Urban Arrow und Formula sind eine exklusive Partnerschaft eingegangen, aus der nun das weltweit erste Motocross-Bremssystem für Lastenräder im Geschäftskundenbereich hervorgegangen ist. Auf der IAA-Transportation präsentierten sie ihre innovative Lösung zur Kostenreduktion. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Cargobikes regeln immer häufiger die Logistikaufgaben für die letzte Meile. Dabei nehmen Bremsen einen besonderen Stellenwert ein, da die intensive Nutzung zu höherem Wartungsbedarf führt. Das Resultat sind hohe Servicekosten und gleichzeitig sinkende Einnahmen durch sich wiederholend lange Wartungszeiten.
Frank Oudegeest, Director des Geschäftskundenbereichs bei Urban Arrow, sagt: „Genau hier haben wir mit unserer Lösung angesetzt: Mit den neuen Formula-Bremsen verlängern wir die notwendigen Wartungsintervalle: Statt alle 1500 Kilometer zu warten, müssen in Zukunft die Formula-Bremsen der Urban-Arrow-Modelle unserer Geschäftskunden nur knapp alle 15.000 Kilometer gewartet werden. Damit haben unsere Kunden fast zehnmal länger Zeit als bislang, bevor die Bremsen gewartet und gegebenenfalls repartiert werden müssen.“ Laut Fons Kok, dem Lead Maintenance Engineer des Food-Logistik-Unternehmens Tring Tring in Amsterdam, kommen die Formula-Bremsen ihrer Urban-Arrow-Flotte im Pilottest „mittlerweile auf fast 20.000 Kilometer Laufzeit, ohne Wartungsunterbrechung“. Sein Fazit lautet: „Das spart uns Zeit und Geld.“ Der italienische Bremsenspezialist Formula entwickelt seit Jahrzehnten Bremssysteme für Motocross, Mini-Motocross und Mountainbiking. Für die Cargobikes von Urban Arrow konnte das Bremssystem aus dem Bereich Mini-Motocross adaptiert werden. Das für schwere Lastenradtransporte maßgeschneiderte Bremssystem wird ab dem ersten Quartal 2023 in den Modellreihen Cargo und Tender für alle Geschäftskunden von Urban Arrow verbaut.


Bilder: Urban Arrow

Planungsideen für den urbanen Alltag

von David Sim

Hygge für die Stadt, so lässt sich David Sims Vision vielleicht zusammenfassen. Das dänische Wort hat denselben Wortstamm wie to hug, der englische Begriff fürs Umarmen. Eine sanfte Stadt ist also eine, die umarmt und sich den menschlichen Bedürfnissen unterordnet. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Stadtplanung sollte das Leben erleichtern und auf verschiedenen Ebenen sanfter werden lassen. Langsam, kleinteilig und leise soll die Stadt sein, dann entsteht das gute Leben in den Nachbarschaften. David Sim wendet sich von einer funktionalistischen Quartierseinteilung ab und fordert stattdessen ein Gleichgewicht zwischen Dichte und Vielfalt. Stattdessen geht es in seinem Stadtkonzept darum, dass Bürger*innen sich begegnen und vernetzen können. Das Konzept mag zunächst allgemein wirken und schwer zu fassen sein. Das große Ganze zu betrachten ist aber sehr wichtig, da sich spezifische Planungsfelder der Stadtentwicklung nur sehr begrenzt voneinander trennen lassen.
Wie müssen Häuser, Innenhöfe, Straßen und Plätze gestaltet sein, um den menschlichen Alltagsbedürfnissen gerecht zu werden? Die Lösung sieht der Autor darin, Städte kleinteiliger und dichter zu organisieren. Außerdem braucht es Nähe und Vielfalt von Gebäudetypen und Nutzungen.
Das erlaubt dann eine gemischte Nutzung, die komfortabel ist, Kosten spart, Ruhe und Einladendes ausstrahlt. „Es geht um Leichtigkeit, Komfort und Fürsorge im täglichen Leben“, sagt David Sim selbst. Auch Mobilität sieht der Autor durch diese Brille und widmet sich ihr in einem großen Kapitel. Sie beginnt für ihn nicht erst auf der Straße, sondern schon auf dem Weg vom Wohnzimmer zum Balkon oder von der Wohnungstür zur Straße. Mobilität muss die alltäglichen Situationen nahtlos miteinander verbinden können und entsprechend kleinteilig eingeplant sein. Das erklärt Sim anhand von Beispielen aus Australien, der Schweiz oder Dänemark. Das Fahrrad spielt neben dem Zufußgehen und dem ÖPNV eine wichtige Rolle.
Zwischen den Zeilen voller praktischer Planungsansätze lässt sich viel über Städtebau im Allgemeinen und die Sicht des ehemaligen Kreativdirektors auf Design und Gestaltung lernen. Inspiration gibt es aber schon beim Durchblättern. Die Seiten sind gespickt mit hilfreichen Illustrationen und unzähligen Fotos, die reale Beispiele für David Sims Vision zeigen.

Mit 19 Jahren hörte David Sim in Schottland zum ersten Mal Vorlesungen von dem Architekten und Bestseller-Autor Jan Gehl (Städte für Menschen). Es ist also nicht verwunderlich, dass er auch sein Konzept der Sanften Stadt nach dem menschlichen Maßstab entworfen hat. Zu verstecken braucht er sich hinter Gehl aber nicht, Sims Buch wurde bereits in 20 Sprachen übersetzt, weitere fremdsprachige Versionen befinden sich in der Mache. Er arbeitete rund zwei Jahrzehnte im global agierenden Architekt*innenteam Gehls und hat inzwischen ein eigenes Büro eröffnet.


Sanfte Stadt Planungsideen für den urbanen Alltag | von David Sim | Jovis Verlag | 1. Auflage 2022 | 256 Seiten, farbige Abbildungen | ISBN: 978-3-86859-747-9 | 42 Euro


In den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten haben sich Städte immer wieder neu angepasst und neu erfunden: vor dem Hintergrund von technologischen und sozialen Entwicklungen, Kriegen, Epidemien, Naturkatastrophen, aber auch enormem wirtschaftlichen Wachstum, sprunghafter Bevölkerungszunahme und vielem anderen. Auch heute stehen die Städte vor einem hohen Transformationsdruck – besonders im Verkehrssektor. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Klimawandel. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Die Richtung, in die es bei der anstehenden Transformation der Städte gehen soll bzw. muss, ist in der breiten Bevölkerung noch nicht angekommen. Unter Fachleuten und zunehmend auch in der Politik und in den Verwaltungen gibt es hier jedoch inzwischen einen breiten Konsens, auch wenn über das Wie, das Wann und um die Finanzierung noch diskutiert und gestritten wird. Im Kern geht es dabei um die Notwendigkeit, Städte gleichzeitig klimaneutral zu machen und resilienter gegen die Auswirkungen des Klimawandels. Gegen große Hitzewellen mit Rekordtemperaturen und anhaltender Trockenheit, gegen Starkregen, Stürme und über die Ufer tretende Flüsse und Meere. Dazu kommt die demografische Entwicklung mit immer mehr Älteren und, nicht zu vernachlässigen, weitere wichtige Themen wie soziales Miteinander, allgemeine Lebensqualität und als Kernpunkt bezahlbare Mobilität für alle.

77 %

der Menschen in Deutschland
leben in Städten oder Ballungszentren.

Städte und Umland neu denken

Statistisch gesehen leben fast 70 Prozent aller Deutschen in Orten mit weniger als 100.000 Einwohnern. Warum also, so könnte man fragen, liegt der Fokus auch hierzulande auf den urbanen Zentren? Die Antwort liegt darin, dass im dicht besiedelten Deutschland mit 230 Menschen pro Quadratkilometer nicht klar abzugrenzen ist, wo die Stadt endet und wo das Land beginnt. 77 Prozent der Menschen leben in Städten oder Ballungsgebieten und nur 15 Prozent in Dörfern mit weniger als 5.000 Einwohnern. „Wir haben eine urbanisierte Gesellschaft. Das gilt auch für den ländlichen Raum“, sagt die Geografie-Professorin Ulrike Gerhard von der Universität Heidelberg. „Stadt und Umland gehören zusammen.“ Die Lebensweisen unterschieden sich kaum, Pendlerströme flössen in beide Richtungen. Das gilt in besonderem Maße für Kleinstädte und Dörfer in der Umgebung von Großstädten. Sie prosperieren, während anderswo ganze Regionen massiv unter Landflucht leiden. Vor diesem Hintergrund macht es sicher Sinn, sich über die Funktion von Städten und ihren Problemen Gedanken zu machen.
Einen anderen Ansatz stellen Stephan Jansen und Martha Wanat in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Bewegt Euch. Selber! Wie wir unsere Mobilität für gesunde und klimaneu-trale Städte neu erfinden können“ in den Mittelpunkt. Hier heißt es: „Städte sind die Stätten des Stresses, des Klimawandels, der Pandemien, aber eben seit ihrer Gründung auch die Orte der ganzheitlichen Gesundheit und der Innovation und Transformation für das, was wir Fort-Schritt nennen. Städte verdichten Probleme der Gesellschaft – und sind zugleich Lösungslabore dieser Probleme.“ Anknüpfend an Vordenker wie Prof. Dr. Jan Gehl (u.a. „Städte für Menschen“), Mikael Colville-Andersen (u.a. Copenhagenize) oder Prof. Dr. Carlos Moreno (Konzept 15-Minuten-Stadt) vertreten sie zudem ein Konzept, in dem die Rolle der Mobilität auf eine andere Art definiert wird. „Mobilität ist wichtig, weil sie überall verfügbar sein sollte, aber sie sollte nicht im Mittelpunkt stehen, so wie wir das mit dem Auto in den letzten 100 Jahren getan haben“, so Martha Marisa Wanat. „Im Vordergrund sollte immer das Soziale sein und immer die Lebensqualität der Bewohner*innen des Quartiers – mit Spiel- und Sportplätzen, Grünflächen, Cafés und Läden für Dinge des täglichen Bedarfs.“ Tatsächlich lässt anhand der Vergangenheit gut zeigen, wie sehr die Zunahme des Autoverkehrs dazu beigetragen hat, nachbarschaftliche Beziehungen zu zerstören, Rad- und Fußverkehr zu behindern und das Aussterben der Nahversorgung vor Ort voranzutreiben.

„Mobilität sollte nicht im Mittelpunkt stehen, so wie wir das mit dem Auto in den letzten 100 Jahren getan haben. Im Vordergrund sollte immer das Soziale sein und immer die Lebensqualität der Bewohner*innen des Quartiers.“

Martha Marisa Wanat

Gesunde Stadt der kurzen Wege

Anfang des Jahres hat AGFS-Vorständin Christine Fuchs im Veloplan-Interview (Ausgabe 01/2022) die neuen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW e.V. beschrieben. „Unsere Vision ist die einer gesunden Stadt. Die Frage ist, wie vereinbaren wir die Bedürfnisse der Nahmobilität mit einer grünen Infrastruktur (…) sowie einer blauen Infrastruktur, mit der wir für eine Bewässerung sorgen und Städte besser vor Hochwasser schützen.“ Nicht zu vergessen seien neben Umweltgesichtspunkten auch Umfeldthemen, also Aufenthaltsqualität, Stadt der kurzen Wege, Bewegung, Sicherheit etc. „Wir vertreten die Auffassung, dass sich die Nahmobilität und die grüne und blaue Infrastruktur hervorragend ergänzen.“
Wie das aussehen kann, hat Carlos Moreno, Professor für komplexe Systeme und intelligente Städte an der Pariser Sorbonne ausgearbeitet und zusammen mit der Bürgermeisterin von Paris Anne Hidalgo in Teilen in der französischen Hauptstadt bereits umgesetzt. Die Stadt der Nahmobilität oder der kurzen Wege ist für ihn eine 15-Minuten-Stadt, das heißt alles, was die Menschen benötigen, ist innerhalb von einer Viertelstunde ohne Auto erreichbar – für das Umland geht er von 30 Minuten aus. Dieses Konzept beschreibt er als einen neuen, „holistischen“ Ansatz: Zum einen würde damit der nachhaltige Konsum in der Nachbarschaft gefördert und zum zweiten die Lebensqualität in den Quartieren und Stadtvierteln bleibend erhöht. Mit dem Konzept verbunden ist für ihn die Notwendigkeit, angesichts der Klimakrise unsere Gewohnheiten zu ändern. “Wir müssen einen neuen Lebensstil entwickeln“, erläutert Prof. Moreno. Die polyzentrische 15-Minuten-Stadt sei mit verschiedenen kaskadierenden Effekten dazu der richtige Weg. „Wir müssen einen neuen Weg aufzeigen, wir brauchen Transformation und wir brauchen ein Bekenntnis dazu.“

Die achtspurige Avenue des Champs Élysées zählt wohl zu den bekanntesten Stadtstraßen der Welt. Bis 2030 soll dort der Autoverkehr weitgehend verdrängt werden.

Großer Veränderungsdruck

„Die Politik und die Bevölkerung sind in Deutschland sehr träge, wenn es um Veränderungen im Verkehr geht“, sagt Lars Zimmermann vom Hamburger Büro Cities for Future. „Aber der Veränderungsdruck ist da und vielen ist klar, dass die Veränderungen viel schneller und stärker passieren müssen.“ Die Mission des Büros ist es, Städten, Gemeinden und Unternehmen zu helfen, die Klimaziele zu erreichen und damit gleichzeitig lebenswertere Städte zu gestalten. Für Lars Zimmermann, der fast ein Jahrzehnt in den Niederlanden gelebt hat, ist der Wandel möglich und machbar: „Die Zukunftsvision für Deutschland ist in den Niederlanden bereits Realität!“ Letztlich käme es auf den Willen an. „Der Wandel ist möglich, aber wir brauchen ein ganz anderes Tempo.“ Letztlich hätte die Corona-Pandemie eindeutig gezeigt, was alles machbar sei, wenn man Veränderungen wolle. Diese Erkenntnis lasse sich auch auf andere Bereiche übertragen. Dem Radverkehr müsse im Rahmen einer Gesamtstrategie eine höhere Priorität eingeräumt werden als dem Autoverkehr. Radfahren müsse als einfachste, logischste und selbstverständlichste Verkehrsart etabliert werden, die für alle den größten Benefit bietet. Insgesamt sieht er große Chancen für einen grundlegenden Wandel. „Die Ausgangsvoraussetzungen für Veränderungen waren noch nie so gut.“

Unternehmen reagieren

Den Veränderungsdruck spüren mittlerweile nicht nur Fachleute aus den Bereichen Stadtplanung und Verkehr oder Lokalpolitiker; auch die Unternehmen sehen für sich und mit Blick auf die Kundinnen und Kunden einen deutlichen Veränderungsbedarf. Bei größeren Unternehmen spielen dabei die ESG-Kriterien (Environmental Social Governance, deutsch: Umwelt, Soziales und Unternehmensführung) der Vereinten Nationen bzw. die daraus resultierenden Maßnahmen der EU eine immer größere Rolle. Unternehmen müssen sich heute beispielsweise fragen, wie die Umweltbilanz ihres Fuhrparks aussieht oder wie die Mitarbeitenden ins Unternehmen kommen. Die Deutsche Telekom arbeitet beispielsweise aktuell an einer App für Mobility as a Service und will ab dem 1. Januar 2023 bei neuen Geschäftsfahrzeugen ausschließlich auf Elektromodelle setzen.
Auch der Handel sieht mehr und mehr die Notwendigkeit für kurze Wege und gute Erreichbarkeit ohne Auto. Beispiel Ikea: Statt großflächiger Häuser auf der grünen Wiese gibt es jetzt sogenannte Planungsstudios, die eine Brücke bauen zwischen dem Angebot im Internet und dem Erlebnis vor Ort. In den wenige Hundert Quadratmeter großen Geschäften wird ein ausgewähltes Sortiment gezeigt, inklusive Musteroberflächen oder -stoffen. Kunden können sich beraten lassen, planen und sich die ausgesuchte Einrichtung, alternativ zur klassischen Abholung, bequem nach Hause liefern oder auch direkt aufbauen lassen. Andere Anbieter, wie die Rewe-Gruppe, arbeiten im Lebensmittelhandel mit innovativen Filialkonzepten und speziell auf die Bedürfnisse vor Ort ausgerichteten Angeboten. Dazu gehören Mini-Shops in hochfrequentierten Lagen, wie Einkaufsstraßen, Bahnhöfen oder Tankstellen, ebenso wie Geschäfte mit einem breiten Feinkost-Sortiment und angeschlossener hochwertiger Gastronomie, die auch gut situierte Kunden zum Stöbern und Verweilen einlädt. Auch die Discounter drängen inzwischen in die Innenstädte und passen das Konzept und das Sortiment entsprechend an. Statt Großpackungen und Einkaufswagen gibt es alles für den täglichen Bedarf, Frischwaren und auch gekühlte Getränke. Dem Vernehmen nach arbeitet man sowohl bei Aldi als auch bei der Schwarz Gruppe (Lidl und Kaufland) mit Hochdruck daran, bestehende Filialen mit großen Parkflächen zu Lade- und Mobilitätsstationen auszubauen und viele kleine Filialen neu in den Vierteln und nah bei den Menschen zu eröffnen.

Die urbane Zukunft kommt

Wie sehen Städte und Stadtzentren künftig aus? Was folgt nach dem Niedergang der großen Kaufhäuser und wie gestaltet man die Transformation? Auch hier lohnt sicher ein Blick in die französische Hauptstadt. Bis 2030 zu den Olympischen Spielen in Paris 2024 soll die viel befahrene Champs-Élysées für 250 Millionen Euro komplett umgestaltet und zu dem werden, was sie einmal war: eine Prachtstraße mit viel Platz zum Flanieren und Verweilen – nicht nur für Touristen, sondern auch wieder für die Einwohner der Stadt. Wer nicht so lange warten will, kann sich auch bei der „Urban Future 2023“ informieren. Europas größtes Event für nachhaltige Städte findet im kommenden Jahr vom 21. bis 23. Juni in Stuttgart statt. Zur hochkarätigen Konferenz, auf der sich „Zukunftsmacher“ und „top-level city leaders from hundreds of cities in Germany, Europe and beyond“ treffen, werden 2.500 Gäste erwartet. Mehr unter urban-future.org


Bilder: stock.adobe.com – trattieritratti, PCA-Stream

Wie wir nachhaltig in die Gänge kommen: Ein Rad-Geber

von Alexandra Hildebrandt & Claudia Silber

Mikromobilität ist als Sammelbecken für verschiedene Fortbewegungsmittel ein sehr breiter Begriff. Gemein ist vielen dieser Verkehrsmittel, vor allem aber verschiedenen Fahrradsegmenten, dass sie gerade einen Boom erleben. Und dass sie viele Vorteile gegenüber Pkws mitbringen. Die Herausgeberinnen von Zukunft Mikromobilität nehmen den Status quo auf und zeigen gemeinsam mit zahlreichen Autor*innen aktuelle Trends auf. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


E-Bikes, Lastenräder oder E-Scooter sind, zumindest nach Auffassung von Claudia Silber und Alexandra Hildebrandt, den Herausgeberinnen dieses Buchs, die Zukunft der urbanen Fortbewegung. Auf dem Weg zu dieser wichtigen Rolle hat die Mikromobilität in den vergangenen Jahren einiges in Bewegung gesetzt – und wird das auch in der nahen Zukunft tun.
Zukunft Mikromobilität enthält Beiträge aus der Mobilitätsforschung und der Wirtschaft. Die verschiedenen Autorinnen sind reich an Expertise und besetzen in diesen Bereichen und der Verbandsarbeit teils führende Positionen. Konkret erklären sie verschiedene Fahrradtypen und die Historie des Verkehrsmittels, entwickeln eine Cradle-to-Cradle-Vision der Fahrradindustrie und beleuchten die Rolle der E-Scooter. Nicht alle Beiträge besitzen inhaltliche Schwere, die Autorinnen erzählen auch anekdotisch oder geben praktische Tipps. Die Bandbreite ist so groß wie die Klammer der Mikromobilität. Es geht um die die Mobilität von Mitarbeiter*innen, nachhaltigen Tourismus oder Radlogistik.
Auch wenn wohl niemand, der in der Mobilitätsbranche oder Stadtentwicklung arbeitet, in diesem Buch nur Neues lesen wird, so ist es trotzdem ein Stück Verkehrswende im Taschenbuchformat. Und es vermag vielleicht, die verschiedenen Akteure in diesem Feld ein Stückchen näher zusammenzubringen. Ein gutes Beispiel sind die Kapitel am Ende des Buches. Auf zehn Thesen, wie der Verkehr der Zukunft aussehen wird, folgt ein Glossar, das Netzwerke für eine nachhaltige Verkehrswende vorstellt. Dazu zählen Industrieverbände, Kampagnen-Bündnisse und Thinktanks. Die Botschaft, die vermutlich dahinter steht, lautet: „Verkehrswende geht nur zusammen. Vernetzt und unterstützt euch!“

Claudia Silber leitet die Unternehmenskommunikation beim Versandhändler Memo AG und ist an deren Nachhaltigkeitsberichten beteiligt. Sie ist studierte Germanistin.

Dr. Alexandra Hildebrandt studierte Psychologie sowie Literatur- und Buchwissenschaft und hatte Führungspositionen in der Wirtschaft inne. Sie gibt als freie Publizistin Bücher zu Themen wie unternehmerischer Verantwortung, Digitalisierung und der Energiewirtschaft heraus.


Zukunft Mikromobilität Wie wir nachhaltig in die Gänge kommen: Ein Rad-Geber | von Alexandra Hildebrandt & Claudia Silber (Hg.) | Büchner Verlag | 1. Auflage 2022 | ca. 300 Seiten | ISBN: 978-3-96317-313-4 | 25 Euro


Bilder: Carina Koch, Nicole Simon

Antwerpen ist ein Aufsteiger in den Fahrrad-Charts. Die flämische Metropole tut viel für den Radverkehr – als Ergebnis rechter Politik. Der Anteil der Radlerinnen wächst. Doch Velo-Aktivistinnen sehen die Stadt an einem kritischen Punkt. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Antwerpen, größte Stadt in Belgien und Europas zweitwichtigster Hafenstandort, wurde jüngst mit dem dritten Platz unter den „The World’s Most Bicycle-Friendly Cities“ ausgezeichnet.

Die Stadt liegt in einem Fahrradland, ist flach und seit Jahrzehnten gehören Fahrräder zum Stadtbild. Doch als Vorreiter in Sachen Fahrradfreundlichkeit hat sich die belgische Hafenstadt Antwerpen in der Vergangenheit nicht aufgedrängt. Im August frohlockte jedoch der konservative Vizebürgermeister Koen Kennis auf Twitter: Die Großstadt unweit der Nordseeküste, wo Kennis unter anderem die Verkehrspolitik verantwortet, hatte soeben den dritten Platz im „The World’s Most Bicycle-Friendly Cities“-Index erreicht, publiziert von der Versicherung Luko. Zwischen den bekannten Fahrradhochburgen Utrecht, Kopenhagen, Münster und Amsterdam überraschte der Name Antwerpen dann doch. Die öffentliche Freude des Politikers rief prompt allerdings auch ein Echo bei Fahrradaktivist*innen hervor, die über die Methodik der Rangliste schimpften und allerlei offene Themen ansprachen. So sehen die Unfallstatistiken in Antwerpen nicht gerade erfreulich aus, aber es gibt viele Radläden und autofreie Aktionstage, was das Ranking positiv beeinflusste. Doch aus welchen Motiven auch immer ein Versicherungsunternehmen eine solche Übersicht veröffentlicht – für den Blick auf eine spannende Fahrradstadt bietet sie einen berechtigten Anlass.

„Ich möchte keine Stadt wie Amsterdam haben, wo sich das Zentrum nur Reiche und Touristen leisten können. Das heißt aber nicht, dass wir Autos anziehen wollen.“

Koen Kennis,
Vizebürgermeister

Mobilität als beherrschendes Thema

Wer sich an das Antwerpen der 90er-Jahre erinnert, wird bei der Fahrt ins Stadtzentrum überrascht sein. Wo es früher Schlaglöcher, graue Wände, heruntergekommene Gebäude und sehr viel lauten Autoverkehr gab, hat sich das Bild heute verändert. Autos sind immer noch viele da, aber Antwerpen ist eine helle Stadt im Wandel, in der Verkehr ganz oben auf der politischen Tagesordnung steht. Koen Kennis, der Vizebürgermeister, gehört ebenso wie das Stadtoberhaupt Bart De Wever der N-VA an, einer separatistisch-nationalistisch flämischen Gruppe, die seit 2012 regiert, aber bei der Wahl 2018 zu einer Koalition mit den Sozialisten gezwungen wurde. In Kennis‘ Ressort fällt auch die Verantwortung für die Finanzen. „Aber wenn ich mir meine Arbeitsverteilung anschaue, hat der größte Anteil mit Mobilität, Infrastruktur und Verkehr zu tun“, sagt der Politiker. Ein riesiges Projekt beherrscht seit Jahrzehnten das Geschehen: der Lückenschluss der Ringautobahn, die Antwerpen umgibt. Hier geht es inzwischen nicht mehr nur um eine mehrspurige Verbindung im Norden der Stadt. Es geht um „The Big Link“ – die große Verbindung.
Seit mehr als fünf Jahren kursiert dieser Begriff, mit dem ein gesamter Umbauprozess der Stadt gemeint ist. Denn es geht zum einen um den lange fälligen Lückenschluss der Ringstraße in der Handels- und Hafenstadt, zum anderen aber inzwischen auch um die Umgestaltung des öffentlichen Raums und der Verkehrsbeziehungen in Antwerpen. Es geht um bessere Anbindungen, mehr Parkflächen, eine unterirdische Führung des motorisierten Verkehrs – und um bessere Lebensqualität. In diesem Prozess hat die Stadtverwaltung nicht nur Experten eingebunden, sondern auch die Bürger und die Zivilgesellschaft. „Es gibt in diesem Verbund etliche Vertreter, die klar gegen Autos sind, und in diesem Projekt bleiben wir im Gespräch miteinander. Wir verfolgen das Ziel, den Modal Split in unserer Stadt zu verändern, das wird Arbeit für ein Jahrzehnt sein, aber wir brauchen einen Modal Shift, damit die Stadt für alle erreichbar bleibt“, sagt Kennis, dessen Partei im konservativen Spek-trum eher dem rechten Rand zugeordnet wird.
Sieht man die neue Rangliste oder Antwerpens positive Bewertung im Copenhagenize-Index, fährt man mit offenen Augen durch Einfallstraßen und die City, dann muss man sich schon über die Auseinandersetzungen wundern, die Kennis mit den politischen Widersachern führt. In Antwerpen fällt es nicht schwer, neu gebaute Fahrradwege, Brücken für Fußgängerinnen und Radfahrerinnen, spezielle Ampeln und weitere Infrastruktur zu finden, die man sich in vielen deutschen Städten wünschen würde. Es fällt aber auch nicht schwer, mit dem Auto überall hinzufahren, wenn man nicht im Stau steckt – bis ins Herz der Stadt und unter den Bahnhof kommt man bequem, ohne große Einschränkungen oder Kosten. Antwerpen ist eine Großstadt im Wandel, die sich in vielem von anderen Städten unter den fahrradfreundlichen Großstädten unterscheidet. Anders als im nahe gelegenen Gent, im niederländischen Musterbeispiel Amsterdam, in Münster oder anderen vergleichbaren Städten treibt keine grüne politische Gruppe den Umbau voran, gibt es keine Strafgebühren oder Abschaffung von Parkplätzen auf großer Linie. „Wahrscheinlich sind wir in der Minderheit“, sagt auch Renaat Van Hoof, der Vorsitzende des Radfahrerverbands (Fietserbond) in Antwerpen.

In Antwerpen wurde in den letzten Jahren viel Infrastruktur für den Radverkehr neu errichtet.

Investment findet Anerkennung

Die Ausgangslage ist also spannend: Eine klar konservative Bewegung verantwortet politisch die Modernisierung einer international einflussreichen, florierenden Handels- und Wissenschaftsstadt. Von den Radak-tivistinnen und der grünen Opposition wird Kennis als Autopolitiker angegriffen. Doch er sieht das anders. Das Auto gehöre eben zur Mobilität. „Wenn du die Mobilität tötest, tötest du die Stadt“, sagt Kennis, man halte Menschen aus der City, wenn man – wie beispielsweise in Oslo – die Zufahrt für Autos beschränke. „Ich möchte keine Stadt wie Amsterdam haben, wo sich das Zentrum nur Reiche und Touristen leisten können. Das heißt aber nicht, dass wir Autos anziehen wollen“, sagt der Politiker. Zugleich verweist er auf den Umbau, der tatsächlich stattfindet. Seit 2020 widmet Antwerpen Stück für Stück Straßen im historischen Stadtkern um, Parkplätze verschwinden dort, die Straßen werden zu „Wohnstraßen“ mit Tempo 20 und Vorrang für Fußgänger. Geht es um die Gesamttendenz für Radfahrerinnen, dann stützen die Praktikerinnen den Eindruck, den wir beim Besichtigen der Stadt gewinnen. „Wir haben viele Besucher aus den Niederlanden, und von denen höre ich sehr viel Gutes über die Entwicklung in Antwerpen“, sagt Gaston Truyens, der für die Organisation Antwerp By Bike sowohl Spaziergänge als auch Radtouren leitet. „Die Investitionen der vergangenen zehn Jahre haben dazu geführt, dass sich Radfahrende sicherer fühlen“, sagt der ehemalige Manager eines Golfclubs, der selbst erst spät zum Fahrradfahrer wurde. Koen Kennis, der zuständige Politiker, lässt keine Zweifel, dass Fahrräder für ihn wichtige Elemente der Verkehrswende sind. Er setzt auf drei Faktoren, um den Anteil der Nut-zerinnen zu erhöhen: Harte Faktoren, also den Bau von Infrastruktur, weiche Faktoren, also das „Nudging“ der Menschen, etwa durch gezielte Ansprache der Belegschaften in Unternehmen, und die digitale Unterstützung der modernen Mobilität, etwa durch das Verzahnen von Informationen und das Zusammenführen von ÖPNV und Mikromobilität in Apps und an Hubs in der Stadt. Es ist bemerkenswert, dass auch Kriti-kerinnen der Stadtregierung viele Erfolge einräumen. Allen voran investiert die Kommune ebenso wie die flämische Regionalregierung und die Region Antwerpen massiv ins Netzwerk der Radwege, vor allem in eine separate Infrastruktur für die Velos. „Man muss sagen, dass die neue Stadtverwaltung hier in den vergangenen zehn Jahren eine qualitativ hochwertige Infrastruktur geschaffen hat, mit breiteren Radwegen und weiteren baulichen Maßnahmen“, sagt der Bauingenieur Dirk Lauwers, der sich als Experte für urbane Mobilität einen Namen gemacht hat und an der Universität in Antwerpen lehrt. Im Rathaus verweist man darauf, dass es für Radfahrerinnen mehr Brücken gebe als in Kopenhagen – die lägen zwar nicht so attraktiv über Wasser, seien aber sehr sinnvoll für den sicheren Verkehr. Das große Leuchtturmprojekt in Sachen Radmobilität ist jedoch eines am Fluss und zugleich ein großer Zankapfel. Kennis und seine Verbündeten wollen es unbedingt haben. Es geht um eine Radbrücke über die Schelde, um Antwerpen mit den Kommunen im Westen zu verbinden. 2023 oder 2034 soll die Arbeit an dem Bau beginnen, sofern die Finanzierung geklärt und die politischen Entscheidungen getroffen werden. „Es geht darum, Hunderte von Millionen in Fahrradinfrastruktur zu investieren“, sagt Koen Kennis, „das ist wichtig, weil es weitere Effekte hervorrufen kann.“ Durch eine solche Brücke über den breiten Fluss, der hier beim international relevanten Seehafen schon ins Meer übergeht, erwartet die Politik sich nicht nur einen symbolischen Erfolg, sondern weniger Auto-pendlerinnen in den Tunneln und einen positiven Einfluss auf den Modal Shift in der Region. Koen Kennis kann in seinen Präsentationen darauf verweisen, dass der Anteil der Radfahrerinnen am Verkehr bei allen Fahrten im langfristigen Trend gewinnt – während der Pkw-Anteil hier langsam zurückgeht. Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang sei auch das Bikesharing, das Antwerpen bereits 2011 einführte. Antwerpen hat hier mit „Velo“ ein eigenes System mit inzwischen 305 Stationen, an denen Kunden mit einer Mitgliedskarte die Räder leihen können. Inzwischen stehen mehr als 5.200 Leihräder zur Verfügung, in jüngster Zeit setzt die Region hier auch auf eine Kooperation mit dem E-Sharing-Bike-Anbieter Donkey Republic. „Zugleich werden immer mehr Verbindungen in die Stadt fertiggestellt, und so wird Radfahren in die Stadt immer attraktiver“, sagt Kennis.

„Das Problem ist, dass die Stadtregierung viel für Fahrräder (…) tun möchte, solange sie dafür nicht Autos Platz wegnehmen muss.“

Renaat Van Hoof, Fietserbond

Investitionen in Fahrradparkanlagen sollen dazu beitragen, den innerstädtischen Anteil des Pkw-Verkehrs auf 20 bis 15 Prozent zu drücken.

Seit 2011 gibt es in Antwerpen ein Bikesharing-Angebot mit derzeit über 5200 Leihrädern.

Ambitionierte Ziele für die Stadt

Über diesen Erfolg sind sich beinahe alle einig. Doch die Frage ist, wie man mit dem Pull-Effekt umgehen soll. Und hier ist Antwerpen ebenso spannend. Kennis nennt das Ziel für die Transportregion: Der individuelle Pkw-Verkehr soll auf 50 Prozent gedrückt werden, was für die innere Stadt wohl eher einen Anteil von 20 bis 25 Prozent bedeuten werde. „Das ist natürlich eine Herausforderung“, sagt der Politiker. Bei Arbeitspend-lerinnen waren es vor Corona noch etwas mehr als 40 Prozent, in der Freizeit immer noch zwischen 30 und 40 Prozent, die auf den Pkw zurückgriffen. Der Politiker geht aber davon aus, dass vor allem der ÖPNV verbessert werden kann, dass bereits gebaute Park-and-Ride-Flächen an Akzeptanz gewinnen und die Mikromobilität den Verkehr in der Stadt entsprechend verändern wird. Doch Beobachter wie Renaat Van Hoof und Dirk Lauwers sehen die Stadt gewissermaßen als Opfer ihres eigenen Erfolgs. „Das Problem ist, dass die Stadtregierung viel für Fahrräder und die Infrastruktur tun möchte, solange sie dafür nicht Autos Platz wegnehmen muss“, sagt Van Hoof. Dass es vor allem im Kern bei zunehmendem Verkehr von Radlern, E-Bikern, Scooter-Fahrerinnen und bestehendem Motorverkehr eng zugeht, lässt sich gut beobachten. Zumal in Antwerpen bidirektionale Radwege beiderseits entlang der großen Hauptstraßen laufen, an Kreuzungen somit viele Konflikte auftreten. „Es ist häufig sehr voll, und so herrscht auch ein bisschen das Recht des Stärkeren“, beobachtet City-Guide Troyens. Auch der motorisierte Radverkehr bringt in diesem Gemisch neue Probleme. Die Stadt reagiert, indem sie an manchen Radwegen ein 25-Stundenkilometer-Schild aufhängt. Professor Dirk Lauwers sieht den dichteren Verkehr und sagt: „Das Modell Antwerpen ist an seiner Grenze.“ Er kritisiert die Politik, für die gelte: „Parken ist die ‚heilige Kuh‘.“ Solange die Politik den An-wohnerinnen gratis Parkgenehmigungen erteile, ohne die Parkplatzstandards für Neubauprojekte oder eigene unterirdische Parkplätze für Autopendler*innen schaffe, sei das Pendeln immer noch attraktiver als Alternativen, findet Lauwers.
Kennis sieht diese Zwangsläufigkeit nicht. Er verweist auf die 662 Kilometer Radinfrastruktur in der Stadt, auf den Ausbau des Netzwerks und den Lückenschluss im System. Die Zahl ist wohl schöngerechnet, aus der Verwaltung liest man eher von 576 Kilometern faktisch vorhandener Infrastruktur. Aber auch das ist beachtlich. Hier klingt Kennis genau wie Radverkehrsplaner in anderen Städten. Aber ohne das Auto wird eben nicht gedacht. „Wir versuchen, die Autos so lange wie möglich auf den Hauptstraßen zu halten, wo es eine separate Fahrradinfrastruktur gibt“, erklärt Kennis den Ansatz. Wahrscheinlich wird der dichtere Verkehr in der Innenstadt dann auch zu manchem „Visionswechsel“ führen, sagt Kennis, etwa zum Umwandeln von normalen Straßen in Fahrradstraßen. Für ihn ist Antwerpen heute bereits eine 15-Minuten-Stadt, wo jeder Punkt innerhalb des Rings mit dem Rad in einer Viertelstunde erreichbar sei. Deswegen sieht er keinen Anlass für einen radikalen Bruch, sondern möchte den Kurs schrittweise fortsetzen.


Bilder: Andreas Dobslaff, stock.adobe.com – lantapix, Philippe Verhoeven

Ein wegweisendes Förderprojekt für Fahrradstraßen hat die Stadt Offenbach am Main von Sommer 2018 bis Sommer 2022 realisiert. Insgesamt sind auf sechs Radachsen 18 Kilometer fahrradfreundliche Infrastruktur, davon neun Kilometer Fahrradstraßen, neu entstanden. Die dadurch etablierte Marke Bike Offenbach soll auch weiterhin für Infrastrukturmaßnahmen rund ums Fahrrad in der kleinen Großstadt stehen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


„Radfahrende sind nun sicherer und schneller in und um Offenbach unterwegs“, sagt Planungsdezernent Paul-Gerhard Weiß. „Damit wollen wir Menschen aller Generationen zum Umsatteln motivieren – nur so können wir die Straßen in unserer wachsenden Stadt entlasten.“ Offenbach ist in den vergangenen zehn Jahren um 20.000 Einwohnerinnen auf eine Bevölkerung von mehr als 141.000 gewachsen: „Schon daher brauchen wir einen neuen Mobilitätsmix, damit wir nicht alle gemeinsam im Stau stehen,“ so Weiß. „Mit einem zügig ausgebauten Radverkehr können wir außerdem die Lebensqualität im Wohnumfeld verbessern und Standortvorteile schaffen.“ Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) hatte im Frühjahr 2018 die Mittel für das Verbundprojekt Fahrrad-(Straßen-)Stadt Offenbach – genannt Bike Offenbach – bewilligt und stellte dafür 4,53 Millionen Euro aus den Mitteln der Nationalen Klimaschutzinitiative zur Verfügung. Verbundpartnerin ist die benachbarte Stadt Neu-Isenburg, die ebenfalls eine Förderzusage bekam. Die Gesamtkosten des über die Rhein-Main-Region hinaus wegweisenden Projekts liegen bei rund 6,5 Millionen Euro. Das Projekt ist Teil der städtischen Strategie, umwelt- und klimafreundliche Mobilität zu fördern. Bürgermeisterin Sabine Groß betont die Bedeutung von Bike Offenbach für den Klimaschutz. „Wir alle haben auch in diesem weiteren Hitzesommer erlebt, dass der Klimawandel bereits jetzt Realität ist. Jeder Kilometer, der nicht mit dem Auto zurückgelegt wird, zahlt auf das Klimaschutzkonzept der Stadt Offenbach ein. Eine gut ausgebaute Infrastruktur bietet neue Anreize, mehr Strecken mit dem Fahrrad zu bewältigen.“ Für die Umsetzung wurde ein Expertinnenteam zusammengestellt, zu dem unter anderem das Frankfurter Planungsbüro „Radverkehr Konzept“ und der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club Offenbach (ADFC) gehörten. Mit dem Projektmanagement beauftragte das Stadtplanungsamt die bei den Stadtwerken angesiedelte OPG Offenbacher Projektentwicklungsgesellschaft mbH. Zudem erhielt das Team wissenschaftliche Unterstützung. Ein Team der Hochschule für Gestaltung (HfG) Offenbach erarbeitete Designkonzepte für die Fahrradstraßen, und die AG Mobilitätsforschung der Goethe-Universität Frankfurt organisierte eine repräsentative Umfrage zum Radfahren vor Ort. Die Hochschule Darmstadt übernahm das Monitoring und die wissenschaftliche Begleitung über die gesamte Dauer des Förderprojekts.

„Mit ihrem Antrag für ein ganzes Netz von Fahrradstraßen war die Stadt Offenbach bundesweit Vorreiter.“

Martin Lanzendorf, Professor für Mobilitätsforschung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Mit Teststrecke im Zentrum lernen

Wie sollten Fahrradstraßen und ihr Umfeld gestaltet sein, damit sie als sicher gelten und gerne befahren werden? Diese Frage kam auf, nachdem im Herbst 2018 eine erste Teststrecke eröffnet worden war – bewusst kein Abschnitt in der Peripherie, sondern eine viel befahrene Route ins Zentrum der Stadt. „So konnten wir wirklich etwas aus unseren ersten Erfahrungen lernen“, meint OPG-Projektmanager Ulrich Lemke. Tatsächlich wurde die Einrichtung der Fahrradstraße an sich ebenso diskutiert wie ihre Gestaltung. Einige hielten die Ausweisung der sogenannten Dooring-Zone nahe an parkenden Autos irrtümlich für einen ausgewiesenen Radweg, sodass die Stadt die Gestaltung in Zusammenarbeit mit dem HfG-Team optimierte und die Bürgerinnen diesbezüglich mitentscheiden ließ. Als immer noch viele Autos zu schnell unterwegs waren, richtete das Planungsteam in Abstimmung mit der städtischen Verkehrskommission eine Busschleuse mit Einbahn-Regelung ein, die seitdem den Autoverkehr stadteinwärts von der Fahrradstraße fernhält. In den neu gestalteten Fahrradstraßen im Zentrum sowie in den Stadtteilen hat der Radverkehr Vorrang und damit auch Vorfahrt, die Radelnden dürfen nebeneinanderfahren, und es gilt maximal Tempo 30 für alle. Für Autofahrerinnen gilt, dass Anlieger hineinfahren dürfen, der Durchgangsverkehr aber andere Routen wählen muss. Infowürfel informierten über die neuen Regeln, und die neu definierten Abschnitte erhielten gerade in den Kreuzungsbereichen einen leuchtend roten Anstrich.

Unsere Stadt neu erfahren: Unter diesem Motto bot das Projektteam regelmäßig Radtouren über die neuen Verbindungen an.
Vor Ort für Bike Offenbach im Einsatz: Sukhjeet Bhuller und Ulrich Lemke von der bei den Stadtwerken angesiedelten OPG Offenbacher Projektentwicklungsgesellschaft mbH waren mit Infoständen unterwegs, wenn im Stadtgebiet neue Fahrradstraßen entstanden.

Öffentlichkeitsarbeit schafft Akzeptanz

Vor der Einrichtung jedes neuen Abschnitts gab es umfangreiche Informationen: Mitteilungen für die Medien und auf Social Media, Flyer für die Anwohnerinnen und Stände des Projektteams vor Ort. Um die Stadt neu zu erfahren, fanden jeweils im Frühjahr und Sommer Radtouren für interessierte Bürgerinnen statt. Beim alljährlichen Stadtradeln trat ein Team von Bike Offenbach an, es gab Veranstaltungen zum Einrollen neuer Abschnitte und Infostände bei Straßenfesten. In Zeiten des pandemiebedingten Lockdowns wurden die Infoveranstaltungen und Workshops online angeboten.
Durch die umfassende Öffentlichkeitsarbeit wuchs die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung, auch wenn der Eingriff in bestehende Verkehrsstrukturen ein Gewöhnungsprozess blieb. So wurde auch dieses Projekt – wie viele Verkehrsthemen – kontrovers diskutiert. Den einen ging es nicht schnell genug, sie wollten Autos möglichst ganz aus der Innenstadt verbannen. Die anderen kritisierten schon kleinste Einschränkungen für den Pkw-Verkehr, der aber in der wachsenden Stadt mitten im Ballungsraum Rhein-Main nur einigermaßen fließen kann, wenn mehr Menschen aufs Rad umsteigen. „In Offenbach ist die Anzahl der zugelassenen Pkw von 2011 bis 2021 auf 67.190 und damit um 16,11 Prozent angestiegen. In einer kompakten und dicht besiedelten Stadt wie Offenbach wächst damit die Flächenkonkurrenz weiter an“, so Bürgermeisterin Groß. Bike Offenbach fährt hier einen Mittelweg. Beim Auf- und Ausbau der Fahrradstraßen ging es um ein vernünftiges Miteinander aller Verkehrsteilnehmerinnen – nicht um deren Trennung. Insgesamt scheint das Projekt viel Rückenwind zu erfahren. Wie eine gemeinsame Umfrage der Frankfurter Goethe-Universität und der Offenbacher Hochschule für Gestaltung zeigte, finden fast zwei Drittel aller Autofahrerinnen und 83 Prozent der Radfahrer*innen die Idee der Fahrradstraßen gut.
Die Forschungsarbeit der interdisziplinär arbeitenden Teams, auch zur bereits erwähnten Gestaltung der Fahrradstraßen, ist in die hessenweite Exzellenzforschung LOEWE integriert und hat damit Bedeutung über die Stadtgrenzen hinaus. „Mit ihrem Antrag für ein ganzes Netz von Fahrradstraßen war die Stadt Offenbach bundesweit Vorreiter, was unser Interesse geweckt hat“, berichtet Prof. Dr. Martin Lanzendorf, Professor für Mobilitätsforschung an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. „Zu Fahrradstraßen und deren Gestaltung gab es davor nahezu keine Forschungen.“ Die Hochschule Darmstadt hat im Rahmen des Monitorings bis Ende September 2022 diverse Vor- und Nachzählungen sowie Geschwindigkeitsmessungen in den Fahrradstraßen und Befragungen realisiert.
Auch die Ausgliederung des Projektmanagements hat Vorbildcharakter. In vielen Kommunen dämpfen personelle Engpässe gerade bei der Verkehrsplanung die Bemühungen, den Ausbau der Radinfrastruktur voranzutreiben. Die Schader-Stiftung aus Darmstadt empfiehlt, in solchen Fällen dem Beispiel aus Offenbach zu folgen. Die Kommunen sollten bestehende Strukturen (wie in diesem Beispiel die OPG bei den Stadtwerken), die entsprechende Erfahrungen und Personalkompetenzen haben, mit der Umsetzung der verschiedenen Projekte und Radverkehrskonzepte betrauen.
Die OPG arbeitet auch daran, die Radverbindungen in den Kreis Offenbach hinein zu verbessern. Das Potenzial zum Umsatteln ist groß, weiß Verkehrsexperte Professor Jürgen Follmann von der Hochschule Darmstadt: „Grundsätzlich sind 30 Prozent der mit dem Auto gefahrenen Wege kürzer als drei Kilometer.“ Und viele Kreisgemeinden wie Dreieich oder Heusenstamm liegen nur bis zu acht Kilometer entfernt: „Das ist gerade für E-Bikes eine angenehme Distanz.“

Vorher – nachher: „Anlieger frei“ gilt nun auch für die Taunusstraße. Damit wird das gesamte Offenbacher Nordend als Wohngebiet gestärkt.

Neue Behörde treibt Mobilitätswende weiter voran

Bisher wurden in Verlängerung der neuen Fahrradstraßen in Offenbach weitere neun Kilometer Radachsen – mit Schutzstreifen oder als neue Fahrrad- beziehungsweise Geh- und Radwege – ausgewiesen sowie Kreuzungen und Knotenpunkte fahrradfreundlich gestaltet. Gemeinsam mit Neu-Isenburg, dem Verbundpartner im Förderprojekt, und der Landesbehörde Hessen Mobil gelang es zudem, bis Frühjahr 2022 einen neuen Radweg entlang der Hauptverbindungsstraße zwischen beiden Orten zu realisieren. Dafür wurde die zuvor vierspurige Sprendlinger Landstraße im Rahmen eines zweijährigen Verkehrsversuchs auf zwei Spuren für Autos verringert, wodurch der Radverkehr nun sicherer und schneller unterwegs ist.
Die Marke Bike Offenbach und die Bemühungen in Richtung Mobilitätswende bleiben der Stadt auch nach Ablauf des Förderprojekts erhalten. „Dass wir im Juni 2022 das Amt für Mobilität gegründet haben, ist ein klares Bekenntnis der Stadt Offenbach zur Förderung des Radverkehrs“, betont Bürgermeisterin Sabine Groß. Amtsleiterin ist die frühere Radverkehrsbeauftragte Ivonne Gerdts, die das Förderprojekt von Anfang an begleitete. Mit ihrem Team und den Initiator*innen des Radentscheids hat sie die gerade im Stadtparlament beschlossene Vereinbarung zum Ausbau der Radinfrastruktur erarbeitet. „Damit wollen wir das Radfahren in Offenbach attraktiver machen“, so Gerdts. Insgesamt vereine das neue Amt die strategischen Planungen für den Auto-, Rad- und Fußgängerverkehr gleichberechtigt unter einem Dach, erklärt Sabine Groß. „Ziel ist es, die Lebensqualität für die Menschen in Offenbach zu erhöhen.“ Nun will die Stadt auch gemeinsam mit der Initiative Radentscheid Offenbach die Infrastruktur vor Ort deutlich verbessern. Beide Beteiligten haben sich auf viele kleinere und größere Maßnahmen geeinigt, die es in den nächsten Jahren umzusetzen gilt. Diesem Vorhaben hat die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Offenbach am 15. September 2022 zugestimmt. Demnach möchte die Stadt nun pro Jahr mindestens 600.000 Euro in die Verbesserung der Radinfrastruktur investieren. Zudem ist geplant, diesen Betrag über weitere Fördervorhaben deutlich zu erhöhen.

Radverkehrskonzept Offenbach

Das Projekt Bike Offenbach war und ist ein wichtiger Bestandteil des Radverkehrskonzepts der Stadt Offenbach. Hierzu zählen bereits umgesetzte oder in der Umsetzung befindliche Maßnahmen, wie Einbahnstraßen im Gegenverkehr zu öffnen, die Fußgängerzone für Radfahrende freizugeben und neue Radfahrstreifen im Stadtgebiet aufzubringen. Außerdem umfasst das Projekt eine neue Radwegweisung im Stadtgebiet, abschließbare Fahrradboxen, Verleihstationen für Pedelecs, Call-a-bike-Stationen, einen Radroutenplaner für Schüler*innen und den Fahrradstadtplan.

Mehr Informationen dazu gibt es auf: www.bikeoffenbach


Bilder: Alexander Habermehl, urbanmediaproject

Im Mai trifft sich die Radverkehr-Elite zum Weltkongress VeloCity in Leipzig. Die Stadt hat sich bereits einmal grundlegend in ihrer Geschichte gewandelt. Diese Erfahrung will sie für die Mobilitätswende nutzen und teilen. (erschienen in VELOPLAN, Nr. 04/2022, Dezember 2022)


Die Fahrradwelt zu Gast in Leipzig: Vier Tage lang werden auf der Messe Best-Practice-Beispiele vorgestellt und gute Lösungen fürs Radfahren in der Stadt der Zukunft diskutiert.

Einmal im Jahr trifft sich die internationale Fahrrad-Fachwelt aus Forschung und Praxis zum Erfahrungsaustausch bei der VeloCity. Nach Kopenhagen, Paris, Vancouver und Nijmegen steht im Jahr 2023 Leipzig auf dem Reiseplan der Radverkehrs-expertinnen. „Leading the Transition“ – den Übergang gestalten, ist Leipzigs Motto für den Weltkongress des Radverkehrs. Der Slogan ist auch als Appell gedacht. „Wir befinden uns in Leipzig bereits mitten in der Mobilitätswende“, sagt Tobias David, Referent des Bürgermeisters. Wie überall in Deutschland ist der Umstieg vom Auto auf klimafreundlichere Alternativen auch dort kein Selbstläufer. „Aber gesellschaftliche Transformation ist möglich“, betont David. Die Leipziger Bevölkerung wisse das. Sie hat sie bereits durchlebt, 1989, als in den Straßen ihrer Stadt die friedliche Revolution gegen das DDR-Regime startete. Nach der Wende wurden nach und nach beschädigte und zerfallene Straßen und Häuser wieder hergerichtet und das von Kohlebaggern zerfressene Umland wandelte sich zur Seenlandschaft. „Um das zu schaffen, braucht man eine Vision und Leader“, sagt David. „Menschen, die vorangehen, die andere begeistern, mitnehmen und Zeithorizonte aufzeigen, bis wann was erreicht werden kann“, sagt er. Diese Qualitäten seien jetzt wieder notwendig, um die Mobilitätswende zu gestalten. Von außen betrachtet sind die Erfolge in Leipzig beim Radverkehr eher durchschnittlich. 2018 lag der Anteil der Radfahrerinnen bei 18 Prozent am Gesamtverkehr. „In Sachsen sind wir das kleine gallische Dorf des Radverkehrs“, meint Robert Strehler, Vorstandschef beim Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) in Leipzig. Während im Umland der Radverkehr stagniere, nehme er in Leipzig zu. Lob verteilt der Fahrradaktivist nicht leichtfertig. Erst im Sommer hat sein Landesverband der Regierung von Michael Kretschmer schlechte Noten für den Ausbau des Radverkehrs ausgestellt. Nach zweieinhalb Jahren im Amt habe die Landesregierung gerade mal zwei von 15 Projekten zum Radverkehr in Sachsen umgesetzt, kritisierte der ADFC-Landesverband. Das sei in Leipzig anders. „Der politische Wille, den Radverkehr auszubauen, ist hier in den Ämtern angekommen“, sagt Strehler. Mehr noch: „Die Stadt baut auf Zusammenarbeit“, meint er.
Die sucht die Stadt auch mit dem ADFC, der zur Arbeitsgemeinschaft „AG Rad“ gehört. „Viele unserer Mitglieder sind Verkehrs- und Stadtplaner und bringen in dem Gremium ihre Erfahrung ein“, so Strehler. Die Vertreterinnen der Stadt akzeptierten sie als Expertinnen. „Dort findet echte Beteiligung statt“, sagt er.
Rein geografisch hat Leipzig gute Voraussetzungen, Fahrradstadt zu werden. Die Stadt ist flach, kompakt und in alle vier Himmelsrichtungen von Parks und Flüssen durchzogen, die zum Radfahren einladen. „In 20 Minuten kommt man mit dem Rad überallhin“, sagt Strehler. Schneller gehe es mit dem Auto auch nicht. Im Gegenteil. Oft dauere es sogar länger. Denn für Autos wird der Platz mittlerweile oft knapp auf der Straße. Das liegt unter anderem daran, dass Leipzig schnell wächst. In den vergangenen zehn Jahren wuchs die Stadtbevölkerung um 100.000 auf 615.000 Menschen. „50.000 brachten beim Umzug ihren Wagen mit“, sagt David. Die Verkehrsbelastung wachse spürbar – auf der Straße und bei der Parkplatzsuche.
Um mehr Menschen aufs Fahrrad zu bringen, baut die Stadt seit Jahren sukzessiv das Radwegenetz aus. „Zwischen 2010 und 2020 wuchs das Netz von 376 km auf 526 km“, so David. Manchmal hilft der ADFC beim Ausbau auch etwas nach. 2012 unterstützte der Verband die Klage eines Bürgers, der Radfahren auf dem Promenadenring einforderte. Seit den 1970er-Jahren war der 3,6 km lange Innenstadtring fürs Fahrrad tabu. Eine rechtliche Grundlage gab es für das Verbot nicht. Deshalb entschied das Oberverwaltungsgericht 2018, dass die Stadt dort auch für Radfahrer*innen Platz schaffen müsse.
Im Frühjahr 2022 wurde der erste Abschnitt auf einer ehemaligen Fahrspur markiert: auf 600 Meter Länge ein 2,25 Meter breiter Radstreifen mit grüner Farbe. Trotz des Urteils war und ist der Umbau kein Selbstgänger. „Im Vorfeld und danach gab es viele Diskussionen und Konfrontationen“, sagt Strehler. Noch sei Radfahren dort nicht attraktiv. Dafür sei das Teilstück zu kurz und es fehle die Anbindung ans Radnetz. Aber der Anfang ist gemacht. In den kommenden Jahren solle der Radverkehr auf dem Promenadenring nun sukzessive ausgebaut werden.

„Manche Radverkehrsplanung, die jetzt auf die Straße gebracht wird, ist bereits viele Jahre alt und überholt“

Robert Strehler,
Vorstandschef beim Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC), Leipzig

Tempo 30 per Lärmaktionsplan

Geht es nach der Stadtregierung, steigt der Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehr bis 2030 auf 23 Prozent. Um das zu schaffen, setzt die Stadt auf einen Mix, der Autofahren einschränkt und den Umweltverbund von Bus und Bahn und den Fuß- und Radverkehr stärkt.
Dazu gehört, dass bis 2024 an rund 30 Hauptverkehrsstraßen Tempo 30 angeordnet werden soll. „Wir berufen uns dafür auf unseren Lärmaktionsplan“, sagt David. Überschreitet der Schallpegel tagsüber den Wert von 70 Dezibel und nachts von 60, können Städte das Tempo auf diesen Straßen als Schutzmaßnahme reduzieren. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass bei Straßenlärm, der im Haus einen Schallpegel von 65 Dezibel erreicht, das Risiko für Herz-Kreislauf-Störungen um 20 Prozent höher ist als bei 50 bis 55 Dezibel.
Für die Stadtfraktion ist das niedrigere Tempo ein Schlüssel, um die Situation für Radfahrerinnen, Fußgängerinnen und Anwohner*innen in den betroffenen Straßen schnell zu verbessern. Prinzipiell will die Politik Tempo 30 noch viel umfangreicher ausweisen, hinderlich sei dafür aber die aktuelle Rechtslage. „Leipzig hat im Herbst 2021 die Initiative ,Lebenswerte Städte durch angepasste Geschwindigkeit´ gestartet“, sagt David. Inzwischen sind ihr über 300 Städte und Gemeinden beigetreten. „Wir fordern die Bundesregierung auf, die Straßenverkehrsordnung und das Straßenverkehrsrecht zu ändern“, sagt er. Ob und wann die Änderung kommt, ist nicht absehbar. Um trotzdem die Mobilitätswende voranzubringen, sucht Leipzig Wege, um Tempo 30 umzusetzen.

Umverteilung der Verkehrsflächen in Leipzig: Baubürgermeister Thomas Dienberg markiert das weiße Fahrrad-Piktogramm auf grünem Grund.

„Wer den Autoverkehr in der Innenstadt reduzieren will, muss immer auch das Umland mitdenken und besser anbinden“

Tobias David,
Referent des Bürgermeisters

Weniger Autos an S-Bahnhöfen und in der Innenstadt

„Wer den Autoverkehr in der Innenstadt reduzieren will, muss immer auch das Umland mitdenken und besser anbinden“, sagt David. Pendlerinnen und Besucherinnen bräuchten eine echte Alternative, um die Strecken zurücklegen zu können. Ein großer Schritt war 2013 die Eröffnung des Leipziger City-Tunnels. Die Bahnstrecke verbindet die Innenstadt nun über verschiedene S-Bahnlinien mit den umliegenden Regionen. „Jetzt brauchen wir sichere Abstellanlagen für Fahrräder an S-Bahn-Stationen“, sagt David. Der Handlungsbedarf ist groß. 2019 war Leipzig die Hauptstadt der Fahrraddiebe. Um die Radanreise zum Bahnhof zu erleichtern, will die Stadt zunächst an insgesamt zwölf Standorten abschließbare Fahrradabstellanlagen installieren.
Vieles, was die Stadt macht, findet der ADFC gut und richtig. Kritik gibt es dennoch: „Manche Radverkehrsplanung, die jetzt auf die Straße gebracht wird, ist bereits viele Jahre alt und überholt“, sagt Strehler. Viele der Radstreifen, die jetzt auf das Pflaster gemalt werden, sind für Cargobikes und die gewachsene Zahl an Radfahrenden viel zu schmal. Die Planungen sollten angepasst werden, auch wenn das aufwendig ist.
Mit diesem Problem ist Leipzig nicht allein. Momentan überholt die Entwicklung die Planung vielerorts mit Riesenschritten. Vielleicht finden die Expert*innen bei der VeloCity im Mai eine Antwort auf dieses Problem.


Bilder: Stadt Leipzig, Robert Strehler, Maike Rauchhaus