? Die Praxis zeigt: Durch kombinierte Teams aus Jung und Erfahren steigern Sie Ihre Produktivität und Mitarbeiterbindung. Durch die Verknüpfung unterschiedlicher Stärken und Kompetenzen in altersgemischten Teams nutzen Sie die vorhandenen Potenziale der Mitarbeitenden optimal. Die Mitarbeitermotivation wächst.
  8. Transparenz, Mitbestimmung und mehr Eigenverantwortung fordern die Mitarbeitenden auch im öffentlichen Dienst. Es sind keineswegs nur die jüngeren Verwaltungsangestellten der Generation Z, die so denken. Die wachsenden Ansprüche an den Arbeitgeber sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Wer Mitarbeiterbindung ernsthaft angehen möchte, kommt um ein Hinterfragen der Verwaltungskultur nicht herum. Sicherheit allein ist für (hoch) qualifizierte Fachkräfte wie Bauingenieurinnen oder IT-Spezia-listinnen kein ausreichender Grund zu bleiben. Ansätze agiler Verwaltungskultur einschließlich agiler Werte sind ein Weg zur Steigerung der Personalbindung. Agile Methoden (u.a. Kanban, Design Thinking, Daily Stand-up Meetings), Führen auf Augenhöhe, sinnorientierte Tätigkeit, Innovation, individuelle Fortbildung oder Projektarbeit sind hier nur einige Schlagworte des Wertewandels der wissensorientierten Beschäftigten. Der Aufbruch in die Zukunft einer modernen Verwaltung erfordert Mitarbeitende in den (Bau-)Ämtern mit digitalen, beruflichen und fachübergreifenden Kompetenzen (Soft Skills) und Einstellungen (Mindset). Damit aus der agilen Verwaltung kein Strohfeuer wird, braucht es eine strategische und nachhaltige Personalentwicklung. Es reicht nicht mehr, nur Fortbildungskataloge vorzulegen.
  9. Machen Sie Ihre Führungskräfte fit, damit die Köpfe und Herzen Ihrer Mitarbeitenden erreicht werden. Die beste Form von Führung lässt sich nur durch ein stets aktuell gehaltenes Führungskräfteentwicklungsmodell erreichen. Sie erkennen beispielsweise Chancen und Nutzen digitaler Angebote. Daher agieren Führungskräfte als Vorbilder digitaler Anwendungen (Register, Datenbanken, E-Akte usw.). Oder wie formulierte es Reinhold Messner treffend: „Es fehlt an Visionen. Wir brauchen keine neuen Religionen und Sekten, wir brauchen starke Persönlichkeiten, die zeitbezogene Lebenshaltungen verbreiten können, weil sie sie selbst verkörpern, vorleben.“ (Reinhold Messner: Berge versetzen. 2010. S. 234.)
  10. Bazooka Homeoffice: Erkenntnisse aus der Krise aufarbeiten. Zum Lackmustest wird die Zeit nach der Pandemie. Was bleibt davon (Homeoffice und mobiler Arbeit) übrig? Wie wird es weiterentwickelt? Mitarbeitende setzen auf Verlässlichkeit. Systematisch gilt es eine teilweise durch Zufall entstandene Führungs- und Arbeitskultur in den Regelbetrieb zu transformieren. Dazu bieten sich Dienstvereinbarungen wie in Speyer (Dienstvereinbarung zur Modernisierung und Digitalisierung in der Stadtverwaltung Speyer) an.

Fazit: In Mitarbeiterbindung investieren lohnt sich!

Wer es noch nicht getan hat, sollte spätestens jetzt damit anfangen: Die Mitarbeiterbindung in den personalpolitischen Fokus nehmen. Es gilt eine Kultur der Personalbindung in den Verwaltungen zu etablieren. Je länger jetzt noch gewartet wird, desto härter wird der Fachkräftemangel die einzelnen Behörden treffen.



Rolf Dindorf

unterstützt den öffentlichen Dienst und angelehnte Dienstleistungsbranchen seit über 15 Jahren bei der strategischen Personalarbeit. Er kennt die aktuellen Herausforderungen und Rahmenbedingungen öffentlicher Organisationen und weiß, wie die Führungskräfte und Mitarbeitenden ticken. Er kämpft dafür, Personal so wichtig wie Finanzen zu sehen.
Praxisnah und mit einer übergreifenden, ganzheitlichenPerspektive hilft er öffentlichen Einrichtungen, strategisches Personalmanagement neu zu denken. Themenschwerpunkte unter anderem: agile Verwaltung, digitales Führen und mobiles Arbeiten, demografischer Wandel sowie sinnstiftende Unternehmenskultur.

Mehr Informationen unter rolf-dindorf.de


Bilder: Bild: stock.adobe.com – Andrey Popov, dbb 2021