Der Personalmangel in den Verwaltungen bremst vielerorts die Mobilitätswende. Zudem werden Aufgaben oft falsch verteilt. Flexible Lösungen und der Quereinstieg von Fachkräften können das Pro-blem schnell lösen. Doch diese Herangehensweise hat auch ihre Grenzen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Popup-Bikelanes wie in Berlin (links und oben rechts) oder in Stuttgart (rechts unten) wurden in den letzten zwei Jahren oft in Rekordzeit umgesetzt. Eine Voraussetzung dafür sind Teams im Hintergrund, die nicht nur mit Fach-, sondern auch mit weitreichender Entscheidungskompetenz ausgestattet sind.

Die Rahmenbedingungen für den Ausbau des Radverkehrs sind so gut wie nie. 1,4 Mrd. Euro hat die Bundesregierung für den zügigen Ausbau der Infrastruktur bereitgestellt. Aber in den Kommunen geht es dennoch vielerorts nur schleppend voran. Ein Hemmschuh ist der Fachkräftemangel. Jahrelang wurden zu wenigRadverkehrsplaner und -planerinnen ausgebildet. Jetzt fehlen diese Fachkräfte. Ein Umdenken in der Stellenbesetzung und eine breitere Aufgabenteilung in der Verwaltung könnten dabei helfen, schneller ans Ziel zu kommen.
Einen Grund für den Personalmangel sehen Expertinnen in dem engen Fokus der Jobausschreibungen. Stellen für Planer- und Projektleiterinnen werden in der Regel mit Verkehrs- oder Bauingenieurinnen besetzt. Zu einseitig, findet etwa der Verwaltungssoziologe Peter Broytman. Er arbeitete dreieinhalb Jahre als Radverkehrskoordinator in der Berliner Verkehrsverwaltung und ist jetzt in der Sozialverwaltung des Senates und als Berater tätig. Er sagt: „Wir müssen die Städte umbauen, nicht nur den Verkehr. Das ist eine innovative Aufgabe, die vielfältige Fähigkeiten wie Change-Management erfordert und nicht nur das millimetergenaue Zeichnen von Plänen.“ Broytman weiß, wovon er spricht. Er hat als Mitgründer den Volksentscheid Fahrrad und dann das Berliner Mobilitätsgesetz auf den Weg gebracht. Nicht allein, sondern im Team. Jetzt muss der Richtungswechsel in der Verkehrspolitik pro Bus-, Bahn-, Rad- und Fußverkehr in die Verwaltung getragen und umgesetzt werden. Deshalb sollten die Projekt-leiterinnen dieser Teams aus seiner Sicht vorrangig Projektmanagement beherrschen, gut kommunizieren können und netzwerken. „Das sind ganz klassisch die Aufgaben eines Referenten“, sagt Broytman. Ein Verkehrsingenieur, der sich auf so eine Projektleiterstelle bewerbe, werde keinen Plan zeichnen. Diese Erkenntnis habe sich allerdings noch nicht durchgesetzt. Die Kommunen suchten für diese Stellen bundesweit in erster Linie nach Ingenieurinnen. Das reduziere die Zahl der Fachkräfte, die für den Job infrage kommen, und zudem fehlten dann die Ingenieurinnen in den Planungsabteilungen.

„Wir müssen die Städte umbauen nicht nur den Verkehr“

Peter Broytman, Senatsverwaltung Berlin


Mehr Vielfalt im Team kann aus seiner Sicht auch den Ausbau der Radinfrastruktur beschleunigen – sowohl auf der Projektebene wie im Team der Radverkehrsplaner- und planerinnen. In Berlin verbringen laut Broytman die Radverkehrsplanerin-nen etwa 70 Prozent ihrer Zeit mit Organisation und Kommunikation. Sie bearbeiten Anfragen der Bürger und Bürgerinnen, planen Beteiligungsverfahren und akquirieren Räume für die Versammlungen. „Das frisst pro Kilometer Radweg unglaubliche Ressourcen“, sagt er. Damit sich die Planerinnen auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren können, sollten die Aufgaben spezifischer verteilt werden.
„Gerade in der ersten Planungsphase ist das mit Quereinsteigern gut möglich“, sagt Thomas Stein, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Mobilität am Deutschen Institut für Urbanistik. In diesem Stadium geht es um die Grundlagen. Erste Konzepte und Ideen werden entwickelt, die dann mit der Politik und den verschiedenen Behörden, Verbänden und Trägern öffentlicher Belange abgestimmt werden. Im nächsten Schritt starten dann die ersten Beteiligungsverfahren. „In diesem Stadium ist es hilfreich, Menschen im Team zu haben, die mit ihrer Qualifikation breiter aufgestellt sind und andere Standpunkte einnehmen können“, sagt Stein. Dazu gehören Kommunikationsexpertinnen oder auch Sozialwissenschaftlerinnen.
Die Stadt Heidelberg hat das früh erkannt. „Dort gibt es eine eigene Abteilung, die sich ausschließlich um Beteiligungsverfahren kümmert“, sagt Stein. Deren Mitarbeitenden unterstützen mit ihrem Know-how die Verkehrsingenieurinnen bei jeder Planung für den Rad- und Fußverkehr. Für Stein ist das eine gute Lösung. „Beteiligungsverfahren sind inzwischen ein zentraler Baustein jeder Verkehrsplanung“, sagt er. Sind sie passgenau auf die Belange der Teilnehmenden zugeschnitten, sei die Zustimmung am Ende meist groß. Im besten Fall beschleunigen sie den Ausbau der Radinfrastruktur. Ein erweiterter Expertenkreis kann demnach den Fachkräftemangel bei den Verkehrsingenieurinnen etwas abpuffern. Allerdings nur in der Anfangsphase. Je weiter die Planung voranschreitet, umso technischer werden die Entscheidungen. „Beim Schotter hört der Quereinstieg bei der Verkehrswende auf“, sagt Stein. Die Pläne müssen millimetergenau gezeichnet werden.

Mitarbeiter*innen müssen ihre Rolle verstehen

Mehr Planer und Planerinnen werden dringend benötigt. Aber neben ausreichend Personal muss auch das Zusammenspiel zwischen Politik und Verwaltung stimmen. Dazu gehört, dass jeder seine Rolle genau kennt und seine Befugnisse nutzt. Wie das im Idealfall aussieht, macht der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg vor. Dort traf der Wille zur Mobilitätswende auf eine handlungsfreudige Verwaltung. Die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann brachte im Frühjahr 2020 mit dem Leiter des Straßen- und Grünflächenamts, Felix Weisbrich, den ersten Popup-Radweg Deutschlands auf die Straße. Die Entscheidung war mutig. Das rechtliche Okay hatten sie sich zuvor bei Christian Haegele aus der Senatsverwaltung geholt. Der Verwaltungsfachwirt leitet dort die Abteilung Verkehrsmanagement und kennt die Spielräume genau, die ihm die Straßenverkehrsordnung (StVO) und das Straßenrecht bieten.
Der ersten Popup-Bikelane folgten weitere provisorische Lösungen. Etwa im April 2020 auf dem Kottbusser Damm. Auf einer Länge von 1,8 Kilometer wurde eine Fahrspur mithilfe von gelbem Klebeband und Baustellenbaken zum Radweg. Ein Jahr später war die Strecke sauber markiert und teilweise abgepollert – und so in einen geschützten Radstreifen umgewandelt. Für Berlin ist das eine Rekordzeit. Auf diese Weise schaffte der Bezirk so viele neue Radkilometer wie kein anderer in der Stadt. Dem rbb24 erklärte Weisbrich sein Beschleunigungsverfahren im Frühjahr 2022 so: „Wir haben es geschafft, kleinste Teams zu bilden, mit einer wirklich weitreichenden Entscheidungskompetenz. Wir müssen also nicht ständig von Pontius zu Pilatus laufen, sondern bekommen per Telefon und Mail schnelle Rückmeldungen von den Senatsverwaltungen und anderen Beteiligten – man muss nicht immer Akten hin und her schicken, das dauert viel zu lange.“ Broytman dazu: „So bringt man die Mobilitätswende auf die Straße. Die Experten haben ihre Rolle verstanden, die Planung gemacht und gesagt: Wir ziehen das jetzt durch.“

„Gerade in der ersten Planungsphase ist ein Quereinstieg gut möglich.“

Thomas Stein,Deutsches Institut für Urbanistik

Engpässe in der Verwaltung gibt es auch in den Niederlanden. Dort wird dieses Problem jedoch mitunter flexibler gelöst, indem Fachkräfte für die Planung zeitweise von Beraterfirmen zugekauft werden.

Planung umsetzen, Gegenwind aushalten

„Dazu gehört auch, dass eine einmal beschlossene Planung umgesetzt wird und Politik und Verwaltung gegebenenfalls auch den Gegenwind aushalten“, sagt der Difu-Experte Stein. Das ist nicht selbstverständlich. „Ich habe mit Verkehrsplanerinnen in Verwaltungen gesprochen, die bereits verschiedene Radverkehrskonzepte erstellt haben, von denen keines umgesetzt wurde, weil der politische Rückhalt fehlte“, sagt der niederländische Mobilitätsexperte Bernhard Ensink vom Beratungsunternehmen Mobycon. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei das frustrierend. Wenn sie bei der Umsetzung der Radverkehrsplanung immer wieder ausgebremst werden, schwinde die Motivation und die Bereitschaft, mutiger zu planen. „Engpässe bei Radverkehrspla-nerinnen gibt es auch in den Niederlanden“, sagt Ensink. Allerdings gingen die Kommunen damit flexibler um als in Deutschland. „Die Expertise für die Planung kann man sich auch einkaufen“, sagt er. Etwa über Rahmenverträge. Das sei in den Niederlanden inzwischen üblich. Beraterfirmen wie Mobycon beispielsweise vermieteten Fachkräfte an niederländische Verwaltungen über die eigens dazu gegründete Firma Mobypeople.
Allerdings ist für ihn der Fachkräftemangel in Deutschland viel inte-graler als in den Niederlanden. „Es geht nicht allein um die technische Zeichnung, also um die Planung des Radwegs“, sagt er. Die Prozesse seien viel einschneidender. Eine gute Radverkehrsplanung verändere stets das Mobilitätsverhalten aller Verkehrsteilnehmer, also auch der Autofahrer, sagt Ensink. Das solle immer mitgedacht werden.

„Engpässe bei Radverkehrsplaner*innen gibt es auch in den Niederlanden.“

Bernhard Ensink, Mobycon


Bei der Radverkehrsplanung überlassen die Niederländer nichts dem Zufall. Ob man das Auto oder das Rad nimmt und wie schnell man fährt, ist hauptsächlich eine Frage der Psychologie. Das zeigt sich beim Wechsel von einer Hauptverkehrsstraße in eine Seitenstraße. Er sollte für alle Verkehrsteilnehmerinnen haptisch spürbar sein. Um das sicherzustellen, ändert sich in den Niederlanden der Straßenbelag, sobald von einer Hauptstraße in eine Tempo-30-Zone oder eine Wohnstraße gewechselt wird. Statt glattem Asphalt sind hier Pflastersteine verlegt. Beim Abbiegen verändert sich sofort das Fahrgefühl, die Rollgeräusche nehmen deutlich zu. Um die Geschwindigkeit konsequent zu verringern, verjüngen die Planerinnen zudem die Fahrbahn in den Wohngebieten mit Bäumen oder Grünbepflanzungen, und reduzieren die Geschwindigkeit weiter auf 15 bis 20 km/h.
Diese technischen und psychologischen Elemente nutzen die Niederländer auch, wenn sie Fahrradstraßen nachträglich einrichten. „Das Aufpflastern ist dann zwar kostspielig, aber es lohnt sich“, sagt Ensink. Der Hinweis an die Autofahrerinnen sei deutlich: Ihr seid hier nur zu Gast. In Deutschland werde das schnell übersehen, wenn nur das blau-weiße Verkehrszeichen die Fahrradstraße anzeige. Diese psychologische Alltagserfahrung beim Radfahren prägen niederländische Planer. Deutschen Ver-kehrsplanerinnen, die vielleicht immer nur Autostraßen geplant haben und dann mit der Planung von Radwegen beauftragt werden, fehle dafür oftmals die Alltagserfahrung der niederländischen Kollegen. „Deutschland braucht nicht nur Ingenieure, sondern auch Transformateure“, sagt Ensink, Experten, die Veränderungsprozesse steuern könnten. Und zwar während des gesamten Prozessverlaufs. Denn je näher die Realisierung der Pläne auf der Straße rücke, umso größer werden die Einwände und Bedenken verschiedener Stakeholder, sagt Ensink. Immer wieder rückten dann die eigentlichen Ziele des Umbaus in den Hintergrund, etwa der Klimaschutz. Deshalb sei es wichtig, Leute im Team zu haben, die den Transformationsprozess stets mitdenken und während der gesamten Planungsphase im Auge behalten und ihn auch einfordern.
Die Aufgaben, die vor den Verkehrsteams liegen, sind riesig. Sie müssen die Straßen neu gestalten und den Menschen vor Ort die Mobilitätswende schmackhaft machen. Das erfordert verschiedenste Fähigkeiten und diverse Teams, die gut kommunizieren, stabile Netzwerke aufbauen und gut planen müssen. Die Mobilitätswende findet nicht nur auf der Straße statt. Sie verändert auch die Strukturen in der Verwaltung. Sie erfordert von den Kommunen, Prozesse neu zu denken und mehr Flexibilität bei der Planung und bei der Rekrutierung des Personals. Dieser Transformationsprozess hat begonnen. Jetzt gilt es, das Tempo zu steigern.


Bilder: stock.adobe.com – mhp, qimby.net – Alexander Czeh, qimby.net – Peter Broytman, qimby.net – Benedikt Glitz, changincities, qimby.net – Martin Randelhoff, qimby.net – Philipp Böhme

Das Tempo spielt bei der Verkehrsmittelwahl eine große Rolle. Und gerade im Stadtverkehr würde das Fahrrad seine Stärken ausspielen, wenn es denn könnte. Um den Radverkehr zu beschleunigen, hilft es, die Perspektive der Radfahrenden einzunehmen. Schon kleine Eingriffe in die Infrastruktur können oft viel verändern. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Mit ihren Sensor-Bikes misst die Hochschule Karlsruhe die Bedingungen, unter denen Radfahrer*innen unterwegs sind. Sie finden heraus, welche Stellen Kraft kosten, wo zu eng überholt wird und welche Konflikte entstehen.

Fünf Kilometer auf dem Fahrrad können sehr unterschiedlich aussehen. In Stadt A braucht eine Radfahrerin dafür 15 Minuten, kommt entspannt an und konnte sich unterwegs noch Gedanken über ihre Abendgestaltung machen. Ein Radfahrer in Stadt B braucht 23 Minuten und erreicht sein Ziel mit erhöhtem Puls, verschwitztem Rücken und hohem Stresspegel. Während er an einer Ampel steht und wartet, beobachtet er den vorbeiziehenden Autoverkehr und kommt in Versuchung, die Wahl seines Verkehrsträgers zu überdenken.
Wer das ungenutzte Potenzial des Radverkehrs in Städten wie dem fiktiven Ort B heben möchte, muss anerkennen, dass Reisegeschwindigkeit und Stress-Level oft ausschlaggebend bei der Entscheidung für oder gegen das Fahrrad sind. Es reicht nicht, sich für sichere und komfortable Radwege einzusetzen, meint Jochen Eckart. Er ist Professor für Verkehrsökologie an der Hochschule Karlsruhe. „Keiner fährt Fahrrad, weil es sicher ist. Umgekehrt gibt es Faktoren, die nicht so sehr Basis-Voraussetzungen darstellen, aber wenn sie vorhanden sind, eine gewisse Begeisterung erzeugen. Da gehört meiner Meinung nach die Beschleunigung des Radverkehrs dazu, also dass Radfahrer relativ schnell mit einem geringen Kraftaufwand unterwegs sein können.“ Gute Radverkehrsplanung müsse sich beiden Dimensionen widmen. Die Rahmenbedingungen müssen objektive und subjektive Sicherheit erzeugen, letzten Endes müsse aber auch dafür gesorgt sein, dass die Leute gerne Fahrrad fahren. Geschwindigkeit und Komfort seien dafür zentral, so Eckart.

Ein echter Perspektivwechsel

In ihrer Forschung arbeiten Eckart und seine Kolleginnen regelmäßig mit sogenannten Sensor-Bikes. Diese sind mit verschiedenen Technologien ausgestattet und können vielfältige Daten erheben. Eine spezielle Kurbel misst den Kraftaufwand, ein weiterer Sensor prüft den Abstand, mit dem die Testfahrerinnen überholt werden. Auf einer Strecke, die mit den sensorischen Fahrrädern abgefahren wird, lassen sich später die Geschwindigkeit, Beschleunigungs- und Verzögerungsprozesse nachvollziehen. Meist sind die Räder mit einer Kamera ausgestattet, sodass die jeweilige Verkehrssituation in der Auswertung eindeutig erkennbar ist. Auch Umweltfaktoren wie Feinstaub und Wetterdaten werden aufgenommen. Die Forscher*innen erheben im Normalfall auf festgelegten Routen Daten für mehrere Hundert Fahrradkilometer und vergleichen diese mit anderen Verkehrsmodi. Der Ansatz eigne sich weniger für massenhafte Daten, sondern um spezielle Fragestellungen zu klären. So ließe sich dann sogar der Stress-Level der Radfahrenden bestimmen. „Das geht über die Hauttemperatur und die Hautleitfähigkeit. Das sind Sachen, dafür müssen sie die Leute heute nicht mehr verkabeln, aber mit einer Smartwatch und Kameras ausstatten, damit sie sehen, warum die überhaupt gestresst sind“, erklärt Eckart.
In der Auswertung führen die gewonnenen Daten zu genauen Einsichten in das Leben auf dem Fahrrad. Die Radfahrenden fühlen sich ernst genommen und berücksichtigt, meint Eckart. „Ich sehe das als nettes Instrument, die Radfahrer in der Diskussion zu empowern.“ Die ansonsten oft emotionale Diskussion um Straßenverkehr und Mobilität kann so mit Fakten beruhigt und evidenzbasiert ausgerichtet werden.

Kein Stau, aber Ampeln

Forschung aus dem Blickwinkel des Radverkehrs hilft dabei, die Eigenheiten des Verkehrsmodus Fahrrad besser zu begreifen. Bei Strecken bis 3,5 Kilometer, so Eckart, ist das Transportmittel im Stadtverkehr normalerweise schneller als das Auto. Bei Pedelecs erhöht sich dieser Wert sogar auf 4,5 Kilometer, wie ein Forschungsergebnis für die Stadt Karlsruhe belegt. Das liegt an geringen Zu- und Abgangszeiten und daran, dass die Parkplatzsuche quasi entfällt. Eine Studie des Bundesumweltamts aus dem Jahr 2016 sieht noch mal deutlich höhere Werte. Das Pedelec ist dort ab Weglängen von knapp einem halben Kilometer und bis zum Wert von neun Kilometern das schnellste Verkehrsmittel. Auf ganz kurzen Strecken unterliegt es dem Zufußgehen.
Im Gegensatz zum motorisierten Individualverkehr gibt es außerdem selten Stau oder stockenden Verkehr. Wie schnell das Fahrrad letzten Endes sein kann, ist von Stadt zu Stadt dennoch äußerst unterschiedlich. Beispielhaft zeigen die Ergebnisse aus Karlsruhe, dass dort 70 bis 75 Prozent der Zeitverluste an Ampeln entstehen. Der Rest dürfte größtenteils auf das Queren großer Straßen zurückzuführen zu sein.
Explizit Forschung vom Rad aus zu betreiben, bringt auch Feinheiten in den Verhaltensweisen zum Vorschein, die von außen nicht sichtbar sind. Wenn Radfahrerinnen sich Kreuzungen nähren, mag der Eindruck entstehen, dass sie trotz rechts vor links nicht langsamer werden. Die Kraftmessung zeichnet ein anderes Bild. Vor der Kreuzung treten sie deutlich leichter und verzögern minimal, wenn der Weg frei ist, treten sie etwas kräftiger und sind schnell wieder auf der gleichen Geschwindigkeit wie vor der Kreuzung. Sie ignorieren die Verkehrsregeln nicht, sondern reagieren subtil. Solche versteckten Verhaltensweisen erkennen und quantifizieren zu können, darin sieht Eckart eine Stärke des Perspektivwechsels. „Für mich ist ein großer Vorteil, dass es den Fokus anders lenkt und dass wir Sachen aufnehmen, die sonst übersehen werden, weil sie bisher nicht als Standards für Analysen mit dabei sind“, so Eckart. Ein Forschungsvorhaben von Eckart und seinem Team sollte dem Gefühl auf den Grund gehen, dass es auf jeder zweiten Fahrradfahrt zu einem Beinah-Unfall kommt. Dabei kam heraus, dass die meisten Radlerinnen zunächst mal versuchen, konfliktarme Routen zu finden. Außerdem entstanden rund 40 Prozent der beobachteten Konflikte zwischen Fußgängerinnen und Radfahrerinnen.

Keiner fährt Fahrrad, weil es sicher ist.

Prof. Dr. Jochen Eckart, Hochschule Karlsruhe

Sicher oder schnell?

Viele Maßnahmen, die das Radfahren sicherer machen, ermöglichen auch eine höhere Reisegeschwindigkeit. Beispielhaft spielen hier die Breite des Radwegs und die mögliche Sichtweite eine Rolle. Aber auch angehobene Radwege, die für den querenden Autoverkehr eine Schwelle darstellen, sind schneller und sicherer.
Aber nicht immer sind die Zielgrößen miteinander vereinbar, etwa beim Linksabbiegen an Kreuzungen. Dürfen die Fahrräder sich vor die Autos einreihen und in einer Ampelphase abbiegen, wenden sie weniger Zeit auf. Wenn sie zunächst nur die Straße überqueren können, um dann die nächste Ampel zu nutzen, dürfte das eher zur Sicherheit beitragen, aber eben mehr Zeit in Anspruch nehmen. Auch sogenannte Drängelgitter machen unübersichtliche Situationen meist etwas sicherer, für die Zielgröße Reisegeschwindigkeit sind sie aber eher schädlich.
Um das Verkehrsmittel Fahrrad schneller und damit attraktiver zu machen, muss nicht sofort die ganze Stadt umgebaut werden. Es gibt auch schnell verfügbare und minimalinvasive Maßnahmen. Ampeln umzuprogrammieren könnte potenziell einen Großteil der Haltezeiten beim Fahrradfahren eliminieren. Auch Tempo-30-Zonen dürften helfen und wären zumindest theoretisch einfach einzurichten. Durch die geringeren Geschwindigkeitsunterschiede fließen die Radfahrerinnen dort gut mit dem Autoverkehr mit. An manchen Stellen, so Jochen Eckart, könnten die Radfahrerinnen auch von Wahlfreiheit profitieren. Das hieße in der Praxis, den Radfah-rer*innen auch das Fahren auf der Straße zu erlauben. Hier könnte der einzelne Verkehrsteilnehmer dann entscheiden, ob der sicherere Bürgersteig oder die schnellere Straße gerade eher zu seinen Bedürfnissen passen.

Auch Apps und Sensor-Boxen führen Richtung Ziel

Wie Radfahrerinnen sich verhalten und welche Bedürfnisse sie haben, kann nicht nur die Forschung aus Karlsruhe zeigen. Es gibt zunehmend technische Möglichkeiten, die Rad-fahrerinnen nutzen können, um ihr Fahrverhalten zu erfassen. „Da hat sich wirklich viel getan. Unheimlich viele versuchen, die Radfahrenden in die Gewinnung von Daten einzubeziehen“, betont Eckart.
Das Projekt SimRa sammelt Fahrraddaten über eine Smartphone-App und ist dafür 2022 mit dem Deutschen Fahrradpreis geehrt worden. Den ersten Platz in der Kategorie Service und Kommunikation teilte sich das Projekt mit dem OpenBikeSensor. Die kleine Box wird am Fahrrad montiert und misst Seitenabstände nach links und recht und Fahrten über GPS.
Die verbaute Sensorik ist nicht so umfassend wie beim Sensor-Bike, dafür kann die kleine Kiste aber auch selbst gebaut werden. Wer mit dem frei verfügbaren Bauplan mehrere Geräte baut, kommt auf Kosten von etwa 60 bis 80 Euro pro Stück. Der OpenBikeSensor setzt als Open-Source-Projekt eher auf freiwillige Beteiligung der Bevölkerung, eine städtische Unterstützung ist aber denkbar. 20 Sensoren können sich Städte und Initiativen aus Baden-Württemberg auch beim Landesverband des ADFC ausleihen.
Gerade wer große Datensätze über die eigene Stadt erhalten will, stößt mit freiwilligen Teilnehmer*innen schnell an seine Grenzen. Unternehmen wie Bike Citizens bieten deshalb ihre Hilfe bei der Datenerhebung an, was meist auch mit Kampagnenarbeit einhergeht. Fundierte, massenhafte Daten könnten auch mit den qualitativen Daten aus Forschungsprojekten mit Sensor-Bikes oder den kleinen Sensor-Boxen kombiniert werden. Dieser Mixed-Method-Gedanke ist in der Wissenschaft gang und gäbe.

„In Zukunft wird Mobilität ganzheitlich vernetzt sein.“

Markus Papke, Head of Innovation bei Riese & Müller
Moderne E-Bikes könnten der Stadtplanung in Zukunft helfen, indem sie die gesammelten Daten spenden.

Daten direkt vom Hersteller

In Zukunft wäre es auch denkbar, dass die Daten von Herstellern von Fahrrädern und vor allem E-Bikes direkt geliefert werden. Diese bieten vermehrt die Möglichkeit, Fahrräder über GPS-Module zu tracken und Motordaten auch in der Cloud einsehen zu können. Hier könnten freiwillige und anonymisierte Datenspenden immer mehr Informationen zur Verfügung stellen. Laut dem E-Bike-Hersteller Riese & Müller dürften auch Fahrräder bald so vernetzt sein, dass sie mit der Infrastruktur und anderen Verkehrsteilnehmern kommunizieren. Das Fahrrad in solche Prozesse einzubinden, ist wichtig, gerade weil die Automobilbranche sich in Pilotprojekten etwa bereits mit Ampeln vernetzt. „In Zukunft wird Mobilität ganzheitlich vernetzt sein. Und wenn du als E-Bike nicht in dieses Ökosystem reingehst, dann bist du zumindest auf der Connectivity-Ebene ein unsichtbarer Datenpunkt, den kein anderer vernetzter Akteur wahrnehmen kann“, meint Markus Papke, Head of Innovation bei dem hessischen Hersteller. Ohnehin gilt es hier zunächst branchenübergreifende Kommunikationsstandards zu entwickeln.
In höherer Zahl wären Radverkehrsdaten direkt vom Fahrrad für die Planung gut nutzbar. Die Nachfrage nach den detaillierten Informationen der Sensor-Bikes ist seitens der Kommunen bisher noch begrenzt. Jochen Eckart führt das da-rauf zurück, dass viele lokale Knackpunkte, an denen Änderungen nötig sind, bereits bekannt sind, es aber an Ressourcen mangelt, diese Aufgaben abzuarbeiten. Dass sich die Kommunen dann zunächst auf das Offensichtliche konzentrieren, anstatt noch weitere Daten zu erheben, ist in der Praxis nachvollziehbar. Auch große Radverkehrspläne werden nicht jedes Jahr geschrieben.
Der kommunale Datenbedarf soll in einem nächsten Forschungsprojekt mit kommunalen Handlungsträgern von Eckart erforscht werden. „Mich interessiert nämlich: In welchen Einsatzbereichen brauchen Sie Daten, für was brauchen Sie keine? Wie müssen die aufbereitet sein? Ich sehe das als eine Sache, wo wir mehr reingehen müssen. Ihnen einfach nur zu sagen ‚Hier haben wir Daten, seid bitte begeistert‘, das wird es nicht sein.“ Es bleibt abzuwarten, ob das Interesse an Daten aus Radfahrperspektive in den nächsten Jahren nachziehen wird. Am Angebot technischer Möglichkeiten scheitert es jedenfalls nicht.


Was macht den Radverkehr …

… schneller?

– Breite Radwege
– Weite Sicht
– Angehobene Radwege
– Direktes Linksabbiegen
– Tempo 30
– Wahlfreiheit zwischen Bürgersteig und Straße

… langsamer?

– Rote Ampeln
– Drängelgitter
– Linksabbiegen mit zwei Ampeln
– Stressige Überholsituationen


Bilder: stock.adobe.com – Kara, John Christ, Jochen Eckart, Anne Sophie Stolz, Riese & Müller – Lars Schneider, stock.adobe.com – BlackMac

Ohne gute Radwege kann eine Verkehrswende mit dem Fahrrad nicht gelingen, ohne gute Kommunikation aber auch nicht. Wer eine Kampagne für mehr Radverkehr plant, findet jedoch viele Vorbilder, von denen es sich lernen lässt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Gute Fahrradinfrastruktur ist eine Grundvoraussetzung für mehr Radverkehr, doch bauliche Maßnahmen allein bringen noch nicht unbedingt mehr Alltagsverkehr mit dem Fahrrad auf die Straße. Eine erfolgreiche Radverkehrspolitik braucht auch eine kommunikative Begleitung. Langfristige Kampagnen machen Angebote sichtbar und emotionalisieren Menschen fürs Fahrrad. Welche Stellschrauben zur Durchführung von Radverkehrskampagnen besonders gut funktionieren, zeigen Beispiele aus Deutschland, Österreich und England.

Involvement, also die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger sowie der Stakeholder, war bei der Münchner Kampagne „Radlhauptstadt“ ein wesentlicher Baustein.

Corona-bedingt musste die Münchner Radlnacht zuletzt pausieren. In den Jahren zuvor war sie mit 17.000 Teilnehmern eine sympathische Demonstration für mehr Radverkehr.

Systemischer Ansatz

Die Stadt München hat bis 2019 über einen Zeitraum von acht Jahren mit Green City e. V. und der Agentur Helios die Initiative „Radlhauptstadt München“ umgesetzt. Nach Angaben von Green City „eine der weltweit größten Kampagnen zur Förderung des Radverkehrs“. Das Fahrrad sollte als tägliches Transportmittel etabliert werden. Vom Drahtesel zum Lifestyleobjekt. Dahinter steckte ein systemischer Ansatz der Bozener Agentur Helios. Deren Kommunikationsdesigner Günther Innereber sieht das Fahrrad als soziales System: „Es gibt die Umwelt drumherum, wie die Infrastruktur, damit das Ganze funktioniert. Um das System am Leben zu erhalten, braucht es einen Service, den Verkauf, den Gesundheitsbereich und einen Nutzen.“ (s. a. Interview)
Für ihre Kampagnen arbeitet die Agentur nach einem Wirkungsdreieck, das das System Fahrrad mit einem Wert auflädt, der zu neuen Wertorientierungen führen soll. An den Dreiecksspitzen stehen die drei Faktoren dafür: Wahrnehmung (Sichtbarkeit), Identifikation und Involvement. Damit es wahrgenommen wird, muss das System Sichtbarkeit und Präsenz erhalten. Gemeint sind damit die Infrastruktur oder gezielte Aktionen, welche die Vorteile des Fahrradfahrens herausstellen. Ein weiterer Faktor bei Kampagnen ist es, eine Identifikation in der Bevölkerung herzustellen. So spielte man für die „Radlhauptstadt München“ augenzwinkernd mit dem Selbstverständnis der bayerischen Metropole. Erhebt sie bereits an anderer Stelle vielfach den Nr.-1-Anspruch, wurde sie kurzerhand auch zur Fahrradhauptstadt erklärt. Als weiteres lokales Identifikationsangebot trägt sie das mundartliche „Radl“ im Namen.
Das dritte Element des Dreiecks ist die Partizipation oder das Involvement, wobei zwischen High und Low Involvement unterschieden wird. Innerebner erklärt: „High Involvement bedeutet, dass man mit Stakeholdern und Akteuren zusammenarbeitet, die sich mit dem Thema auseinandersetzen.“ Heruntergebrochen auf das Beispiel München: die Radlnacht, der Radlflohmarkt oder eine Radschnitzeljagd. Dabei wurden Vereine einbezogen, die direkt oder indirekt mit dem Fahrrad zu tun haben. Für die Kampagne sind sie die Multiplikatoren. Sie bringen das gewünschte soziale Umfeld mit, um dem System eine Reputation zu geben. Das Low Involvement spielt hingegen auf der emotionalen Ebene: Bürgerinnen und Bürger werden selbst zu Protagonisten, indem sie beispielsweise bei der Radlnacht mitfahren oder an einer Verlosung teilnehmen.

Kommunale Marken

Mit der Entwicklung einer Marke wird das System weiter aufgeladen. Sie repräsentiert das System und bricht es herunter auf ein Symbol oder einen Namen: Die Agentur Helios hat Marken in Baden-Württemberg unter dem Namen „RadKULTUR“, in Berlin unter „Fahrrad Berlin“ entwickelt.
Einen solchen Markenansatz verfolgt auch die Stadt Wien. Christian Rupp, Marketing-Experte der Mobilitätsagentur Wien erklärt: „Wir haben mit ‚Fahrrad Wien‘ und ‚Wien zu Fuß‘ zwei starke Marken entwickelt. Wobei die Begleitkampagnen immer in diese Marken einzahlen.“ Markenentwicklung und Kampagnen sind auf einen längeren Zeitraum angelegt. Denn Botschaften benötigen Zeit, um anzukommen. Rupp: „Unsere Kampagnen laufen seit zehn Jahren. Dann merken die Menschen, worum es geht.“
Die Kampagne zielt auf ein zeitgemäßes Image des Fahrrades als Teil der Alltagsmobilität. Markenkern von Radfahren in Wien ist die „Lebensfreude“. Für Impulse sorgte anfangs der Blick auf die Autowerbung mit ihrer typischen Emotionalisierung von Freiheit und Individualität. Die jüngste Imagekampagne, die im Frühling startete, läuft unter dem Titel: „Radliebe Wien“. Rupps Kollegin, PR-Expertin Kathrin Ivancsits, sagt: „Das kombiniert dieses ‚ihr liebt Wien und das Radfahren‘ – die Stadt ebenso und tut etwas dafür.“ Der Fokus liegt auf dem Radwegeausbau. „Mit Bildern zeigen wir, wie schön das Radfahren in Wien ist. Zugleich läuft die Kommunikation zu den einzelnen Maßnahmen: Welche Radinfrastruktur entsteht gerade? Und wir versuchen, Infos an den Baustellen anzubringen: ‚Hier bauen wir für dich einen Radweg!‘ Das ist eine Kommunikation zwischen Stadt und Bürger: Ihr wollt was, wir tun was.“
So wie Infrastruktur nicht ausreicht, den Modal-Split-Anteil Radfahrender zu erhöhen, macht umgekehrt die smarteste Verkehrskampagne ohne Radwege wenig Sinn. Ivancsits dazu: „Es reicht nicht, wenn ein Bürgermeister Fotos aufhängt, wo er Rad fährt und sagt: Cool. Fahrt‘s doch auch! – wenn es keine entsprechende Infrastruktur gibt. Die Kampagne sollte die Tätigkeit der Stadtverwaltung unterstützen und nicht ersetzen.“

Wie Friends zu Fans werden: Die Wiener Kampagne #warumfährstDUnicht zielte mit emotionalen Botschaften insbesondere auf junge Menschen, die bisher eher gelegentlich mit dem Fahrrad unterwegs sind.

Laien zu Friends und Friends zu Fans

Der Helios-Kommunikationsdesigner Innerebner, der auch in Wien an den Fahrradkampagnen beratend mitwirkte, arbeitet mit drei Zielgruppen: Fans, Friends und Laien. Damit widerspricht der Südtiroler auch der Auffassung, Alltagsradlerinnen, die sowieso schon vom Radfahren überzeugt seien, nicht anzusprechen. Das sei für ihn verschenktes Potenzial. Gerade „Hardcore-Alltagsradler“ spielen als Fans eine tragende Rolle als Multiplikatoren sowie zum Erreichen einer kritischen Masse. Etwa bei Events im Zuge der Kampagne. Unter den Friends versteht man hingegen die gelegentlichen Fahrerinnen, unter Laien die seltenen Radnutzer*innen. Ziel einer Kampagne ist es, die Friends zu Fans und die Laien zu Friends zu machen.
Zu Beginn der Wiener Kampagne sollten Menschen zum Umstieg ermutigt werden, die bereits eine Nähe zum Radfahren haben. Besonders hoch schätze man das Potenzial der 20- bis 40-Jährigen, Frauen und Personen mit guter Bildung und höherem Einkommen ein. Kathrin Ivancsits sagt: „Die #warumfährstDUnichtKampagne von 2018 zielte auf junge Menschen. Wir haben mit Testimonials gearbeitet: Eine Nachhaltigkeits-Influencerin, eine bekannte Schauspielerin, ein ehemaliger Fußballprofi. Leute, die in der Zielgruppe bekannt sind und aus ihrer Biografie heraus zum Thema stehen.“ Botschaften mit zu vielen Fakten sieht Ivancsits eher skeptisch: „Wir machen Radwege und die sind brutto vier Komma fünfundsiebzig Meter breit. Das wirkt schnell technokratisch. In der Kommunikation geht es darum, an Gefühle zu appellieren.“ Christian Rupp ergänzt: „Es ist wichtig, Menschen auf der emotionalen Ebene zu erreichen. Gleichzeitig muss man ihnen anbieten, das Ganze auszuprobieren. Auf Uni-Radwochen waren wir an den Universitätsstandorten. Dazu gab es eine Karte. Zugleich konnten sich Studierende Fahrräder leihen.“
Manchmal ergeben sich Momente, die Ivancsits „windows of opportunity“ nennt: Als eine Wiener U-Bahnlinie für Renovierungsarbeiten gesperrt war, wurden entlang dieser Strecke Fahrradleihstationen aufgestellt: „So konnten die Leute die Strecke einmal ausprobieren.“ Auch Dankbarkeit funktioniert. Etwa in Pandemie-Zeiten, als das Fahrrad die Alternative zum Auto und den Wiener Öffis bot: „Wir haben uns an Punkten hingestellt, Radfahrkarten verteilt – und Kipferl. Um die Radfahrenden in dem zu bestätigen, was sie tun: Du tust was Gutes, das ist super, mach weiter so!“

Verwaltung ins Boot holen

Veränderungsprozesse, die nicht intern mitgetragen werden, sind schwer nach außen zu kommunizieren. Deshalb muss eine Fahrradkampagne auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltungen abholen. Innerebner: „Sie müssen das Gefühl haben, zumindest gefragt worden zu sein. Besser sind interne Beteiligungsprozesse, etwa in Workshops. Sonst kann es zum Beispiel passieren, dass ich Genehmigungen nicht rechtzeitig erhalte.“ So können beteiligte Stakeholder und die Verwaltung im Vorfeld kleinere Gremien gründen. Für die Dachmarke „Fahrrad Berlin“ war die Agentur Helios nicht nur auf der Straße unterwegs, um Bürgerinnen und Bürger zu befragen. „Wir haben auch zwei Workshops gemacht, wo wir den Senat, Stadtteilvertreter und die Polizei zusammengebracht haben. Dabei ging es um Fragen wie: Was heißt Radfahren in der Stadt? Was möchte man ausstrahlen? Die haben gesagt: Ich hatte nie Kontakt mit der Person oder der Abteilung. Endlich haben wir mal miteinander geredet.“

In Großbritannien haben die Fahrradindustrie und Radfahrerverbände zusammengelegt, um die landesweite Kampagne #bikeisbest ins Rollen zu bringen.

Positiv kommunizieren

Um die Verkehrsmittelwahl zu ändern, rät die Wiener Kommunikationsexpertin Ivancsits vom erhobenen Zeigefinger ab: „Wenn man Menschen damit kommt: ‚Du tust jetzt etwas fürs Klima!‘, bringt sie das nicht zum Radfahren. Fragt man nach ihren Motiven, sagen sie: Es macht mir Spaß, ich empfinde Freude, es würde mir etwas fehlen, wenn ich nicht Rad fahre. Was funktioniert, ist ein positiver gesellschaftlicher Druck. Auch Erwachsene orientieren sich stark an ihrer Peergroup, möchten dazugehören.“
Dabei raten die befragten Experten, stets positiv zu kommunizieren. Ein „Dirty Campaigning“ oder „Shaming“ hält auch Christian Rupp für ein No-Go: „Etwa sagen: ‚Du fährst jeden Tag mit deinem Auto ins Büro – das ist schlecht!‘ So etwas würde ich nicht machen.“ Zu stark auf das Sicherheitsthema zu setzen, kann ebenfalls kontraproduktiv sein. Am besten sollte es getrennt von einer Imagekampagne stattfinden, etwa positiv formuliert als Fahrradcheck auf einem Event. Ähnliches gilt für die Verkehrserziehung. Innerebner sagt: „Wir halten nicht viel davon, wenn die Polizei in die Schulen geht und Kindern sagt: Ihr müsst einen Helm tragen und Schutzkleidung anhaben. Autos sind gefährlich! Dann bist du als Kind verschreckt und das Schöne beim Fahrradfahren wird kaputtgemacht. Es hat seine Berechtigung, dass Regeln eingehalten werden. Aber es geht um das Wie: Es kann etwas mehr Spielerisches haben, die Verkehrszeichen zu kennen. Und zu wissen, dass ein respektvolles Miteinander wichtiger ist als jede andere Regel.“

Systemischer Umgang mit negativem Feedback

Folgt man dem systemischen Ansatz, muss eine negative Berichterstattung in der Presse nicht ungünstig für die Kampagne sein. Neben erfolgreich gewonnener (und dabei kostenloser) Aufmerksamkeit bringt das negative Feedback einen Input für Anpassungen. Als für die Radlhauptstadt München das Thema Rücksicht aufgegriffen wurde, lief ein Clown mit einem Rückspiegel in der Hand rückwärts durch die Stadt. Innerebner erinnert sich: „Die Presse hat eine Art Shitstorm ausgelöst: Die Stadt gibt 20.000 Euro für einen Radl-Kasper aus! Erst waren wir geschockt. Dann haben wir nachgedacht: Was ist systemisch passiert? Die Presse hat uns die Arbeit abgenommen. Und das Thema Radsicherheit auf die Titelseite gebracht.“
Sind es die Radfahrenden selbst, die nörgelnd gegen eine Kampagne arbeiten, etwa weil es noch an Radwegen mangelt, schlägt Innerebner ein Angebot vor, um diesen Frust herauszulassen: „Sonst können sie einen Event kaputtmachen.“ Das kann eine Wunschwand sein, die sie beschreiben können. Oder eine Adresse, wo sie ihre Klage melden. „Schreiben Sie doch dem Stadtrat XY! Ist es wirklich wichtig, dann schreiben sie. Der ist dann politisch verantwortlich und sollte auch reagieren.“

Wirtschaft animiert zum Radeln

Hierzulande noch die seltene Ausnahme, aber ein Blick über den Ärmelkanal zeigt, dass gute Radverkehrskampagnen nicht zwingend von staatlicher oder kommunaler Verkehrspolitik ausgehen müssen. Als in England während der Pandemie mehr Leute auf das Fahrrad umstiegen, sah Adam Tranter von der Agentur Fusion Media die Chance für bikeisbest – als Kampagne der britischen Fahrradindustrie. Sie setzt landesweit auf Plakat- und TV-Werbung. Ein typischer Kampagnen-Clip zeigt einen Protagonisten, der zur „Normalität“ zurückkehrt. Er trifft auf überfüllte Züge und endlose Staus. Der Groschen fällt, als der Protagonist aufs Fahrrad umsteigt. Das Außenwerbungsunternehmen Clear Channel sponsert die Werbung mit einer halben Million Pfund. Zwischen 2500 und 15.000 Pfund zahlen zudem Fahrradfirmen jährlich in die Kampagne ein. Dazu gehören unter anderem Brompton, Cannondale, Giant und Specialized. Weitere Unterstützung kommt von British Cycling oder der London Cycling Campaign.
Adam Tranter sagt: „Wir machen eine Mainstream-Kampagne, die auf alle Menschen zielt, die noch nicht Rad fahren. Besonders im Fokus stehen Frauen sowie die interessierten, aber besorgten Radfahrer. Unser Job ist es, das Denken der Leute zu verändern. Dazu gehören aber auch die Politiker.“
Bislang läuft die Kampagne noch ohne direkte Unterstützung von Regierungsseite. Hoffnungen setzt Tranter in das gerade entstehende „Active Travel England“, das vom ehemaligen Radsportprofi Chris Boardman geleitet wird und staatlicherseits mit einem Budget von 5,5 Millionen Pfund ausgestattet ist.


„Der Hebel, den wir nutzen, ist die soziale Norm“

Wo Radfahren nicht der sozialen Norm entspricht, sind die Hindernisse für einen Mobilitätswandel mit dem Fahrrad zu groß. Für den Kommunikationsdesigner Günther Innerebner liegt darin der Schlüssel für erfolgreiche Fahrrad-Kampagnen.

Was heißt systemisches Denken bei Radverkehrskampagnen?
Wir versuchen das Ganze nicht als einzelne Bereiche, sondern als System zu sehen. Das System Fahrrad ist ein soziales System. Es gibt die Umwelt drumherum, wie die Infrastruktur, damit das Ganze funktioniert. Um das System am Leben zu erhalten, braucht es einen Service, den Verkauf, den Gesundheitsbereich und einen Nutzen. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann spricht von Beziehungen. Das geht beim Fahrrad auch: Sie stehen immer in einer gewissen Beziehung, die mehr oder weniger stark sein kann. Diese Beziehung kann man unterstützen.

Wie lässt sich die Verkehrsmittelwahl beeinflussen?
Der Hebel, den wir nutzen, ist die soziale Norm. Die muss man ansprechen, damit ich überhaupt etwas mache. Sonst ist das Hindernis zu groß. Die Kultur hält ein soziales System stark zusammen, weil es gewisse Regeln gibt. Nicht nur Gesetze, auch soziale Normen. Etwa dass man in Kopenhagen mit dem Fahrrad fährt. Und wer als Student nach München kommt und nicht radelt, fällt aus der sozialen Norm. Das motiviert, der Norm zu entsprechen.

Welche Zielgruppen sollten angesprochen werden?
Wir haben ein einfaches Zielgruppen-System aufgestellt. Es gibt die Fans, die Bike-Lover, die sehr viel Fahrrad fahren. Und es gibt die Friends, die vielleicht ein bis zwei Mal die Woche Rad fahren. Schließlich gibt es die Laien, die selten fahren. Unser Ziel ist es, dass wir die Laien zu Freunden machen und die Freunde zu Fans.
Dazu brauchen wir auch die Alltagsradfahrer als Multiplikatoren, um eine kritische Masse herzustellen. Es ist wichtig, dass wertgeschätzt wird, was sie tun. Und damit bei Veranstaltungen genügend Personen zusammenkommen, die wieder mehr Menschen mitreißen. Vor allem am Anfang. Damit das System überhaupt eine Größe und Ausstrahlung bekommt. Alles, was einzahlt, um den Wert dieses System zu erhöhen, ist gut. Das können einfache Aktionen sein, die nur 200 Teilnehmer haben. Wenn ich dann über einen Radiosender eine Multiplikation von 6000 Menschen bekomme, erhält das eine andere Größenordnung. So kann ich etwas verändern in meinem sozialen Gefüge.

Inwieweit lassen sich regionale Traditionen für Kampagnen nutzen?
In Lana in Südtirol zum Beispiel gibt es seit Jahren im Februar ein Radlfasching. Die Teilnehmenden radeln in ihren Faschingskostümen. Da geht man einfach hin. Wer das mitbekommt, weil die Straßen gesperrt sind, sagt sich: Wenn die mit dem Fahrrad kommen, kann ich auch gleich mit dem Rad hinfahren. Im Frühjahr folgt eine Radschnitzeljagd. Man legt also etwas Einfaches nach, was man jedes Jahr wiederholen kann. Ein Vorteil davon ist, dass der Kostenaufwand gering ist, weil das Vereine machen. Dafür muss man mit ihnen zusammenarbeiten. Zum Beispiel mit der örtlichen Feuerwehr. Ebenso wichtig ist der Transfer der Reputation. Hast du die Feuerwehr dabei, hast du in einem Dorf schon gewonnen.

Wie sprechen Sie das Thema Sicherheit an?
In der Kommunikation stellen wir immer das Positive in den Vordergrund. Selbst wenn es Probleme gibt. Wenn wir eine Kampagne machen, um das Radfahren zu fördern, werden wir nicht gleichzeitig versuchen, das Thema Sicherheit zu transportieren. Wollen wir das ansprechen, trennen wir es von Themen des Images. Beispiel: Können Lastenräder auf einer Veranstaltung ausprobiert werden, haben wir daneben einen Sicherheitscheck. Aber der wird nicht im Vordergrund stehen. Und wir sprechen von einem Rad-Check und nicht: Du wirst sterben, wenn du kein sicheres Rad hast! Das besitzt eine Dankeschön-Wirkung und wird als Service für Bürgerinnen und Bürger wahrgenommen.


Bilder: Clear Channel, Simone Naumann, Andreas Schebesta, Stadt Wien, Clear Channel – Bruce Allinson,Martin Rattini

Am 8. April wurde in Berlin das VeloLab vorgestellt. Die mit Bundesmitteln geförderte digitale und analoge Plattform soll Innovationen im Radverkehr voranbringen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Im VeloLab sollen sich die Kommunen, die Wissenschaft, die Zivilgesellschaft und die (Fahrrad-)Industrie mit dem Ziel austauschen, das Verkehrsmittel Fahrrad in Deutschland zu stärken. Dazu sollen Produkte, Dienstleistungen sowie Infrastruktur entwickelt werden. Neben konkreten Projekten sollen Veranstaltungen und Workshops wichtige Akteure vernetzen und zwischen ihnen vermitteln. Diese werden im Laufe des Jahres in digitaler Form und an verschiedenen Orten in ganz Deutschland stattfinden. Im Rahmen des Nationalen Radverkehrsplans wurde das Projekt vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr mit 448.000 Euro gefördert.
„Das VeloLAB soll ein lebhafter Ort für alle sein, die etwas bewegen wollen und an die Kraft der Zusammenarbeit glauben. Gemeinsam erschaffen wir die Plattform für alle Mitstreiter*innen, um den Radverkehr zum Hauptverkehrsmittel für alle Wege unter 10 km in Deutschland zu machen“, so Isabell Eberlein, Geschäftsführerin der Velokonzept GmbH und Projektleiterin des VeloLab.

Event voller Innovationsgeist

Die von Projektleiterin Eberlein moderierte Eröffnung Anfang April sollte zeigen, was das Projekt künftig leisten können soll. Über 100 Gäste lauschten den Gesprächsrunden und Vorträgen im Berliner Motion.Lab.
Die Veranstaltung eröffnete der Parlamentarische Staatssekretär Oliver Luksic, der im Anschluss mit Thorsten Heckrath-Rose, dem CEO von Rose-Bikes, und Elisabeth Felberbauer, CEO von Bike Citizens, über aktuelle Herausforderungen für das Verkehrsmittel Fahrrad diskutierte. In Reverse-Pitches präsentierten Ver-treter*innen von Kommunen und Verbänden Probleme statt Lösungen, über die dann offen diskutiert wurde. User-Experience-Designerin Lieke Ypma rundete das Programm mit dem Thema „Scheitern als Mutter der Innovation“ ab.
Die Plattform hat auch eine digitale Komponente. Auf der VeloLab-Website (www.velolab.de) stehen Interessierten und potenziellen Mitgliedern künftig Informationen und Neuigkeiten aus dem VeloLab zur Verfügung. Sie dient außerdem als interne Austauschplattform für Projektbeteiligte.

Wie es mit dem Radverkehr vorangeht, diskutierten der Parlamentarische Staatssekretär Oliver Luksic (l.), Rose-CEO Thorsten Heckrath-Rose (2.v.l) und Elisabeth Felberbauer (CEO Bike Citizens, 3.v.l). Projektleiterin Isabell Eberlein (r.) moderierte das Event.

Bilder: Velokonzept

Am 19. Mai fand die Micromobility Expo auf dem Messegelände in Hannover statt. Die eintägige Veranstaltung bot neben den Austauschmöglichkeiten mit den Ausstellern ein vielfältiges und prominent besetztes Konferenzprogramm. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Die Micromobility Expo versammelte rund 30 Aussteller. Die hochkarätigen Sprecher*innen, etwa Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay oder Prof Dr. Stephan Rammler, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, behandelten die Frage, wie der Mobilitätswandel flexibel, kosteneffizient und ressourcenschonend vonstattengehen kann. Eine große Rolle spielte die Vernetzung mit dem ÖPNV, den das diverse Angebot an Mikromobilitätslösungen von E-Scootern über Mono-Wheels und elektrischen Skateboards bis hin zu Sharing-Fahrrädern, ergänzen kann.

Viel Anklang für Katja Diehl

Nach der kurzen Eröffnung durch Michael Rose, den Protokollleiter der Deutschen Messe, setzte Katja Diehl (oben rechts) mit ihrer Keynote ein Leitbild. Die Autorin des Bestsellers „Autokorrektur“ entlarvte, wie eine verschobene Wahrnehmung die Abkehr vom Auto erschwert und forderte, dass Diversität Kernkompetenz der Verkehrs- und Mobilitätswende werden müsse. Dieser Einstieg, in dem sie auch aktuelle Ereignisse wie den Ukraine-Krieg oder das Neun-Euro-Ticket in die Mobilitätsdebatte einordnete, zog sich spürbar durch den Rest der Veranstaltung. Viele weitere Redner*in-nen nahmen Bezug auf die Keynote.

Während im Inneren des Hannoveraner Messepavillons die Zukunft der Mikromobilität besprochen wurde, konnte sie im Außengelände angefasst und getestet werden.

Mikromobilität mehr als E-Scooter

Von den verschiedenen Mobilitätslösungen, die auf der Expo ausgestellt und besprochen werden, genießen in erster Linie die viel kritisierten E-Kickscooter gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Bei diesen hat sich viel getan. Die Akkus sind mittlerweile meist wechselbar und viele der Sharing-Anbieter, etwa Voi und Bird, stehen im engen Austausch mit den Kommunen. Besonders gut funktioniere das zum Beispiel in Düsseldorf oder Paris. Apropos Frankreich: Dort ist der E-Scooter im Gegensatz zum deutschen Markt für weniger Menschen ein Sharing-Vehikel, über 900.000 Privat-Scooter wurden 2021 verkauft.
Dass viele Fahrzeugtypen im Schatten von E-Scootern, E-Bikes und elektrischen Rollern stehen, hemmt ihre Verbreitung und den potenziellen Beitrag, den sie zur Mobilitätswende leisten können. Markus Emmert vom Bundesverband eMobilität e.V. forderte deshalb, systemoffener zu denken und die diversen elektrischen Leichtfahrzeuge der Klassen L1e bis L7e mit einer individuellen Förderung zu stärken.
Die Veranstalter der Expo nahmen den Tag als erfolgreich wahr. „Ich bin beeindruckt, wie intensiv sich die ausstellenden Unternehmen, die Gäste und die Sprecher*innen untereinander vernetzt und damit einen Mehrwert gegeben haben. Da sind echt tolle und sehr konstruktive Gespräche entstanden“, so das Resümee von Projektleiter Florian Eisenbach am späten Nachmittag, an dem der Konferenztag mit dreiminütigen Projekt- und Produkt-Pitches einen lockeren Abschluss fand. „Ich war positiv überrascht von den sehr deutlich formulierten Forderungen und der Fülle an vorhandenen Lösungsmöglichkeiten, die klar gezeigt haben, dass eine Mobilitätswende machbar ist und dass Mikromobile und Leichtfahrzeuge einen wesentlichen Beitrag dazu leisten können.“ Das sonnige Wetter sorgte zudem dafür, dass die Testmöglichkeiten für die verschiedensten Mikromobile gut angenommen wurden.
Es bleiben noch einige Fragen übrig, die geklärt werden müssen, etwa wie die digitale Vernetzung der verschiedenen Verkehrsträger optimal vonstattengeht. Mikromobilität hat zudem viele Gesichter. Im Zweifel muss jede Variante bei Verteilungsfragen zu Wort kommen und in der Stadtplanung berücksichtigt werden. Diese Aufgabe scheint nicht einfach zu sein, ist aber wichtig, vor allem, da die Mikromobile Hand in Hand mit dem ÖPNV zum Zuge kommen. Auch im nächsten Jahr soll die Veranstaltung deshalb dem Thema Mikromobilität weiter Vorschub leisten. „Bei der Fülle des Angebotes und dem breiten Spektrum an Themen planen wir für das nächste Jahr wieder eine Zwei-Tages-Veranstaltung, die wieder Ende Mai oder Anfang Juni sein wird“, so Eisenbach.


Bilder: Micromobility Expo

Transporträder werden als Autoersatz für Privatleute und Gewerbetreibende immer interessanter. Aber vielerorts fehlen noch geeignete Stellplätze im öffentlichen Raum. Die Fachhochschule Erfurt hat im Mai einen Planungsleitfaden für Kommunen veröffentlicht. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Als Claudia Hille 2016 mit dem ersten freien Lastenrad „Ella“ durch Erfurt fuhr, wurde die promovierte Soziologin noch regelmäßig an Ampeln und Fahrradständern auf ihr Gefährt angesprochen. Damals waren die mitunter fast drei Meter langen Transporträder in der 200.000-Einwohner-Stadt noch ein ungewohnter Anblick, inzwischen gehören sie zum Stadtbild. Damit liegt Erfurt im Trend. 103.200 Transporträder wurden laut Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) allein im Jahr 2020 verkauft, 78.000 mit, 25.200 ohne Motor. 2016 lagen die Verkaufszahlen noch so niedrig, dass der Verband nur die verkauften E-Cargobikes zählte. Das waren damals 15.125. Die Nachfrage nach dem klimafreundlichen Autoersatz ist also rasant gestiegen – und mit ihr auch das Konfliktpotenzial um den Platz auf der Straße, insbesondere beim Parken.
Spezielle Stellplätze für Transporträder sind im öffentlichen Raum eine Seltenheit. Zwar dürfen sie rein rechtlich auf dem Gehweg abgestellt werden, aber dort behindern sie oft Fußgänger, insbesondere jene mit Kinderwagen oder Menschen, die mit Gehhilfen oder Rollstühlen unterwegs sind. Im Mai hat Claudia Hille, Geschäftsführerin am Institut Verkehr und Raum an der Fachhochschule Erfurt, mit ihrem Team den Planungsleitfaden „Abstellanlagen für Lastenfahrräder in Nachbarschaften“ (ALADIN) veröffentlicht. Im Rahmen des gleichnamigen Projekts, das vom Bundesverkehrsministerium bis Ende des Jahres gefördert wird, haben sie erstmals Qualitätsstandards für Abstellanlagen zum Kurz- und Langzeitparken festgelegt. Außerdem haben sie ein Berechnungstool entwickelt, das unter anderem den Bedarf an Cargobike-Stellplätzen in verschiedenen Quartieren ermittelt. Noch bis zum Jahresende begleitet das Erfurter Team zudem vier Modellkommunen – München, Hannover, Leipzig und Nordhausen – bei der Umsetzung passgenauer Abstellanlagen.
Der Bedarf ist bereits jetzt groß und werde noch deutlich zunehmen, so die Verkehrsforschung. 5,2 Millionen Cargobikes könnten laut Claudia Hille im Jahr 2030 in Deutschland unterwegs sein. „50 Prozent davon im Privatbesitz, 50 Prozent gewerblich“, sagt sie. Größe und Gewicht, aber auch der Wert von Lastenfahrrädern erforderten neue Konzepte zum sicheren und komfortablen Abstellen. Die sonst zum Fahrradparken genutzten Möglichkeiten, wie Hinterhöfe, Hausflure und Kellerräume, sind für Lastenräder nur selten geeignet. In schmalen Fluren fehlt der Platz zum Rangieren, und fürs Runtertragen ins Untergeschoss sind die Räder zu schwer. Deshalb brauchen die Nutzer und Nutzerinnen von Lastenrädern leicht zugängliche Stellplätze im öffentlichen Raum.

5,2 Mio.

Cargobikes könnten im Jahr 2030
in Deutschland unterwegs sein

Das Standardmaß für einen Lastenradstellplatz beträgt 2,7 Meter Länge und einen 1 Meter Breite. Auf der Fläche eines PKW-Parkplatzes können demnach drei Lastenräder im 45-Grad-Winkel schräg aufgestellt werden

Erste Cargobike-Stellplätze markiert

Bei der Gestaltung unterscheiden die ALADIN-Planerinnen und Planer zwischen Anlagen für Kurz- und Langzeitparker. Für Kurzzeitparker gibt es leicht umsetzbare Lösungen am Straßenrand. Denn rein rechtlich dürfen Transporträder am Fahrbahnrand auf kostenpflichtigen (Kfz-)Parkplätzen abgestellt werden. In Hamburg geht das seit Dezember 2021 sogar kostenlos. „Lastenräder sind in der Straßenverkehrsordnung nicht als Kraftfahrzeuge klassifiziert und können deshalb nicht mit Parkgebühren belegt werden“, erklärt der Sprecher der Stadt. Aus Angst vor Vandalismus und um die Mobilitätswende stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung zu rücken, bauen erste Städte Kfz-Stellplätze komplett in Lastenradstellplätze um. Im Berliner Bezirk Neukölln wurden vier Parkplätze beispielsweise ausschließlich für Transporträder umgestaltet. Auch Hannover probiert verschiedene Modelle aus. Neben reinen Lastenradstellplätzen unterbindet die niedersächsische Landeshauptstadt beispielsweise das regelwidrige Parken im Kreuzungsbereich, indem sie mit Pollern die Flächen absperrt und Fahrradbügel für Transporträder aufstellt. In Düsseldorf wird diese Idee ebenfalls umgesetzt.
„Wichtig ist, dass der Zugang zu den Stellplätzen für die Nutzer komfortabel und sicher ist“, sagt Claudia Hille. Die Radfahrer*innen brauchten ausreichend Platz zum Be- und Entladen der Räder und zum Rangieren. Im Rahmen von ALADIN hat ihr Team die Längen und Breiten verschiedener Lastenradmodelle erfasst. Als Standardmaß für Stellplätze haben sie eine Länge von 2,7 m und eine Breite von einem Meter Breite festgelegt. Auf der Fläche eines typischen Pkw-Parkplatzes längs zur Fahrbahn können demnach drei Räder im 45-Grad-Winkel schräg aufgestellt werden. Befindet sich der Parkplatz quer zur Fahrbahn, passen vier parallel aufgestellte Räder auf die vorhandene Fläche. „Zum Anschließen eignen sich Bodenanker oder verkürzte Fahrradbügel, die etwas niedriger sind als herkömmliche Bügel“, sagt sie. Zur besseren Sichtbarkeit sollten sie farbig markiert und mit Pollern begrenzt werden.

„Multifunktionsanlagen stehen für den Wandel und dürfen auch ästhetisch sein“

Claudia Hille, Institut Verkehr und Raum an der Fachhochschule Erfurt

Mehrwert für Kommunen

Abstellanlagen für Langzeitparker sind dagegen deutlich anspruchsvoller. Sie müssen die teuren Räder vor Diebstahl und Witterung schützen und sollen ins Stadtbild passen. „Als Stadtmöbel können sie durchaus einen Mehrwert für die Anwohner schaffen“, sagt die Soziologin. Clever platziert und mit Bänken oder Hochbeeten kombiniert, schaffen sie einen Platz zum Verweilen. Die Design-Vorschläge der Studentinnen und Wissenschaftlerinnen im ALADIN-Projekt reichen vom schlichten Fahrradständer mit integrierter Sitzbank bis hin zur klimaresilienten Multifunktionsanlage. In dieser ist das Dach begrünt, eine Service-Station stellt Druckluft und Werkzeug bereit, für E-Bike-Akkus gibt es einen Ladepunkt und es gibt WLAN. „Der Internetzugang macht vor allem an Umsteigepunkten des Bus- und Bahnverkehrs Sinn“, sagt Claudia Hille. Für sie sind die Multifunktionsanlagen außerdem ein deutlich wahrnehmbares Symbol für die Mobilitätswende. „Sie stehen für den Wandel und dürfen auch ästhetisch sein“, sagt sie.
Wie unterschiedlich die Anforderungen an Abstellanlagen sein können, zeigt Nordhausen, eine der
ALADIN-Modellkommunen. In der 40.000-Einwohner-Stadt im Südharz ist der Radanteil vergleichsweise gering. „Die genaue Auswertung der Mobilitätserhebung steht noch aus, aber wir schätzen ihn auf etwa sechs Prozent“, sagt Petra Diemer, Mitarbeiterin im Amt für Stadtentwicklung und Koordinatorin für das integrierte Mobilitätskonzept in Nordhausen. Entsprechend niedrig sei auch der Anteil an Lastenrädern in der Stadt. „Allerdings steigt mit dem E-Bike der Anteil der Radfahrer deutlich“, sagt sie. In der Innenstadt seien genügend Radbügel und Abstellanlagen für herkömmliche Fahrräder vorhanden sowie ausreichend Bänke oder Cafés zum Verweilen. „Was fehlt, sind geeignete Abstellanlagen für Lastenräder und für E-Bikes mit integrierter Ladestation“, sagt sie.

Kreuzungsbereiche bieten viel schnell umzusetzendes
Potenzial für Lastenradstellplätze.

Raum für Lastenrad, Rollstuhl und Kinderwagen

Noch wichtiger als Kurzzeitstellplätze in der Innenstadt sind für die Stadtentwicklerin Diemer Abstellanlagen in den Wohnquartieren. „Ein großer Teil der Wohnungen in Nordhausen befinden sich in Plattenbau-Siedlungen“, sagt sie. Im Rahmen des Stadtumbaus und der Kooperation mit der Internationalen Bauausstellung Thüringen werden aktuell drei Plattenbau-Wohnblöcke der Städtischen Wohnungsbaugesellschaft (SWG) saniert und klimagerecht umgebaut. Im Zuge des Umbaus wird auch die Mobilität im Quartier umstrukturiert. Momentan parken die Autos im Innenhof des u-förmigen Plattenbauquartiers. „Der Platz wird entsiegelt und begrünt. Die Stellplätze rücken an den Rand des Quartiers“, sagt Petra Diemer. Um den zukünftigen Bewohnern den Verzicht aufs Auto leicht zu machen, soll in dem Innenhof eine moderne Fahrradabstellanlage entstehen. Bei der Ausstattung denken die Stadtplanerin und die SWG multimodal. „Neben der Fahrradmobilität berücksichtigen wir auch den demografischen Wandel“, sagt sie. Das heißt: Es wird Raum für Fahrräder, Lastenräder und Fahrradanhänger geben, aber es werden auch Flächen für Kinderwagen oder Gehhilfen wie Rollatoren oder E-Rollstühle eingeplant.

Stellplatzschlüssel fürs Transportrad

Hilfreich für die Planung ist das ALADIN-Tool, das den potenziellen Stellplatzbedarf für 2030 berechnet. Claudia Hille hat mit ihrem Team für neun unterschiedliche Quartierstypen Stellplatzschlüssel entwickelt. Der entsprechende Algorithmus basiert auf Daten zur sozialen, geografischen und räumlichen Struktur sowie der Kaufbereitschaft der Menschen vor Ort. In gründerzeitlichen Mischquartieren wie dem Prenzlauer Berg in Berlin liegt der errechnete Stellplatzschlüssel für Lastenräder beispielsweise bei 24,6. Demnach werden im Jahr 2030 dort rund 25 Lastenrad-Stellplätze pro 1000 Einwohner gebraucht. Dieser Platzbedarf könnte mit der Umwidmung von acht Pkw-Parkplätzen gedeckt werden. In Mehrfamilienhausgebieten am Ballungsrand großer Städte sinkt der Bedarf hingegen auf drei bis vier Pkw-Parkplätze. Wenn sie in den 1990er-Jahren gebaut oder saniert wurden, sind den ALADIN-Berechnungen zufolge hier etwa elf Transporträder pro 1000 Einwohner unterwegs. In Kommunen mit ländlich geprägten Dorfkernen wie Creuzburg (2500 Einwohner) im Westen Thüringens wären immerhin noch vier Transporträder pro 1000 Einwohner unterwegs. Hier genügt es, einen Parkplatz umzuwidmen.
„Der Leitfaden ist eine Planungshilfe für die Kommunen, aber auch der Appell ‚Traut euch‘“, sagt Claudia Hille. Sie will die Planerinnen und Planer ermutigen, zügig Pkw-Stellplätze für Cargobikes umzuwidmen. „Lastenräder sind ein Puzzleteil der Verkehrswende“, sagt sie. Wenn sichere Stellplätze vor der Haustür existieren, erleichtere das den Umstieg auf ein Cargobike.


10 Regeln für die Planung von Lastenradabstellanlagen

  1. Schutz vor Diebstahl
  2. Vandalismus bannen
  3. Zugänglichkeit für alle Nutzergruppen
  4. Serviceelemente prüfen
  5. Einfügen in das Straßenbild
  6. Nutzungskonflikte vermeiden
  7. Vorhandene Pkw-Flächen nutzen
  8. Bedürfnisse der Nutzer*innen prüfen
  9. Witterungsschutz ermöglichen
  10. Verknüpfung von Stadt- und Sozialräumen

Die Planungshilfe zum Downloaden und weitere Infos zu ALADIN gibt es auf der Projekt-Webseite https://www.wohin-mit-dem-lastenrad.de


Bilder: Fachhochschule Erfurt (FHE) – Institut Verkehr und Raum, Stadt Hannover

Die diesjährige Radreiseanalyse des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) zeigt, dass die Deutschen nach dem fahrradtouristisch schwachen Jahr 2020 wieder mehr unterwegs waren. In mancher Hinsicht wurde sogar das Vor-Corona-Niveau überboten. Aber auch die kleinen Details liefern aufschlussreiche Erkenntnisse. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Knapp 42 Millionen Bürger*innen unternahmen 2021 mindestens einen Tagesausflug mit dem Rad. Im Vergleich mit dem Vorjahr sind das elf Millionen Personen mehr. Auch das Jahr 2019 wurde im Hinblick auf Tagesausflüge damit deutlich übertroffen. Ein anderes Ergebnis zeigt sich bei den Radreisen, für die der ADFC definiert hat, dass sie mindestens drei Übernachtungen umfassen und das Fahrradfahren eines der Hauptmotive ist. Hierunter fallen Urlaube von rund vier Millionen Deutschen, etwa anderthalb Millionen weniger als vor der Pandemie, aber immerhin knapp eine halbe Million mehr als im Jahr 2020.
Die Daten erhob der ADFC von November 2021 bis Januar 2022 mit Online-Befragungen. Insgesamt wurden über 10.000 auswertbare Fragebögen ausgefüllt. Zwei geschlossene Umfragen ergaben bundesweit repräsentative Datensätze, die zeigen, wie die Deutschen ihre Fahrräder nutzen und wie groß der Anteil jener ist, die Radreisen oder Tagesausflüge damit machen. Letztere Gruppe untersuchte der ADFC in einer offenen Umfrage detaillierter.
Die Ergebnisse zeigen einige Entwicklungen unter den Radreisenden auf. Diese zogen im letzten Jahr den Spätsommer als Reisezeitraum vor. Die Reisenden waren im Durchschnitt 53 Jahre alt und damit zwei Jahre jünger als im Vorjahr. Rund drei Viertel waren zwischen 25 und 64 Jahren alt. In den zwei Altersgruppen in diesem Bereich gab es Zuwächse, während vor allem die Über-65-Jährigen deutlich weniger als Radreisende gezählt wurden. Der Anteil der ältesten Gruppe ging um 16 Prozent zurück. Auch die 18- bis 24-Jährigen bildeten statt sechs Prozent im Jahr 2021 nur noch 2,6 Prozent der Gesamtgruppe der Radreisenden. An anderer Stelle gab es kaum Veränderung. Rund drei Fünftel der Radreisenden waren 2021 männlich.

Guten Freunden empfiehlt man eine Radtour

Wer eine Fahrradreise unternimmt, muss erst mal wissen, wohin es gehen soll. Dabei vertrauen die Deutschen mit einem Anteil von 38 Prozent vor allem Empfehlungen von Freund*innen. Auch durch Medienberichte in Magazinen und Zeitschriften und die Websites der Tourismusregionen selbst lassen sich mehr als ein Fünftel der Radreisenden Laune machen. Tourenportale wie Komoot und Outdooractive spielen an vierter Stelle für 18 Prozent der Reisenden eine Rolle.
Der Trend, welche Informationsquellen die Reisenden heranziehen, geht in Richtung digitaler Quellen. Der Verkauf gedruckter Radkarten ging, verglichen mit dem Vorjahr, minimal zurück. Reiseführer spielen im Vorfeld der Reise eine gleichbleibende Rolle, auf der Reise selbst verließen sich aber sechs Prozent weniger, nämlich knapp 27 Prozent auf sie. Stattdessen recherchieren im Vorfeld der Reise mit 82 Prozent noch mal sechs Prozent mehr Menschen im Internet. Auf der Reise selbst nutzen elf Prozent mehr, rund 58 Prozent, die Internetrecherche. Auch Apps auf dem Smartphone, dem Tablet oder der Smartwatch haben als Informationsquelle deutlich zugelegt.
Für die Wahl der tatsächlichen Route ist für Tagesausflügler besonders wichtig, dass diese gut befahrbar ist und Verkehrssicherheit, zum Beispiel durch separate, verkehrsarme Radwege, besteht. Erst in zweiter Instanz spielen Attraktionen entlang der Strecke eine Rolle. Für mehrtägige Radreisen sind die Sehenswürdigkeiten der wichtigste Ansatzpunkt, wenn geplant wird.

42 %

der Radreisenden nutzten 2021 Fahrräder
mit elektrischer Unterstützung.
Damit stieg die Quote verglichen
mit dem Vorjahr um ganze zehn Prozent.
Ein gut befahrbarer Weg, der zudem von anderen Verkehrsmitteln separiert und verkehrsarm ist. Das waren 2021 die Hauptauswahlkriterien, mit denen Tagesausflügler ihre genauen Routen planten. Erst danach wurden die Attraktionen an der Strecke genannt.

Niedersachsen bestätigt die Regel

Und wofür entscheiden sie sich? Niedersachsen konnte Bayern als meistbereistes Bundesland im Jahr 2021 den Rang ablaufen. Hier machten fast 30 Prozent der Radreisenden Urlaub. Damit ist Niedersachsen das einzige Bundesland, das 2021 von einem größeren Teil der Radfahrerinnen besucht wurde. Bei allen anderen Bundesländern gingen die Anteile relativ zum Vorjahr zurück. Nach Bayern fuhren rund 25 Prozent, was im Vergleich zu 2020 eine Differenz von neun Prozent ergibt, und Nordrhein-Westfalen wurde von etwa 21 Prozent der Radreisenden, also etwa fünf Prozent weniger besucht. Auch die am öftesten angefahrene Region des Reisejahres lag in Niedersachsen. 8,5 Prozent derjenigen, die mit dem Rad unterwegs waren, fuhren in die Region Osnabrücker Land/Emsland/Grafschaft Bentheim. Die beliebtesten Radrouten waren wie 2020 der Weser- und Elberadweg, wobei die Weser-Strecke in diesem Jahr am öftesten gefahren wurde. Auch die Radwege am Main und an den Ostseeküsten waren Publikumsmagneten. Mit den befahrenen Radfernwegen waren die Radlerinnen weitgehend zufrieden. Die zehn meistbefahrenen Routen wurde mit Ausnahme des Ostseeküstenradwegs (Note 1,9) mit Noten zwischen 1,5 und 1,7 bewertet.
Außerhalb Deutschlands locken Österreich und Italien mit 36 und 33 Prozent die meisten deutschen Radfahrer*innen auf ihre Straßen und Wege. Mit deutlich geringeren Anteilen von etwa 14 und 11 Prozent folgen Frankreich und die Niederlande im Vergleich zur letztjährigen ADFC-Analyse diesmal in umgekehrter Rangfolge.
Die wenigsten Radreisenden fuhren einfach an ihrem Wohnort mit dem Fahrrad los. Der Normalfall war im letzten Jahr die Anreise mit einem anderen Verkehrsmittel. Rund 41 Prozent unternahmen die An- und Abreise mit dem Pkw. Etwa 35 Prozent kamen mit der Bahn an und ungefähr 33 Prozent nutzten die Bahn auch für die Heimreise. 42 Prozent derer, die öffentliche Verkehrsmittel genutzt hatten, empfanden die Anreise nicht als problemlos. Fast zwei Drittel dieser Menschen bemängelten, dass Kapazitäten zum Fahrradtransport fehlen. Die Hälfte kritisierte fahrradunfreundliche Bahnhöfe und für 45 Prozent waren unkomfortable Fahrradstellplätze ein Störfaktor in ihrem Reiseerlebnis.

30 Prozent der Radreisenden machten 2021 Touren in Niedersachsen. Die beliebtesten Routen an Weser und Elbe dürften dazu beigetragen haben.

Neue Räder auf dem Radweg

Als Hauptverkehrsmittel der Radreise dürften viele im letzten Jahr mit einem anderen Rad unterwegs gewesen sein als im Jahr zuvor. Laut der ADFC-Umfrage haben sich 24 Prozent der Befragten, fast doppelt so viele wie im Vorjahr, 2021 ein neues Fahrrad zugelegt. In Anbetracht dessen, dass der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) von 4,7 Millionen verkauften Fahrrädern und E-Bikes im letzten Jahr ausgeht, dürfte sich der hohe Anteil lediglich durch viele Gebrauchtkäufe erklären lassen. Knapp die Hälfte der laut ADFC neuen Räder haben einen Elektroantrieb, wodurch sich die hohe Pedelec-Quote unter den Radreisenden erklären lässt. Diese lag mit 42 Prozent ganze zehn Prozent über dem 2020er-Wert. Die Motivation dafür, sich elektrische Unterstützung zu nehmen, kommt vor allem daher, dass die Pedelecs weitere Strecken ermöglichen, wie fast 73 Prozent der Befragten angaben. Gut die Hälfte der Menschen nutzt Elektrofahrräder, um auch anspruchsvollere und hügeligere Regionen besuchen zu können. An dritter Stelle nannten die Teilnehmerinnen der Studie, dass die motorisierten Fahr-räder Leistungsunterschiede aus-gleichen und so einen gemeinsamen Urlaub mit Partnerinnen oder Freund*innen ermöglichen.
Auch bei den Fahrradtypen, mit denen die Reisenden unterwegs sind, hat sich einiges verändert. Als neue Kategorie hat der Verband Gravel- und Cargobikes mit in die Befragung aufgenommen. Während die Lastenräder mit 0,3 Prozent bei einem geringen Anteil blieben, kommen Gravelbikes bereits auf fast fünf Prozent. Mit 17 Prozent nutzten sechs Prozent mehr Menschen Stadträder für ihre Reisen. Abgenommen hat der Anteil der Trekkingräder, die aber immer noch von der größten Gruppe genutzt werden. Der Prozentsatz schrumpfte von 64 auf knapp 58 Prozent.
Wie sich das Verhalten der Radreisenden in diesem Jahr entwickelt, bleibt abzuwarten. Abreißen dürfte das Interesse aber eher nicht. Mit knapp 70 Prozent hat ein ähnlich großer Anteil wie 2020 sich vorgenommen, auch in diesem Jahr wieder eine Radreise zu unternehmen.


Bilder: Stefan Kuhn Photography, Radreise – ADFC, ADFC Radreiseanalyse 2022

Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) zeigt in einer neuen Studie, wie groß das Einsparpotenzial ist, wenn Autos durch elektrische Leichtfahrzeuge ersetzt werden. Die vielen verschiedenen Fahrzeugtypen meistern viele Anwendungsszenarien sehr energieeffizient. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022)


Wer bei jedem täglichen Weg das Auto nutzt, schießt in vielen Fällen mit Kanonen auf Spatzen. Angemessener wären oftmals elektrische Leichtfahrzeuge (Light Electric Vehicle – LEV). Die Modellrechnung, die das DLR im März veröffentlichte, attestiert den diversen Vehikeln ein großes Potenzial dafür, die bei Pkw-Fahrten verursachten Emissionen zu vermeiden. Für die Modellierung griffen die Macherin-nen der Studie auf eine ganze Bandbreite an Fahrzeugen zurück (siehe Kasten), die allesamt bereits auf dem Markt waren oder zumindest in Pilotprojekten getestet wurden. Um zu wissen, welche Fahrten überhaupt ersetzt werden können, nutzte das DLR statistische Daten der Studie Mobilität in Deutschland von 2017. Zur Berechnung der eingesparten Treibhausgase gingen die Forscherin-nen für jede ersetzbare Autofahrt davon aus, dass jeweils das optimale LEV im Hinblick auf Emissionen im Lebenszyklus als Alternative genutzt wurde. Der Bedarf unterscheidet sich im Alltag schließlich auch, je nachdem wie viele Menschen und wie viel Gepäck mitgenommen werden und wie viel Strecke zurückgelegt werden soll.
76 Prozent der Autofahrten könnten laut der Studie durch LEVs ersetzt werden. In Bezug auf die gefahrene Strecke könnten Autos dadurch in Zukunft nur noch die Hälfte der jetzigen Kilometer zurücklegen. Im Schnitt sparen die LEVs gegenüber den Autos 88 Prozent der Treibhausgas-Emissionen ein. Pro Jahr könnten in Deutschland so 57 Millionen Tonnen CO2, 44 Prozent der durch Autos verursachten Emissionen, eingespart werden. Als entscheidenden Faktor, wie groß der Fußabdruck der elektrischen Fahrzeuge ist, identifizierten die Macher*innen der Studie die Größe und Kapazität der Batterie.
Nicht nur bei den Emissionen sind die LEVs überlegen. Weil sie etwa weniger Platz zum Parken benötigen, belegen sie auch weniger öffentlichen Raum. Das Potenzial der Leichtfahrzeuge ist laut den Studienergebnissen insgesamt sehr groß. Um es zu nutzen, müssen die Regulierung verändert und die Infrastruktur angepasst werden. Auch finanzielle Anreize und die Internalisierung externer Kosten müssen thematisiert werden.

Genutzte Fahrzeugtypen im Modell:

– E-Scooter
– Pedelecs
– S-Pedelecs
– Mopeds
– Motorroller
– Microcars bis 45/90/125 km/h


Bild: stock.adobe.com – Achim Wagner

Radwege statt Parkplätze: Nirgendwo sonst in München hat der Verteilungskampf zwischen Autofahrern und Radlern so hohe Wellen geschlagen. Hat sich der Ärger in der Fraunhoferstraße inzwischen gelegt? Nicht wirklich – es kommen sogar unerwartete Probleme hinzu. Andreas Schubert, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, berichtet aus der bayerischen Landeshauptstadt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 02/2022, Juni 2022


Ein Getränkelieferant steht am Straßenrand und entlädt Palette für Palette seinen Laster. Mehrere Paketdienst-Mitarbeiter tun es ihm gleich. Zwei Handwerker stehen mit ihrem Wagen vor dem „Bergwolf“ und essen Currywurst aus Pappschälchen. Ein Januar-Nachmittag in der Fraunhoferstraße: Es geht geschäftig zu in diesem Teil der Isarvorstadt. Bei Sonnenschein und milden Temperaturen sind viele Passanten unterwegs in einer Gegend, die noch immer von außergewöhnlichen Läden geprägt ist, wie man sie in der Fußgängerzone nicht mehr findet. Hier bekommt man Antiquitäten oder Comics, Nippes jedweder Art, Fahrräder, natürlich auch Kleidung und was man eben sonst so zum Leben braucht oder auch nicht.
An abwechslungsreicher Gastronomie mangelt es auch nicht: Das Wirtshaus Fraunhofer ist eine Institution für Schweinsbraten- und Kulturfreunde gleichermaßen, es gibt unter anderem einen Koreaner, den obligatorischen Italiener und einen Laden, vor dem sich die gesundheitsbewussten Glockenbach- und Gärtnerplatzviertler für Smoothies und Bowls die Beine in den Bauch stehen. Und in besseren Zeiten ohne Sperrstunde abends um zehn kann man bis in die Morgenstunden im „Flaschenöffner“ bestens versumpfen. Nur um die Fraunhofer Schoppenstube, die man ausnahmsweise als legendär bezeichnen kann und die 2013 zugemacht hat, trauern Nachtschwärmer noch heute.
Irgendwann landet jeder und jede hier, es ist immer was los in der Fraunhoferstraße, auch wenn sie sich in den vergangenen Jahren gewandelt hat. Die Postfiliale ist dicht, wo früher ein Drogeriemarkt war, ist heute der Stützpunkt des Lieferservice Gorillas, und manch kleiner Laden ist verschwunden, weil sich die Betreiber die hohen Mieten nicht mehr leisten konnten.
Die stärkste Veränderung aber kam vor zweieinhalb Jahren, als die Stadt alle 120  Parkplätze in der Straße strich und durch einen rot markierten Fahrradstreifen ersetzte. Seither ist die 500 Meter lange Achse zwischen Müllerstraße und Isar ein Politikum, wie es wohl keine andere der rund 30 Fraunhoferstraßen in diesem Land sein dürfte. Für Kraftfahrzeuge gibt es hier keinen Halt mehr. Anwohner müssen in Nebenstraßen parken, für Handwerker oder Kuriere gibt es dort – und nur dort – Lieferzonen. Von Beginn an war die neue Verkehrsregel Geschäftsleuten und vielen (aber nicht allen) Nachbarn ein Dorn im Auge.

Schanigarten oder Radweg?

Beppi Bachmaier, Wirt des Fraunhofer, grantelte über den „Radl-Highway“, nicht zuletzt, weil andere Gas-tronomen im Viertel sich schöne Freisitze auf umgewidmeten Autoparkplätzen vor der Haustür bauen durften. Doch mangels Parkplätzen, die man in der Fraunhoferstraße zu Schanigärten hätte umwandeln können, gingen Bachmaier und die anderen Wirte mit dieser Adresse leer aus. Immerhin gab es vergangenen Sommer mit dem Fraunhofer Isarflimmern einen Pop-up-Biergarten nahe der Reichenbachbrücke.

Wahlkampthema „RADikal-Politik“

Die CSU griff das Parkplatzthema im Kommunalwahlkampf auf, wetterte gegen die rot-grüne „RADikal-Politik“ und trommelte für Pressetermine Geschäftsleute zusammen, die dann auch schimpfen durften (s. a. VELOPLAN 4/19). Auch nach der Wahl, seit der die Christsozialen im Rathaus wieder in der Opposition sind, hielten sie sich mit Kritik nicht zurück – aber erfolglos. Denn Wirten und Geschäftsleuten bleibt das Lieferproblem erhalten, der Radweg wird bleiben, die Stellplätze kommen nicht wieder. Für Georg Dunkel, den Mobilitätsreferenten der Stadt, ist die Straße ein Paradebeispiel für den Wandel einer Stadt. Dass die öffentlichen Flächen umverteilt werden sollen zugunsten von Radlern und Fußgängern, ist die eindeutige Linie der derzeitigen Rathauspolitik.
Der Kompromissvorschlag der Familie Kilian, die einen Schlüsseldienst an der Ecke Müllerstraße betreibt, ist aus Sicht der Verwaltung nicht umsetzbar. Sie hatten von einem Architekten einen Plan mit Lieferzonen und Bäumen direkt in der Fraunhoferstraße zeichnen lassen. Doch das Mobilitätsreferat erteilte diesem Entwurf im Dezember eine Absage. Die Rad- und Fußwege wären dadurch zu schmal geworden, den 3500 Fußgängern und 2800  Radlern, die tagsüber die Straße passieren, will die Stadt keinen Platz wegnehmen. Bäume können überdies wegen der Leitungen im Untergrund nicht gepflanzt werden.

Für die Münchner Verkehrsplaner war der Umbau der Fraunhoferstraße durch die intensive Verkehrsnutzung und den begrenzten Raum ein schwieriger Fall.

Baulicher Radweg würde Kosten sprengen

Im Frühjahr will der Stadtrat über die endgültige Gestaltung der Straße entscheiden. Und wie es aussieht, wird es wohl bei der derzeitigen Lösung bleiben. Denn die Bürgersteige ließen sich auch nur minimal verbreitern, was aber nach Einschätzung der Verwaltung unverhältnismäßig teuer käme, ebenso wie ein baulicher Radweg. Stattdessen prüft die Stadt weitere Lieferzonen in den Seitenstraßen, die bestehenden sollen deutlicher gekennzeichnet werden. Denn die sind oft zugeparkt, wie sich beobachten lässt: Manche Autofahrer übersehen die Schilder einfach und lösen sogar noch einen Parkschein.
Zudem sind die Zonen aus Sicht der Händler schlicht zu weit von ihren Läden entfernt. Radek Bogacki steht am Beratungstresen seines Ladens Raab-Einrahmungen, den er vor sieben Jahren übernommen hat. Er war früher selbst Kurierfahrer, kennt also die Nöte seiner früheren Kollegen, die unter ständigem Zeitdruck stehen. Bogacki stellt auch richtig große Einfassungen her, die dann gerade mal noch durch seine Ladentür passen. Er zückt sein Handy und zeigt ein Foto eines riesigen Rahmens mit Glasscheibe. „Der wiegt 50 Kilo, tragen Sie den mal in die Lieferzone“, sagt er. Also halten die Kuriere auch direkt vor seinem Geschäft, laden kurz ein oder aus und fahren dann weiter.
Ähnlich hält es auch Ralf Brey, seit 17 Jahren Inhaber des Fahrradladens Riesenhuber. Schon von Berufs wegen hat er nichts gegen Radwege in der Stadt. Je mehr Leute radeln, desto besser ist das fürs Geschäft, auch wenn die Hersteller wegen des Radlbooms und fehlender Teile Schwierigkeiten haben, ausreichend viele Räder zu liefern. „Wir stehen seit Monaten ohne Trekking-Bikes da“, klagt Brey. Über den roten Radweg vor der Ladentür und die fehlenden Parkplätze hätten sich viele Kunden und Nachbarn anfangs ganz schön aufgeregt. „Aber mittlerweile hört man gar nichts mehr.“ Er selbst hatte auch große Bedenken, als die Stadt damals die Radstreifen markierte. Wer, so fragte er sich damals, werde ihn denn künftig überhaupt noch beliefern? Die nächste Lieferzone sei einfach zu weit weg und obendrein oft besetzt. „Das ist gut gedacht, aber falsch gemacht“, sagt Brey. Doch die befürchteten Probleme blieben aus. Eigentlich habe sich die Situation im Vergleich zu früher sogar verbessert, erzählt er nun. Weil die Fraunhoferstraße immer zugeparkt war, hielten die Lieferanten damals einfach in zweiter Reihe auf der Fahrbahn und standen so auch der Tram im Weg. Jetzt wird eben schnell am Straßenrand entladen, einen Strafzettel habe es bisher noch nicht gegeben.

Mehr freie Sicht, weniger Unfälle

Statt Parkplätzen gibt es jetzt freie Sicht über die gesamte Straße. Das hat auch dazu geführt, dass die Zahl der Verkehrsunfälle, an denen Radler beteiligt waren, zurückgegangen ist. Kein einziger dieser Unfälle wurde durch eine aufgestoßene Autotür verursacht oder dadurch, dass ein Radler ins Tramgleis kam. Nun gilt für ein Jahr zudem Tempo 30, die Stadt überlegt, ob und wo sie eine stationäre Überwachungsanlage aufstellen kann.
Im Einrichtungsladen Wohnpalette trifft man Beate Leichtle zwischen Lampen, Tassen, Spiegeln und allerlei anderen bunten Wohnaccessoires. Sie arbeitet hier und wohnt seit knapp 35 Jahren direkt gegenüber im vierten Stock. Als sie auf die nicht mehr ganz so neue Verkehrssituation angesprochen wird, sprudelt es förmlich aus ihr heraus: „Seit der Radweg da ist, ist die Straße viel lauter“, erklärt sie. Früher, sagt sie, hätten die parkenden Autos für die Anwohner auch als Schallschutz gedient. Heute pralle der Schall direkt an die Häuser und werde so reflektiert, dass es auch in den oberen Stockwerken zuweilen unerträglich werde, zum Beispiel, wenn die Feuerwehr mit Sirenengeheul durch die Straße fährt. Und das tut sie oft: Die Feuerwache 1 der Berufsfeuerwehr ist nur einen Steinwurf entfernt, die Fraunhoferstraße dient als Ausfallschneise Richtung Isar. Und auch die Nachtschwärmer erscheinen ohne die parkenden Schalldämpfer lauter. „Wenn sich die Leute früher an der U-Bahn verabschiedet haben, habe ich sie gehört“, sagt Leichtle. „Heute kann ich sie verstehen.“
Dass aktuell Tempo 30 gilt, habe sich unter Autofahrern wohl noch nicht herumgesprochen, glaubt Leichtle. In der Tat braust ein Wagen nach dem anderen vorbei, gefühlt deutlich zu schnell. Kein Wunder: Seit die Straße deutlich breiter wirkt, mag es zwar weniger Unfälle geben. Doch zugleich lädt sie viele erst recht zum Rasen ein. Leichtle selbst hat ihr Auto schon vor längerer Zeit abgeschafft, sie geht zu Fuß oder fährt mit den Öffentlichen.

Die Zahl der Unfälle mit Radfahrern ist in der Fraunhoferstraße seit dem Umbau um rund zwei Drittel zurückgegangen. Die Zahl der erfassten Unfälle durch aufgestoßene Autotüren oder durch die Tramgleise ging im beobachteten Zeitraum auf null zurück.

Stereotypen über Rad- und Scooter-Fahrer

Nicht nur auf rasende Automobilisten, sondern auch auf viele Radler ist Leichtle nicht so gut zu sprechen. Die einen nutzten die neue Breite des Radwegs und ihre 21  Gänge voll aus und heizten die Straße mit einem Affenzahn entlang. Andere wichen auf die Fußwege aus, wenn Autos oder Baustellen den Radweg blockierten. Erst vor Kurzem habe sie ein Radler direkt vor dem Laden auf dem Gehweg gestreift, wovon sie blaue Flecken am Arm davongetragen habe. Eine Entschuldigung des Radlers? Im Gegenteil, er habe sie sogar noch beschimpft. Die Gehwege sind in der Fraunhoferstraße wirklich nicht besonders breit. 2,70 Meter mag nach viel klingen, aber wenn sich mehrere Menschen begegnen, vielleicht noch ein Vater oder eine Mutter mit Kinderwagen aneinander vorbei wollen und dann auch noch ein Lieferwagen die Hälfte des Trottoirs blockiert, wird es ziemlich eng.
Ein weiteres Hindernis sind aus Leichtles Sicht die E-Scooter, die auf dem Bürgersteig abgestellt werden – oft so rücksichtslos, dass man schon mal darüber stolpern kann. „Scooter-Misere“ nennt die Anwohnerin das. „Die braucht doch in der hervorragend mit dem MVV angebundenen Innenstadt niemand, das sind reine Fun-Fahrzeuge.“ Leichtles Fazit: „Die Fraunhoferstraße ist richtig hässlich. Sie war früher schon nicht schön, aber sie hatte wenigstens Charme.“
Pierre Schmoock ist Inhaber des Ladens „Sams and Son“. Dort gibt es ein buntes Sortiment aus alten und neuen Sachen – Koffern, Taschen, Kerzen und anderen hübschen Dingen. Schmoock steht hinter dem Kassentresen, vor und hinter sich eine ganze Familie aus Kokeshi-Puppen in verschiedenen Größen – aus Obstbaumhölzern gefertigte Glücksbringer aus Japan. Seit 30  Jahren betreibt Schmoock sein Geschäft schon, früher hatte er auch größere Möbel im Sortiment. Die Wohnungsauflöser, von denen er diese bezog, wollten ihn aber nicht mehr beliefern, seit sie in der Straße nicht mehr legal stehen bleiben können. Schmoock nimmt die neue Situation aber gelassen. Wenn Geschäftsleute über die neue Situation jammern, könne er das nicht verstehen. „Früher war früher, jetzt ist jetzt“, sagt er. Er habe eben sein Sortiment angepasst: „Ich bin Vollkaufmann.“
Eigentlich sei er mit der Verkehrspolitik der Stadt ganz zufrieden, sagt Schmoock. Das Konzept für die Fraunhoferstraße sei aber nicht ganz durchdacht gewesen, meint er. Was ihn wirklich nerve, sei das ständige Gegeneinander – und die Aggression, mit der sich Radler, Autofahrer und Fußgänger zuweilen begegnen. „Ganz schlimm ist das.“ Dabei sei ein Miteinander gefragt. Ganz am Anfang, als das Halteverbot eingeführt wurde und der Radweg frisch markiert war, seien Polizei und die Verkehrsüberwachung der Stadt sofort da gewesen, sobald sich ein Kunde auch nur kurz vor den Laden gestellt habe, erzählt er. Jetzt sähen die Knöllchenschreiber die Sache ein wenig lockerer. Dazu fällt ihm eine kleine Anekdote ein: Als er selbst mal kurz vor dem Laden mit dem Auto hielt, kam eine Verkehrsüberwacherin und wollte ihn aufschreiben. Als er ihr das gerade habe ausreden wollen, sei ein Radfahrer angebraust gekommen, habe ihn beschimpft und „500 Euro!“ geschrien. Der Radler brauste weiter bis zur nächsten Ampel, die gerade rot war. „Ich hab dann zu der Politesse gesagt, wenn er jetzt stehen bleibt, zahl ich.“ Schmoock kam ohne Bußgeld davon.
Ob die Verkehrsüberwacher auch weiterhin ein Auge zudrücken, ist offen. Die Stadt hat intensive Verkehrskontrollen sowohl in der Fraunhoferstraße als auch in den Seitenstraßen angekündigt. Und laut dem neuen Bußgeldkatalog ist Falschparken keine so lässliche Verkehrssünde mehr wie einst. Jetzt werden statt 15 bis zu 50 Euro fällig. Bier und Pakete vor dem Haus abzuladen ist also nicht nur verboten, sondern inzwischen auch richtig teuer. Hätte die Verkehrsüberwachung die Handwerker während ihrer Brotzeit ertappt – es wäre vermutlich die teuerste Currywurst ihres Lebens geworden.


Bilder: Stephan Rumpf, Stadt München