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Seit Jahrzehnten wird der Verkehr von Männern für Männer geplant. Dabei würden von einer gendergerechten Verkehrsplanung alle Verkehrsteilnehmer*innen profitieren. Um dies zu erreichen, sind jedoch strukturelle Änderungen notwendig. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2024, Dezember 2024)


Die Mobilitätsmuster von Männern und Frauen unterscheiden sich grundlegend. Während der Großteil der gesunden berufstätigen Männer auf direktem Weg zur Arbeit und zurück pendelt, legen Frauen im Alltag viele kurze Wege zurück – etwa zur Kita, zum Job, zum Supermarkt oder mit den älteren Familienmitgliedern zum Arzt oder in den Park. Die Fachwelt bezeichnet dieses Mobilitätsmuster als Wegekette, die vor allem durch Care-Arbeit entsteht. Damit ist das Kümmern um junge oder ältere Familienmitglieder gemeint. Männer erledigen zwar ebenfalls Care-Arbeit, jedoch investieren Frauen jede Woche 44 Prozent mehr Zeit in diese Aufgaben.
Dass Frauen im Alltag viele kurze Wege zurücklegen, ist bekannt. Bislang können die Planer*innen in den Verwaltungen oder Verkehrsunternehmen jedoch für diese Strecken keine Angebote entwickeln, weil ihnen dafür die Datengrundlage fehlt. Die Care-Arbeit wurde beispielsweise in den verschiedenen Mobilitätserhebungen bisher nicht separat erfasst. „Gender Data Gap” nennt man diese Datenlücke in der Wissenschaft. Nicht nur in den Mobilitätsberufen, sondern auch in der Mobilitätsplanung sei die weibliche Perspektive unterrepräsentiert, heißt es dazu auf der Webseite des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr. Mit der neuen DLR-Studie „Please Mind the Gap“ zeigen die Wissenschaftlerinnen Dr. Laura Gebhardt, Sophie Nägele und Mascha Brost, dass sich dieser Gendergap auch in der Gestaltung der Fahrzeuge fortsetzt.
„Mit Gender ist nicht ausschließlich die Frau gemeint“, sagt Dagmar Köhler, Mobilitätsexpertin beim niederländischen Beratungsunternehmen Mobycon. Gender beziehe sich auf das soziale Geschlecht. Es meine demnach alle, die nicht in die Kategorie „gesunder, weißer, berufstätiger Durchschnittsmann“ passen. Dazu zählen beispielsweise Ältere, Kinder, Menschen anderer Herkunft und all jene, die mit viel Gepäck, Gehhilfen oder Ähnlichem unterwegs seien.
Die Alltagsmobilität gendergerecht zu planen, erfordert ein konsequentes Umdenken in der Verkehrsplanung. „In den Städten sind die Streckennetze oft sternförmig aufgebaut“, sagt Dr. Laura Gebhardt, Mobilitätsforscherin am DLR-Institut für Verkehrsforschung in Berlin. Das komme den Anforderungen von Vollzeit arbeitenden, pendelnden Personen (überwiegend Männer) entgegen. Sie könnten schnell von zu Hause zur Arbeit und zurück gelangen. „Wege für Care-Arbeit sind dagegen häufig kreisförmig organisiert und befinden sich in Wohnortnähe“, sagt die Wissenschaftlerin. Diese für die Care-Arbeit typischen komplexen Wegeketten wurden jedoch bisher nicht ausreichend differenziert erhoben. Planenden und Forschenden fehle deshalb eine gute Datengrundlage, um die Bedürfnisse von Frauen in der Stadt- und Verkehrsplanung besser zu berücksichtigen, stellt Gebhardt fest. Grundsätzlich sei ein Umfeld, in dem Frauen mit Kindern oder Älteren entspannt unterwegs sein können, gut für Care-Arbeit. Dazu gehören Straßen mit Tempo 30, großzügigen Grünanlagen und breiten Fuß- und Radwegen. „Die Fahrradwege sind im Idealfall so breit, dass Frauen dort mit ihren Kindern ausreichend Platz haben und trotzdem von schnellen Radfahrenden bequem überholt werden können“, sagt die Wissenschaftlerin.

„Mit Gender ist nicht ausschließlich die Frau gemeint.“

Dagmar Köhler, Mobycon

Radwege in Kopenhagen: Die Wege sind breit und vom Autoverkehr physisch getrennt. Hier sind die Menschen jeden Alters und Könnens sicher unterwegs und kommen auf direkten Weg ans Ziel.

Die 15-Minuten-Stadt ist gendergerecht

Ein Planungsansatz, der der Alltagsmobilität von Frauen entspricht und diese verbessert, ist laut Laura Gebhardt die 15-Minuten-Stadt. Die Idee ist, dass man dort alles, was man im Alltag benötigt, innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß oder mit dem Fahrrad sicher und bequem erreicht – den Arzt, die Schule, den Supermarkt, Kulturangebote oder den nächsten Park. Die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, setzt dieses Konzept bereits in der französischen Hauptstadt um. Dutzende Kilometer an Radwegen sind in den vergangenen Jahren in den verschiedenen Quartieren entstanden. Viele von ihnen sind mit physischen Barrieren vom Autoverkehr deutlich getrennt.
„Radwege für 8- bis 80-Jährige“, nennt Dagmar Köhler dieses Prinzip. Die Mobilitätsexpertin, die bis Ende 2023 die Fahrradakademie am Deutschen Institut für Urbanistik geleitet hat, erklärt: „Wenn die 8-jährige Tochter oder die 80-jährige Mutter sicher mit dem Rad durch die Stadt fahren können, ist die Radinfrastruktur für Menschen jeden Geschlechts, Alters und Könnens sicher“, sagt sie, „und zwar subjektiv und objektiv.“
In den Niederlanden werde die Radinfrastruktur seit Jahrzehnten nach diesem Grundsatz geplant, sagt die Mobilitätsexpertin. Komfort und subjektive Sicherheit seien dort elementar für die Radverkehrsplanung. „Sie müssen auf der gesamten Radroute vorhanden sein und können nicht wegrationalisiert werden“, sagt sie. Der Begriff „Gender“ werde in den Regelwerken zwar nicht formuliert, aber indirekt bereits umgesetzt.

Wenn die Radwege sicher und komfortabel zum Ziel führen, nutzen Frauen häufig das Fahrrad. In Deutschland lag der Frauenanteil bei der letzten bundesweiten Erhebung 2017 bei 36 Prozent.

Gut fürs Image: Frauen auf Fahrrädern

In Dänemark dagegen beobachtet die Regierung sehr genau, wie viele Frauen Rad fahren. „Dort ist ein hoher Anteil an Rad fahrenden Frauen ein Indikator für Qualität und gelungene Planung“, sagt Dagmar Köhler. Deshalb arbeiten die Kommunen daran, Frauen mit sicheren Radwegen und guten ÖPNV-Angeboten zum Fahrradfahren zu verführen. Das Konzept geht auf. In Dänemark bilden Frauen mit 53 Prozent sogar eine knappe Mehrheit unter den Radfahrenden. In Deutschland sind es laut dem Fahrradmonitor von 2023 nur 36 Prozent.
Die dänischen Planer*innen machen es den Frauen leicht. Die Radinfrastruktur ist beispielsweise in Kopenhagen sicher, selbsterklärend und lückenlos. Auf Radwegen oder Fahrradstraßen werden Frauen dort durch die Quartiere gelotst. Davon profitieren auch die Kinder. 65 Prozent von ihnen fahren in Dänemark mit dem Rad zur Schule, sofern der Schulweg ein bis drei Kilometer vom Wohnort entfernt ist. In Dänemark werden 15 Prozent aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt, bis zu einer Strecke von zehn Kilometern sind es sogar 21 Prozent. Deutschland hinkt dieser Entwicklung hinterher. Laut der jüngsten Verkehrsprognose des Bundesverkehrsministeriums erreicht die Bundesrepublik im Jahr 2040 gerade mal einen Radverkehrsanteil von 11,8 Prozent am Gesamtverkehr. Das entspricht einem Wachstum von 1,5 Prozent innerhalb von 21 Jahren. Dabei hat das Fraunhofer Institut Anfang des Jahres berechnet, dass auch hierzulande ein Radverkehrsanteil von 45 Prozent möglich sei. Die Voraussetzung dafür ist eine Infrastruktur auf hohem Niveau, ähnlich wie in den Niederlanden.

Eine neue Studie des DLR zeigt: Das Unfallrisiko für Frauen, Kinder und Ältere im ÖPNV ist deutlich höher als für einen typischen Mann mittleren Alters.

Sicheres Umsteigen auch nachts

Dazu gehört auch eine gute Verknüpfung mit anderen Verkehrsmitteln. „In Dänemark und den Niederlanden denken die Planer den Rad-, Fuß-, Bus- und Bahnverkehr stets in miteinander verzahnten Netzen“, sagt Dagmar Köhler. Das sei entscheidend, damit die Menschen bequem ihre Ziele erreichen. Verschiedene europäische und nationale Studien zeigen, dass Frauen klimafreundlicher unterwegs sind und häufiger Busse und Bahnen nutzen als Männer. Allerdings müssen sie sich auch sicher fühlen, wenn sie vom Bus oder der Regionalbahn aufs Fahrrad wechseln, insbesondere nachts. Eine Studie des Bundeskriminalamts aus dem Jahr 2022 zeigt: Zwei von drei Frauen (67 Prozent) haben nachts in öffentlichen Verkehrsmitteln Angst. Die staatliche Eisenbahnbehörde (Nederlandse Spoorwegen, NS) lässt eine Vielzahl der Fahrradparkhäuser bewachen, die sie an Bahnhöfen betreibt, um die subjektive und objektive Sicherheit zu erhöhen. Das Personal ist 15 Minuten vor Ankunft des ersten Zuges vor Ort und geht 15 Minuten nach Ankunft des letzten Zuges. Davon profitieren alle Radfahrenden.
„Eine gendergerechte Radverkehrsplanung hat viele Facetten“, sagt Dagmar Köhler. Seit Anfang 2024 setzt sie sich in dem Netzwerk „Women in Cycling Germany“ mit über 300 engagierten Expertinnen aus der Fahrradbranche dafür ein, die Mobilität und Gremien inklusiver zu gestalten. „Um das zu erreichen, müssen sämtliche Gremien vielseitig, mit mehr Perspektiven besetzt sein“, sagt sie.
„Wir brauchen in der Mobilitätsbranche deutlich mehr Frauen, auch in den Entscheidungspositionen“, sagt auch Dr. Laura Gebhardt, Verkehrsforscherin am DLR-Institut in Berlin. Für ihre DLR-Studie „Please mind the Gap“ hat sie mit ihren Kolleginnen verschiedene Verkehrsmittel untersucht. „Aus Studien und Datenanalysen wissen wir, dass Frauen den öffentlichen Verkehr häufiger nutzen und auch eher bereit sind, aufs Autofahren zu verzichten“, sagt Gebhardt. Die Rahmenbedingungen machen es ihnen allerdings schwer. „Denn viele Busse und Bahnen sind gar nicht auf ihre Bedürfnisse ausgelegt“, sagt die Verkehrsforscherin. Wenn Frauen ihre Kinder oder ältere Angehörige begleiten, sind sie oft mit Taschen und Gepäck, Kinderwagen oder Rollatoren unterwegs. In Bussen und Bahnen fehle aber Stauraum, den Frauen gut erreichen können, sagt Gebhardt. Das macht das Bahn- und Busfahren für sie oft unbequem und manchmal sogar unmöglich.
Außerdem ist das Unfallrisiko für Frauen, Kinder und Ältere im ÖPNV deutlich höher als für einen typischen Mann mittleren Alterns. Viele Frauen können aufgrund ihrer Körpergröße die Haltestangen oder Halteschlaufen nicht erreichen, wenn die Sitze belegt sind. „Kommt es zu einem Unfall, ist das Verletzungsrisiko für sie ungleich höher, weil die Innenausstattung der Fahrzeuge für einen typischen 1,80-Meter-Mann ausgelegt ist“, sagt Gebhardt.

„Wir brauchen in der Mobilitätsbranche deutlich mehr Frauen, auch in den Entscheidungspositionen.“

Dr. Laura Gebhardt, DLR-Institut für Verkehrsforschung

Trinken vermeiden in der Bahn

Neben der Sicherheit in öffentlichen Verkehrsmitteln spielt auch die Sauberkeit der Toiletten im Regional- und Fernverkehr eine Rolle. „Aufgrund von Menstruation, Wechseljahren oder Schwangerschaft haben Frauen einen viel höheren Anspruch an die Hygiene von Zugtoiletten als Männer“, sagt Gebhardt. Doch oftmals sind Toiletten in Regional- wie in Fernzügen verdreckt oder gesperrt. Der Bahnbeauftragte der Bundesregierung, Michael Theurer (FDP), hatte im Sommer auf eine Anfrage der Union im Bundestag berichtet, dass im Jahr 2023 jede achte Toilette (12,5 Prozent) in der DB Regio und 3,7 Prozent der WCs in Fernverkehrszügen verschmutzt oder gesperrt waren.
Frauen reagieren auf diese Zustände mit eigenen Strategien. In einer niederländischen Untersuchung erklärten 41 Prozent der befragten Frauen im Jahr 2010, dass sie während der Bahnfahrt gar nichts oder nur wenig trinken, um den Toilettengang im Zug zu vermeiden. „Das ist ungesund und ein Zeichen, dass das aktuelle Angebot nicht zu den Bedürfnissen der Kundinnen passt“, sagt Gebhardt. Neue Ansätze in diesem Bereich könnten dazu beitragen, Kund*innen zu halten und neue zu gewinnen – etwa mit geschlechtergetrennten Toiletten. „Die Damentoilette sollte über mehr Platz verfügen, damit zum Beispiel auch Frauen mit Kleinkindern ausreichend Platz in der Kabine finden“, sagt Gebhardt. Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) hatten 2019 im Zug Giruno getrennte Toiletten eingeführt. Aber laut einer SBB-Sprecherin wird das Konzept aus Platzgründen nicht fortgeführt.

Der Gendergap setzt sich im Fahrzeugdesign von Autos, Bussen und Bahnen fort. Bislang ist der Durchschnittsmann das Maß der Dinge für die Gestaltung der Fahrzeuge.

Crashtest-Dummys sind männlich

Der „Mobility Gender Design Gap“ betrifft jedoch nicht nur öffentliche Fahrzeuge; auch im Privatwagen sind Frauen einem höheren Verletzungsrisiko ausgesetzt. Eine kürzlich veröffentliche Studie der Unfallforscher der Versicherer (UDV) belegt, dass Frauen selbst auf dem Beifahrersitz eineinhalbmal verletzungsgefährdeter sind als Männer, weil für Einstellungen und Test stets ein männlicher Crashtest-Dummy verwendet wird. „Die Ergonomie muss für kleine Personen besser werden, etwa mit individuell einstellbarer Pedalerie oder mehr Beinfreiheit“, mahnte die Leiterin der UDV, Kirstin Zeidler. Das gilt für den Fahrer- und den Beifahrersitz.
Das Wissen dafür ist vorhanden. Bereits 2019 hat Astrid Linder, Professorin für Verkehrssicherheit am Schwedischen Nationalen Straßen- und Verkehrsinstitut, in einem TED-Talk den weiblichen Crashtest-Dummy „Eva“ präsentiert. Eva ist 1,62 Meter groß, wiegt 62 Kilogramm und Brust, Becken und Hüfte sind dem weiblichen Körperbau nachempfunden. Eva könnte für Crashtests mit Autos, Bussen oder Zügen verwendet werden. Aber weder auf EU-Ebene noch bundesweit werden für die Zulassung von Pkw oder in den Vergabeverfahren für Busse oder Schienenfahrzeuge Sicherheitssysteme gefordert, die Genderunterschiede berücksichtigen. Für Frauen ist das Verletzungsrisiko bei einem Unfall mit dem Privatwagen oder in einem öffentlichen Verkehrsmittel deshalb stets höher als bei einem Mann.
Um diesen Gendergap in der Verkehrsplanung und Gestaltung von Fahrzeugen zu beheben, plädiert Laura Gebhardt für umfassendere Datenerhebungen, die unter anderem auch die Care-Arbeit differenziert erfassen. Es sei entscheidend, die Bedürfnisse der verschiedenen Verkehrsteilnehmer*innen zu verstehen und sie in die Gestaltung einzubeziehen, um ein sicheres und komfortables Verkehrssystem für alle Menschen zu schaffen. Laut einem Sprecher des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr wurden für die Studie Mobilität in Deutschland 2023 erstmals auch Wegeketten erfasst. Sie erscheint im kommenden Frühjahr.


Bilder: stock.adobe.com – Darren Baker, Andrea Reidl, stock.adobe.com – Peak River, stock.adobe.com – svetlanais, stock.adobe.com – Sven-Olaf Fröhlich

(erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)

Das Thema läuft wahrscheinlich in vielen Städten noch unter dem Radar, auch wenn wir in Potsdam in einigen Punkten schon etwas erreichen konnten. Viele bauliche Maßnahmen, die die Barrierefreiheit im Radverkehr verbessern, lassen sich dabei ganz grundsätzlich mit besserer Radinfrastruktur betiteln. Wie etwa breitere Radverkehrsanlagen, also Radwege, aber auch Radfahrstreifen, die mehr Platz für alle Radfahrenden schaffen und neben Lastenrädern vor allem auch Spezialrädern zugutekommen.
Bei Brücken und Tunneln wiederum sind eine Rampenneigung von 5 Prozent und Zwischenpodeste nicht nur für Rollifahrer hilfreich, sondern auch für radfahrende Menschen mit Handicaps oder für junge angehende Radfahrerinnen oder Ältere, die (noch) nicht so viel Puste haben, die ganze Steigung auf einmal zu nehmen.
Ebenfalls eine wichtige Maßnahme im Sinne einer besseren Barrierefreiheit ist die Nullabsenkung an Übergängen vom Radweg auf die Fahrbahn anstatt eines Bordsteins von 3 cm oder mehr. Und durch eine vermehrte Führung des Radverkehrs auf der Fahrbahn oder auf baulich getrennten Radwegen schaffen wir auch eine Verbesserung der passiven Sicherheit für seheingeschränkte oder blinde Personen, die als Fußgehende unterwegs sind.
Grundsätzlich haben wir in Potsdam mit dem Prinzip „Design für alle“ das Ziel, möglichst vielen Nutzergruppen eine gute Teilnahme an aktiver Mobilität zu ermöglichen. Wir würden uns aber wünschen, dass wir von radfahrenden Menschen mit Handicaps mehr Rückmeldungen zu den bisher umgesetzten Radverkehrsmaßnahmen erhalten.

Torsten von Einem
Radverkehrsbeauftragter der Landeshauptstadt Potsdam

Das Thema Barrierefreiheit und Inklusion wird in allen Planungen des Mobilitäts- und des Baureferats mitgedacht. Unter dem Motto „Mobilität für alle“ soll dabei die Verkehrssicherheit gerade für schwächere Verkehrsteilnehmende erhöht werden. Derzeit wird eine weitere Teilstrategie der Mobilitätsstrategie 2035 erarbeitet, die sich mit Fragen der Inklusion, der Gendergerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit in der Verkehrsplanung beschäftigt. Alle Menschen sollen die Möglichkeit haben, sich selbstbestimmt in der Stadt zu bewegen, möglichst auf der gesamten Wegekette. Mobilität darf keine Frage des Geschlechts, der gesellschaftlichen Rolle, der körperlichen oder kognitiven Fähigkeiten oder der finanziellen Situation sein.
In der Radverkehrsplanung geht es vor allem um die Höhe von Bordsteinen, Leitsysteme, ausreichende Radwegbreiten oder die Anpassung der Ampelsteuerung. Aber auch gestalterische Grundsätze wie freie Sichtbeziehungen zwischen den Verkehrsteilnehmenden sowie die bedarfsgerechte Verteilung der in München extrem knappen Flächen spielen eine zentrale Rolle. Die Planer*innen der Landeshauptstadt München fußen ihre Arbeit auf fortlaufend aktualisierten Leitlinien und können auf einen umfangreichen Erfahrungsschatz bei der Radverkehrsplanung zurückgreifen. Ergänzend bringt bei nahezu allen Radverkehrsvorhaben der städtische Beraterkreis für barrierefreies Planen und Bauen sein wertvolles Wissen ein. Münchens Ziel ist es, so die Konfliktpunkte im öffentlichen Raum durch vorausschauende bauliche Maßnahmen auf ein Minimum zu reduzieren.

Baureferentin Dr.-Ing. Jeanne-Marie Ehbauer und Mobilitätsreferent Georg Dunkel der Landeshauptstadt München

Radfahren ist das effizienteste und kostengünstigste Verkehrsmittel, das je erfunden wurde. Inklusion bedeutet daher für mich, dass allen Menschen dieses Verkehrsmittel zugänglich gemacht werden sollte. Damit das gelingt, sind in der Radverkehrsplanung andere Maßstäbe als nur die der technischen Regelwerke anzulegen. Es geht auch um die Herstellung subjektiver Sicherheit. Mit Subjektivität ist dabei der Blick des Planenden und die Wirkungsprüfung bestimmter Maßnahmeoptionen auf die verschiedensten Nutzergruppen gemeint. Eine inklusive und barrierefreie Radverkehrsinfrastruktur ist dann die möglichst größte Schnittmenge aus den Optionen, die planerisch zu erreichen ist.
In Leipzig bauen wir schon viele Jahre mit Erfolg barrierefreie Haltestellen des ÖPNV mit angehobenen Radfahrbahnen. Wir wollen weg von Mindestmaßen in der Radinfrastruktur, um auch dreirädrigen Lastenrädern und im Idealfall Rikschas mit ihrem jeweiligen Tempo Platz zu geben. Inklusion beim Radverkehr heißt in Leipzig quer durch alle Generationen auch: Kindermitnahme im Lastenrad statt Elterntaxi und „Radeln ohne Alter“ als willkommene Ablenkung vom manchmal mühseligen Senioren-Alltag.
Barrierefreiheit in der Radverkehrsplanung heißt aber auch, die Ansprüche der nicht radfahrenden, mobilitäts- und seheingeschränkten Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen. Bei stetig zunehmenden Radverkehrsmengen kann das nur die Herstellung weitgehend getrennter Bereiche für den Fuß- und Radverkehr bedeuten sowie die verbleibenden Kreuzungspunkte von Fuß- und Radverkehr deutlich hervorzuheben. Dazu zählen wir inzwischen auch erste Fußgängerüberwege über Radwege, die dem Radfahrenden klare Wartepflichten auferlegen.

Dr. Christoph Waack Radverkehrsbeauftragter im Verkehrs- und Tiefbauamt der Stadt Leipzig

Wir wollten es genauer wissen und haben uns mit Mathias Kassel unterhalten. Er ist studierter Bauingenieur und arbeitete als Verkehrsplaner zuerst in Karlsruhe und dann als Abteilungsleiter Verkehrsplanung in Offenburg. Hier leitet er seit 2018 engagiert die Stabsstelle Mobilität der Zukunft. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2019, Dezember 2019)


Mathias Kassel wurde 2015 vom Landesverkehrsministerium Baden-Württemberg als einer von zehn „Heldinnen und Helden der neuen Mobilität“ ausgewählt.

Herr Kassel, wie sind Sie zum Thema Radverkehrsplanung gekommen?
Ich habe seit den frühen 1980er Jahren Interesse für das Thema Verkehrsplanung entwickelt. Dazu kommt, dass ich ein passionierter Radfahrer bin. Da lag es nahe, mich auch intensiv mit dem Radverkehr zu beschäftigen.

Was zeichnet einen guten Verkehrsplaner aus?
Im Studium lernt man die Grundkompetenzen. Meiner Erfahrung nach ist es darüber hinaus von entscheidender Bedeutung, dass man sich in Verkehrsabläufe hineindenken kann. Hier ist die Vorstellungskraft genauso gefordert wie praktische Erfahrung. Man muss Verkehrsverhalten antizipieren können. Es braucht Empathie. Das ist genau die Diskrepanz zwischen „im Prinzip können“ und „wirklich können“.

Wie sieht für Sie eine gut geplante Radinfrastruktur aus?
Die Infrastruktur muss so sein, dass ihre Nutzung auch Spaß macht. Die Planer und Verantwortlichen müssen auch selbst mit dem Fahrrad unterwegs sein. Das gilt auch für die Politik. Dort zu entscheiden, wo man selbst nicht betroffen ist, ist immer leicht. Man muss aus Fuß-, Rad- Auto- und ÖPNV-Perspektive schauen und die anderen immer mitdenken.

„Mir macht mein Beruf wirklich Spaß – auch noch nach rund 30 Jahren.“

Mathias Kassel, Leiter Stabsstelle Mobilität der Zukunft, Stadt Offenburg.

Was ist das Besondere an der Verkehrsplanung?
Im Bereich Radverkehr haben wir es zum Beispiel bei den Fahrern mit einer schnellen, willkürlichen Reaktion und einem hohen Maß an Spontanität und Flexibilität zu tun. Insgesamt ist das Gebiet unheimlich spannend und attraktiv. Andererseits gibt es auch hohe Herausforderungen. Man wird von unterschiedlichsten Seiten mit unterschiedlichsten Vorstellungen konfrontiert. Für den einen ist das schwierig – für andere, und auch für mich, ist es das Salz in der Suppe.

Für wen ist der Beruf geeignet?
Für Menschen, die flexibel, kreativ und kommunikativ unterwegs sind, kann das ein wunderbarer Beruf sein. Interessante Aufgaben mit interessanten Menschen, das ist das, was herausfordert und zufrieden stellt. Das Gehalt war für mich nie das Wichtigste. Mir macht mein Beruf wirklich Spaß – auch noch nach rund 30 Jahren.

Was würden Sie Nachwuchsplanern raten?
In der praktischen Arbeit ist es wichtig, sich Rückendeckung zu holen. Dann kann man auch Dinge anstoßen und ausprobieren. Planern muss aus meiner Sicht immer klar sein: Die Richtlinien sind erste Anhaltspunkte, keine Gesetze. Eine Eins-zu-eins-Übersetzung klappt nicht – es kommt immer auf die Gegebenheiten an. Mit Mindestmaßen sollte man möglichst wenig planen. Und schon gar nicht in Kombination. Der Verstand muss noch eine Rolle spielen.

Wie sehen Sie die Personalsituation?
Im Moment haben wir eine Situation, wo wir händeringend nach Nachwuchs suchen, gerade in den Kommunen. Die Bereitschaft, als Mitarbeiter auch schwierige Situationen auszuhalten, ist meiner Wahrnehmung nach geringer geworden.

Bekommen Sie auch Mitarbeiter aus der Privatwirtschaft? Wo liegen die Unterschiede in den Aufgaben, im Vergleich zu Planungsbüros?
Viele haben zuerst in Planungsbüros gearbeitet und gehen dann in die Kommunen. In den Büros hat man vielleicht mehr Freiheiten. Andererseits ist man sehr auf bestimmte Aufgaben fixiert. In den Kommunen gibt es mehr Themenbereiche, mehr Abwechslung. Hier fließen neben verkehrlichen Aspekte genauso Stadtentwicklung und städtebauliche Aspekte mit ein. Hier gibt es interdisziplinäre Zusammenarbeit und eine hohe Vielfalt, die mich immer gereizt hat und immer noch reizt.

Was hat sich in der Vergangenheit verändert?
Die Anforderungen werden komplexer. Seit fünf bis acht Jahren findet ein Umdenken statt. Es wird mehr interdisziplinär gedacht. Wir führen viele Gespräche und führen regelmäßig Sicherheitsaudits durch. Die große Veränderung ist, dass das Thema Verkehr und hier der Radverkehr immer mehr ins Bewusstsein dringt.

Vor welcher zentralen Herausforderung steht Ihre Kommune?
Mobilität endet nicht an der Gemarkungsgrenze. Im Verkehr kommt es zu enorm zunehmenden Pendlerströmen. Hier in Offenburg haben wir prozentual bei 60.000 Einwohnern und über 30.000 Pendlern eine größere Pendlerdichte bezogen auf die Einwohnerzahl, als zum Beispiel in Stuttgart oder Frankfurt.

Zum Vertiefen: Informationen und Argumente

Mehr Kompetenz für Fahrradplaner

Nach vielfach geäußerten Expertenmeinung-en gibt es in Deutschland bei ausgebildeten Radverkehrsplanern deutlichen Nachholbedarf. Verschiedene Initiativen wollen das ändern.

Radverkehr wird Uni-Fach

Das BMVI hat das Förderprogramm „Stiftungsprofessuren Radverkehr“ gestartet. Zum Sommersemester 2020 sollen W2- und W3-Professuren an deutschen Hochschulen inklusive Personal eingerichtet und über einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren gefördert werden. Mit den Professuren will das BMVI Fachkräfte auszubilden lassen, die ihr Know-how dann vor Ort einbringen und in den Kommunen und Städten umsetzen. Förderungswürdig sind Professuren zu radverkehrsrelevanten Themen aus den Fachrichtungen Ökonomie, Verkehrsplanung, Politikwissenschaft, Psychologie, Rechtswissenschaften, Technik und Digitalisierung.

Neue Weiterbildung: Fachplaner für Radverkehr

Seit November dieses Jahres bietet das Europäische Institut für postgraduale Bildung (EIPOS), die neue Fortbildung „Fachplaner für Radverkehr“ an. In sechs Studienkursen können sich Bau- und Verkehrsingenieure, Raumplaner, Landschaftsarchitekten und Geografen berufsbegleitend qualifizieren. Die Kurse werden in Kooperation mit der TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik und der Landeshauptstadt Dresden, Geschäftsbereich Stadtentwicklung, Bau, Verkehr und Liegenschaften angeboten. Der Pilot mit 18 Teilnehmern pro Jahr ist aktuell ausgebucht.

www.eipos.de

Bild: Mathias Kassel