Radfahren gehört in Deutschland zur Alltagskultur. Sportvereine und viele Ehrenamtliche bieten bundesweit Radfahrkurse für Frauen an. Damit helfen sie Frauen aus anderen Kulturkreisen beim Ankommen. Sie werden physisch mobiler, aber auch psychisch. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Bevor es in den Straßenverkehr geht, trainieren die Frauen verschiedene Manöver auf dem Marktplatz im Stadtteil. In den Pausen geht es immer wieder um die Verkehrsregeln. Die Broschüren hat der Landessportbund in verschiedene Sprachen übersetzt.

Canan Şen hat beim Sportverein Radfahren gelernt.
Inzwischen gibt sie dort selbst Fahrradkurse.

Da stand es, ein rotes Tourenrad mit sieben Gängen und Korb. Es war ein Geschenk, eine Überraschung von ihrem Mann. Aber Canan Şen hatte auch eine Überraschung parat. „Ich kann nicht Rad fahren“, erklärte sie ihm. Als Kind hatte sie es in ihrer Heimatstadt Istanbul nie gelernt. Ihrem Mann, einem gebürtigen Oldenburger, war sie erst drei Jahre zuvor in die Fahrradstadt gefolgt. Jetzt wollte die Buchhalterin endlich Radfahren lernen, mit Anfang 40. Ein Jahr musste sie auf einen Platz im Fahrradkurs warten. Aber das Warten hat sich gelohnt. Inzwischen ist Canan Şen Übungsleiterin und unterstützt andere Frauen dabei, Radfahren zu lernen.
Ihren Kurs hat Canan Şen beim TUS Bloherfelde im Westen Oldenburgs gemacht. Es ist einer von vielen Sportvereinen, die über den Landessportbund Niedersachsen (LSB) Fahrradkurse für Migrantinnen, Geflüchtete und sozial Benachteiligte anbieten. Ihr Motto ist: „Radfahren vereint“. 2016 startete der Landessportbund die Kurse. Damals waren über eine halbe Million Menschen vor dem Krieg in Syrien nach Deutschland geflohen. Viele saßen in den Unterkünften fest, fernab der Zentren und ohne Bus- und Bahnverbindung. Um ihnen das Ankommen zu erleichtern und Behördengänge überhaupt möglich zu machen, organisierten Privatleute vielerorts gebrauchte Fahrräder und brachten sie in die Unterkünfte. Schnell weitete sich ihr Engagement aus. Sie sammelten Spendenräder, organisierten Fahrradreparatur-Workshops und unzählige Fahrradkurse für Frauen.
Viele der Ehrenamtlichen wollten damals eigentlich nur kurz helfen, aus einem Impuls heraus. Aber der Bedarf an Rädern und Fahrradkursen für Frauen reißt seitdem nicht ab. Einige Konzepte wurden erst zu Projekten und dann zu Vereinen wie beispielsweise „Bike Bridge“ aus Freiburg und „Westwind“ aus Hamburg oder „Radfahren vereint“ in Niedersachsen. In kleinen Teams machen bezahlte und ehrenamtliche Übungsleiterinnen die Frauen seitdem mobil. Dabei ist ihr Angebot weitaus mehr als der Zugang zu einer eigenständigen Mobilität. Das Radfahren öffnet ihnen die Tür zu einer neuen Gemeinschaft. Durchs Radfahren werden sie Teil der Gesellschaft.
„Oldenburg ist eine Fahrradstadt, hier fahren alle Fahrrad, Alt und Jung“, sagt Canan Şen. Seit sie Rad fahren kann, fühlt sie sich als Teil dieser Gemeinschaft. Sie fährt damit zu Freunden, zum Einkaufen, in die Wälder und Wiesen rund um Oldenburg und zu ihrer Arbeit im Sportverein. Dort leitet sie seit 2021 das Kinderturnen und wenn es wieder wärmer wird, mit weiteren Übungsleiterinnen wie Susanne Möller auch wieder die Fahrradkurse für Frauen.
Canan Şen ist in ihrem Sportverein kein Einzelfall. Wenn die Frauen erst mal Rad fahren können, wollen sie mehr: Schwimmen lernen, Sport treiben. „Das Radfahren stärkt ihr Selbstbewusstsein“, sagt Übungsleiterin Susanne Möller vom TUS Bloherfelde. In ihrem Kurs hat Canan Şen Radfahren gelernt. Als sie ihr in einer Kurspause erzählte, wie sehr sie Kinder mag, bot Susanne Möller der lebendigen und humorvollen Frau an, das Kinderturnen zu übernehmen. Die gelernte Buchhalterin machte eine Fortbildung und leitet inzwischen drei Kurse pro Woche.
Für den TUS Bloherfelde sind Canan Şen und ihre Kollegin Ayşe Karaman ein Glücksgriff. Die beiden Frauen sind Vorbilder. „Sie vermitteln den Teilnehmerinnen das Vertrauen und die Zuversicht: Was sie schaffen, kann ich auch schaffen“, sagt Susanne Möller. Ihr Erfolg motiviert die anderen.
Das hilft den Frauen durchzuhalten. Für sie ist es anstrengend, Radfahren zu lernen. Der Bewegungsablauf ist ungewohnt und muss für die Erwachsenen gut vorbereitet werden. Deshalb starten die Übungsleiterinnen zunächst mit Gleichgewichtsübungen in der Sporthalle an Geräten. Sobald das klappt, wechseln sie auf Erwachsenenroller und spätestens am dritten Übungstag aufs Rad. Zweimal pro Woche trainieren sie. Nach fünf Wochen können die Frauen Rad fahren.

Der Anfang ist schwer: Damit die Frauen sich sicher fühlen, haben die Fahrräder einen extrem tiefen Einstieg. Der Sattel wird tief gestellt, dass die Frauen mit ihren Fußspitzen den Boden berühren.

Bevor es aufs Rad geht, trainieren die Teilnehmerinnen ihre Balance. Die Bewegungen beim Radfahren sind für viele von ihnen neu. Die Übungen geben ihnen Sicherheit.

Fahrradkurse bringen neue Vereinsmitglieder

Die Fahrradkurse verändern auch das Vereinsleben. „Wir erreichen plötzlich eine ganz andere Zielgruppe“, sagt Susanne Möller. Die typischen Mitglieder von Sportvereinen kommen traditionell aus der Mittelschicht. Über die Fahrradkurse lernen die Teilnehmerinnen Canan Şen kennen. Sie vertrauen ihr und bringen ihre Kinder zum Turnen. Inzwischen hat die Geschäftsführung Sportkurse für Frauen so arrangiert, dass in der Zeit keine Männer in den Hallen sind. Das macht die Kurse auch für Frauen muslimischen Glaubens attraktiv und sie beginnen Sport zu treiben.
Im Stadtteil Bloherfelde arbeitet der TUS eng mit der städtischen Gemeinwesenarbeit (GWA) zusammen. Das ist eine soziale Einrichtung, die in vier Nachbarschaftshäusern stadtweit unter anderem Deutschkurse anbietet. Den Teilnehmerinnen wird automatisch ein Fahrradkurs angeboten. Finanziert werden sie vom Landessportbund (LSB). Der bezuschusst auch die Grundausstattung, also die Fahrradflotte und die Tretroller für die Erwachsenen. Die GWA steuert weitere Fahrzeuge bei und hält die Flotte instand. 46 Fahrradkurse für Frauen hat der LSB Niedersachsen 2023 organisiert und landesweit rund 400 Frauen aufs Rad gebracht.

„Sie vermitteln Teilnehmerinnen das Vertrauen und die Zuversicht: Was sie schaffen, kann ich auch schaffen.“

Susanne Möller, TUS Bloherfelde

Freiburg: Begegnung und Bewegung anbieten

Von diesen Rahmenbedingungen konnte Shahrzad Enderle in den Jahren 2015 und 2016 nur träumen. Sie ist eine der drei Gründungsmitglieder von Bike Bridge, einem Verein in Freiburg, der ebenfalls seit 2016 Fahrradkurse für Frauen anbietet. Für die drei Gründerinnen ist das Fahrrad Mittel zum Zweck; es macht die Frauen mobil, bringt sie in Bewegung und ermöglicht Begegnungen mit der lokalen Bevölkerung. Mittlerweile finanzieren Sponsoren und Partner die verschiedenen Bike-Bridge-Angebote. Aber als Shahrzad Enderle 2015 zum ersten Mal eine Unterkunft für Schutzsuchende besuchte, stand sie allein auf dem Hof und hatte eigentlich nur eins mitgebracht: jede Menge Zeit.
Damals war sie noch Doktorandin im Bereich Sportsoziologie. Als sie das Fußballprojekt für Kinder in der Unterkunft besuchte, tobten die Kleinen zwischen den Männern übers Gelände. Frauen sah sie dort keine. Ein Mann aus Afghanistan berichtete ihr, dass seine Frau ihr Zimmer nur selten verlasse, so wie viele andere Frauen. „Viele waren einsam und deprimiert“, erinnert sich Shahrzad Enderle. Die Doktorandin besuchte sie und fand in unzähligen Gesprächen heraus, dass die Frauen sich vor allem eines wünschten: Sie wollten Fahrradfahren lernen. Mit zwei Kommilitoninnen vom Sportinstitut organisierte sie für sie einen Kursus. „Eigentlich war das als einmalige Aktion geplant“, sagt sie. Aber am letzten Tag überreichten die Absolventinnen dem Dreierteam eine lange Liste mit Namen von Frauen, die ebenfalls Radfahren lernen wollten.

Was brauchen Migrantinnen?

Die drei waren gut vorbereitet. In den zurückliegenden Wochen hatten sie ein Konzept entwickelt, wie es weitergehen sollte. Dazu gehörten Kurse für Anfängerinnen und Fortgeschrittene, Radtouren zu zweit oder in Gruppen, Fahrradreparatur-Workshops und vieles mehr. Ihr Konzept hatte auch schon einen Namen: Bike Bridge. Die Idee dahinter war, Bewegung und Begegnung stets zu verbinden. Die Frauen sollten ihre neu gewonnenen Fähigkeiten festigen, weitere erwerben und einander gleichzeitig besser kennenlernen und weitere Kontakte knüpfen. Das hatten sich die Teilnehmerinnen und die Trainerinnen gewünscht.
Die neue Fähigkeit, die Freiheit, im Alltag selbstständig mobil zu sein, hat in Freiburg das Leben vieler geflüchteter Frauen verändert. „Sie haben Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit durchs Radfahren gewonnen“, sagt Shahrzad Enderle. Eine ihrer Teilnehmerinnen habe sich lange nicht getraut, sich zu einem Deutschkurs anzumelden. Als sie jedoch Radfahren konnte, meldete sie sich an. Eine weitere ehemalige Teilnehmerin lebt mittlerweile außerhalb Freiburgs in einem kleinen Dorf. Sie bringt ihre Tochter dort täglich mit dem Rad zur Kita und fährt anschließend direkt weiter zur Arbeit. Ohne Fahrrad sei das unmöglich, weil zu der Zeit keine Busse fahren, sagt Shahrzad Enderle und fügt hinzu: „Das Radfahren ebnet der Frau den Weg in die Arbeitswelt.“

Sharing-Mobility erklären

Shahrzad Enderle kann Dutzende dieser Geschichten erzählen. Aber weiterhin gibt es viele Hürden im Fahrradalltag ihrer Zielgruppe. Dazu gehört auch das Bike-Sharing-Angebote in Freiburg. „Unsere Teilnehmenden kennen die Räder von Nextbike by Tier. Aber sie haben sich nie getraut, das System auszuprobieren“, sagt Shahrzad Enderle. Um das zu ändern, hat Bike Bridge den Workshop „Cycling Mobility“ entwickelt, für Männer und Frauen.
Die erste Herausforderung ist die Sprache. Damit alle Teilnehmerinnen jeden Schritt der Ausleihe verstehen, hat das Team die Anweisungen in verschiedene Sprachen übersetzt und in Abstimmung mit dem Sharing-Anbieter in einer Infobroschüre zusammengefasst. In dem Workshop wird zunächst die App erklärt, dann testen sie gemeinsam die Ausleihe und die Rückgabe der Räder. „Sharing-Angebote sind günstig und praktisch und deshalb für unsere Zielgruppe interessant“, sagt Shahrzad Enderle. Das gilt auch für die vielen freien Lastenräder in der Region. Für viele Workshop-Teil-nehmerinnen sind sie interessant, schließlich können sie damit im Alltag ein Auto ersetzen.
Viele der Angebote wie den neuen Workshop kann das Bike-Bridge- Team umsetzen, weil Privatleute, Sponsoren und Partner den Verein finanziell, aber auch mit Sachspenden unterstützen. Inzwischen gibt es Bike Bridge in den acht Städten Freiburg, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg, Köln, München, Leipzig und Berlin.

„Die brauchen Fahrräder, machen wir mal ein paar fertig.“

Christian Großeholz, Westwind

Zwei Nachmittage pro Woche sind die Freiwilligen in der Werkstatt. 500 Räder setzen sie hier jedes Jahr wieder in Gang. Darunter unzählige Kinderräder.

Hamburg: bezahlbare Räder für alle

Mit ihrer Arbeit erleichtern Bike Bridge und der TUS Bloherfelde neuen Mitbürgerinnen und Mitbürgern das Ankommen und verhelfen ihnen zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe. Die Initiative „Westwind“ im Norden von Hamburg macht das auch. Allerdings ist für das Team um Christian Großeholz, einer der Westwind Gründer, allein die Finanzierung der Miete ihrer Lagerhalle jedes Jahr eine Zitterpartie. 42.000 Euro müssen sie dafür über Spenden zusammenkratzen. Für ihn ist es jedes Jahr aufs Neue ein Kraftaufwand. Großeholz ist kein Zahlenmensch, er ist Praktiker, Fahrradmechaniker. Als 2015 die ersten Kriegsflüchtlinge aus Syrien in abgelegenen Lagerhallen in Hamburgs Norden untergebracht wurden, sagte er zu seiner Freundin: „Die sitzen da fest. Die brauchen Fahrräder, machen wir mal ein paar fertig.“
Daraus ist Westwind entstanden. Eine Initiative, die Fahrradkurse für Frauen anbietet, Radtouren für jugendliche Migrant*innen organisiert, mit ihrer mobilen Fahrradreparatur-Werkstatt in Flüchtlingsunterkünften Räder repariert und einkommensschwachen Familien jeglicher Herkunft zu verkehrstüchtigen Fahrrädern verhilft.
„2015 dachten wir, wir machen 20 Räder für eine Unterkunft fertig und das war‘s“, sagt Großeholz. Aber er irrte sich. Der Bedarf riss nicht ab, also machte er auch weiter. Mit rund einem Dutzend ehrenamtlicher Helfer arbeitet er mittlerweile an zwei Nachmittagen in der Woche gebrauchte gespendete Räder auf. An diesem Nachmittag steht er in der Lagerhalle im Hamburger Norden zwischen Hunderten Kinder- und Erwachsenenrädern. Etwa die Hälfte von ihnen ist bereits fahrbereit. Das Westwind-Team hat die Naben- und Kettenschaltungen sorgsam auseinandergenommen und wieder zum Laufen gebracht, Bremsen erneuert, Nabendynamos eingebaut, Sättel getauscht, Klingeln angeschraubt und vieles mehr. Die Zeit drängt. Der erste Samstag im März ist der erste von fünf Verkaufstagen für Westwind in diesem Jahr. Allein an dem Tag sollen etwa 100 Fahrräder einen neuen Besitzer bekommen.

Fahrradkauf wird zum Erlebnis

Der Verkaufstag bei Westwind ist jedes Mal etwas Besonderes. „Wir wollen den Käufern ein normales Einkaufserlebnis bieten“, sagt Großeholz. Deshalb wird vorher in der Halle Platz gemacht, aufgeräumt und die Lastwagen von den Nachbarn vom Hof gefahren. „Wir reihen die Räder dann auf wie in einem Showroom“, sagt Großeholz. Dann folgen Verkaufsgespräche wie in jedem Fahrradladen: Wofür ist das Rad gedacht? Wird es nur in der Stadt gefahren oder auch im Gelände? Und so weiter.
Wie groß der Bedarf an günstigen Rädern in Hamburg ist, zeigt die Warteschlange. Wenn wir um zehn Uhr zur Halle kommen, stehen dort manchmal bereits 20 Leute und warten“, sagt Großeholz. Dabei beginnt der Verkauf erst eine Stunde später, um 11 Uhr. Sobald einer aus dem Westwind-Team dann das Rolltor hochschiebt, sind sie alle für die kommenden drei Stunden im Dauereinsatz. Sie führen Räder vor, stellen Sattelhöhen ein und lassen Kinder und Erwachsene Probe fahren. Für sie ist es jedes Mal bewegend, wenn die Kinder stolz ihr neues Rad vom Hof schieben oder Erwachsene plötzlich die Leichtigkeit des Radfahrens entdecken, wie kürzlich eine 20-jährige Kurdin mit Downsyndrom. Sie hat bei Westwind ein Dreirad gekauft. „Die junge Frau saß bei uns zum ersten Mal in ihrem Leben auf einem Fahrrad“, sagt Großeholz. Nach ihren ersten Metern auf dem Hof strahlte sie. Es sind diese Erlebnisse, die das ganze Team antreiben, weiterzumachen.
Auch wenn die Räder gespendet wurden, kostenlos sind sie nicht. „Die Kunden müssen eine Sozialgebühr bezahlen“, sagt der Fahrradexperte. Die Kinderräder kosten 15 Euro, Jugendräder 30 Euro und ein Erwachsenenrad 50 Euro. Westwind deckt damit gerade so die Kosten, die ihnen beim Aufarbeiten entstehen. Mehr nehmen wollen sie nicht. „Für einige unserer Kunden sind 50 Euro richtig viel Geld“, sagt Großeholz.
Dafür bekommen sie aber auch etwas: ein Stück Freiheit. „In Hamburg kommen Jugendliche und Erwachsene mit dem Rad überall hin“, sagt der Fahrradmechaniker. Sie brauchten kein Auto, keinen Bus und keine Bahn. Außerdem werden sie mit dem Fahrrad einer von vielen. Radfahren sei in Hamburg Alltagskultur. Mit ihrer Arbeit macht Westwind seine Kunden zum Teil dieser Bewegung. Sie gehören dazu. Egal wo sie herkommen.


Bilder: TUS Bloherfelde, Andrea Reidl

How inclusion shapes design

von Kat Holmes

Laut Kat Holmes sollte eine Behinderung nicht als persönlicher Gesundheitsumstand gesehen werden. Wer Behinderungen als unstimmige menschliche Interaktionen betrachtet, platziert die Verantwortlichkeit bei den richtigen Menschen. Wer Städte, Arbeitsplätze und vieles mehr gestaltet, hat die Macht, die ganze Gesellschaft durch inklusives Design zu stärken. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Für das Ziel der Inklusion zu gestalten, fängt da an, wo man Exklusion anerkennt. Kat Holmes empfiehlt, sich an das Kindesalter zu erinnern und sich zu fragen, wann man sich in einer Spielsituation willkommen gefühlt hat und wann man ausgeschlossen worden ist. Ausgehend davon lässt sich feststellen, dass die meisten Aspekte menschlichen Zusammenlebens es vermögen, Menschen Zugang zu ihrer Umgebung zu geben oder ebendiesen Zugang zu verwehren. Das betrifft den urbanen Raum, aber auch Arbeitsplätze, Technologie und diverse Formen menschlicher Interaktion.
Überall dort, wo die von Menschen erschaffene Umgebung verhindert, dass ein Bedürfnis erfüllt wird, entsteht ein Mismatch, für die Autorin die Bausteine der Exklusion. Inklusives Design verfolgt das Ziel, diese Umstände zu beseitigen. Laut Holmes wird dieser Ansatz zu selten als übergeordnete Priorität konsequent umgesetzt. Ein Lösungsansatz für dieses Problem lautet, mithilfe der exkludierten Menschen zu designen, statt für sie. Dabei entstehen mitunter elegante Lösungen, von denen am Ende die ganze Gesellschaft profitiert.
Kat Holmes erzählt in Mismatch von den Pionier*innen inklusiven Designs. Vielfach sind diese zu ihren inspirierenden Entwicklungen auch durch eigene Exklusionserfahrungen gekommen. Auch wenn die Beispiele in diesem Buch sehr divers sind, steckt jedes Kapitel voller Design-Lektionen, die sich als Leitfaden für die Praxis eignen. Die Geschichten zeigen, dass Inklusion ein Innovationstreiber sein und somit einen großen gesellschaftlichen Mehrwert herstellen kann.


Mismatch: How Inclusion Shapes Design | von Kat Holmes | MIT Press | 2018 | ca. 170 Seiten (farbig, bebildert), Softcover | ISBN: 978-0262038881 | 18,99 Euro


Bild: MIT Press

Ein integrierter Ansatz für nachhaltigere Verkehre verlangt, Raum und Mobilität stärker zusammenzudenken. Dafür sollte der gesetzliche Rahmen reformiert werden. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Die Gestaltung von Quartiers- und Stadträumen bestimmt maßgeblich mit, ob sich Menschen beispielsweise fürs Fahrrad, den Bus oder das Auto entscheiden. Im Projekt „Integrierte Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung“ will die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) unter anderem die Frage beantworten, wie individuelles Mobilitätsverhalten funktioniert und welche Interventionsmöglichkeiten zur Förderung nachhaltiger Verkehrsmittelentscheidungen es gibt. Als zentraler Hebel für die Schaffung vielfältiger und klimaresilienter Städte wurden dabei die Wechselwirkungen zwischen räumlichen Strukturen und Mobilität identifiziert. Das ist keine grundlegend neue Erkenntnis, jedoch spannt das Projekt der Akademie einen größeren Bogen, indem sie die integrierte Stadtplanung als Kooperation und fachliche Synergien von Politik, Verwaltung, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft skizziert.

Vier räumliche Maßstabsebenen

Aufgezeigt werden die Wechselwirkungen von Raum und Mobilität an den vier Maßstabsebenen Straße, Stadtquartier, Gesamtstadt sowie Stadtregion. Für jede der Ebenen werden jeweils spezifische Einflussfaktoren beschrieben. So fördert beispielsweise eine hohe Aufenthaltsqualität in Straßen den sozialen Austausch im öffentlichen Raum und die Fortbewegung zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Im Stadtquartier bestimmen Infrastruktur und Erreichbarkeit der Alltagsziele die Mobilitätsoptionen. Entsprechend belebt werden Quartiere durch den Zugang zum öffentlichen Verkehr und durch kürzere Wege. In der Gesamtstadt sollen Standorte verteilt und gut mit dem ÖV oder nicht motorisierten Verkehrsmitteln erreichbar sein. Wichtig für eine Stadtregion ist die Abstimmung von Siedlungsentwicklung, Infrastrukturentwicklung und Verkehrsachsen. Verläuft die Entwicklung beispielsweise entlang von ÖV-Achsen, können im Umfeld von Bahnhöfen und Haltestellen lebendige Zentren entstehen.

Räumliche Maßstabsebenen: Im lebendigen Stadtquartier geht es darum, die Alltagswege zu verkürzen. Für die Gesamtstadt sollen die Standorte im Stadtraum verteilt und mit dem ÖV oder nicht motorisierten Verkehrsmitteln gut erreichbar sein.

Verkehrsmittelwahl nicht immer rational

Ausführlich auf individuelles Verhalten im Kontext von Raum und Mobilität geht der Zwischenbericht ein. Demnach geben zwar, wie zuvor beschrieben, äußere Strukturen oder Angebote den Rahmen vor, Verhaltensentscheidungen sind jedoch nicht unbedingt im ökonomischen Sinn vernünftig. So steht die Wahl von Wohnort und Arbeitsstätte in Wechselwirkung mit der Aktivitätenwahl oder dem individuellen Mobilitätsverhalten. Entscheidungen über Alltags- und Freizeitaktivitäten haben Auswirkungen auf Ziele, Distanz, Frequenz und Abfolge zurückgelegter Wege. Darüber bestimmen sich auch individuelle Mobilitätsoptionen. Das Mobilitätsverhalten ist bestimmt durch Anzahl und Länge täglicher Wege. Bewegungsverhalten beinhaltet beispielsweise schnell oder langsam, zielstrebig oder mäandrierend. Bewegungsverhalten, Aktivitätenwahl und Mobilitätsverhalten beeinflussen sich gegenseitig und haben Auswirkungen auf andere Verkehrsteilnehmende sowie die Wahrnehmung von Raum.

Verhalten nach Budget, Geschlecht und Alter

Wichtig für das Verhalten sind soziodemografische Faktoren. So bedeutet etwa ein höheres Einkommen mehr Freiheit bei der Standortwahl. Die Geburt eines Kindes führt tendenziell zu vermehrter Pkw-Nutzung, ebenso der Fußwege. Je besser der ökonomische Status, desto mehr Wege werden zurückgelegt, während Haushalte mit geringem Budget 28 Prozent mehr Wege zu Fuß gehen. Männer legen fast ein Drittel mehr Wege mit dem Auto zurück als Frauen. Frauen sind um 20 Prozent häufiger zu Fuß unterwegs. Die Hälfte der Frauen fühlt sich unsicher, bei Dunkelheit allein unterwegs zu sein. Mit dem Alter nimmt die Einschränkung der Mobilität zu. Hinzu kommen neuerdings städtische Hitzewellen, bei denen bis zu 65 Prozent ihre Aktivitäten im öffentlichen Raum reduzieren.

Vorstellung in Berlin: Mit den Ergebnissen des Acatech-Projekts wurden auch Handlungsempfehlungen als Orientierungs- und Argumentationshilfe für kommunale Praktikerinnen und Praktiker vorgestellt.

Normen, Werte und Einstellungen

Auch psychologische Aspekte werden beleuchtet. Eine positive Affinität zum Fahrrad etwa hat, wer seit der Kindheit gerne das Rad benutzt hat. In der Jugend wird das Zweirad Mittel zur Selbstständigkeit, die Umgebung auf eigene Faust zu erkunden. Fördert man durch Bildung in Schule und Familie frühzeitig positive Erfahrungen mit aktiver Mobilität, kann dies langfristig ein umweltfreundliches Verkehrsverhalten begünstigen. Und ob jemand in öffentliche Verkehrsmittel einsteigt, ist auch eine Frage des Images. So besitzen Buslinien ein schlechteres Image als schienengebundene Verkehrsmittel. Als Interventionsansatz werden statussensible Angebote und begleitende Kommunikations- und Marketingmaßnahmen empfohlen.

„Die Novellierung des StVG ist eine wichtige Basis für ein Mobilitätsgesetz mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort.“

Helmut Holzapfel, Co-Projektleiter

Wechsel und Krisen als Chancen

Auch eine neue Lebensphase bietet die Chance, mit Routinen und Gewohnheiten zu brechen. Mit Bezug einer Wohnung oder Wechsel des Arbeitsplatzes kann das eigene Mobilitätsverhalten hinterfragt werden. Hilfreich können deshalb Mobilitätsberatungen für Neubürgerinnen und Neubürger oder junge Familien sein. Betriebe können Anreize setzen, wenn sie Mitarbeitenden Abomodelle für Dienstfahrräder oder ein Mobilitätsbudget anbieten. Ebenso bewirken externe Schocks oder unvorhergesehene Ereignisse individuelle Verhaltensänderungen. Als Beispiel wird die Covid-19-Pandemie genannt, in der zahlreiche Personen ihr Standort-, Aktivitäts- und Mobilitätsverhalten hinterfragt haben. Digitale Transformationen haben standortunabhängiges Arbeiten ermöglicht.

Partizipation aller Teilnehmer

„Als einseitiger Top-down-Prozess wird die Transformation der Mobilität jedoch nicht erfolgreich sein. Wichtig ist, dass sich alle gesellschaftlichen Gruppen als Teil dieser Veränderung verstehen, diese für sich als Gewinn betrachten, die Prozesse mitentwickeln und in ihren Alltag integrieren“, heißt es im acatech-Bericht. Konflikte entstehen zum Beispiel bei unterschiedlichen Vorstellungen von Raumnutzung. Deshalb sollte der Austausch zwischen Nutzergruppen ermöglicht werden. Die Akzeptanz neuer Angebote wie temporär verkehrsberuhigte Zonen wird größer durch die Einbindung lokaler Akteurinnen. In Partizipationsprozessen wird das Wissen von Quartieranrainerinnen genutzt und fließt mit in die Planung ein.

Raumebene Stadtregion: Wichtig ist hier die Abstimmung von Siedlungsentwicklung, Infrastruktur und Verkehrsachsen. Rund um Bahnhöfe und Haltestellen können attraktive Zentren entstehen.

Regelwerke reformieren, Zusammenarbeit fördern

Dreh- und Angelpunkt von Interventionen, um auf Verhaltensänderungen einzuwirken, bleibt das Zusammenspiel von Stadtentwicklung und Mobilitätsplanung. Zu den Bausteinen gehören Umweltzonen, der Ausbau von Fuß- und Radinfrastrukturen, Bike-Sharing-Systeme und Quartiersverbindungen durch den ÖV. Die Empfehlungen der Acatech richten sich auch an die Politik. Co-Projektleiter Helmut Holzapfel sagt: „Es ist ein Dilemma: Kommunen sollen die Mobilitätswende vorantreiben, doch sobald sie Neues ausprobieren, um öffentlichen Raum vielfältiger zu nutzen und etwa Straßen für Fußgängerinnen und Fußgänger zu öffnen, droht schnell der Gang vor Gericht. Die Novellierung des StVG ist eine wichtige Basis für ein Mobilitätsgesetz mit mehr Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort.“ Kommunen sollten mehr rechtlichen Spielraum erhalten, um integrierte Maßnahmen eigenständig umzusetzen. „Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser“, findet Co-Projektleiter Klaus Beckmann (Interview). Eine entsprechende Reform ist 2023 im Bundesrat jedoch gescheitert.
Patentlösungen für lebenswerte Stadtregionen gibt es nicht. Deshalb sollten Experimentierklauseln erweitert und das temporäre Abweichen von Vorschriften erleichtert werden. So könnten innovative Ansätze und ihre Wirkung rechtssicher ausprobiert werden. „Die Sendlinger Straße in München ist ein gutes Beispiel“, sagt Co-Projektleiter Klaus Beckmann. „Die Straße wurde zunächst versuchsweise zur Fußgängerzone umgewidmet. Seither flanieren die Menschen, sie genießen den neu gewonnenen Freiraum und auch der Einzelhandel profitiert von der höheren Besucherfrequenz. Schon nach einem Jahr war klar: Das soll so bleiben.“
Programme mit angepassten Förderbedingungen sollten einen integrierten Ansatz in Kommunen und Regionen unterstützen für eine langfristige und sichere Planung.

Erfolge in Paris, Freiburg und Hannover

Als Beispiel für einen integrierten Planungsansatz wird unter anderen die französische Hauptstadt Paris genannt mit ihrer Fokussierung auf gute Erreichbarkeit nach dem Konzept der 15-Minuten-Stadt. Dort wurde von 2001 bis 2018 ein deutlicher Rückgang der täglich mit dem Auto zurückgelegten Wege verzeichnet, während sich die zu Fuß zurückgelegten Wege um etwa 50 Prozent erhöht haben. Die Anzahl mit dem Auto zurückgelegter Wege fiel 2018 sogar unter die 6-Millionen-Marke. In Freiburg im Breisgau wiederum verfolgt man seit Ende der 1980er- Jahre das Ziel, Verkehr durch eine abgestimmte Stadtentwicklungs- und Mobilitätspolitik zu vermeiden. Die Wirkung einer integrierten Planung wird deutlich sichtbar. So stieg zwischen 1982 und 2016 der Anteil des Umweltverbunds von 61 auf 79 Prozent, der des motorisierten Individualverkehrs sank von 39 auf 21 Prozent. Nicht zuletzt steht die Region Hannover mit ihrer Regionsversammlung als Beispiel für eine institutionalisierte Form regionaler Zusammenarbeit. Bereits 2011 wurde ein Verkehrsentwicklungsplan für die Region verabschiedet, der auf räumliche Integration abzielte. Im 2023 fortgeschriebenen Verkehrsentwicklungsplan ist eine Senkung des CO2-Ausstoßes von 70 Prozent bis 2035 vorgesehen. Zwischen 2011 und 2017 ging der MIV-Anteil in der Region von 59 auf 55 Prozent zurück, der des Umweltverbunds stieg von 41 auf 45 Prozent.

„Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser“

Interview mit Acatech-Co-Projektleiter Prof. Klaus Beckmann

Was sind Kernanliegen des integrierten Ansatzes?
Es geht um die Frage, welche Effekte auf den Verkehr wir bei der Stadtentwicklung berücksichtigen müssen. Wie können wir die erwünschten Effekte im Verkehr stützen, die unerwünschten bremsen oder umlenken? Das bedeutet, dass ich über die verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen nachdenken muss. Es beginnt im Straßenraum vor der Haustür. Der ist nicht nur Verkehrsfläche, sondern ebenso für Aufenthalt, Kontakte oder Spiel. Ich kann auch Grünflächen zur Verbesserung des Stadtklimas bereitstellen.
Das geht dann ins Quartier hinein. Was ist bereits an Einrichtungen vorhanden? Welche sollte man schaffen, die im Alltagsleben Ziele von Menschen sein können? Von der Schule über den Kindergarten, die Einkaufsgelegenheiten bis hin zu Ärzten. Das muss ich versuchen mitzudenken.
Man könnte jetzt sagen, das ist doch alles fix. Die letzten zwei Jahre haben jedoch gezeigt, dass vieles, von dem wir gemeint haben, es sei fix, nicht so fix ist. Ich erinnere an den für die Innenstädte problematischen Niedergang der Kaufhäuser. Welche Nutzungen ich da reinbringen kann. Ausschließlich Handel ist vielleicht zu monofunktional. Ich muss überlegen, ob nicht auch Wohnungen oder Arbeitsplätze infrage kämen – oder eine Bibliothek. Was wir jahrelang an den Rand der Städte geschoben haben, kann vielleicht wieder in die Stadt rücken. Bei den räumlichen Maßstabs-ebenen bin ich da vom Quartier im Übergang zur Gesamtstadt. Wo liegen die Orte, die Zugänge zu Fußgänger- und Zweiradverkehrsnetzen oder zum ÖPNV bieten? Kann ich die mit der U-Bahn oder Tram erreichbar machen? Hier sind die Botschaften. Wir brauchen Integration. Städtebau auf der einen Seite, Mobilität auf der anderen. Und das über alle Ebenen vom Quartier bis in die Region hinein.

Wie wichtig ist eine selbstständige Planung für die Kommunen?
Je mehr kommunale Verantwortung, desto besser. Die Politikerinnen und Politiker aus den Gemeinde- und Stadträten müssen letztlich die Wirkungen überprüfen und eventuell nachkorrigieren, also Erfahrungen sammeln. Vor allem die Kritik der Bürgerinnen und Bürger ist aufzunehmen, um sich damit auseinanderzusetzen. Die Verantwortlichkeit ist bei den Kommunen zu sehen. Dieser Weg ist im Augenblick eingeschränkt, beispielsweise durch das bisherige Straßenverkehrsgesetz.
Natürlich gibt es Argumente dafür zu sagen, es wäre nicht förderlich, wenn wir in Kommune A und der Nachbarkommune B völlig gegensätzliche Regelungen hätten. Deswegen bedarf es eines Rahmens wie das Straßenverkehrsgesetz und die Ableitung als StVO. Aber das ist im Augenblick relativ strittig. Es gibt mehr als 1000 Gemeinden, die postuliert haben: Gebt den Städten und Gemeinden mehr Kompetenzen und Verantwortlichkeiten im Bereich der Gestaltung von städtischen Verkehrsräumen. Das betrifft zum Beispiel die Geschwindigkeiten.

Was beeinflusst die individuelle Verkehrsmittelwahl?
Das fängt bei der Wohnungssuche schon mit dem Angebot an. Wo liegt das in der Stadt? Wie erreiche ich von dort meinen Arbeitsplatz und Einkaufsgelegenheiten? Ist das ein gut ausgestattetes Quartier? Was für Mobilitätsoptionen habe ich selbst und bevorzuge ich? Bin ich Fußgänger, Fahrradfahrer, ÖPNV-Nutzer oder passionierter Autofahrer?
Es gibt einige Wohnungsbaugesellschaften, die bereits integrierte Angebote von Wohnungen und Mobilitätsmöglichkeiten machen. Als Nutzer mieten Sie also eine Wohnung und haben vielleicht damit schon einen Mobilitätspool. Dieser kann ein Fahrrad, ein Pedelec, einen Leih-Pkw oder eine ÖPNV-Fahrkarte beinhalten. Gerade im kommunalen Bereich, in Quartieren und Stadtteilen, spielen nicht motorisierte Verkehrsmittel von den Füßen bis zu den Zweirädern eine bedeutende Rolle.

Der integrative Ansatz ist umfangreich: Wer hat den Masterplan, wer fängt an?
Das Schwierige und Interessante daran ist, dass es keine Musterlösung gibt nach dem Motto: Nur so geht´s. Das hängt von den lokalen Rahmenbedingungen ab. Was habe ich für ein Radwegenetz? Wie kann ich das Straßennetz umgestalten? Ich muss bei allem, was die Stadtplanung und die Verkehrsplanung entscheiden, fragen: Was bedeutet das hinsichtlich der städtischen Lebensqualitäten sowie der Mobilitäts- und damit Teilnahmemöglichkeiten? Das sind zentrale Fragen, die man sich ständig stellen muss. Manche Städte haben gute Erfahrungen gemacht, indem sie Masterpläne erstellt und schrittweise in der Verwaltung und Politik umgesetzt haben. Das schließt nicht aus, dass man, wenn Menschen aus dem Quartier sagen: Das ist etwas, was wir für nötig halten, dies berücksichtigen, also davon profitieren sollte.

Ein Leitfaden, der mit dem Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) entwickelt wurde, unterstützt Kommunen bei der Transformation ihrer Governance und zeigt Handlungsbausteine auf für integriertes Arbeiten.

Info: www.acatech.de


Bilder/Grafiken: acatech, David Ausserhofer

Sie haben das Zeug dazu, Autofahrten zu ersetzen. Aber in Deutschland sind S-Pedelecs für die Bundesstraße zu langsam und für den Radweg zu schnell. Nun testen erste Kommunen, wie sie die Räder in den Alltagsverkehr besser integrieren können. Das Ausland ist da schon weiter. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Mit Tempo 70 und schneller ziehen die Autos auf der Bundesstraße an Anja Herz vorbei. Sie schneiden die Radfahrerin, hupen anhaltend und zeigen wild gestikulierend auf den parallel verlaufenden Radweg. Der ist leer, Anja Herz würde gerne auf ihn ausweichen. Aber das verbietet die Rechtslage, denn Anja Herz fährt ein schnelles Pedelec.
Die schnellen Pedelecs, auch Speed-Pedelec oder S-Pedelec genannt, gelten als Kleinkraftrad, weil sie bis zu 45 Kilometer pro Stunde schnell fahren können. Jedenfalls in der Theorie. In der Praxis sind ihre Fahrerinnen und Fahrer eher mit 30 bis 35 Kilometern pro Stunde unterwegs. Trotzdem gelten für sie die gleichen Regeln wie für Autos: Gefahren werden darf nur auf der Fahrbahn.
In Belgien, der Schweiz oder Dänemark ist es umgekehrt. Dort müssen die schnellen Räder zwingend die Radwege nutzen – auch in den Zentren. Ob diese Regelung sinnvoller ist, bezweifeln viele Radverkehrs-expertinnen. Aber auch sie finden: Die Rechtslage in Deutschland sollte angepasst werden. Umfragen und erste Studien zeigen: S-Pedelecs können Autofahrten ersetzen, wenn ihre Nutzerinnen sicher unterwegs sind. Das 2023 gegründete Bündnis „Allianz Zukunft S-Pedelecs“ will dafür die Rahmenbedingungen schaffen. Seit vergangenem Jahr initiieren seine Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verbänden Studien und organisieren regelmäßige Diskussionsrunden mit Experten. Der Blick in die Nachbarländer zeigt, wie Lösungen aussehen könnten. Aber nicht nur jenseits der Grenzen gibt es Vorbilder, auch in Deutschland gibt es erste Versuche, die Nutzung von S-Pedelecs zu liberalisieren.
Die Unistadt Tübingen in Baden-Württemberg gehört dabei zu den Vorreitern. Dort gibt es seit 2019 das erste und bislang einzige S-Pedelec-Netz bundesweit. Auf einer Strecke von rund 80 Kilometer verbindet es sämtliche Ortsteile mit der Kernstadt. Die Idee für die Planung kam aus der Stadtregierung. „Einige Gemeinderäte und der Oberbürgermeister, Boris Palmer, waren damals bereits mit herkömmlichen, aber auch mit schnellen Pedelecs unterwegs“, sagt Daniel Hammer, Verkehrsplaner und zuständig für den Radverkehr in Tübingen. Die baden-württembergische Landesregierung unterstützte das Vorhaben und führte das Zusatzzeichen „S-Pedelec frei“ ein.
Damit begann die Netzplanung. Der Grundsatz war: Das Fahren mit S-Pedelecs im Stadtgebiet muss einfach und intuitiv sein. „Wir haben keine festen Standards definiert“, sagt Hammer. Stattdessen haben sie vor Ort entschieden, auf welcher In-frastruktur die schnellen Rad-fahrerinnen sicher unterwegs sind. Das können Radwege sein, Radfahrstreifen, Fahrradstraßen, verkehrsberuhigte Zonen und Wirtschaftswege. Der Aufwand war groß. Jeder Teil der Route wurde begutachtet. Insbesondere für kritische Stellen mussten sie Lösungen finden. Dazu gehört beispielsweise eine Unterführung im Zentrum. „10.000 Radfahrende sind dort täglich unterwegs und ebenso viele Fußgänger“, sagt Hammer. Die Unterführung ist sechs Meter breit und hat einen getrennten Fuß- und Radweg. Um die schnellen S-Pedelecs zu bremsen, haben sie dort ein Tempolimit von 20 Kilometern pro Stunde für alle Fahrräder eingeführt. Eine spätere Geschwindigkeitsmessung zeigte, dass Rennräder und Pedelecs dort bergab mit 30 bis 35 Kilometern pro Stunde unterwegs sind – ohne andere zu gefährden. Bislang funktioniert das Miteinander der schnellen und langsamen Radfahrerinnen und Radfahrer recht gut. Laut Hammer gab es weder mehr Unfälle noch sonstige Beschwerden. „Wenn sich das ändert, passen wir die Infrastruktur an“, sagt er. Momentan ist das Tübinger Modell nur eine Insellösung. Spätestens am Ortsschild der Nachbarstädte wie Reutlingen oder Rottenburg endet für die schnellen Pendlerinnen das entspannte Fahren. Der Radverkehrsplaner bedauert, „dass S-Pedelecs generell auf die Straße müssen, auch wenn Tempo 100 gilt“. Das schrecke potenzielle Umsteiger ab. Er plädiert für ein landkreisweites S-Pedelec-Netz auf geeigneten Wegen.

Mit maximal 30 Kilometern pro Stunde dürfen die Radfahrer durch den Tunnel fahren. In den Niederlanden sind Tempolimits auf vielen Radwegen üblich. In Deutschland ist Tübingen damit Vorreiter.

Speed-Pedelecs sind mit einer Tretunterstützung bis 45 km/h und einer Motorleistung bis zu 4 kW rechtlich betrachtet kene Fahrräder, sondern Kleinkrafträder der Klasse L1e. Damit sind bisher nicht nur Radwege tabu, sondern auch Feld- und Waldwege, die mit Verbotschildern für Motorfahrzeuge gekennzeichnet sind.

S-Pedelec-Netze für Landkreise

Diese Idee ist besonders für Radregionen interessant, wie etwa den Bodensee. Viele Berufstätige fahren dort täglich 20 oder auch 30 Kilometer zur Arbeit. Von Singen und Radolfzell etwa nach Konstanz oder auch in die Schweiz. „Das ist eine ideale Distanz für S-Pedelecs“, sagt der Radverkehrsplaner der Stadt Kon-stanz, Georg Gaffga. Bislang müssen die schnellen Radfahrerinnen an einigen Stellen die Bundesstraße nutzen. Die wird gerade auf vier Fahrspuren ausgebaut und führt zudem durch einen Tunnel. „Selbst für versierte Radfahrende kommt ein Fahren dort nicht infrage“, sagt Gaffga. Für diese Streckenabschnitte braucht es Ausweichrouten. Mit seinen Kolleginnen plant Gaffga seit vergangenem Jahr das neue Radwegenetz der Stadt. Die S-Pedelecs haben sie dabei stets im Blick. „Wir suchen auf den Hauptachsen ins Umland die Lücken im Netz“, sagt Gaffga. Wo das Fahren auf den Straßen für die schnellen Radfahrer zu gefährlich ist, sollen sie auf Radwege neben der Fahrbahn ausweichen können. Vorausgesetzt, sie sind breit genug und es sind dort nur wenige Fußgänger und Radfahrende unterwegs.

„Unsere Mobilitätsstrategie ist der autofreie Haushalt“

Georg Gaffga, Stadt Konstanz

S-Pedelec: Ein Baustein zum autofreien Haushalt

Innerorts sieht der Radverkehrsplaner Gaffga nahezu keinen Handlungsbedarf in seiner Stadt. In Konstanz’ Zentrum könnten die schnellen Radler bei Tempo 30 oder 50 auf der Fahrbahn mitrollen. Aber es gibt auch Ausnahmen. Im vergangenen Jahr hat er eine Anliegerstraße, die auch Fahrradstraße ist, für S-Pedelecs freigegeben. „Die Straße hat den Charakter einer Außerortsstraße, sie führt durch ein Waldgebiet geradewegs zum Fähranleger Richtung Meersburg“, sagt er, eine wichtige Pendelroute. Auch dort funktioniert das Miteinander. Bislang gab es keine Beschwerden.
Angesichts der geringen Zahl an S-Pedelecs im Straßenverkehr erscheint der hohe Aufwand, den Gaffga mit seinem Team betreibt, unverhältnismäßig hoch. Insbesondere weil sie kein konkretes S-Pedelec-Netz planen, sondern vorerst nur die Möglichkeiten ausloten, potenzielle Lücken im Netz zu schließen. Gaffga hält dagegen: „Unsere Mobilitätsstrategie ist der autofreie Haushalt“, sagt er. Das S-Pedelec ergänze das aktuelle Angebot an Sharing und öffentlichem Verkehr. Deshalb wollen sie die junge Fahrzeuggattung fördern. Das funktioniere allerdings nur, wenn die Fahrer*innenr sich wohlfühlen und sicher unterwegs sind. Die benachbarte Schweiz zeige zudem, dass bei attraktiven Bedingungen die Verkaufszahlen von S-Pedelecs steigen und ihr Anteil am Gesamtverkehr zunimmt.

S-Pedelecs ersetzen das Auto

Hierzulande ist die Fahrzeuggattung bislang nur eine Randerscheinung. Gerade mal 11.000 Stück wurden im Jahr 2022 verkauft. In Belgien, den Niederlanden oder der Schweiz sind S-Pedelecs deutlich populärer. Allein in der Schweiz mit ihren knapp neun Millionen Einwohnerinnen wurden im Jahr 2022 rund 23.000 der S-Pedelecs aus den Läden geschoben. Expertinnen führen das auf die Rechtslage zurück: Schließlich dürfen sie dort die Radinfrastruktur nutzen. Das hat zur Folge, dass 75 Prozent der Strecken, die dort mit schnellen E-Bikes zurückgelegt wurden, Arbeitswege waren. Im niederländischen Rotterdam waren es 2021 rund 60 Prozent.
Für Anke Schäffner vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) sind die Zahlen ein Indiz für das große Potenzial der S-Pedelecs für die Verkehrswende. Sie hat Ende vergangenen Jahres die ZIV-Studie „Wo fahren S-Pedelecs?“ vorgestellt. Die beschreibt, wie die Nachbarländer die Elektroräder in den Verkehr integrieren und wie sich das unter anderem auf die Verkaufszahlen auswirkt.
In Belgien etwa können die Fahrerinnen zwar innerorts wählen, ob sie die Radinfrastruktur oder die Fahrbahn nutzen, dagegen ist außerorts für sie die Radwegbenutzung ab Tempo 50 Pflicht. Diese Regelung kommt in der Bevölkerung anscheinend gut an. Von 2017 bis 2021 sind die Zulassungszahlen der S-Pedelecs von rund 5.300 auf 51.000 gestiegen. In den Niederlanden gelten für die schnellen Elektroräder die gleichen Bestimmungen wie für Mopeds. Ihre Fahrerinnen dürfen Radwege benutzen, die für Mopeds freigegeben sind. Innerorts ist das fast jeder Radweg in einer Tempo-50-Zone. Allerdings gilt dort für sie ein Tempolimit von 30 Stundenkilometern.

Die Fahrradstraße ist für Radpendler*innen von großer Bedeutung. Sie ist die schnellste Verbindung von Konstanz zum Fähranleger Richtung Meersburg.

Ausnahmegenehmigungen für Radwege

Auch beim S-Pedelec zeigt sich: Die Niederlande sind Fahrradland. Seit Jahren testen die verschiedenen Regionen, wie sie die Räder in den Alltagsverkehr integrieren können. Die Provinz Gelderland hat bereits 2018 im Rahmen einer Studie 16 Radwege im Stadtgebiet erst temporär und dann dauerhaft freigegeben. Andere Provinzen wie Groningen und Overijssel folgten dem Beispiel. In Rotterdam, Amersfoort und Utrecht können S-Pedelec-Fahrerinnen mittlerweile Ausnahmegenehmigungen beantragen, wenn sie die Radwege nutzen möchten. Allein in Rotterdam wurden im Jahr 2020 für die 384 angemeldeten Räder 275 Genehmigungen beantragt. Für Tobias Klein vom Team „Nahmobilität“ beim Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) ist das Vorgehen zeitgemäß. „Die Niederlande und auch Dänemark testen seit Jahren, wie sie die Alternativen zum Autoverkehr in ihre Verkehrsinfrastruktur integrieren können“, sagt er. Vor vielen Jahren bauten sie die ersten Radschnellwege, heute geben sie Radwege frei, damit die S-Pedelec-Nutzerinnen sicher unterwegs sind. „Ihre Lösungen sind nicht sofort perfekt, aber sie entwickeln die Systeme weiter und passen sie an“, sagt er. Deutschland hingegen sei bei Neuerungen im Verkehr eher darauf bedacht, nichts falsch zu machen, und bremse damit neue Entwicklungen. Das gelte für die Radinfrastruktur ebenso wie für die Integration neuer Verkehrsmittel wie S-Pedelecs.
Insbesondere außerorts sieht der Mobilitätsexperte verschiedene Möglichkeiten, Radinfrastruktur wie Wirtschaftswege oder auch Radschnellwege für sie freizugeben. „Die Radschnellverbindungen sind darauf ausgelegt, dass die Menschen dort mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs sein können“, sagt er. Die Freigabe per Zusatzschild sei nie ein Freifahrtschein zum Rasen. Im Gegenteil. „Die S-Pedelec-Fahrer müssen ihre Geschwindigkeit auf den Radschnellwegen anpassen, wenn dort viel Verkehr ist“, sagt er. Der Mobilitätsexperte ist zuversichtlich, dass das funktioniert.

Fahrzeiten: Pedelec versus S-Pedelec

Aber lohnt es sich überhaupt, vom normalen, dem Fahrrad rechtlich gleichgestellten E-Bike auf ein Speed-Pedelec umzusteigen? Das Kuratorium für Verkehrssicherheit (KFV) in Österreich, eine der führenden Institutionen der Unfallprävention, wollte es genau wissen und hat im Jahr 2021 die Studie durchgeführt „Potenzial von S-Pedelecs für den Arbeitsweg“.
Fünf Wochen dauerte der Feldversuch. 98 Berufstätige nahmen teil und zeichneten auf, wie viel Zeit sie für ihren Arbeitsweg mit den verschiedenen Fahrzeugen brauchten. Ab einer Strecke von fünf Kilometern kamen die Speed-Pedelecs stets schneller ans Ziel als ihr langsameres Pendant. Konkret benötigten die Berufstätigen für eine Strecke von 15 bis 20 Kilometer mit dem Auto durchschnittlich etwa 23 Minuten, mit dem S-Pedelec 34 Minuten und mit dem Pedelec rund 45 Minuten. Das herkömmliche Pedelec war demnach fast doppelt so lange unterwegs wie das Auto. Für die Forscherinnen ist dieser Zeitunterschied entscheidend. Eine Verdoppelung der Fahrtzeit zur Arbeit ist aus ihrer Sicht unattraktiv. Das S-Pedelec kann diese Differenz aber auf allen Strecken bis etwa 25 Kilometer in etwa halbieren. Damit ist das S-Pedelec für die Wissenschaftlerinnen eine echte Alternative zum Auto. Insbesondere auf langen kreuzungsfreien Strecken wie Radschnellwegen.
Allerdings wird die Freigabe von Radschnellwegen für S-Pedelecs seit Jahren kontrovers diskutiert. Vornehmlich die Vertreter*innen des ADFC waren strikt dagegen. Inzwischen weichen sie von dieser starren Haltung ein wenig ab. Inzwischen befürwortet der Fahrradclub die Freigabe der Radinfrastruktur in Einzelfällen – etwa außerorts, auf breiten, wenig frequentierten Radwegen. Damit sind viele geplante Radschnellwege bereits aus dem Rennen.

„Nur weil mein S-Pedelec 45 km/h fahren kann, fahre ich die Menschen nicht über den Haufen.“

Anja Herz

Klimafreundliche Fahrzeuge dürfen passieren, dazu gehören Busse, Taxen, Fahrräder und S-Pedelecs.

Zentrale Verbindungen in Tübingen wie diese Fahrradbrücke haben die Verkehrsplaner*innen ebenfalls für die Speed-Pedelec-Fahrer freigemacht.

Geschwindigkeit anpassen möglich?

Für die S-Pedelec-Fahrerin Anja Herz ist die ADFC-Haltung nur schwer nachzuvollziehen. Sie lebt außerhalb Münchens. Das S-Pedelec nutzt sie für fast jede Gelegenheit. Mit einer Freundin hat sie damit die Alpen überquert. 400 Kilometer sind die beiden von Garmisch bis zum Gardasee gefahren, die meiste Zeit auf Radwegen. Probleme mit den anderen Radfahrerinnen gab es aus ihrer Sicht keine. „Ich passe meine Geschwindigkeit immer den Gegebenheiten an“, sagt sie. Auf den Radwegen, aber auch, wenn sie beispielsweise an einer Fahrradsternfahrt teilnehmen. „Nur weil mein S-Pedelec 45 km/h fahren kann, fahre ich die Menschen nicht über den Haufen“, sagt sie. Sie bedauert, dass ausgerechnet der Fahrradverband ihr und vielen anderen S-Pedelec-Fahrerinnen die Bereitschaft und Fähigkeit abspricht, ihr Tempo anzupassen.

„Porschefahrenden traut man zu, in einer Tempo-30-Zone 30 km/h zu fahren, S-Pedelec-Fahrern nicht.“

Martina Lohmeier, Hochschule RheinMain Wiesbaden

Fehlende Erfahrungen schüren Vorurteile

Die Vorurteile gegenüber Pedelec-Fahrern kennt Martina Lohmeier, Professorin an der Wiesbadener Hochschule RheinMain. „Mit S-Pedelecs verbinden viele Menschen Überholvorgänge“, sagt sie. Konventionelle Radfahrende fürchten, von ihnen an den Bordstein gedrängt zu werden oder dass sie sich erschrecken, wenn die schnellen Radler*innen an ihnen vorbeijagen. Eltern sorgen sich zudem um ihre Kinder, wenn Schulstraßen oder Tempo-30-Zonen für S-Pedelecs freigegeben werden.
Die Ursache für all diese Bedenken sind laut der Professorin fehlende Erfahrungen. „S-Pedelecs sind noch eine sehr junge Fahrzeuggattung“, sagt sie und anders als die herkömmlichen Pedelecs sind sie in Deutschland immer noch eine Seltenheit. Allein die mögliche Spitzengeschwindigkeit von 45 km/h schüre Ängste. Sie lacht und sagt: „Es ist paradox, dass man Porschefahrenden zutraut, in einer Tempo-30-Zone 30 km/h zu fahren, S-Pedelec-Fahrern aber nicht.“
Im Rahmen eines Feldversuchs erforscht die Radprofessorin mit Kolleginnen und Kollegen der Hochschule Darmstadt und RheinMain, ob diese Sorgen berechtigt sind. Sie untersuchen, wie schnell die S-Pedelecs tatsächlich unterwegs sind, ob Konflikte auf dem Radweg entstehen und wenn ja, welche. Im Winter 2023 starteten die ersten elf Teilnehmerinnen und Teilnehmer den ersten Testlauf. Der dauert für sie und alle weiteren Gruppen jeweils sechs Wochen. Die Wissenschaftler tracken die GPS-Daten und die gefahrenen Geschwindigkeiten. Nach dem Praxisteil befragen sie die Teilnehmenden dann zum Radwegenetz und zu ihren Erfahrungen mit dem Elektrorad als Pendelfahrzeug.
Die Ergebnisse sollen laut Martina Lohmeier interessierten Kommunen dabei helfen, einen Leitfaden für die Integration von S-Pedelecs in den Alltagsverkehr zu entwickeln. Dazu gehört auch, Kriterien für die Freigabe von Radinfrastruktur für S-Pedelecs zu definieren. Der Leitfaden kommt genau zur richtigen Zeit. Seit vergangenem Sommer dürfen Kommunen in Nordrhein-Westfalen ebenfalls ihre Radinfrastruktur für schnelle Elektroräder freigeben. Das Potenzial ist riesig. Dort wird der Radschnellweg RS1 gebaut. Er soll 100 Kilometer lang werden.


Bilder: www.haibike.de – pd-f, Universitätsstadt Tübingen, www.flyer-bikes.com – pd-f, Stadt Konstanz – Gregor Gaffga

Señoritas Courier mag auf den ersten Blick wie eine gewöhnliche kleine Kurier-Genossenschaft wirken. Doch die Idee dahinter fordert den Status quo in Brasilien heraus. In São Paulo ist der Radverkehr männlich dominiert und gefährlich. Fast alle Beschäftigten sind weiblich oder transgeschlechtlich. Gründerin Aline Os erzählt im Veloplan-Interview, welche Vision sie bei ihrer Arbeit antreibt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 01/2024, März 2024)


Aline Os (2. v. l.) hat den Kurierdienst Señoritas Courier 2015 ins Leben gerufen. Sie hatte genug von geschlechterspezifischer Diskriminierung und frauenfeindlichem Verhalten in der Kurierszene São Paulos.

Wie sind Sie dazu gekommen, Señoritas Courier ins Leben zu rufen? Was war die Idee dahinter?
Aline Os: Señoritas Courier ist eine Genossenschaft, die sich aus Frauen und transgeschlechtlichen Personen zusammensetzt. Derzeit sind wir zu neunt. Die meisten von uns sind People of Colour von eher ländlicher Herkunft: acht Cis-Frauen, ein trans Mann und ein venezolanischer Immigrant.
Sie entstand 2015, als ich anfing, freiberuflich Lieferungen für ein Radlogistikunternehmen zu machen. Ich fühlte mich von dem überwiegend männlichen Team des Unternehmens durch frauenfeindliches Verhalten und geschlechtsspezifische Diskriminierung weder vertreten noch respektiert. Da ich zu dieser Zeit als Dozentin an der Universität tätig war, dachte ich, dass die Arbeit mit dem Fahrrad in der Stadt mir guttun könnte. Dann begann ich, über eine kollektive Lösung für Frauen und LGBTQ+-Personen, ein nicht traditionelles Unternehmen nachzudenken.

Welche Bedeutung kommt der Radlogistik in Brasilien zu?
Sie ist auf der ganzen Welt unglaublich wichtig, vor allem angesichts der Herausforderung, die globale Erwärmung zu bekämpfen. Aber wenn wir über die Besonderheiten einer Stadt wie São Paulo und Brasiliens insgesamt sprechen, ist die Radlogistik auch deshalb wichtig, weil sie die Verkehrsgewalt verringern kann Mehr Fahrräder in einer Stadt bedeuten einen ruhigeren, einladenderen Verkehr für Frauen und Kinder. Es geht darum, dass eine durchschnittliche Person einen Radfahrer ansieht und das Gefühl hat, dass auch er oder sie mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, das Auto zu Hause lassen oder sogar die überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel meiden kann.
Wenn wir also über Radlogistik nachdenken, müssen wir auch über die positiven Auswirkungen sprechen, die das Radfahren für Städte und ihre Einwohner hat. Leider erkennen die öffentliche Verwaltung und viele Unternehmen das noch nicht und glauben zum Teil, dass die Zustellung per Fahrrad billiger sein sollte als die Zustellung mit umweltschädlichen Kraftfahrzeugen.

Wie herausfordernd ist es in diesem Umfeld, auf wirtschaftlich tragfähige Weise zu arbeiten?
Die eigentliche Herausforderung für Señoritas Courier bestand darin, dass wir bei null angefangen haben und keinen betriebswirtschaftlichen Hintergrund haben. Wir wollen, dass die Dienstleistung wirtschaftlich lebensfähig ist und uns angemessene Arbeitsbedingungen bietet. Manchmal sagt uns der Kapitalismus, dass dies unmöglich ist. Die Befürworter des Genossenschaftswesens zeigen uns aber, dass es möglich sein kann. In Brasilien gibt es Gesetze, die große Genossenschaften in der Landwirtschaft, im Kreditwesen und im Gesundheitswesen begünstigen.
Kleinen Genossenschaften, die meist aus armen Arbeitnehmern bestehen, die keine Möglichkeit haben, in den Kongress zu kommen und für ihre Initiativen kämpfende Lobbyisten zu haben, wird kaum Beachtung geschenkt. Also machen wir weiter ohne Subventionen für den Kauf von Ausrüstung – ein Lastenrad beginnt bei 2.000 USD zuzüglich Steuern, und das übersteigt bei Weitem unsere Mittel – und mit einer hohen Steuerlast, während wir zusehen, wie traditionelle Lieferplattformen Subventionen erhalten, da sie als Technologieunternehmen agieren.

„Frauen machen zwischen sieben und zehn Prozent der gesamten Radverkehrsteilnehmer in São Paulo aus.“

Aline Os

Die Verkehrswende ist in São Paulo alles andere als ein sicheres Ding. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind zwar einige Fahrradwege hinzugekommen, gerade in den Außenbezirken der Großstadt ist der Handlungsbedarf aber noch groß.

Was das Radfahren angeht, gibt es in Brasilien ein großes Geschlechtergefälle. Woher kommt dieses Problem aus Ihrer Sicht und inwiefern können die Señoritas-Kurier*innen es verändern?
Das Fahrrad kann ein Instrument zur Befreiung von Menschen mit verschiedenen Körpern sein. Der Feminismus hat uns das schon lange gezeigt. Allerdings ist Brasilien, wie viele andere Länder der Welt, ein sexistisches Land, und viele Menschen glauben immer noch, dass Frauen zu Hause bleiben und sich um den Haushalt kümmern sollten, oder dass diese Aufgaben zusätzlich zur Lohnarbeit von ihnen zu bewältigen sind.
Wenn man zusätzlich zur geschlechtsspezifischen Gewalt noch den weltweit tödlichsten Straßenverkehr und das Risiko, ausgeraubt zu werden, bedenkt, versteht man, warum vielen Frauen das Fahrradfahren gar nicht in den Sinn kommt.
Gruppen, die ausschließlich aus Minderheiten bestehen, ermöglichen es anderen, sich im Radverkehr wiederzuerkennen, und können sie motivieren, selbst das Fahrrad zu benutzen. Frauen machen zwischen sieben und zehn Prozent der gesamten Radverkehrsteilnehmer in São Paulo aus. Deshalb ist es bedeutsam, wenn diese Menschen einer anderen Person Lieferungen übergeben, die sich selbst so identifiziert.
Darüber hinaus bieten wir Kurse und Workshops in Mechanik an, bei denen die meisten Teilnehmer einer Randgruppe angehören. Die Idee ist, sie als Radfahrende selbstständiger zu machen, da das Fahrzeug während der Nutzung mechanische Probleme bekommen kann. Wir bringen ihnen also unter anderem bei, wie man das Fahrzeug pflegt und reinigt, welche Werkzeuge man braucht und wie man mit ihnen einfache Reparaturen durchführt. Sie fühlen sich in der Werkstatt respektiert, legen die Angst davor ab, Fragen zu stellen, und fühlen sich nicht der Gefahr von Belästigung oder Gewalt ausgesetzt.

Diesen Schutzraum haben die Kurier*innen auf der Straße natürlich nicht. Wie muss man sich ihren Alltag vorstellen?
Es gibt unzählige und immer wiederkehrende Fälle von Vorurteilen und Diskriminierung gegenüber Kurieren, sei es aufgrund ethnischer Merkmale, ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft. Wir haben diese Situationen selbst erlebt, und wir wissen, dass sie weiter bestehen werden, solange Vorurteile nicht streng geahndet werden. Dies ist nicht nur ein Problem in Brasilien, sondern weltweit. Anständige Bezahlung, weniger anstrengende Arbeitszeiten, angemessene Ruhe- und Essensbedingungen, Unterstützung bei Verkehrsunfällen, eine Versicherung, wenn unser Fahrrad gestohlen wird, und der Zugang zu Hygienemöglichkeiten – all das wird nicht nur in Brasilien vernachlässigt, wenn es um Lieferpersonal geht.

Wie verändert die Arbeit als Señoritas-Kurierin das Leben Ihrer Mitarbeiterinnen?
Ich glaube, dass die Menschen die Organisationen verändern müssen, nicht umgekehrt. Als ich anfing zu arbeiten, sagte man mir, dass ich acht bis neun Stunden am Tag arbeiten müsse, dass ich nur sonntags das Recht hätte, mich auszuruhen und dass ich nicht fehlen dürfe. Warum muss das so sein?
Wir haben unsere Treffen zu einem sicheren Umfeld gemacht, in dem Vertrauen der Schlüssel ist und wo man Wünsche, Ideen, Ängste, Unzufriedenheit und Frustrationen teilen kann. Der Zusammenhalt des Teams wird immer stärker. Von den neun Personen, die die Genossenschaft bilden, liefern drei gar nicht mehr aus. Aber diese Menschen sind weiterhin Mitglieder, weil sie hier willkommen sind, und nehmen aktiv an den Treffen und anderen Projekten teil.

Wie verbreitet ist das Radfahren im Allgemeinen in São Paulo oder Brasilien?
Die Stadt São Paulo hat in den letzten zwei Jahrzehnten dank der Einrichtung von Fahrradwegen und -spuren einen beträchtlichen Zuwachs an Radfahrern zu verzeichnen. Dieser Zuwachs konnte nur mit Mühe aufrechterhalten werden, da die beiden letzten Stadtverwaltungen versuchten, diese Strukturen wieder zu beseitigen, was jedoch von Fahrradaktivisten und -organisationen bekämpft wurde. In den wohlhabenderen Gegenden der Stadt haben sich die Menschen schon an die Radfahrenden gewöhnt. Es ist jedoch nach wie vor notwendig, die Nutzung von Fahrrädern in Randgebieten, die über weniger Infrastruktur verfügen, zu fördern.
Die Tendenz geht dahin, dass andere Städte dem Beispiel São Paulos folgen, aber die Kultur der Autos und Motorräder für den täglichen Transport ist in unserem Land immer noch sehr stark ausgeprägt. Diese Kultur bringt die Nutzung umweltschädlicher Fahrzeuge fälschlicherweise mit Fortschritt und sozialem Aufstieg in Verbindung.
Auch als Sport bleibt Radfahren aufgrund der hohen Kosten für Fahrräder für diesen Einsatzzweck bislang eine ungewöhnliche Aktivität, aber die Leidenschaft für diesen Sport zeigt sich in spezifischen Nischen. Kürzlich haben Fahrradmedien davon berichtet, dass die Nachfrage nach neuen Fahrrädern auf dem Markt zurückgegangen ist – die Steuerlast für den Import von Teilen und Fahrrädern ist sehr hoch, was das Endprodukt viel teurer macht und vom Kauf abhält. Wir haben nicht viele einheimische Hersteller, sodass die meisten Menschen beim Kauf auf importierte Produkte zurückgreifen. Viele von uns Fahrradaktivisten träumen von dem Tag, an dem das Fahrrad hierzulande nicht mehr als Kinderkram angesehen wird, sondern als das Fahrzeug der Zukunft.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Radkurier*innen in Brasilien und der Gruppen, die Sie mit der Genossenschaft stärken wollen?
Ich wünsche mir, dass die Online-Plattformen ausliefernde Menschen, egal ob Männer, Frauen oder nicht-binäre Menschen, mit Würde behandeln. Nicht nur in Brasilien, sondern auf der ganzen Welt. Ich wünsche mir, dass unsere Organisationsform weitere Projekte in der ganzen Welt inspiriert und dass es möglich sein wird, dieses Wissen miteinander zu teilen.
Wir werden uns weiterhin um Unterstützung bemühen, um Genossenschaften und die Nutzung von Fahrrädern in allen Städten voranzutreiben und dafür zu sorgen, dass sich mehr Frauen und trans Personen sicher fühlen und der Arbeit ihrer Wahl nachgehen können. Schlussendlich müssen wir auch über den Zugang zu Krediten, zu Wohnraum, zu Gesundheit und menschenwürdiger Arbeit sprechen, damit sich immer mehr Minderheitengruppen selbst organisieren und ändern können, was geändert werden muss.


Bilder: Señoritas Courier